Carl Christian Bry

Carl Christian Bry Quelle: Eigen

Ein Pseudonym und dahinter verbirgt sich der Schriftsteller Carl Christian Ernst Decke. Dieser wurde am 12. April 1892 Mittags um 2.oo Uhr – einem Montag – in Stralsund geboren.

Die Eltern waren der Schlächtermeister Hermann Traugott Paul Decke und Johanne Wilhelmine Caroline, geb. Telschow. Gewohnt haben sie in der Wasserstraße 12.

Bry‘s Vater stammte aus Schlesien und besaß in Stralsund ein Geschäft für Fleisch- und Wurstwaren mit mehreren Angestellten. Bry‘s Mutter kam aus Pommern und war die Tochter eines Kantors.

Die Vorfahren mütterlicherseits waren Holländer, und von deren Geburtsnamen „Bry“ lieh sich der Sohn den Schriftstellernamen aus.

Der Buchautor Martin Gregor-Dellin schreibt über den jungen Carl Christian Bry:

„… Bald nach seiner Geburt stellte sich heraus, dass seine linke Körperseite teilweise gelähmt war. Er konnte gehen, zog aber das linke Bein und den linken Arm in einer schlingernden Bewegung nach. Da auch das linke Auge und die Unterlippe von der Lähmung betroffen waren, hatte das Kind nicht nur die schwere körperliche Beeinträchtigung zu kompensieren, sondern auch noch gegen den äußeren Anschein mangelnder Intelligenz, der durch die Entstellung des Gesichts hervorgerufen wurde, anzukämpfen. Selbst als Erwachsenem machte ihm das noch zu schaffen, wenn er in die Kreise der Literatur- und Geistes-Prominenz einzudrin­gen versuchte. In der Schule verblüffte er durch überdurch­schnittliche Leistungen. Dass er gehänselt worden wäre, ist nicht überliefert. Er war der beste Schüler des Stralsunder humanistischen Gymnasiums und versuchte auch körperlich mitzuhalten. Mit elf Jahren lernte er Radfahren, als Sechzehnjähriger brannte er einmal mit dem Geld, das er durch Nachhilfeunterricht verdient hatte, nach Brüssel und Paris durch.“

Rückfront des Gymnasiums (1869) Quelle: Wikipedia

„Carl Christian Bry hatte zwei Brüder. Der eine wurde im Ersten Weltkrieg vermisst, der zweite, jüngere, starb am Herzschlag im Augenblick der Verhaftung durch die Gestapo. Die Hintergründe dieser Verhaftung sind unbe­kannt“, schreibt sein Biograph Martin Gregor-Dellin.

Ab 1911 bis 1916 studierte Bry zuerst in Berlin und Leipzig, ging dann nach München und Heidelberg. Er hörte Geschichte und Nationalökonomie, Jurisprudenz, Germanistik, Theaterwissenschaft und Philosophie unter anderem bei Georg Simmel und Max Dessoir. In Heidelberg beeinflussten ihn der Kulturgeschicht­ler Eberhard Gothein, der Nationalökonom Lederer, der Völkerrechtler Thoma und der Schweizer Staatsrechtler Fleiner.

Georg Simmel Quelle: Wikipedia

Und in Heidelberg wurde er am 25. Juli 1916 zum Dr. phil. promoviert. Die Dissertation lautete: „Die Bücherreihe im deutschen Buchhandel der letzten Jahre“ und erschien Gotha 1916.

Georg Simmel, geboren am 1. März 1858 in Berlin und gestorben am 26. September 1918 in Straßburg, “war ein deutscher Philosoph und Soziologe. Er leistete wichtige Beiträge zur Kulturphilosophie, war Begründer der „formalen Soziologie“, einer Stadtsoziologie und der Konfliktsoziologie. Simmel stand in der Tradition der Lebensphilosophie, aber auch der des Neukantianismus“ schreibt Wikipedia.

Max Dessoir, eigentlich Max Dessauer, geboren am 8. Februar 1867 in Berlin, gestorben am 19. Juli 1947 in Königstein im Taunus, „war ein deutscher Philosoph, Mediziner, und Psychologe. Nach ersten Arbeiten im Bereich der Medizin, Psychologie und den Grenzwissenschaften, in denen er die Begriffe Haptik und Parapsychologie prägte, beschäftigte sich Dessoir vor allem mit den Gebieten der Ästhetik und der Kunstwissenschaft“ (Wikipedia).

