Briefe an Walter Heinrich …

Briefe an Walter Heinrich … 

Vorwort 

Die Briefe Klabunds an seinen langjährigen Mentor Walter Heinrich hat dessen Sohn Ernst Heinrich 1965 im Verlag Kiepenheuer & Witsch – Köln – Berlin heraus gegeben.

Leider sind die sicher sehr vielen Antworten Heinrichs mit dem verschollenen Nachlass Klabunds verloren gegangen – ein großer Verlust.

Veröffentlichen will ich sie mit einer Begründung, die Ernst Heinrich in seinem Vorwort schreibt:

„… Aus den unbefangenen und ungeschminkten Zeilen des jungen Dichters ließe sich sein Charakterbild lebendig nachzeichnen: seine Ironie und seine Phantasie; seine unbändigen Triebe und seine Sehnsucht nach Reinheit; seine launenhafte Unruhe und seine innere Heimatlosigkeit; seine kritische Stellung zur deutschen Politik und seine Vaterlandsliebe; und in allem seine körperliche Hinfälligkeit und seine unversiegende Schaffenskraft.“

Und sicher sind diese Briefe auch deshalb interessant, weil er in diesen häufig über „Projekte“ berichtet, die nie verwirklicht wurden.

Hartmut Deckert

Briefe von Klabund an Walter Heinrich

Berlin, Oranienburgerstr. 53 – 1. XII. 1910

Sehr geehrter Herr Heinrich,

mit bestem Dank sende ich Ihnen hiermit die Planck’sche Rede zurück. Sie werden sich wundern zugleich noch eine ausschweifende Epistel zu er­halten. Gestatten Sie, dass ich mit der Tür ins Haus falle. Erstens: Ich halte mich für einen Dichter. Sie werden sagen das tun andre auch. Zweitens: viel­leicht bin ich auch einer. Sie werden meinen: wenn Sie das nicht einmal selbst wissen! Worauf ich eine ebenso wohlfeile wie wehrlose Phrase bei den Haa­ren herbeiziehe: Der Zweifel ist des Glaubens lieb­stes Kind. Um Ihnen ein wenig zu imponieren, folgt jetzt eine Reihe von Zahlen und Titeln. Ich habe 597 Gedichte, 29 Novellen, 13 Einakter, 1 Roman, 1 Aphorismensammlung, dazu Fragmente und Materialsammlungen zu Dramen und Romanen größten Stils (Don Juan, Nausikaa, Adam und Eva usw.), Essays usw. geschrieben. Um Ihnen noch einige Titel zu nennen: (ich lege auf Titel und Über­schriften ungemeinen Wert und habe Geschichten verfasst, die nur aus Titeln bestehen – ich weiß nicht, ob das eine Originalidee von mir ist?) Pierrot auf der Drehorgel, Der Kakadu, Mademoiselle Potiphar, Der Kavalier, Geiger Lehmann, Und ehrenwerte Männer, u.s.w., u.s.w. Das genügt. Allzu bezaubernd klingen sie vielleicht nicht.

Ich kann Dinge, die mir im Grunde wirklich zart er­scheinen, manchmal nur durch Plumpheiten aus­drücken. Wie der Bauernbursch, wenn er seinem Schatz etwas sehr Schönes mitzuteilen hat, was sich aber verteufelt schlecht aussprechen lässt, zärtlich in die Seite schupst. Und das Mädel begreift ihn und schupst entsprechend wieder.

Ich bitte Sie um Rat, weil ich wirklich sonst niemand um Rat zu fragen hätte und ich nicht ewig alles in mich hineinfressen möchte. Ich bitte Sie ferner diese Bitte nicht als Aufdringlichkeit aufzufassen. Sie ist weniger und mehr. Eventuell können Sie mir und so der Mitwelt durch ein paar wohlgezielte Rippen­stöße einen energischen Dienst leisten. Ich würde mich von ihnen schwerlich erholen. Mit der Bitte um Verzeihung, ob dieser – – Anrempelung Ihr sehr ergebener Alfred Henschke.

Berlin N 24, 17.11. 1911

Sehr geehrter Herr Heinrich,

die Schriftstücke kommen etwas schnell und beinahe aufdringlich. Das ist aber nicht ihre Absicht. Ich habe sie nur eben zusammengepackt, weil ich nicht wusste, was ich mit der kurzen Zeit vor Tisch an­fangen sollte. — Die beiden kleinen Märchen hab ich noch einmal beigelegt, weil „sie mir zur Kennt­nis seiner dichterischen Eigenart bedeutsam genug erscheinen“ (warum kann ich nicht noch Feuilleton­redakteur oder Theaterkritiker werden?). Was den „Kakadu“ betrifft, so ist er in keiner Weise, auch in seinem Stil nicht, ernst zu nehmen. Er kann an man­chen Stellen getrost als Muster für Wanda die Meisterdetektivin Brandenburgs (oder wie’s heißt) und dienen. „Quod erat demonstrandum“. Die Pierrotlieder sind ungleichmäßig, die Faust­perodie, die keine ist, brauchen Sie um Gottes willen nicht zu lesen, nur vielleicht hineinschau­en. „Peter“ ist (ich habe mich gestern ungenau aus­gedrückt) nicht der Mann vor 12 Frauen (12 Frau­en machen einen Mann zu 12 Affen), sondern Semper idem, d. h. immer derselbe Affe. Das Lust­spiel halte ich für bühnenfähig, der einfache sprung­hafte Backfischcharakter doch recht verständlich. — Noch eins wollt ich fragen: meinen Sie nicht, dass man mal versuchen könnte, ein oder das andere der kleinen Charakterbilder im „Part“ anzubringen. Da er Heinrich Mann, Wedekind, zu seinen Lieblingen zählt, ist er doch wenigstens‘ „frei“ vielleicht ist er auch so frei, etwas von mir zu nehmen. Oder „Licht und Schatten“? Ich würde die Dinger natürlich noch mal überarbeiten.

Ich hatte mal an Fleischel geschrieben (der bringt doch die haarsträubendsten Geschichten von Auernheimer). Er war sehr kühl und reserviert . . . über­häuft mit Arbeit … habe er übergenug nouveautes herauszustellen usw. Könnte man sich nicht irgendwie mit der „Insel“ befreunden, die bringt doch auch Schund zuweilen? Ich erinnere mich, in Schreiberhau mit einer Buchhalterin der „Inselzusammenge­stoßen zu sein. Könnte man die nicht — heiraten?? Mit den Herzl. Grüßen — auch bitte ich, mich Ihrer Frau Mutter bestens zu empfehlen Ihr sehr ergebener Alfred Henschke.

Berlin, 20. 2.11

Sehr geehrter Herr Heinrich,

besten Dank für Ihre freundliche Karte. Hoffentlich passt es Ihnen, wenn, ich Sie morgen Dienstagabend aufsuche. (Die übrige Woche, Sonnabend ausgenommen, bin ich belegt. Und Sonnabend ist wohl ziem­lich ungeeignet). —

Gestern Sonntag hat bei mir ein gräulichschönes Fest der gräulichschönsten Trunkenheit stattgefun­den. Redoute en miniature mit Tanz, separee, Sekt (den ich aber nicht bezahlt habe). Ich glaube, Sie merken’s an meiner Schrift. Mit den besten Grüßen

Ihr sehr ergebener Alfred Henschke.

Crossen (O.), 17. III. 1911

Lieber Herr Heinrich,

ich fühle mich bis jetzt noch gar nicht gut, trotz guter Luft und guter „Ernährung“. Es ist doch im­mer so, dass man sich von dieser „Erholung“ in der Kleinstadt nachher in Berlin erst recht erholen muss. Wenn ich ein Backfisch war‘, würd‘ ich sagen: tod­unglücklich. Aber es wird sich schon so einregnen: wenn ich erst wieder bei meiner Arbeit sitze („Ar­beit“! um Gottes willen kommen Sie damit meiner Mutter nicht, die hat mein Verhältnis zu der Dame für -ein durchaus unanständiges und illegales er­klärt und kann sich in ärgerlichen und ausdauernden Anspielungen nicht genug tun) — wird mir schon wieder wohl werden. Etwas hab‘ ich auch schon getan: ein paar Novellen durchgesehen, (dabei manche ältere arg zusammengestrichen: meine Phantasie hat doch in einem Jahr gelernt, konziser zu „denken“). Den „Kakadu“ und den Brief aus der Kleinstadt werd‘ ich vielleicht zusammenarbeiten (nebst anderen Kleinstädtereien.) — Sexualiter ist mir auch elend zu Mute. Hier auf den Kriegspfad zu gehen, erfordert List und Spürsinn eines Siouxhäuptlings. — Jetzt zum Schluss hab‘ ich aber noch etwas Schönes für Sie, das in Ihr Lieblingsgebiet: die bildende Kunst fällt: In einer hiesigen Kunsthandlung, pardon: Gummiwarenhandlung steht im Schaufenster der Apoll von Belvedere in einer seltsamen, doch reiz­vollen Umzierung: er ist mit — Bruchband, Suspensorium und Knieschiene bekleidet!! Das heißt die Kunst dem Leben nutzbar machen.

