Crossens Untergang im Februar 1945

Klage – Anklage – Hoffnung Autor anonym

Crossener Heimatgrüße 1967/2

Genug des Entsetzlichen geschah in den 750 Jahren der Crossener Ge­schichte. Wiederholt fraßen Groß­feuer das Erbaute. Kriegsstürme schlimmster Art hatte die Oderstadt zu erdulden, dazu das, was damit zusammenhängt: Ausraubung, Mas­senmord, körperliche und seelische Qualen. Was ihr und der gesamten Heimat jedoch im Februar 1945 an­getan wurde, ist barbarischer und teuflischer als alles Frühere.

Seit 1845 erneuern sich in den Februartagen die schmerzlichen Er­innerungen. Wir Deutschen, die wir in der Weltöffentlichkeit unausge­setzt verdächtigt werden, haben kei­ne Ursache, über das Beispiel von Zerstörungswut und Unmenschlichkeit, das Crossens Untergang bietet, die erstickende Decke des Schwel­gens zu legen.

Crossen war eine fast unbeschä­digte Stadt, als sie der Roten Armee überlassen wurde. Es genügten we­nige Tage, um das, was sich durch 750 Jahre hindurch erhalten hatte, durch die Russen der Zerstörung zu überantworten. Straße für Straße ging in Flammen auf.

Unsere Gegner sagen kalt: Also eine Stadt weniger — nichts Beson­deres in einem Kriege, der auf bei­den Seiten an Zerstörungen so reich war.

Wir widersprechen. Jede Stadt ist eine steingewordene Bekundung einer viel hundertjährigen Geschich­te. Das ist doch wohl etwas.

Doch die Auslöschung Crossens be­deutete mehr. Es handelte sich dabei nicht um die Vernichtung einer Stadt schlechthin, sondern um die einer städtebaulichen Anlage von ge­schichtlichem und baukünstleri­schem Werte, deren Bedeutung weit über den kleinen Raum der Heimat hinwegreichte.

Dazu kommt, dass die Stadtanlage, wie wir sie kennen, niemals wieder­hergestellt werden kann. Schon aus Verkehrsgründen gäbe es keinen Städteerbauer, der bereit wäre, beim Wiederaufbau das alte Straßennetz wiederherzustellen. Aus diesem Grunde ist es wohl angebracht, dem alten einmaligen Bauplane unserer Heimatstadt unsere Aufmerksam­keit zuzuwenden.

Wie der alte Stadtplan entstand

Die von Sorbenfürsten nach 1150 herbeigerufenen deutschen Städte­gründer brachten einen Stadtbau­mustergrundriss mit, nach dem die Stadt als meist viereckige, um ein Rathaus als Mitte des Marktes herum gruppierte Anlage gegründet wurde. Dabei sprachen natürlich die Bodenverhältnisse auch ein Wort mit.

Bei der Gründung von Crossen waren vorhanden ein großer Strom mit wichtiger Furt, ein Kastell als Herzogssitz, die Mündung eines Ne­benflusses mit einer kleinen sorbi­schen Fischersiedlung im Winkel beider Flüsse, als Stadtplatz eine noch hie besiedelte Wüste mit Was­serlachen und Sandhügeln, rings herum Sumpf und kleinere Wasser­läufe, gekreuzt von zwei uralten Heer- und Handelswegen.

Was tun? Ehe ein Spatenstich fiel, beschloss man sieh den Gegebenhei­ten zu fügen, benutzte die unein­nehmbare Wasserburg als Nord­ostsicherung, zog von dieser etwa 50 m vom Odertaufe entfernt die Stadtgrenze zum Bober hin, die Fischer­siedlung ausschließend. Von beiden Endpunkten dieser etwas gebogenen Linie ging man bogenförmig nach Süden hin, wo der Heerweg einen alten Oderlauf überschritt.

So ergab sich eine Eiform, deren Spitze nach Süden gerichtet war. So­fort warf man einen diesen Linien folgenden Wall auf, wobei ein Gra­ben auf dessen Außenseite entstand, Die umwallte Fläche enthielt festen Boden. So befolgte man den ersten Grundsatz bei der Gründung jeder deutschen Stadt: „Schutz nach außen.“

Der zweite Grundsatz hieß: „Ord­nung Im Stadtinneren.“ Also: Sorg­fältige Aufteilung des Innenraumes. Rathaus als Mittelpunkt. Markt her­um, „Ringe“ genannt, wie überall in Schlesien, obwohl er kein Ring war, an seinen vier Seiten, Giebelhäuser, deren unteres Stockwerk am Mark­te auf Säulen stand. So entstand ein ringsum führender Laubengang. Die Gassen passte man dem Verlauf der Verteidigungslinie an. Auf gerade Häuserfronten legte man keinen Wert. Nur die Glogsche Straße war eine Straße, d. h. ein Stück einer Fernverbindung.