Max Dessoir Quelle: Wikipedia

Martin Gregor-Dellin schreibt über die Zeit seines Studiums:

„… Während seines Studiums musste er sich, da seine Eltern in eine geschäftliche Krise geraten waren, von Anfang an einer praktischen literarischen Arbeit zuwenden. Er verfasste Theaterkritiken und reichte Filmdrehbücher für Stummfilme ein. (Seine Favoritin war Asta Nielsen.) Sein Interesse an der neuen Kunst der bewegten Bilder war so stark, dass er – als einer der ersten Kritiker – noch bis in die Nachkriegsjahre regelmäßig und ausführlich über die Ent­wicklung des Films geschrieben hat.“

In Berlin lernte er Klabund kennen und deren Freundschaft hielt bis zum frühen Tod Brys. Das letzte Zusammentreffen der beiden Freunde im Sommer 1925 habe ich schon beschrieben, es fand in Davos statt.

Werke 

„Verkappte Religionen. Kritik des kollektiven Wahns“. Verlag Friedrich Andreas Perthes, Gotha/Stuttgart 1924. (Neu hrsg., mit e. Vorwort von Martin Gregor-Dellin, Franz Ehrenwirth Verlag, München 1979.)

Der Hitler-Putsch. Berichte und Kommentare eines Deutschland-Korrespondenten (1922–1924) für das „Argentinische Tag- und Wochenblatt“. Hrsg. von Martin Gregor-Dellin. Greno Verlag, Nördlingen 1987.

Über „Verkappte Religionen“ lese ich bei Wikipedia:

„… Bry ist vor allem bekannt durch seine Beschreibung und Erklärung geistiger Irrwege unter dem Titel „Verkappte Religionen“. Ein Beispiel: „Auch der Hinterweltler sieht die ganze Welt neu. Aber ihm dienen alle Dinge nur zur Bestätigung seiner Monomanie. (…) Dem Hinterweltler schrumpft die Welt ein. Er findet in allem und jedem Ding nur noch die Bestätigung seiner eigenen Meinung. Das Ding selbst ergreift ihn nicht mehr. Er kann nicht mehr ergriffen werden; soweit ihn die Dinge noch angehen, sind sie ihm nichts als Schlüssel zur Hinterwelt. Man kann das beinahe experimentell nachweisen. Man spreche einmal mit einem Menschen, dem etwa der Antisemitismus zur verkappten Religion geworden ist, über das Salzfass auf dem Esstisch. Sein besessener, nach Bestätigungen hungernder Geist wird nach zwei Sätzen bei der These angekommen sein, dass schon die alten Juden beim Salzhandel aus Phönizien betrogen hätten oder dass der Prozentsatz jüdischer Angestellter in den staatlichen Salinen natürlich viel zu hoch sei. Er ist positiv unfähig geworden, ein Salzfass zu sehen. Er erblickt es nicht mehr in seiner Nüchternheit oder in seiner Schönheit, als Salzbehälter oder als Behälter von Streit und Tränen, als Gradmesser der ehelichen Liebe, als Anzeiger der Reinlichkeit im Haushalt oder als Mittel, frische Weinflecken aus dem Tischtuch zu entfernen. Er sieht darin nur noch etwas, was ein anderer auch bei regster Phantasie in dem Salzfasse nicht finden kann: den Juden.“

Carl Christian Bry’s Berichte und Kommentare eines Deutschland-Korrespondenten (1922-1924) für das „Argentinische Tag- und Wochenblatt“ haben eine interessante Geschichte. Im Vorwort heißt es:

„… In über vierhundert Feuilletons hat Carl Christian Bry (1893-1926) das politische und kulturelle Geschehen der frühen zwanziger Jahre kommentiert. Dieser Band bringt erstmals eine Auswahl vornehmlich politisch ausgerichteter Artikel, in denen Bry aus Münchener Sicht für das „Argentinische Tagblatt“ über die Ereignisse der Jahre 1921 bis 1924 berichtet.“

Bry formuliert seine Arbeit so:

„… Nur okkultistische Schulung kann die sehr wahrscheinliche politische Blamage des Korrespondenten vermeiden. (Unter uns: lieber blamiere ich mich.) Denn andererseits: bloß Tatsachen zu berichten, genügt heute längst nicht. Auf das Gesamtbild kommt es mehr als je an.“