Mit den herzlichsten Grüßen Ihr sehr ergebener Alfred Henschke.

Crossen (Oder), Ostersonnabend 1911

(oder wie man hier sagt: Kuchebacksonnbd.)

Sehr geehrter Herr Heinrich,

mit der Überarbeitung der meisten Novellen, die mir hier zur Hand lagen, bin ich jetzt fertig. Die Situation hab‘ ich in keinem Falle verändert. Es scheint mir doch sehr gewagt, den erstmaligen fri­schen bildmäßigen Eindruck durch nachträgliche Retouche verbessern zu wollen. Etwas Gutes kommt bei dem verstandesmäßigen Herumprobieren doch nicht ‚raus; im Gegenteil, der Effekt (im rechten Sinne) geht zum Teufel. Ich habe meine ganze Sorg-falt-soweit sie mir überhaupt zu eigen ist-auf Ver­besserung des Stiles und Konzentration der Handlung gewandt und manch‘ Stück, besonders von den älte­ren, fürchterlich zusammengestrichen (z. B. Kleine blonde Liselotte, die aber wahrscheinlich in einem Jahr noch kleiner [aber desto blonder] werden wird.)— Ich schicke Ihnen ein paar Novellen mit, als Ersatz für den „Don Juan“, den Sie schwerlich zu Gesicht be­kommen werden. Nach einer zweimaligen Korrektur ist er mir derart über, dass ich Anfälle kriege, wenn ich ihn von weitem sehe. —Ich freue mich auf Berlin, Freitag hoffe ich einzutreffen. Ihre Karten kamen mir beide wie Grüße aus einer „bessern Welt“. So sehr wird man hier mit geistigen Menschen über­füttert. Der Oberlehrer Calvary ist der einzige, mit dem sich standesgemäß verkehren lässt. — Der ist es auch gewesen, der mich mal auf antike Skulpturen gebracht hat. Ich habe in ihren Abbildungen ge­schwelgt. Kennen Sie etwas Verehrungswürdigeres als die Brüste der Nike von Samothrake? (Sie wissen, mein Faible für Brüste sitzt tief – und tiefer als der Tag gedacht.)

Mit den herzlichsten Ostergrüßen

Ihr dankbar ergebener Alfred Henschke. Der „Komet“ ist eine augenscheinlich neue satirische Wochenschrift, herausgegeben von Fuhrmann und Frank Wedekind. Nr. 4 brachte ein Gedicht von mir. Eine der nächsten Nummern bringt wahrscheinlich mein „Dirnengespräch“.

Crossen (Oder), Schädestraße 123 5. IV. 1911

Sehr geehrter Herr Heinrich,

mein Herr Vertreter Don Juan wird Sie in den nächsten Tagen aufsuchen (in Maschinenschrift). Er kommt Ihnen hoffentlich nicht ungelegen. Diesmal fürchte ich Ihr Urteil. Was werden Sie sagen? Ich bin selber sehr uneins: mal finde ich ihn abscheulich albern, mal scheint er mir ganz nett. — Ich habe bis­her in Crossen durch Korrekturen von Novellen und vom Don Juan manches geschafft, aber nichts ei­gentlich geschaffen. Dafür habe ich die Portokasse meines Vaters ausgenutzt und an x Zeitschriften geschickt. Mit welchem Erfolg bleibt abzuwarten. Wahrscheinlich minus. Bis jetzt ein minus (Velhligen) ein plus (Komet). Mich wundert, dass die „Lese“ München mir noch nicht geantwortet hat, es sind doch schon 4 Wochen her, dass ich die Novellen an sie schickte. Die an die „Jugend“ geschickte einaktige Plauderei bleibt verschollen. Sie ist sicher verloren gegangen. — Im Gegensatz von Berlin hab ich jetzt manches gelesen: von Potonie*, Bölsche, Fontane, Eckermann, Unus*. Das Schülertagebuch ist doch in erster Linie als Tendenzschrift gedacht? Neulich kramte ich einen seit meiner Primanerzeit nicht mehr gelesenen Reclam vor (mein Freund Th. Blum kann ihn von der Schule her noch halb auswendig): „Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading“ und staunte sehr, als ich das Titelblatt sah: Walther Unus. — Ha­ben Sie nur aus dem Englischen übersetzt? Übrigens zur Warnung: Ihre hiesigen Anverwandten renomieren mit Ihnen. Sogar in der einzig anwesenden Buchhandlung kannte man Sie. Ich fragte ganz harmlos nach dem Schülertagebuch, da sagt der Buchhändler: „Ist das nicht der Verwandte der Doerings? Natürlich! ?“

Mit der Bitte, mich Ihrer Frau Mutter zu empfehlen und besten Grüßen Ihr dankbar ergebener Alfred Henschke. Goethe sagt mal im Eckermann (25. II. 1824) «hätte ich mit der Darstellung der Welt so lange gewartet, bis ich sie kannte, so wäre meine Darstellung Persiflage geworden.“

Berlin, Auguststr. 3a – 2. Mai 11

Sehr geehrter Herr Heinrich,

es hat mir wirklich Spaß gemacht, den „Peter“ zu Ende zu denken und zu schreiben. Aber nun hat’s geklappt! 15 Geschichten und eventuell ein Epi- und Nekrolog als Vorwort (vielleicht die Rede Pastor Stiehsels‘ an Peters Grab?) sind genug. Die Tippmamsell hab ich nur angedeutet. Peter und Bubens, wie Sie mir rie­ten, werde ich doch nicht schreiben. Auch Erika die Millionärswitwe laß ich so wie sie ist. Es hat nicht Not sie von einem Jockey schwanger werden und nach England gehen zu lassen. Peter ist eine viel zu passive Natur, als das er nicht von diesem einen kal­ten Strahl, dem Briefe, genug hätte. Innen – da schwelt’s ja noch — aber zu neuen Angriffen ist ihm doch der Mut vergangen. Hoffentlich können Sie die letzten Geschichten gut lesen. Sie sind schnell und unter den Auspicien eines leidigen Tatterichs ge­schrieben. Über „Sebellina“ [ein Wort unleserlich] möchte ich Sie gern noch interpellieren. Ich habe sie als Höhepunkt der ganzen Geschichte angenommen und demgemäß Peter in dieser seiner besten Stunde über sich selbst gehoben (in dem eingeschobenen Phantasiestück.) Mit „Peter und die Kleine“ weiß ich so im Zusammenhang nichts weiter anzufangen, als dass ich sie entweder als Nr. 1 oder 2 setze. — Was hielten Sie davon, wenn ich den ganzen Peter noch einmal durchsehe, ihn tippen lasse und ihn vielleicht zu Fleischel schicke? Es käme ja auf die Probe an. Ich werde Sie in der nächsten Woche (vielleicht Frei­tag, 12. Mai) einmal aufsuchen. Bis dahin mit herz­lichen Grüßen Ihr dankbar ergebener Alfred Henschke. Ich habe eine philosophische Arbeit bekommen! Über den Begriff des „Motivs“ in der Literarhistorie! Puh! Entschuldigen Sie die Schrift!

Berlin N 24, Auguststr. 3a –  26. Mai 11

Sehr geehrter Herr Heinrich,

bitte sehen Sie mal in den Dr. J. hinein, ob er Ihnen gefällt? Nur hineinsehen, mehr nicht — um Gottes willen: vielleicht Akt III, Szene 1 oder Akt IV, Sze­ne 2 — da haben Sie die ganze Sauce.