So entstand der alte Stadtplan, so blieb er im Ganzen bis 1945. Die vie­len Brände änderten wenig. Ausge­nommen der Brand von 1708, der den Plan auch nicht änderte, wohl aber das Gesicht der Stadt

Königsstadt in der Bürgerstadt

Eine Königsstadt inmitten der Bürgerstadt. Eine Herzogsstadt war Crossen nie geworden, es blieb eine Bürgerstadt. So dürfen wir mit einem gewissen Rechte sagen. Denn der erste König in Preußen stellte sein   künstlerisches   Empfinden in den Dienst des Wiederaufbaues, nachdem 1708 die Stadt in Flammen und das Geld der königlichen Brand­kasse durch Misswirtschaft in Rauch aufgegangen war. Durch die Auf­deckung seiner Leichtgläubigkeit ge­genüber den Ministern peinlich be­rührt, suchte der König gutzuma­chen, was sein Hof verschuldet hat­te, setzte einen tüchtigen Baumeister ein und verlieh dem Marktplatze der alten Stadt das Gesicht seiner Zeit.

Nach der königlichen Anordnung erhielt die Marktmitte einen Brun­nen, das Rathaus trat in die Häuser­front, in der alle Häuser zweistöckig sein mussten, ihre Breitseiten dem Markte zugewandt, mit gleichlaufen­den Gesimsen und Fensterlinien, Alle zum Markte führenden Straßen mussten rechtwinklig einmünden. Die Dachformen wurden vereinheit­licht.

So ergab sich eine mit einfachen baulichen Mitteln erzeugte, edel wirkende Königsstadt inmitten der Bürgerstadt. Das Potsdamer Barock des Marktplatzes, überragt von dem schönen Barockkirchturme der Ma­rienkirche, störte innerhalb der Bürgerstadt keineswegs und zeigte besonders bei Mondlicht die Schön­heit seiner einfachen Linienformen. Der Denkmalsschutz verhütete stö­rende neuere Umbauten.

War die Vernichtung der Stadt be­absichtigt? Wohl kaum, denn nach den in unserer Nachbarstadt Som­merfeld gemachten Beobachtungen gingen die Russen daran, die Häu­ser niederzubrennen, in denen Funktionäre der Nazis gewohnt hat­ten. Dass diese sinnlosen Brandstif­tungen zum Gesamtbrande überge­hen mussten, musste jedem klar sein, war jedoch den Offizieren und Soldaten gleichgültig, Die von den Russen übriggelassenen brandgeschwärzten Trümmer wurden durch die „Enttrümmerung4‚ seitens der Polen beseitigt So verschwand die schöne Stadt für immer.

Vertreibung In die Heimatlosigkeit

Eine Stadt ist mehr als die Sum­me der Häuser, Straßen, Plätze. Sie ist die steinerne Hülle eines großen Lebewesens, der Stadtgemeinde mit ihrer frohen Behaglichkeit, ihrem fleißigen gewerblichen Treiben, mit ihrem Glück, das überhebliche ver­ächtlich und spottend kleinbürger­lich nennen. In unserer Stadt wohn­te der Wohlhabende ohne Hochmut in altgewohnter Harmonie mit den Einfachen, der auf ihn ohne Unter­tänigkeitsgefühl blickte. Es lebte in ihnen allen das Heimatgefühl, von dem man kaum sprach, weil es selbstverständlich war, es zu fühlen. Als in Schnee und Kälte die langen Wagenreihen der flüchtenden „Litzmannstädter“ langsam anrollten, kam den wenigsten Crossenern der Gedanke, auch sie könnten in kurzer Zeit solche Flüchtlinge sein.

Da zerriss mit einem Male der Ne­bel, mit dem bis zuletzt die amtli­chen Stellen die Lage zu verdecken suchten. Es kamen die Tage der Flucht Unsagbar ist das, was sich in den Seelen abspielte, als es hieß, Abschied zu nehmen. Unschätzbar ist der Eigenwert dessen, was in den Wohnungen zurückblieb, in den reicher ausgestatteten wie in den einfachen. Auch der Ärmste verlor etwas Kostbares, die Heimat.

Viele begleitete die tröstende Hoff­nung auf baldige Rückkehr. Erst nach und nach wurde unerbittlich klar, bei der Fluch! habe sich etwas abgespielt, das alles übertraf, was jemals den Bürgern Crossens an Freveltaten zugefügt wurde.

Wohl erzählten die Chroniken von Eroberern, die sich wie Teufel auf die Einwohner stürzten, von Un­menschen, die nicht nur plünderten und raubten, die ihre viehischen Ge­lüste an Frauen und Mädchen aus­ließen, doch alle die Nachrichten über Brand, Mord, Plünderungen, Schändungen lagen wie wüste Träu­me weit hinter der Gegenwart zu­rück.

Das Fürchterlichste, dessen sich die Geflüchteten bewusst wurden, bestand darin, dass um sie herum das scheinbar in die Tiefe der Vergan­genheit Versunkene sich im 20, Jahr­hundert, dem Jahrhundert der Menschlichkeit vollzog. Außerdem gingen in der Vergangenheit nach jedem Kriege die Überlebenden dar­an, unter Einsatz von Fleiß, Aus­dauer, Lebensmut und aller anderen Bürgertugenden das Aufbauwerk zu vollbringen, denn sie verblieben selbstverständlich auf der verheer­ten Heimatstätte! Das Ungeheuer­lichste ist die Zumutung, wir sollen anerkennen, dass die Vertreibung der Crossener und der Deutschen im Osten überhaupt, die Vertreibung von Millionen aus ihrer Heimat eine durch Siegerdiktat vollzogene unab­änderliche Tatsache sei. Wir weisen diese Zumutung als unmenschlich zurück. Unsere Klage wird zur An­klage.