Martin Gregor-Dellin:

„… Das schrieb Carl Christian Bry zehn Tage vor dem Hitler-Putsch in einem Bericht aus München. Doch Bry bla­mierte sich nicht; zwar konnte und mochte er nicht hellsehen, aber die Hellsichtigkeit seiner Analysen zu den geistigen und politi­schen Strömungen und Ereignissen der frühen zwanziger Jahre, seine zum Teil prophetische Kritik an den „Nationalen“ und „Vaterländischen“, besticht noch heute. Kein Historiker, der weiß, wohin das alles geführt hat, könnte dem heutigen Leser jene Eng­stirnigkeit der politischen Entscheidungsträger, jene blasierte Igno­ranz der gesellschaftlichen Machteliten, jene dumpfe Wut der „Völkischen“, kurz: jenen Sumpf, aus dem der Nazismus emporstieg, drastischer und erhellender vor Augen führen, als es Bry in seinen Kommentaren getan hat.“

Hitler, rechts neben Ludendorff (Bildmitte), posiert mit weiteren Teilnehmern des Hitler-Ludendorff-Putsches vor dem Gerichtsgebäude (1924) Quelle: Von Bundesarchiv, Bild 102-00344A / Heinrich Hoffmann / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5583009

Brys publizistische Tätigkeit für das „Argentinische Tag- und Wochenblatt“ erzählt Martin Gregor Dellin:

„… Während seines Studiums in Heidelberg hatte Bry einen jungen Mann zum Freund gewonnen, dessen Vater der Besitzer des „Argentinischen Tageblatts“ war. Und dieser Freund hielt ihm, als er selbst in die Redaktion des „Argentinischen Tageblatts“ eintrat, in den zwanziger Jahren die Treue.

In einem hinterlassenen, offenbar kurz vor seinem Tod in Davos verfassten, vierseiti­gen Selbstporträt „Wer ist eigentlich Carl Christian Bry“ heißt es: „Ich hatte das unverdiente Glück, in meinem ein­stigen Studiengenossen, dem Deutschargentinier Dr. E. F. Alemann in Buenos Aires, einen selten mutigen Mann zu finden. Er druckte mich in seinem Argentinischen Tageblatt, der führenden deutschen Zeitung des Landes, zu einer Zeit, als keiner seiner Kollegen im Reich auch nur einen Wetter­bericht von mir gebracht hätte.“

Bry schrieb über Kultur, Politik und Wirtschaft, aber am liebsten über Bayern und München und in seinen „Münchener Brie­fen“ bilden die Artikel über den Rechtsradikalismus in Bayern, über den Hitler-Putsch, seine Vorgeschichte und den anschließenden Prozess eine bedeutende Rolle.

Im Jahr 1919 gründet er den „Heimkehr-Verlag“, muss ihn aber bald wieder krankheitsbedingt an einen Teilhaber abgeben, Bry arbeitet nur noch als freier Schriftstellen und Publizist und in dieser Zeit lernt er auch seine Ehefrau kennen. „krankheitsbedingt“ bedeutete, auch Bry war, wie Klabund, lungenkrank.

Über Brys Ehe schreibt Martin Gregor-Dellin:

„… Denn inzwischen war eine Frau in sein Leben getreten, jung, schön, geistig bedeutend und nicht ohne Mittel, die ihn pflegte und betreute: Helene John.“

Und Guido von Kaulla berichtet über den Sommer 1925 und das letzte Zusammentreffen von Klabund und Bry:

„… kommt es zu einem Wiedersehen mit dem an Tuberkulose erkrankten Bry, der sein letztes Lebens­jahr in Davos verbringt, mit seiner Frau Helene, der Schwester von Rudolf John Gorsleben, einem lieben Kollegen aus dem Vorkriegs-München.“

Martin Gregor-Dellin beschreibt Helene John so:

„… Sie hatte, selbst künstlerisch interes­siert und schauspielerisch begabt, kurz vor dem Ersten Weltkrieg Anschluss an einen Kreis junger Poeten und Maler gefunden, deren Mittelpunkt ein Zwiegestirn dialo­gisch gestimmter Freunde war: der junge Dichter Hans Baas, geboren 1891, und der ein Jahr jüngere Bry. Sie ver­lobte sich mit Hans Baas. Der vielversprechende Lyriker fiel 1917 und hinterließ ihr seine Gedichte. Die wenigen Jahre gemeinsamen künstlerischen und literarischen Erlebens blieben für sie zeitlebens Orientierungspunkt.