In der Universität geht’s mir schon wieder übel: wie immer so um Semestermitte, neulich hab ich bei Dessoir* so geschlafen, dass sie gescharrt haben. Wenn man dagegen nur etwas einnehmen könnte! Übrigens hab ich an die Schönheit* was geschickt, nachdem ich vorher noch auf der Kgl. Bibl. ein paar Hefte durchgeblättert habe. Ich muss gestehen: die Temperamentlosigkeit und Schlaffheit, die in dieser Sinnlichkeit verzapft wird, ist erstaunlich. Dazu die hundsverlogne gemeine Lyrik derer von Stangen*, Ulrich*, Madeleine*, die hier ja sehr üppig gedeiht. Hin und wieder weht ein Hauch vom kleinen Witz­blatt herüber (so in dem Gedankenaustausch — heißt es wohl). Immerhin tröstet einen in jedem Heft ein anständiger Name: der Unkundige mag sich fragen, wie der dorthin kommt und warum man diese Schönheitsasthmatiker nicht unter sich lässt? Aber warum soll auch ein anständiger Mensch nicht einmal Aushilfskellner (wohlverstanden seiner eige­nen Wirtschaft!) spielen — wenn es doch gut bezahlt wird (was ich nämlich hoffe d.h. nicht von mir, dazu bin ich zu bescheiden (heißt: unbekannt), das weiß ich von meinen sonstigen literarischen Erfahrungen. Wenn Sie nichts antworten, werd‘ ich Sie Sonnabend 3. Juni besuchen. Hoffentlich ist mir bis dahin ver­nünftiger zu Mute (vernünftiger auch als vorigen Freitag) — es kommt zum Teil von einem kleinen Krankheitsanfall. Bitte empfehlen Sie mich Ihrer verehrten Frau Mutter – Ihr sehr ergebener Alfred Henschke.

Berlin N 24, Auguststr. 3a –  25. Juni 11

Sehr geehrter Herr Heinrich,

Donnerstag 29. Juni? — Und dann hätte ich zwei Wünsche. Den ersten harmlosen: wollen Sie bitte, wenn Sie gelegentlich mit dem Herrn von der „Schön­heit“ zusammentreffen, ihn veranlassen, mir meine Skripta zurückzusenden? Eine Mahnung meinerseits hat nämlich nichts gefruchtet. Zum zweiten: Hoffent­lich scheint Ihnen diese Bitte nicht aufdringlich: Sie gehen doch jetzt nach München. Könnten Sie nicht beim „Simpl“, da Sie doch sicher Beziehungen haben, mal antippen, ob er nicht eine oder die andere No­velle von mir bringen kann? Natürlich nur, wenn es Ihnen nicht contre cceur geht und Sie meine Novel­len für anständig genug halten. — Der Simpl. ist doch beinah der einzige Weg für mich, in die Litera­tur zu gelangen. Vielleicht werden Sie diese meine „Eile“, in die Literatur zu gelangen, missbilligen oder falsch deuten. Soll er doch erst ausreifen! Wozu die Hast — oder dieser Ehrgeiz, sich gedruckt zu se­hen! So ganz gewöhnlicher Ehrgeiz ist es doch nicht (auf meinen Namen kommt es mir nicht an, meinet­wegen kann sonst was drunter stehn) — ich will nur eine Garantie haben, einen Rückhalt an mir selbst, wenn ich vor den andern stehe — da ich nicht voraus­sehe, wohin mein Schiff die nächsten Jahre schau­kelt. Das mit dem Oberlehrer oder Doktor: wenn ich mit meinem Vater oder mit Ihnen darüber rede, dann ist es mir selbst sonnenklar; Du musst irgendetwas machen, auf den Kopf gefallen bist Du doch nicht, sei nicht so schlapp. Und vor mir selbst, allein, (ich bin 99 % meiner Zeit ganz allein, das tut auch manches dazu!) komm‘ ich nicht ins Reine: Du bist eben doch auf den Kopf gefallen — dazu, sag ich mir oft genug (ist das nur bloße Faulheit?) — Deshalb will ich auch den Peter bis zum Winter fertig ma­chen (ist er dann nichts, wird er nie was.) Ich habe Sie noch nie gefragt; heute möcht ich’s: bitte, glau­ben Sie, dass ich ein anständiger literarischer Cha­rakter bin oder werde? Ihr dankbar ergebener Alfred Henschke.

Ohne Datum

Lieber Herr Heinrich,

der gestrige Abend hat mir zwei weitere Geschichten von „Peter“ gebracht. (Sie werden scheint’s so eine Art zweiter Muse für mich!! (linker Hand).) Vielleicht interessieren Sie die noch. Da ich sowieso nach Char­lottenburg* muss — eine Dame abholen — so bringe ich sie noch beide mit ran, oder den ganzen „Peter“, wollte Ihr Herr Freund ihn sich nicht ansehen? Mit herzlichen Grüßen Ihr sehr ergebener Alfred Henschke.

 

Berlin N 24, Auguststr. 3a –  27. Juni 11

Lieber Herr Heinrich,

besten Dank für Ihre Karte. Das müssen Sie mir aber bitte einmal mündlich auseinandersetzen, wie Sie das mit dem Reaktionär „Siml“ meinen. Ich be­ginne nämlich mich mehr und mehr philosophisch zu interessieren, lese sogar Ph. und lasse mich von einem philos. gebildeten Manne, den ich neulich aufgegabelt, „aufklären.“ Gearbeitet hab ich nichts, weder nach der einen, noch nach der andern Seite — ein paar Gedichte ausgenommen. Ich will es nachho­len, wenn ich zu Hause bin. Eine kleine Reise hab ich doch vor (oder besser mein Vater) nach Dresden. Ich habe nun eine Bitte an Sie, der Sie Dr. gewiss sehr gut kennen: würden Sie mir ganz kurz sagen, was man sich in Dr. am besten ansieht, gerade von den Dingen, die abseits der Touristenwege liegen? — Ich schicke diese Karte an Ihre Berliner Adresse, da ich nicht weiß, ob Sie noch Hallstadt bewohnen oder weitergezogen sind. Wie war das mit der ungari­schen Sprache? Oder kommen Sie erst nach Ungarn? Ich hoffe, dass Sie sich recht erholen, vielleicht haben Sie gar produziert, dann bitte lassen Sie es mich lesen. — Ihre letzte Frage kann ich Ihnen nicht zu meiner Zufriedenheit beantworten: ich bin noch im­mer nicht gesund: Es scheint aber besser zu werden (es ist wirklich Zeit, denn es geht in die lote Woche). Mit herzl. Grüßen, Ihr dankbar ergebener Alh.

Brückenberg, Riesengebirge Deutscher Kaiser 16. Aug. 11

Lieber Herr Heinrich,

ich bin leider nicht zum Vergnügen hergeschickt: ich hab‘ mir einen bösartigen Husten aus Berlin mitgebracht und der Arzt hielt sofortigen Luftwechsel und Höhenluft für nötig. Meine Eltern und der Arzt machten die Sache sehr ernst — ich bekenne mich zu einer leichteren Auffassung. – Arbeit ist mir verbo­ten, Faulheit zum Prinzip erhoben. Vorläufig lässt’s sich noch ertragen. Ich hätte den „Peter“ sehr gern fertig gemacht, hatte nämlich schon angefangen, ihn von vorn an noch einmal umzuschreiben. Mit Dres­den ist so natürlich auch nichts geworden. Mein Va­ter, der mich hergebracht, ist wieder nach Hause, um Bürgermeister zu spielen. —

Die Höhenluft, es sind immerhin 890 m, muss doch sehr reinigend auf den Geist wirken. Mir ist un­glaublich hohl zu Mute und von Gedanken keine Idee. Ich werde Sie aber mal eines Tages mit Wesen „ überfallen, die noch in Berlin gewachsen sind in der Periode meiner Fruchtbarkeit, obgleich Sie meine Gedichte ja abscheulich finden.

Ich atme tief, esse Eier, trinke Milch, friere und weide mich an den violetten Seidenstrümpfen und Lackschuhen der Ansichtskartendame auf der Schlingelbaude, die aber keine weiteren Reize aufzuweisen hat. Alle Frauen sehen hier entsetzlich aus: sie tra­gen Lodenröcke, weiße schlumpige Blusen, Tiroler Hütel. Auf die hintere Rundung ist das Tape ge­schnürt. —

Ich bin müde und möchte Sie und mich nicht weiter anstrengen. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mir einmal schreiben würden, aus „Berlin“, das ich wohl im Winter nicht sehen werde. Es tut mir wirk­lich sehr leid. Mit den besten Grüßen dankbar ergeben Ihr Alfred Henschke.

