Zur neueren Geschichte der Wernerkapelle gehört sicher auch die Bildhauerin Liesel Metten. In ihrem „ein Buch der Bücher“ illustriert sie eine Aktion aus dem Jahre 2006. Hier das Vorwort von Markus Schächter:
„ … Das „Buch der Bücher“ ist für Juden wie für Christen, je auf ihre Weise, zeitlos. Doch selbst Bücher mit ewigen Wahrheiten haben ihre jeweils konkrete Zeit: Sie vergilben oder verwittern mit den Jahren, sie verschleißen oder vergammeln durch den Gebrauch, ja sie sind in manchen Epochen schon mit Gewalt verbrannt und dadurch fast vergessen worden.
Als gebürtiger Jude sah Heinrich Heine die Gefahr der Gewalt zu allen Zeiten: In seiner Tragödie „Almansor“ griff er zurück auf die Zeit der spanischen Inquisition. Zugleich erlebte er Zensur und Verbot zeitlebens am eigenen Leib und Werk. Und schließlich verlängerte er seine Erfahrung als Mahnung in die Zukunft: Was er zu seiner Zeit ein „Vorspiel“ nannte, wurde im 20. Jahrhundert zur menschlichen Tragödie: „Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen“.
Vor solchem Ende oder „Nachspiel“ warnte Heine noch mit einem anderen historischen Beispiel. Dafür musste er nicht bis Spanien gehen: Als Rheinländer blieb er quasi vor Ort und schuf in seiner fragmentarischen Erzählung des „Rabbi von Bacharach“ ein literarisches Mahnmal in Verbindung mit dem architektonischen Denkmal der Bacharacher Wernerkapelle.
Die hochragende Ruine erinnert an die christliche Legende um den angeblichen Ritualmord am „Guten Werner von Bacharach“ mit den nachfolgenden Judenpogromen im 13. Jahrhundert. Dennoch ist sie heute weniger ein Denkmal der Verfolgung als ein gemeinsames christlich-jüdisches Symbol der Versöhnung. Als Wahr- und Warnzeichen dunkler Zeiten verspricht es unter offenem Himmel das Licht für bessere Zeiten. (…)
In ähnlich versöhnlichem Geiste war die Bildhauerin Liesel Metten bereits 1995 tätig, als sie zum 50. Jahrestag des Kriegsendes an ihrem Bacharacher Atelier am Strom, einst von Juden bewohnt, ebenfalls eine Tafel anbrachte mit der kurzen, ernsten Aufschrift:
„Zum Gedenken der Juden in Bacharach“. Es war keine einmalige Geste, sondern der Auftakt, ein erster Akt eines bedachten und gelebten Dialoges mit den jüdischen „Brüdern“.
Im Heinejahr 2006, 150 Jahre nach dessen Tod im Pariser Exil, brachte Liesel Metten ihr Anliegen mit einem Heine-Projekt, sprich: einer Bücheraktion oder -Installation, in der Wernerkapelle zum Ausdruck: Inmitten des kleeblattförmigen Grundrisses legte sie 20 Bücher im Gras aus, vernagelte sie sturmsicher in der Erde und überließ sie alsdann von Januar bis Mai unter freiem Himmel den höheren Gewalten von Wind und Wetter. Assoziativ scheint dabei ein anderer Papst bildhaft gegenwärtig: Beim Trauergottesdienst für Johannes Paul II. auf dem Petersplatz hatte ein Jahr zuvor der Wind geradezu melancholisch in der Bibel auf dem Holzsarg des Heiligen Vaters geblättert. Der himmlische Wind und biblische Geist „weht, wo er will“.