Sie übertrug alles, was sie daraus gewann, auf den Überlebenden, wandte ihre Kraft, Sympathie und Liebe Carl Christian Bry zu, nahm seine Diktate auf und schrieb seine Manuskripte. In siebenjähriger Ehe begleitete sie das schnell verströmende Dasein eines Schriftstellers, von dem wir ohne sie vermut­lich kaum noch etwas wüssten.“

Bei „dem lieben Kollegen und Bruder von Helene John aus dem Vorkriegs-München“ bin ich anderer Meinung als Guido von Kaulla, denn Gorsleben war Runologe, Esoteriker und Anhänger der Ariosophie, einer rassistischen Religion, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Österreich und in Deutschland Anhänger fand.

Helene John übernahm das Erbe Bry’s und das war lt. Martin Gregor-Dellin beachtlich:

„… Darunter sind alle Artikel, die er für Zeitschriften und Zeitungen wie „Hochland“, „Eckart“, „Die Christliche Welt“, „Protestantenblatt“, „Das literarische Echo“, „Weimarer Blätter“ und „Die neue Schaubühne“ geschrieben hat.

Kopf der ersten Schaubühne-Seite Quelle: Von Scan: Benutzer:Schreibkraft – Eigener Scan., Bild-PD-alt, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=894074

Er schrieb über Film, Thea­ter, Münchner Kulturleben, deutsche Politik, Verlage, Buchhandel, Autoren und Neuerscheinungen. Er kannte sich, trotz seiner Behinderung ungewöhnlich gut aus. Er besuchte Kinos, Theater, Museen, Massenveranstaltungen, politische Kundgebungen und Prozesse.

Er lebte in einem kleinen Haus in Pasing, einer „Gartenstadt“, die damals noch nicht zu München gehörte, und beobachtete Schwa­bing und die Münchner intellektuelle Gesellschaft, wie sie Thomas Mann nachmals im „Doktor Faustus“ porträtiert hat, aus der Distanz.“

(…) Das Brisanteste, Kritischste, Polemischste aus der Feder dieses Mannes aber kannten sie gar nicht und lernten sie vermutlich auch nie kennen. Es waren seine Berichte über das politische München und die Zustände im Reich, die neben seinen Kulturnotizen im „Argentinischen Tageblatt“ und der Beilage „Argentinisches Wochenblatt“ erschienen und die den freien Journalisten auch in den schlimmsten Zeiten der Inflation über Wasser hielten, denn sie wurden mit Dollars bezahlt.“

Brisant und kritisch hieß natürlich auch, er berichtete über den Beginn des Nationalsozialismus und dessen gescheiterten Putsch, während viele seiner intellektuellen Kollegen/innen diese „Episode“ für abgewirtschaftet und erledigt hielten, weil sie sich das daraus folgende nicht vorstellen konnten. 

„Dass man es nicht durchschauen konnte, als es die Massen ergriff, wird durch die leidenschaftslose und unbestechliche Betrachtungsweise dieses jungen Journalisten widerlegt. Die Tatsachen, wie er sie fest­hält, lassen einen geradezu verzweifeln, und es gibt keine erschütterndere Stelle als die am Morgen des 9. November 1923, als ein jüdischer Buchhandlungsgehilfe, den Bry zufäl­lig trifft, den „Scherz“ so weit treibt, „für den Nachmittag um Urlaub zu bitten: er müsse sich doch noch Kochgeschirr und Proviant für das Konzentrationslager kaufen, das Hitler und seine Leute seit langem allen jüdischen „Blutsaugern“ verheißen haben“, schreibt Martin Gregor-Dellin.