Brückenberg, 31. Aug. 11 Deutscher Kaiser

Lieber Herr Heinrich,

eigentlich hatte ich die Absicht, Ihnen philosophisch zu kommen — aber ich habe mich unglücklich ver­liebt, unglücklich durch meine Schuld, und da ist alle Philosophie verflogen wie Spreu vorm Winde. Eines möcht‘ ich Ihnen immerhin zugestehen: Die Möglichkeit, dass ich mich in meiner Wertschätzung für Simmel getäuscht haben könnte. Als Verehrer der Sprache imponieren mir schön und zierlich ge­drehte Worte immer: rein aus sich. Außerdem bin ich philosophisch zu ungeschult, um Begriff und Wort immer richtig zu trennen oder richtig zusammenzu­bringen. Einen Teil Schuld, dass wir Laien sie nicht oder falsch verstehen, trägt doch aber die „Philoso­phie“ selbst. Der reine Philosoph — es ist wie beim Tennisspiel — gibt einen Ball, der andere gibt ihn zurück — da fällt er zu Boden, und der erste nimmt seelenruhig einen anderen Ball und schlägt wieder an. Der andere wollte eigentlich den ersten zurück haben, und nun bekommt er einen Ball, der beinah so aussieht, wie der erste, aber es ist doch nicht der­selbe. So scheint es mir mit den philosophischen Be­griffen sich zu verhalten. Man zahlt nicht in der gleichen Münze. Wie der Blitz verwandelt sich der Pfennig zum Kreuzer, der Kreuzer zum Centime: da soll einer dann den „Begriff“ des Pfennigs beim Cen­time herausknobeln. Wer die verschiedenen philoso­phischen Münzsorten gelernt hat, der weiß sie na­türlich auseinanderzuhalten. Außerdem scheint das Geschäft wenig reell, wie Mauthner* in seiner – Sprachkritik ja gezeigt hat. Was der eine a nennt, nennt der andere b, der dritte c und im Grunde mei­nen sie alle x, alle dasselbe, können’s nur nicht zu­geben. —

Gesundheitlich hab‘ ich nicht zu klagen. Wie lange ich noch hier bleibe, weiß ich nicht: 14 Tage — 5 Wo­chen. Verkehr hab‘ ich hier mit niemand. Bei Gele­genheit schicke ich Ihnen, wenn Sie nichts dagegen haben, einen Einakter: „Laura am Klavier“ oder Verse.

Mit herzlichen Grüßen immer Ihr sehr ergebener Alfred Henschke. Was mich sehr gefreut hat: Wilh. Schäfer hat für die „Rheinlande“ (Deutschen Monatshefte) 4 Gedichte von mir erworben. — Auch an meinen heftig um­worbenen Freund, den Simpl, hab ich mich mal wieder gewandt.

Crossen (O.), 15. IX. 11

Lieber Herr Heinrich,

quidquid id est — meine Hinneigung zum Studium ist in Brückenberg natürlich nicht gewachsen. Das himmelblaue süße „Nichtstun“, das einem da er­glänzte, wäre für ein nicht allzu langes Leben (das ich wohl nicht zu fürchten habe, eher das Gegenteil) ein nicht unsympathisches Programm. Ich war bis auf zwei Tage immer allein — und habe mich nie ge­langweilt (wie stolz das klingt!). Kaum etwas gele­sen, eine kleine Geschichte geschrieben, sonst nur lyrisch ausgeschlagen.

Ein Dutzend Gedichte, die mir eigentlich gefallen. — Ob ich nun ein schlechter oder guter „Dichter“ bin, jedenfalls sind mir die Organe zu einer andern Lebensart verkümmert. Das Dilemma, in dem ich mich befinde, kommt mir schon recht schmerzlich zum Be­wusstsein — und je länger, je mehr. Nach der einen Seite drückt es mich, meinem Vater noch so und so lange auf der Tasche zu liegen, andrerseits bring‘ ich die Energie zum Studium nicht auf. Eben weil es mir zuwider ist. Davon, dass ich nicht arbeiten will, ist ja keine Rede. Wohin nun den Winter? Ich möchte wieder nach Berlin (oder München), auch in Marburg würde mein philosophischer Eifer nicht lange anhalten. Oder Genf? Da wäre doch Hoffnung, dass ich Französisch lernte. Oder lernt man das da nicht? Außerdem ist da wohl bessere Luft als in Ber­lin. Wenn ich wieder nach Berlin käme, würd‘ ich in Zehlendorf oder sonst draußen wohnen. Das müsst‘ ich schon — meiner Lunge wegen. Hier ist guter Rat so teuer wie die diesjährigen Kartoffeln. (Die Un­schlüssigkeit hab‘ ich von meiner Mutter geerbt. Sie liegt übrigens sehr krank nieder.) Anfang Oktober fahr‘ ich zu einem Bekannten auf 2, 3 Tage nach Wismar. Der hat’s gut, hat schon eignes Vermögen. Ich fürchte, ich werd‘ noch Schurnalist. „In der Wohnung des Arbeiters Mappler in der … Straße ereignete sich heute gegen 2 Uhr morgens eine schauerliche Familientragödie. Nicht genug, dass derselbe mit einem Beile auf sie einschlug, zer­schmetterte der Unhold auch seine kürzlich geleerte Schnapsflasche auf dem zarten Schädel seines drei­jährigen Söhnchens. Nachbarn, die . . .“ Man muss nur aufpassen. Mit herzlichen Grüßen ergebenst Alfred Henschke.

Crossen (O.), Donnerstag ?/11

Lieber Herr Heinrich,

voila ein Manuskript, das sich hoffentlich zu seinem Vorteil verändert hat: „Peter“, der „Werther“ unsrer Zeit, der verhinderte Wüstling, in der Form, die ich ihm lassen möchte. Ich werde ihn so einem Verlage ein­reichen, welchem, weiß ich noch nicht. Bitte, wie gefällt er Ihnen nun? Zu klein für ein Buch ist er durchaus nicht, man müsste ihn im Stil des braven seligen Hartleben* drucken d.h. mit einem riesigen Band: Dann kämen ungefähr 150 Seiten heraus. Und vielleicht könnte es sogar ein Geschäft werden, denn langweilig ist er doch nicht? Aber vielleicht sind das Utopien eines Anfängers und Sie werden sie belächeln. Ich habe drei Wochen und mehr an „Peter“ herumgedoktert und mir die Finger in Schönschrift wundgeschrieben. Er hat mir mindestens so viel Kopfschmerzen gemacht, wie meine Zähne, an de­nen ich auch zu tun hatte, indem man mir wieder einmal sieben Plomben eingesetzt hat. — Gleichgewicht? O, im Gleichgewicht bin ich nicht — mehr. Ich war es in Brückenberg. Jetzt kommen wie­der die Bedenken gegen die eigne Würdigkeit. Man legt die Grundsteine seiner „Bildung“ nicht fest ge­nug, man baut und setzt den einen Stein, während der andre noch nicht mal fest sitzt usw. Man ist schlapp, bequem usw. Die üblichen Vorwürfe … es geht wohl vorüber.

Ich bin in Berlin exmatrikuliert. Also wohin? Mein Vater rät Genf. Da lerne ich doch Französisch. Mün­chen lohnt auch. In 14 Tagen muss ich mich entschlossen haben.

Ich hätte Ihnen gern noch ein Schreibmaschinen­skriptum beigelegt — aber die Dame ist natürlich nicht fertig.

Mit herzlichem Gruße und lassen Sie was Gutes am neuen „Peter“.

Ihr sehr ergebener Alfred Henschke. Heute las ich einen Anschlag: American Theater: 8 30 Uhr „Abgründe“ Sensationsdrama in 2 Aufzügen. Das empfahlen Sie mir doch? Nun ist’s schon in Crossen. Ich werde hingehen.

Crossen (Oder), 12. Okt. 1911

Lieber Herr Heinrich,

der Besuch war Gottseidank nicht gekommen. Ich hatte Zeit in Fülle und habe sie ganz dem „Peter“ ge­widmet. Wie Sie sehen werden, habe ich in Einzel­heiten noch sehr viel geändert (und mir Ihre Mah­nung, die Flaubert mir schon hätte beibringen müssen, zu Herzen genommen: keine leeren Redensarten, sondern Bewegungen, Gebärden, „Natur“). Da ich Mitte nächster Woche nach Berlin zu kom­men gedenke, und der „Peter“ wohl keineswegs bis da­hin abgeschrieben sein kann, schicke ich den Burschen nochmals an Sie: Sie wollten ihn ja auch vor seiner Einkleidung in Schreibmaschinenschrift noch einmal sehen? Ich dachte es mir nun so: wenn Sie ihn gebes­sert und gereift erachten und die Freundlichkeit ha­ben wollen, mit Herrn Reiß* zu sprechen: so könnte ich ja bei meiner Anwesenheit in Berlin Herrn Reiß das Manuskript vorlesen. Die halbe Stunde hat Herr Reiß vielleicht Zeit dafür und es ist für ihn sicher bequemer, als wenn er das (augenblicklich nicht sehr vorteilhafte) Manuskript selbst lesen muss. Ich selbst spare mir aber im Falle der Nichtannahme die doch mindestens 40 M. betragenden Kosten nochmaliger Abschrift. Nimmt er an, macht das ja nichts. Bitte, schreiben Sie mir ganz kurz Ihre Meinung? Ich teile Ihnen meine Ankunft, sobald ich’s selbst weiß, mit.