In Bacharach blätterten nicht nur Wind und Wetter in den Büchern. Auch Schnee fiel auf sie, machte weiße Seiten noch weißer oder bedeckte jene wenigen Seiten, die Liesel Metten mit 36 Zitaten aus Heines „Rabbi“ symbolisch beschriftet hatte. Zweimal wehte auch der Ungeist mit eigenen Attacken durch die Ruine: Am 20. April 2006 waren die literarischen „Gewächse“ nach einer Dohlenattacke wie aus heiterem Himmel entwurzelt und zerfleddert. Und kurz darauf wurden sie in der Hexennacht zum 1. Mai von übermütigen jugendlichen verstreut und verdreht (und von der Künstlerin danach wieder in die alte Ordnung gebracht).
Zuweilen ähneln sich dann doch Mensch und Natur, vielleicht nicht in ihrer Urgewalt, aber in ihrem Urtrieb. Die päpstliche Mahnung vor jeglicher „Blindheit“ bleibt daher bestehen. Sie geht weiter, über die Installation hinaus: Das Naturschauspiel im Freien mit seiner Erinnerung an den einst unseligen „Genius Loci“ war nur der erste Akt.
Im zweiten erhielten die Bücher Gesellschaft: Sie wurden Hauptdarsteller einer Gemeinschaftsausstellung mit Johannes Metten, Luis Camnitzer und Selby Hickey vom 23. Juli bis zum 30. September 2006 im Atelier am Strom während der Feierlichkeiten zum Jubiläum „650 Jahre Stadtrechte Bacharach“. Auf dem Atelierboden aufgereiht, waren die „naturbehandelten“ Bücher nunmehr Zeugnis und Bildnis für alle, die bei der Installation nicht unmittelbar vor Ort waren.
Und eigentlich waren wir alle nicht dort, als das geschah, wovor die Bücher mahnen; als das passierte, was nicht nur die Jahreszeit, sondern Zeit und Geschichte überhaupt mit Büchern machen, mit ihren geschriebenen Inhalten und den davon betroffenen Menschen. Vergangene Schicksale sind kein Schnee von gestern: Selbst der Schnee hinterlässt seine Spur in der Gegenwart. Auch alte Geschichten sind Schichten, auf denen spätere Zeiten aufbauen, immer unsichtbarer als Fundament und doch alles Spätere tragend und haltend.
Damit frühere Schichten nicht vergessen werden und Verschüttetes sichtbar bleibt, reicht Liesel Metten einen dritten Akt ihres Schauspieles nach: Der anfänglichen Installation und nachfolgenden Ausstellung der Bücher folgt schließlich eine Dokumentation in gedruckter Form. Dabei wird das vorliegende Büchlein auf seine bescheidene, zeitenthobene Weise auch zu einer Art „Buch der Bücher“. Und es ist natürlich auch ein Buch der Bilder: Sie können uns, egal an welchem Ort, egal zu welcher Zeit, erinnernd vor Augen führen und halten, was alle Zeiten gilt.
Auf verschiedenen Fotos sieht man bei reichlich Schnee nur noch eine schwache Andeutung der Bücher. Dadurch rückt etwas Anderes in den Blickpunkt: eine Skulptur vorne in der Apsis, wo man sonst Altar und Priester erwarten würde. Stattdessen eine mythische Gestalt mit ausgebreiteten Armen, mit langem Schweif und ebenso langem Schwanz, halb Mensch, halb Fisch und sicher Frau: die Loreley, übrig geblieben von Liesel Mettens früherer Installation aus dem Jahre 2002.
Sie war gleichsam der Prolog zum Heine-Projekt, denn auch Bacharachs sagenumwobene Tochter ist bekanntlich von Heine verewigt: In seinem berühmten Gedicht „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ kommt sie ihm „nicht aus dem Sinn“. Wie ihr „Märchen aus uralten Zeiten“ sollte auch uns die alte, schwer deutbare Geschichte von Menschenhass und Brudermord stets im Sinn bleiben: als ständige Mahnung, um nicht am Rhein und nirgends in der Welt je wieder aufzutauchen. Was „die Loreley mit ihrem Singen getan“, das hätte dann auch Liesel Metten auf ihre Weise mit ihren Büchern vollbracht.