Und weiter:

„… Freilich ist Bry als Wahl-Bayer oder Nicht-Bayer (der beharrlich blau-weiß statt weiß-blau schreibt) auch unab­hängig genug, die Hintermänner und Mitschuldigen in den an der Regierung befindlichen bayerischen Parteien anzuprangern. Bry hätte die große kritische Geschichtsdarstel­lung dieser Jahre „vor Hitler“ leisten können. Fragt sich nur, wo. Seine Bloßstellung des völkischen Zinnsoldaten Luden­dorff im „Argentinischen Tageblatt“ brachte ihm schon in Pasing Beschimpfungen ein!“

Ludendorff in seinem Arbeitszimmer im Großen Hauptquartier, 1918 Quelle: Von Bundesarchiv, Bild 183-1992-0707-500 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5348246

In einem seiner erhalten gebliebenen Texte, wie es sei, antwortet er:

„…168 groß, Augen blau, Haare blond, unbestraft, sonst ohne besondere Kennzeichen. Die anders lautenden Meldungen, die ich gelegentlich in Berichten über meine Arbeiten finde – wie dass ich ein Spaltpilz, eine Mißgeburt, eine Schlange mit tückischen Augen, eine Schweinehund, ein buntschil­lernder Hetzapostel, eine giftige Kröte, ein Mops, ein Brunnenvergifter, ein kohlpechrabenschwarzes Ei, ein Zwerggetüm in kalter Brunst erschwitzt, ein waschechter Laden­schwengel im Warenhaus des Teufels, ein niedriger Pamphletist, ein Tropfbierhelot und vieles andere sei -, muss ich dementieren, trotzdem diese Vereinigung aller 13 Bände von Brehms Tierleben in einer Person ihre Reize hätte.“

Ernesto Alemann, sein argentinischer Herausgeber fügte noch „Vaterlands­verräter“ hinzu.

Dellin resümiert: „Es ist also nicht zu viel behauptet: Das Jahr 1933 hätte Bry innerhalb der deutschen Grenzen nicht überlebt. Und so blieb auch lange Zeit alles von ihm zerniert, vergessen und totgeschwiegen. Das gefährliche Buch, dessen 6. Tausend 1925 gedruckt und verkauft worden war, überstand das Dritte Reich nur in wenigen Exemplaren. Und wer besaß schon Ausschnitte aus dem „Argentinischen Tageblatt“?“

Die „Verkappten Religionen“ sind erschienen und ich gleichen Jahr (also 1924) erscheint im Verlag Dürr & Weber in Berlin ein Band mit dem Titel „Des Buches Werdegang und Schicksal. Vom Schreibtisch des Dichters bis zum Bücherschrank des Lesers“.

Aus dem Inhalt: „Mit weitreichenden Vorschlägen, „»wie der Apparat des geistigen Lebens etwas ruhiger und zweckmäßiger funktionieren könne, in der Hoffnung, Schriftsteller, Redakteure, Verleger und Leser in Deutschland würden sich sozial und kulturpolitisch, in ihrem Verhältnis zum Geisti­gen und zur Ware Buch zu einer „sachgemäßeren“ Haltung entschließen.“

In Bry‘s Selbstdarstellung heißt es: „Ich dachte, ihnen allen diesen Entschluss zu erleichtern“ und meine Belohnung blieb nicht aus. Kein Mensch kennt Zel­lenband Nr. 80; das Vierteljahreshonorar sendet mein Verle­ger mir regelmäßig in Freimarken.“

Brys Gesundheitszustand verschlimmert sich, er muss nach Davos. Klabund und er bleiben die letzten Tage zusammen und Fredi widmet im „Berliner Tagblatt“ ein Epitaph „Beim Tod eines Freundes. Carl Christian Bry zum Gedächtnis“, das im März 1926 erscheinen wird, darin stehen die Zeilen: „O wirf, / ach eine Blüte, / Schneeblüte, / Krokus, / herab mir auf die kahle, fahle, / die winterliche Erde.“

Mit der Überschrift: „Carl Christian Bry gestorben“ veröffentlicht das „argentinische Tag- und Wochenblatt“ einen Nachruf:

„… Aus Davos kommt die erschütternde Kunde, dass unser langjähriger Mitarbeiter und Mitkämpfer, Dr. Carl Chri­stian Bry, am 9. Februar 1926 ganz unerwartet an einem Herzschlag verschieden ist.