Herzlichen Dank für alle Ihre — darf ich sagen — Freundschaft? Herzlich ergeben Alfred Henschke.

Über Einzelheiten, die noch strittig sein könnten: Das Vorspiel, „Die retardierenden Momente“ (die ich schwer hergeben möchte) besser mündlich. (In Betracht für Streichung kämen nur: Vorspiel, die Cafescene, Scene vor dem Nachtcafe, Milieu­schilderung des Sidonie’schen Zimmers.)

München, Heßstraße 25 25. 10.11

Lieber Herr Heinrich,

ich atme auf — von Berlin, wirklich. Dort weht doch eine dumpfe Luft, allzu sehr sub specie veneris vul-givagae. Ich bin wieder einmal frei, ähnlich wie in Brückenberg, ich glaub‘, ich könnte Verse machen – wenn ich nicht der althochdeutschen Grammatik und ihren i, o, u und konsonantischen Deklinationen mich verschrieben hätte. Ich arbeite. Und als Füllsel mei­ner Muße dient mir Wilhelm Meisters theatralische Sendung. An Einzelheiten wundervoll, das Ganze (soweit ich’s übersehe) Konzept, wenig oder gar nicht korrigiert. Die Jugendgeschichte W. M. weist über­raschende Ähnlichkeit mit den psychologischen „Ent­wicklungsromanen auf, wie sie vor kurzem Mode waren. Also: Der Goethe der theatralischen Sen­dung, der Mann des 19. Jahrh. Der Goethe der „Lehr­jahre“ der des 20. Jahrh. Und der letzte ist mir lie­ber. —

Sie schimpfen so auf München, damit meinen Sie das Biervolk, — aber das andere, die Straßen, den englischen Garten, die „Menschen“, sind sie nicht liebenswürdiger als in Berlin? Herzlichen Gruß Ihr Alfred Henschke.

München, Heßstr. 25 31. Oktober 1911

Lieber Herr Heinrich,

anbei die Affäre mit Elli: (Eventuell könnt ich noch schreiben: Peter in einem Nürnberger Bordell (auf der Durchreise nach München) aber es wird zu viel. Lassen wir es lieber. Ich würde mich sehr freuen, wenn es Herr Reiß nähme, die Sache mit dem Hanns Sachs Verlag und meinen Versen hat sich nämlich zerschlagen. Er fand, sie hätten zu wenig „Form“. So ein Unsinn.

Leider habe ich schon wieder Verse gemacht, folgen­den Genres:

Hui über drei Oktaven
Glissando unsre Lust
Laß mich noch einmal schlafen
An deiner Brust.

Fern schleicht der Morgen, sachte,
Kein Hahn, kein Köter kläfft.
Du brauchst doch erst um achte Ins Geschäft.

Laß die Matratze knarren.
Nach hinten schläft der Wirt.
Wie deine Augen starren.
Dein Atem girrt.

Um deine Stirn der Morgen
Flicht einen bleichen Kranz.
Du ruhst in ihm geborgen
Als eine Heilige und Jungfrau ganz.

Oder:

Tu ab die Gummischuhe
Und das Corsett.
Wozu denn das Getue Schockschwerebrett.

Oder:

Ihre Gegenwart alleine
Füllt die Luft mit Stank und Ruß.
Lieber streckte ich die Beine
Als die Hand zum Gegengruß.

Eine feine „Blütenlese!“ Hoffentlich hat der Peter Glück. Herzlichen Gruß Ihr dankbar ergebener Alfred Henschke. Ich bitte, mich Ihrer Frau Mutter zu empfehlen.

München, 9. 11.11

Lieber Herr Heinrich,

mir ist heut gräulich, ich habe mein Quartalselend. Das ist sehr gut, dass Sie P. noch nicht gelesen ha­ben, ich wollte Sie bitten, beim Lesen folgendes noch zu streichen: Die Cafescene am Anfang, bei Ruth Treppengeländer von: „eine Geliebte!“ bis „Am Donnerstag besuchte mich Müller.“ Ferner die Rede des Sittlichkeitsapostels. Ganz, die muss ich bei Ge­legenheit nachschreiben. Überhaupt würde natürlich auch ich mir das Ganze noch mal durchsehen. Am Sonntag war ich in Tölz. Kennen Sie’s? Was meinen Sie zu einer Doktorarbeit über Büchner? Herzlichst grüßt ergebenst Alfred Henschke.

München, Heßstraße 25 – 17. XI. 1 1

Lieber Herr Heinrich,

verzeihen Sie den Bleistift – ich schreibe auf der Bi­bliothek (woraus Sie sehen, dass mein guter Vorsatz noch nicht erschüttert ist). Ich komme mit einer Fra­ge, die eigentlich eine Bitte ist: steht es in Ihrem Vermögen und Wollen, mir die Bekanntschaft Hein­rich Manns (oder Karl Henckells zu vermitteln? Gewiss nicht, um sie literarisch auszubeuten — aber glauben Sie nicht, dass es für mich förderlich sein würde, wenn ich Heinrich Mann kennenlernte, mit dem mich, ohne mich sonst mit ihm vergleichen zu wollen, eine gewisse Gleichheit des Ziels verbindet?

Karl Henckell steht mir als Schaffender sehr viel fer­ner — aber es soll doch ein so ausgezeichneter feiner Mensch sein — und Exemplare dieser Gattung kenne ich hier eigentlich nicht. — Sie werden sagen: Um Gottes willen, dann kommen Sie womöglich doch in den literarischen Tratsch rein, vor dem ich Sie bewah­ren wollte: ich bin nämlich schon halb und halb drin. Gestern habe ich Max Halbe privatim sein neustes Drama (noch ungedruckt) vorlesen hören, „Der Ring des Gauklers“, habe ihn (entsetzliche) Ansichten über die Kunst äußern hören und habe sogar einen Hän­dedruck mit ihm getauscht.

Also. — Vorgestern hat Wedekind sein neustes Mysterium vorgelesen, „Franziska“. Ein wundervoller er­ster Akt, dann schwillt es ab, den vierten versteh‘ ich überhaupt nicht. Ich habe der Premiere des „Drachen Grauli von Dauthendey beigewohnt, eines der unglaublichsten Stücke, die ich je gesehen: Unwahrheit des Gefühls, verlodderte Sprache, unfreiwillige Ko­mik, das Ganze in eine halb Nick Carter halb Maeterlinck’sche Tunke getaucht. — Eine Hand wäscht die andre. Das ist der Leitsatz der heutigen Schriftstellercliquen. Ganz abgesehn von meiner allerpersönlichsten Anteilnahme an dem oder jenem: ich würde mich einen Esel schelten, wenn ich es diesmal verabsäumte, (wo ich doch auf festeren Füßen stehe als früher), die hiesigen Literaturkreise kennen zu lernen. Ihrer — vielleicht gegenteiligen Ansicht sehe ich gern entgegen.

Sie brauchen sich bitte mit der Antwort nicht zu be­eilen. Es hat schon Zeit. Mit herzlichen Grüßen Ihr dankbar ergebener Alfred Henschke.

 München, 26. XI. 11

Ich habe eine Parodie auf Wedekind geschrieben: „Brigitte“, ein modernes Mysterium, einige Skizzen und sehr viele Verse. Ganz gespalten bin ich, wie ein Scheit Holz lieg‘ ich mir herum. Soll ich mich sam­meln? Diese Stücken Holz? Was ist überhaupt echt an mir? Und was beabsichtigt? Ich kann’s nicht trennen. Kennen Sie Büchners Novelle „Lenz“? So un­gefähr. Was ich in solchem Zustand für Unsinn an­rieht‘, (mir und anderen) ist unaussprechlich. Die schöne Ruhe, mit der ich Berlin verließ, ist vorbei. Aber glauben Sie, München ist nicht daran schuld. Es wäre mir überall ebenso gegangen. Ich habe näm­lich ein gänzlich undiszipliniertes Temperament, es gelingt mir wohl manchmal — es wie den wandel­baren Geist des Märchens in die Flasche zu ver­schließen, aber ich kann es nicht lange halten, der Korken springt und ein Riese schwillt empor. Ich will heute zu Muncker gehen — ich war noch nicht da. Hoffentlich schmeißt er mich nicht raus.

München, Heßstraße 25 – 30. XI. 11

Lieber Herr Heinrich,

ich danke Ihnen sehr für Ihren Brief. Ich hatte einen ernsten Verweis (wie ich ihn gewiss verdient hätte) erwartet und nun — Mein Zustand ist immer dersel­be: laut, still, selbstbewusst, zerknirscht, begeistert, angeekelt — und alles zur selben Zeit und von der milden Sauce einer physischen Müdigkeit Übergossen, die mir manchmal schon beinah im Gehirn zu sitzen scheint. Ich komme mir vor wie weiland Simplizius Simplizissimus, da er zum Narren gemacht werden sollte — mit dem Unterschiede, dass ich die Prozedur selbst an mir vornehme und vielleicht ein wirklicher Narr werde. —

Ich habe neulich ein kleines Buch lyrischer Gedich­te zusammengestellt: Der Brunnen. Außerdem habe“ ich hier Abenteuer, etwa 20 Anekdoten, und ebenso viel Novellen, ein Heft ironischer Gedichte und eini­ge einaktige Komödien (in Crossen). Was davon aber fertig ist? Bitte sagen Sie mir, ob ich Ihnen die lyrischen Gedichte schicken soll, es ist wohl über­flüssig, dafür würde sich R. sicher am wenigsten erwärmen. Aber als „Talentprobe“ vielleicht. Eini­germaßen fertig sind dann einige Novellen und Anekdoten. (Letztere allein in ihrer Form und sexu­ellen Psychologie literarisch.) Die Komödien sind wohl ebenso überflüssig. — Bitte schicken Sie mir den Peter jetzt noch nicht, er würde mich nur stören, ich werde ihn natürlich noch einmal durchsehen. Aber bitte jetzt nicht. Wenn Sie mich Henckell vorstellen würden, würde ich mich sehr freuen und es Ihnen sehr danken. -Von Hause hab‘ ich wenig Nachricht. Es ist mir zeitweise so versunken, dass ich neulich einen Brief von meinem Vater in der Hand hielt und ihn las und dachte: wer ist das eigentlich? woher kennst du ihn eigentlich? –

Im Gegensatz zu früher bin ich jetzt von einem Ge­selligkeitstrieb besessen. Ich kann abends selten al­lein sein: ein Zeichen der langsam beginnenden Vertrottelung. Ich war noch nicht einmal in der Pinako­thek. Mit den herzlichsten Grüßen Ihr dankbar ergebener Alfred Henschke.

München, Heßstraße 25 – 12. 12. 11

Lieber Herr Heinrich,

ich komme eben von Burger. Er empfing mich sehr eilig und abgehetzt. Er habe jeden Tag an Wolff* schreiben wollen, aber er habe so viel zu tun … dass er Ihnen den Empfang des Bildes nicht bestätigt ha­be (mit einem distinguierten Händereiben) mein Gott, das sei doch nur ein kleiner Formfehler … er sei, wie gesagt, sehr beschäftigt… er habe Wolff schon vor Monaten geschrieben, dass er das Bild nicht unterbringen könne . . . Wolff sei wohl etwas aufge­regt … es tue ihm sehr leid . . . aber wenn er ihm vielleicht ein paar kleinere gute Bilder, wie er sie auf der Essener oder Barmener Ausstellung gesehen, schicken wolle … er werde dann jedenfalls versuchen . . . natürlich dürfe er keine übertriebenen Prei­se stellen . . . Das Bild stehe jedenfalls beim Haus­verwalter der Universität (hab ich verstanden) zu unserer Verfügung … er werde es noch heute her­unterschaffen lassen … So ungefähr. Burger ist lang, elegant, schlanker Gehrock, spitzer Bart, spitze Augen. Ich bin sehr skeptisch gegen ihn. Ich glau­be, er ficht in diesem Falle für die Kunst lieber mit dem Maule. Ich glaube nicht, dass man Wolff etwa raten dürfe, oben genannte kleinere Bilder Burger zu schicken. Es würde wohl derselbe Tanz. Was nun? Ich bin sehr gern bereit, Ihnen und Wolff weiter in dieser Sache dienlich zu sein. Geht es Wolff materi­ell so schlecht? Burger erwähnte das glaub‘ ich ne­benbei. Ich konnte ihn ja nicht so verteidigen, wie ich wohl gewünscht hätte, da die Vorgeschichte dieser Bilder mir ein wenig dunkel und nur zu ahnen ist. Soll ich das Bild vielleicht abholen lassen und bei mir vorläufig unterstellen?

Von Büchern Ihrer Bibliothek habe ich nichts. Die ungarische Grammatik werd ich mitnehmen, wenn ich jetzt nach Berlin komme. Ich will nämlich Weih­nachten nach Hause und falls ich Sie sprechen kann, mach‘ ich in Berlin Station. Etwa nächsten Dienstag oder Mittwoch. Haben Sie da am Abend Zeit? Mit herzlichen Grüßen, bitte grüßen Sie auch Wolff von mir.

Ihr sehr ergebener Alfred Henschke. Geschrieben im Cafe Stefanie, wo ich einen großen Teil meines Münchner Lebens leider zubringe.

Crossen (Oder), 1. 1. 12

Lieber Herr Heinrich,

ein gutes und gesundes neues Jahr! Die „Offiziere“ haben Sie hoffentlich inzwischen unversehrt erhalten. Sie gefallen mir recht gut, nur hin und wieder (wohl in der Buchform) ein wenig un­übersichtlich und der Hauptheld (Ernst heißt er wohl) zu typisch, zu wenig Individualität, zu sehr (innerlich) mit Moral vollgepfropft. Er scheint mir am wenigsten gelungen. — Ich komme nächsten Sonntag nach Berlin. Haben Sie nachmittags Zeit? Bitte, teilen Sie mir’s kurz mit. Ich muss außerdem noch in Halle, Marburg (bei Verwandten) und Nürnberg Station machen. Mit Leipzig schwanke ich … Wenn Sie H. Reiß den Einakter zeigen, dann zeigen Sie ihm bitte den „Peter“ auch noch. Wenn er nur einige Sympathie für ihn empfindet (was noch zu nichts verpflichtet), so will ich ihn in München zur Faschingszeit (die rechte Zeit dafür) noch mal durcharbeiten. Auch die Verse möcht ich Ihnen von München schicken. Die Sache ist die: mein Vater will eventuell im Frühling mit mir nach Oberitalien fahren, da will ich ihm meine Absicht langsam bei­bringen. Ich glaube, dies würde mir ziemlich leicht, wenn ich ihm für die Zukunft für eine gewisse „Realität“ (d. h. z. B. ein Buch) bürgen könnte. Ich hoffe mich darin nicht zu täuschen.

Ich habe in der letzten Zeit einige Novellen ge­schrieben und habe augenblicklich mit einer drei-aktigen Komödie zu tun, von der eineinhalb Akte fertig sind. Leider bin ich zu faul, sie zu Ende zu schreiben. Die Akteure sind Studenten und eine junge Dame namens Eva (nein, nicht Lulu!). Haben Sie von dem Burger Nachricht bekommen? Die Photographien? Herzlichen Gruß Ihr sehr ergebener Alfred Henschke.

16. Januar 1912 München, Heßstr. 25

Lieber Herr Heinrich,

es tat mir sehr leid, Sie nicht zu treffen. Die Manu­skripte habe ich, da ich im Augenblick nicht recht wusste, was anfangen, bei Ihnen liegen lassen. Hoffentlich liegen sie Ihnen nicht im Wege. Die „Verse“ hat augenblicklich Dr. Kutscher (von denen ich Ih­nen wohl schon erzählte). Ich darf sie Ihnen, wenn ich sie zurück erhalte, wohl schicken. Henckell hat die Verse ebenfalls gelesen und mir daraufhin einen Brief geschrieben, den ich beilege. Übrigens ist es mir nicht ganz klar, ob er sich selber so halb und halb als Anwart der „reinen Lyrik“ betrachtet. Ich selber glaube an das Dogma der reinen Lyrik na­türlich nicht. Ich sehe nicht ein, weshalb Lyrik ego­zentrischer sein soll als das Drama. Dort schlägt man auf einer Saite einen Ton, hier mehrere Töne an: Aber es ist doch dieselbe Saite. Ich erwarte von jener Objektivität der Lyrik, wie sie sich z. B. in Goethes „Meeresstille“ ausspricht, sehr viel. Ich habe meine Reise hierher über Halle (wo ich einen Freund besuchte, der dort als Redakteur mit 75 Mark sein Dasein fristet: übrigens ein wunder­voller Kerl), Cassel — die Holländer sind ja hier sel­ten schön vertreten: Dyck, Rubens, Hals, Rembrandt. Rubens, den ich in Berlin nicht leiden konnte, ist mir hier neu aufgegangen, die Italiener allerdings miserabel —, Marburg, Frankfurt/Main (Goethe­haus) geführt. —

Hier ist jetzt der Fasching eingekehrt, und man lebt zum größten Teil im Bett und auf Redouten. Ich fühle mich ganz wohl, lese zwischendurch Nietzsches „Fröhliche Wissenschaft“, beschäftige mich mit Feuer­bach und — durch die Reichstagswahl angeregt -politischen Ideen. Das wäre so ziemlich alles. Mit herzlichen Grüßen Ihr sehr ergebener Alfred Henschke.