Die Nachricht wird allen seinen unzähligen Verehrern und Freunden im Geiste nahegehen; uns aber ist ein Bruder, ein treuer, zuverlässiger, uneigennütziger Mitstreiter im Kampf um Freiheit und Recht verloren gegangen. Wir ste­hen ergriffen vor der Gruft, die die sterblichen Reste dieses seltenen Mannes birgt, der so unbedingt, so rückhaltlos auf dem Boden der von uns vertretenen Weltanschauung stand, dass wir seine Beiträge ohne Prüfung hätten veröffentlichen können, in der Gewissheit, dass seine Anschauungen sich mit den unserigen deckten. Unbedenklich konnten wir die Verantwortung für das übernehmen, was er zu sagen für richtig hielt; und die Stunde fordert das rückhaltlose Bekenntnis, dass wir diese Verantwortung stets freudig übernommen haben; dass wir auch heute, nachdem gerade unser gemeinsames Streben nach Wahrheit und Klarheit uns hasserfüllte Angriffe auf unsere Existenz eingetragen hat, die in der Geschichte des Deutschtums am La Plata ein dunkles Blatt füllen, dass wir heute denselben Weg wieder von vorne gehen und ohne Zögern alle Artikel aus der Feder Carl Christian Brys wieder veröffentlichen würden.

Wenn man einen Aufsatz aus seiner Feder las, wusste man, wo dieser Mann stand. Da gab es kein Deuteln und keinen Zweifel. Bry erfasste politische Situationen, geistige und literarische Strömungen mit jenem sicheren Instinkt, wie er nur auf dem Boden umfassender Kenntnisse und unwandelbarer Charakterstärke gedeiht. Er sah die kommenden Dinge mit seltener Klarheit, und das verlieh ihm die Überlegenheit, das Über-den-Dingen-Stehen, das selbst in scharf polemischen Beiträgen überzeugend wirkte. Vornehm wie sein Wesen, seine menschliche Güte, war sein Eintreten für seine Überzeugung. Absichtliches und bewuss­tes Verletzen Andersdenkender lag ihm fern, und so man­cher seiner Leser hat sich aus einem Feinde der Deutschen Republik zu einem Freunde gewandelt. Freilich setzte seine Art zu schreiben bei dem Leser ein Mindestmaß von Intelli­genz voraus, das bei den nationalen Spießern nicht eben häufig zu finden ist.

Carl Christian Bry war einer der heute so seltenen Deut­schen, die Zivilcourage besitzen. Bei seiner überragenden Intelligenz, seinem universalen Wissen, von dem sein Buch „Verkappte Religionen“ beredtes Zeugnis ablegte, wäre es ihm leicht gewesen, eine gesicherte Position zu erringen, die ihn von des Tages Last und Sorgen befreit hätte. Er zog es vor, den dornenreichen Pfad des unabhängigen Schriftstel­lers zu gehen, der namentlich in den Zeiten des Krieges und der nachfolgenden Währungszerrüttung mit den größten Entbehrungen verknüpft war. Jene Jahre haben auch seine Gesundheit untergraben, die ohnehin prekär war. Dennoch verlor er den Mut nicht. Unermüdlich war er an der Arbeit, bis der Erfolg seine Mühe krönte. Sein Buch „Verkappte Religionen“ stellte ihn mit einem Male in die vorderste Reihe der deutschen Publizisten. Es machte die breiteste Öffentlichkeit darauf aufmerksam, dass hier ein Mann wirkte, dessen kritischer Verstand und unbeirrbare Klarheit ihn zu einem der geistigen Führer der deutschen Jugend stempelten. Man warb um seine Mitarbeit, gab ihm Frei­heit, Wegweiser zu sein. Mit großer Freude und tiefer Befriedigung erfüllte ihn die Anerkennung, die darin lag; und sie spornte ihn zu neuem Schaffen an, das in einem zweiten Buch über politische Strömungen seinen Nieder­schlag finden sollte.