19.I.12

Lieber Herr Heinrich,

anbei der „Brunnen“. Dr. Kutscher gibt ihn mir zu­rück. Er sagte (wörtlich): er habe lange niemanden gefunden, dem er so bestimmt versichern könne, wie fest er an ihn glaube, … ungeheure Verlebendi­gung . . . natürlich einzelne schwache Gedichte . . . er freue sich, wie gesagt, sehr, … Was ich weiß, weiß ich jedenfalls. Er hat jedenfalls keinen Grund, mir Komplimente zu sagen. Die Bleistiftstriche sind von Henckell, der, wenn auch nicht alles, so doch die meisten Gedichte ebenfalls gesehen hat. Auf Ihre Ansicht bin ich am neugierigsten. Ich halte die Gedichte wenigstens für das in seiner Art Abgeschlossenste meiner Produktionen. — Henckell las gestern das „Lebenslied“ vor. Drei sehr schöne Gedichte. Die andern gefüllt mit sehr viel Pathetik und Moral vom Liede. Für mein Gefühl zu viel Handgreiflichkeit in den Ideen, zu schwach in den Körpern. Das ist sehr schade. Mit herzlichen Grüßen und schreiben Sie mir bitte bald. Ihr sehr ergebener Alfred Henschke.

München, Heßstraße 25 – 15. 11. 12

Lieber Herr Heinrich,

bitte entschuldigen Sie den vornehmen Briefbogen. Ihr Paket kam an, als ich mich gerade (wieder ein­mal) von meinem Krankenlager erhoben hatte. Aber es ist nicht so schlimm. —

Im Urteil über meine Verse stimme ich völlig mit Ihnen überein. Die wirkliche lyrische Kraft liegt auch für mich in den (nach Henckell) unlyrischen Gedichten. Aber auch die (nach Henckell) rein lyri­schen Gedichte sind nicht alle schlecht, sie charakteri­sieren die Entwicklung, die in der Lyrik (wundern Sie sich?) folgendermaßen verlaufen ist: (ich fange von vorne an:) Heine – C. F. Meyer – Goethe -Mörike — Wedekind — Verhaeren (eine Vorle­sung!) – Henschke. Ich weiß nicht, ob man Verhaerens Einfluss noch merkt? Natürlich hab ich nie nach Vorbild gearbeitet. — Ich will versuchen (viel Hoffnung hab‘ ich nicht), den „Brunnen“ hier loszu­werden. „Ein Buch herauszugeben“ ist allerdings nur für den Laien imposant. Aber sind die Leute, von denen ich materiell abhängig bin, nicht „Laien?“ Wird ihre Achtung vor mir nicht unermesslich schwellen und sie auch in den Geldbeutel greifen lassen? Aber ich selber schwelle und komme mir, wenn auch nicht imposant, so doch ein wenig nütz­lich vor — den andren gegenüber, die mir vorläufig, nach Belieben, meine Nutzlosigkeit, Faulheit, schein­bare Niedertracht, vorwerfen können. Es ist ein sehr schönes Wort von dem: sich selbst genug sein und vom Piedestal erhoben auf das, was übrig bleibt, herabkotzen. Aber wer hält es in Wahrheit aus? Man will doch wirken, Wirkung und (allerdings) Gegenwirkung: Liebe sehen. Man will doch nicht in sich verrinnen. (Natürlich spielt auch die Eitelkeit mit: die Tendenz unserer Komödien: alles ist eitel. Die Tendenz unserer Komödie: folglich sind wir am allereitelsten.) —

Im Theater war ich selten. „Von Bedeutung hab‘ ich nur Eulenbergs „Alles um Geld“ gesehen. Hoffentlich kommt das russische Ballett auch hierher? Sie sprachen vor einem Jahr schon begeistert davon. In der Literatur hab‘ ich auch keine neue Bekanntschaft gemacht. Beinah‘ hätt‘ ich neulich Friedrich Huch kennen gelernt: aber mir war unwohl und ich könnt‘ nicht hingehen. Meine Zeit im Bett hab ich mir mit Heinrich Manns Göttinnen* vertrieben. Ich weiß nicht, weshalb bei aller Pracht und Beherrschtheit im Einzelnen keine glückliche Gesamtwirkung her auskommt. Es ist zu viel Prunk, zu viel Stuck am Haus und im Haus.

Georg Heym ist ein sehr schwerer Verlust. Einer, bei dem mit „reiner, unangewandter Lyrik“ schon gar nichts zu machen ist. Wer ist eigentlich der, mit dem er zusammen ertrank? Ernst Blaß? Ich habe übrigens ein paar (hastige) Zeilen über ihn in der „Münch. Neust.“ geschrieben. Hoffentlich haben Sie sie nicht zufällig gelesen. —

„Licht und Schatten“ hat mich – höflich abgedankt: aus wahrscheinlich demselben Grunde: unreine Lyrik, zu wenig Gefühl. „Die Schaubühne“ bringt doch auch manchmal Gedichte. Könnte man da nicht mal was hinschicken (Helena: das ist doch: Thea­ter)? Wie ist Jacobsohn?

Bitte, Sie brauchen mir nicht bald zu antworten; ich schrieb eben, weil ich reden wollte. Verwenden Sie, bitte, Ihre Zeit für sich. Ich habe nicht so viel zu verlieren. Herzlich ergeben Ihr Alfred Henschke.

Gardone, 12. 3. 1912

Lieber Herr Heinrich,

einen herzlichen Gruß aus Gardone. Wir sind über Bozen und Torbole hierhergefahren. Gottseidank ist es warm. Beinah heiß. Man treibt sich den ganzen Tag draußen in der Sonne herum, ohne sich sonst um Gott und die Welt zu kümmern. Das Essen ist gut, die Getränke sind gut, bloß mit meiner Gesundheit ist immer noch alles nicht so, wie es sein soll. Ferner ist hier eine Spielbank, die mich sehr an­zieht. Kümmerliche 10 fr. hab‘ ich gewonnen.

Ihr sehr ergebener A. H.

Hotel Germania 23. 3. 12

Gardone Riviera Georg Ertl

Lieber Herr Heinrich,

Italien! aber durch die offene Balkontür klingt’s wohltönend: ein Prosit, ein Prosit der Gemütlich­keit. –

Gardone will der Anfang einer neuen Etappe mei­nes, „Schicksals“ sein. Geschlossene Tuberkulose heißt der fachmännische Ausdruck, wenn ich recht verstanden habe. In all die schönen Städte und Mu­seen bin ich gar nicht gekommen. Übergroß war meine Sehnsucht danach auch nicht. Ich bin so müde geworden für neue Eindrücke. Ich bin froh, wenn ich meine Ruhe in Betrachtung der altgewohnten oder „angewöhnten“ Natur finde. Ich muss München verlassen — auf ärztlichen Rat. Für meine literari­sche Laufbahn tut’s mir leid. Sonst: ich bin, was mein äußeres Leben betrifft, Fatalist. Ich fühle mich überall, wenn ich erst 14 Tage da bin, gleich „wohl“. Frei bürg wird wohl mein zukünftiger Aufenthalt heißen. Der Schwarzwald in der Nähe, Mittelstadt, und halbe Höhenluft.

Das Programm, das ich jeden Tag abzuleben habe, ist wenig reizvoll. Den ganzen Tag bis in die Nacht hinein liegen, wenig gehen, gut essen und gut schla­fen. Arbeit ist nicht vorgesehen. Manchmal hab‘ ich so eine Anwandlung danach — im Liegen. Aber wenn man wirklich aufgestanden, ist sie futsch. Ein bisschen lese ich. In der früheren Bibliothek Hartlebens, die die hiesige Leihbibliothek aufgekauft hat. Man findet da ganz ausgefallene literarische Kuriositäten wie z. B. „Die Barrisons“ (von Pierre d‘ Aubecque (Lindner) und „Adam Mensch“ von Conradi. Aber sie langweilen mich. „Adam Mensch“ bie­tet ja da und dort sehr interessante Psychologie der Übergangsmenschen — aber viel zu viel: Weitschwei­figkeit, immer dieselbe Selbstbespiegelung in den Selbstgesprächen Adams, er geht um sich herum wie die Katze um den heißen Brei. Und wirkt sogar lei­se ekelhaft. Aber bin erst ungefähr bis zur Hälfte. Vielleicht widerrufe ich mich noch. — Ich bin allmählich müde geworden. Und werde noch ein paar Schritte gehen, meinen Vater (der in wenigen Tagen reist) vom Casino abzuholen. Da spielt der Kinematograph den tripolitanischen Krieg vor. In der Spielhölle hab ich 200 Lire gewonnen. Immer­hin etwas. Aber jetzt lässt man mich nicht mehr hin­ein, — weil ich zu jung bin. Dieser einzige Zeitvertreib Gardones an Regentagen ist leider dahin. Bitte, erzählen Sie mir einmal, wie es Ihnen geht, (hoffentlich recht gut) mit herzlichen Grüßen. Ihr sehr ergebener Alfred Henschke.