Carl Christian Bry war ein glühender Republikaner und warmherziger deutscher Patriot. Von München aus, in des­sen Umgebung er seit Jahren seinen Wohnsitz aufgeschlagen hatte, konnte er das Hin und Her der monarchistischen und partikularistischen Bewegung verfolgen, deren mehr als mangelhafte Führung ihn in seinem Vertrauen in die Repu­blik bestärkte. In diesem Sinne hat er von jeher im „Argen­tinischen Tageblatt“ geschrieben, und die Ereignisse haben ihm und uns recht gegeben. Wo ist heute die Herrlichkeit des Herrn von Kahr, die damals alle deutschen Nationali­sten mit inniger Freude erfüllte? Wo ist Hitler, wo Luden­dorff? Heute brechen selbst Kreise, die sich für national halten, den Stab über sie. Als das „Argentinische Tageblatt“ in den Aufsätzen von Bry und in eigenen Kommentaren die Wahrheit über diese Reichsfeinde veröffentlichte, brachen Stürme der Entrüstung los. Die deutschen Militärs, die lei­der in argentinischen Diensten stehen, und die zahllosen deutschen Marineoffiziere, die am La Plata eine neue Exi­stenz zu gründen suchten, schürten und hetzten nach Kräf­ten, und ein ehemaliger deutscher Gesandter entblödete sich nicht, in einem Briefe, der noch in unserem Archiv vorhanden ist, Bry als „Vaterlandsverräter“ zu bezeichnen. Selbstverständlich, ohne die geringsten Unterlagen zu einer derartig ungeheuerlichen Behauptung zu besitzen. Aber das ist ja überhaupt eine Eigentümlichkeit der „nationalen“ Kreise, dass sie ungehemmt verleumden und Märchen ver­breiten, wenn nur der geheiligte Zweck erreicht wird, dem politischen Gegner die Ehre abzuschneiden.

Carl Christian Bry, dem solche Geistesrichtung fremd war, hat darunter gelitten und sich in Privatbriefen oft bitter darüber ausgesprochen. Sein wahrhafter Liberalismus fand sich in diesen Niederungen des Lebens nicht zurecht. Er war gewiss unerbittlich in seinem Urteil, wenn er etwas klar erkannt hatte; aber er war dabei, als echter Liberaler, tole­rant; seine Satire war treffend und zuweilen sogar bissig, aber im Grunde nahm er die Nationalisten mehr von der heiteren Seite. Ein flüssiger, gefeilter Stil erleichterte ihm seine Aufgabe. In seinen Feuilletons war er stets ein amü­santer Plauderer von vielseitigen Talenten und bewunderungswürdiger Beobachtungsgabe.

Nun ist Carl Christian Bry aus der Reihe der Mitarbeiter des „Argentinischen Tageblattes“ geschieden und hinterlässt eine Lücke, die nicht so leicht zu schließen ist. In voller Jugend hat ihm der Tod die Feder aus der Hand genommen. Bry ist nur 33 Jahre alt geworden. Wertvolles durfte man von ihm noch erwarten, auf das man nun verzichten muss.

Über seinen Lebenslauf ist zu berichten, dass er aus Pom­mern stammte, wo er auch aufwuchs und die Schulen besuchte. Nach germanistischen und volkswirtschaftlichen Studien promovierte er 1915 in Heidelberg, war dann in einem großen deutschen Verlag tätig, gründete später seinen eigenen Verlag, der ein Opfer der Inflation wurde. Vom Jahre 1919 ab war er ständiger Mitarbeiter des „Argentini­schen Tageblattes“.

Und er hat gern für uns geschrieben. In dem Briefe, in dem seine Gattin und Mitarbeiterin uns die Trauerbotschaft mitteilt, schreibt sie:

„Mein Mann hat so leicht und froh für Sie gearbeitet, er konnte, er durfte immer offen bleiben, er musste nie die Fahne nach dem Wind drehen, durfte seine Meinung äußern und hatte gute Leser durch Sie. Ihren Lesern auch möchte ich meinen herzlichen Dank sagen können. So gern, wie für Sie und Ihre Anhänger, arbeitete er nur noch für das Hochlands unsere beste deutsche Zeitschrift, die auch mit demselben unbegrenzten Vertrauen druckte, was mein Mann ihr gab. Diese Arbeitserleichterung, dieses große Vertrauen, die gewiss der Klarheit und Reinheit seines Denkens und Fühlens galten, haben meinen Mann beglückt und dafür dankt Ihnen seine Mitarbeiterin…             Helene Bry.“

Carl Christian Bry ist am 9. Februar 1926 in Davos gestorben.

Das Argentinische Tagblatt“ erscheint heute noch – immer Freitags. Auf der Seite der Zeitung fand ich in der Rubrik „Wir über uns“ diese Zeilen:

„Das Argentinische Tageblatt erscheint freitags in Buenos Aires. Die Zeitung wurde von den Schweizer Einwanderern Johann Alemann und seinem Sohn Moritz aus Bern 1878 zuerst als „Argentinisches Wochenblatt“ gegründet. Zusammen mit seinen anderen Söhnen, Theodor und Ernst, gründete der freisinnige Schweizer Journalist Johann Alemann 1889 das „Argentinische Tageblatt“. Das „Wochenblatt“ erschien bis 1967 als Wochenendausgabe des Argentinischen Tageblatts. 1981 wurde das Argentinische Tageblatt aus ökonomischen Gründen zur Wochenzeitung umfunktioniert.

1925, nach dem Tod Theodor Alemanns, übernahm dessen Sohn Ernesto F. Alemann die Direktion der Zeitung. Unter seiner Leitung entwickelte sich das „Argentinische Tageblatt“ zum Sprachrohr der antinationalsozialistischen Opposition unter den Deutschen in Argentinien und bekam einen weltweiten Ruf. Seit dem Tod Ernesto Alemanns 1982 wird die Zeitung von seinen Söhnen Dr. Roberto T. Alemann und Dr. Juan E. Alemann sowie von Eduardo Alemann herausgegeben.

Die Zeitung fühlt sich auch nach vier Generationen dem im Impressum postulierten Grundsatz freisinnig-liberaler Tradition verpflichtet. In seiner über hundertjährigen Geschichte hat das Argentinische Tageblatt unzählige Stürme überwunden. Die Zeitung wurde mehrmals verboten, ihr Direktor des Landes verwiesen. Sie durchlitt einen Anzeigenboykott deutscher Unternehmen wegen ihrer republikanischen Einstellung. Bombenattentate auf den Verlagssitz und die Wohnungen der Herausgeber waren zeitweise an der Tagesordnung.

Redakteure wurden von Schlägerbanden tätlich angegriffen. 1936 entzog die Universität Heidelberg Ernesto Alemann den dort erworbenen Doktortitel. Das Argentinische Tageblatt wurde auf dem Boden des Deutschen Reiches verboten. Während der NS-Zeit überstand das Tageblatt wegen seiner kompromisslosen Haltung gegenüber dem Hitler-Regime sechs von der Deutschen Botschaft in Argentinien eingeleitete Prozesse. Später, unter Perón, Papierrationierungen und die vorübergehende Schließung der Druckerei. Als Familienbetrieb musste der Verlag in den 70 er und 80 er Jahren die Klippen der Hoch- und Hyperinflation umschiffen. Die Zeitung hat alle Anfeindungen und ökonomischen Schwierigkeiten überlebt. Andere deutschsprachige Blätter in Argentinien, ob monarchistisch, deutschnational oder nationalsozialistisch, blieben auf der Strecke. Die Leserschaft hat sich letztendlich für die objektive, freisinnig-liberale Berichterstattung des Tageblatts entschieden.

1992 wurde die Druckerei geschlossen. Seither beschränkt sich der Verlag ausschließlich auf die Herausgabe der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Argentinien. Das Argentinische Tageblatt versucht heute, seinen Lesern eine möglichst umfangreiche Information über das Weltgeschehen mit Schwerpunkt auf den deutschsprachigen Ländern zu liefern. Es informiert zudem in kommentierender Form über die politische und wirtschaftliche Entwicklung in Argentinien. Die Zeitung sieht sich als Mittler zwischen dem deutschsprachigen Kulturbereich und Argentinien und als Nachrichtenorgan der Deutschen Gemeinschaft in Argentinien. Vereine, Schulen und Religionsgemeinschaften haben die Möglichkeit, Mitteilungen kostenlos im Tageblatt zu veröffentlichen. Weitere Schwerpunkte der journalistischen Arbeit der Redaktion sind Kultur, Sport, Literatur, Unterhaltung, Reisen, Naturwissenschaft und Medizin sowie Interviews mit Persönlichkeiten aus dem politischen, kulturellen oder gesellschaftlichen Leben im deutschsprachigen Raum und Argentinien.

http://www.tageblatt.com.ar/index.php 

Die Internet-Ausgabe des Argentinischen Tageblatts beschränkt sich im allgemeinen auf aktuelle Informationen über argentinische Wirtschaft und Politik. Anzeigen und Abonnementswünsche werden über die oben genannte Adresse entgegengenommen.

Übrigens, Carl Christian Bry’s Berichte und Kommentare eines Deutschland-Korrespondenten (1922 – 924) für das argentinische Tag- und Wochenblatt wurde bei Franz Greno in Nördlingen verlegt.

ISBN 3-89190-864-4