Haben Sie zufällig — im „Simpl.“ das Gedicht (Nr. 49) von mir gelesen? Es war von den fünf eingesandten — natürlich – das schlechteste. Ich habe meiner Verse wegen mal an Rowohlt geschrieben, habe aber noch keine Antwort.

Übrigens: ich weiß nicht, was mein Vater zu Hause erzählt. Sie wissen: die kleine Stadt, bitte erwähnen Sie nicht etwa Doerings gegenüber meine Tuberkulose.

Schwierige Krankheiten bekommen dort leicht das Ansehen eines moralischen Defektes und beflecken unter Umständen die ganze Familie . . . früher, auf der Schule, in Quarta, galt es als unehrenhaft, kurz­sichtig zu sein und auf der Bank der Kurzsichtigen zu sitzen. Die leider keine Spötter waren. Dazu fürchteten sie die kompakte Majorität zu sehr. -Über Ostern bleibe ich noch hier, fahre übrigens gar nicht erst nach Hause.

Locarno, Villa Berta   19. IV. 1912

Lieber Herr Heinrich,

gern sende ich Ihnen mein Bild und bitte Sie, Herrn Wille von mir einen Gruß zu bestellen. Sie haben mir doch einmal Reproduktionen von ihm gezeigt, vorigen Januar, als ich das letzte Mal in Berlin war? Reiß will ihn doch publizieren? -Glauben Sie, dass sich Reiß für einen starken (aber nicht umfangreichen) Gedichtband* eines Toten interessiert? Der Autor fiel vierundzwanzigjährig als preußischer Infanterieleutnant. Er selber nannte den Band zu seinen Lebzeiten schon: Gedichte eines Toten und wollte ihn anonym veröffentlicht haben. In der Tat war er schon lebendigen Leibes ein Ge­storbener. Ich kenne seinen Bruder. Soll ich ihm ra­ten, die Verse an Beiß zu schicken? Es sind übrigens durchaus nicht Kriegsverse. Schönsten Gruß Ihr Klabund.

Lausanne, 24. V. 12

Lieber Herr Heinrich,

sind Sie inzwischen wieder in Deutschland ange­langt? Wie geht es Ihnen? Bitte lassen Sie doch ein­mal von sich hören. Übrigens werde ich nach Amerika auswandern. Hier in der Pension ist ein junger amerikanischer Journa­list, der Staunenswertes von den Schriftstellerhono­raren der amerikanischen Wochenschriften erzählt. Und dabei braucht man bloß Routine. Dieser junge Mann hat früher überhaupt nicht schreiben können. Und bekommt jetzt 2000 M. für einen Artikel. Ich glaube, ich werde anfangen für amerikanische Journale zu schreiben z. B. „Die Mensur“. Die Freude der Amerikaner an solchen Dingen (wenn sie andere vollbringen) hat wirklich noch etwas Indianisches.

Herzlichen Gruß Ihr sehr ergebener Alfred Henschke.

Lausanne – Mont Charmant Av. de la Sallaz –    9. VI. 12

Lieber Herr Heinrich,

Ihre Karte ist mir mit großer Verspätung nachge­schickt worden. So seh ich wenigstens, dass Sie aus Italien zurück sind. Ich selber bin mit meinem Gesundheitszustand, von kleinen Dingen und Quäle­reien abgesehen, ziemlich zufrieden. Die Lunge hat sich wenigstens beruhigt. Von gänzlicher Heilung wohl keine Rede. Die Liegekur in Gardone hat mich noch fauler gemacht, als ich sowieso schon bin, und ich erfahre am eignen Leibe, wie sehr eine solche Krankheit „demoralisierend“ wirken kann. Meine Arbeit hier erschöpft sich im Französischlernen. Wie gern möcht ich wieder einmal etwas schreiben, (ich habe seit Berlin sehr wenig geschrieben, fast nur Ge­dichte), den Roman jener oft von mir zitierten Frau. Aber wann? Dieses ekelhafte Ungewisse in den (nicht von mir bestimmten) Zukunftszielen nimmt mir oft die Ruhe.

Hier in Lausanne beginne ich zu fühlen, wie eigent­lich die Großstadt mein eigentlicher Heimatboden ist, und dass ein so sauertöpfisches, der großen „Welt“ so fernes Nest wie Lausanne mich unglaublich lang­weilt. (Sie denken: Aha! Die großstädtische „Ero­tik“ hat’s ihm noch immer angetan). (Leider) fügen Sie in eckigen Klammern bei. — Aber das ist’s nicht allein: etwas werden sehen, fühlen, werden machen, das fehlt hier. Überhaupt die Schweizer Kultur. Wird sie überhaupt? Ist sie nicht vielleicht nur ein aus dem Zwange der Selbsterhaltung und — Selbstachtung geborenes „Wort“? Möchte wissen, was der Deutsch-Schweizer ohne Deutschland, der fran­zösische Schweizer ohne Paris wäre. Das ist so selbst­verständlich. Aber hier sieht’s niemand ein. Der erstere schimpft auf die Deutschen, der zweite auf die Franzosen, als wären’s seine gröbsten Feinde. „Haltet den Dieb.“ –

Kennen Sie die neuste lyrische Blüte Deutschlands, den stolzen „Kondor“, die „«Dichtersezession“. (Ich bin kein Antisemit – aber 11 Juden, 3 (vielleicht) Deutsche: das ist die neue (kritische) Lyrik.) Oh! und die französischen Schauerromane von Gaston Leroux! Herzlichen Gruß Ihr sehr ergebener Alfred Henschke.

Lausanne, 6. VII. 12

Sehr geehrter Herr Heinrich,

ich bin vielleicht übernächste Woche in Berlin. Und werde bei Ihnen mit rankommen. Einen bestimmten Tag kann ich freilich nicht festsetzen. Ich halte mich auf der Heimreise noch in Interlaken, München, Leipzig auf. Von meiner Schreiberei kann ich be­richten, dass sie nach einem halben Jahr Ruhepause wieder anfängt (scheint’s) chronisch zu werden. Die letzten Zeitschriften, die Verse von mir nahmen, (ohne „Protektion“) sind „Pan“ und „Neue Rundschau“. Das gibt mir Mut. Meine andern Sachen liegen alle bei Rowohlt – Leipzig. Man weiß vorläufig noch nichts. Hoffnung und Furcht in der Beziehung hab‘ ich mir abgewöhnt. Mit herzlichen Grüßen Ihr Alfred Henschke.

Crossen (Oder), 31. 7. 12

Lieber Herr Heinrich,

aus finanziellen Gründen war es mir leider unmög­lich, noch in Berlin anzuhalten. Berlin ist mir übri­gens, wenn ich mich jetzt seiner erinnere, von einer märchenhaften Fremdheit. Ich weiß gar nicht mehr, dass ich einmal da war, es ist mir wie eine ferne Landschaft: die Berichte, die ich davon zu lesen be­komme, (etwa meine „Novellen“) klingen wie wun­derliche Dschungelfabeln oder Nordpolhistorien. Wie vertraut erscheint mir das von Ihnen bestgehasste München! (wahrscheinlich, weil ich noch fauler ge­worden bin, und neuen unverhofften Eindrücken nur bedingt zugänglich). Wobei, in Parenthese, das erotische Moment eine Bolle spielt, dem ich noch immer schwer tributpflichtig bin. Meistens freue ich mich darüber, manchmal seufze ich.

Eben fällt mir ein gutes Thema für eine psychologi­sche Untersuchung ein: es ist doch komisch, wie sich die Schreibmaschine bemüht, den Stil des Menschen, der auf ihr schreibt, zu modeln: sie hat wie alle Maschinen ihre Seele, und diese Seele bohrt sich in den Schreiber ein und zwingt ihn, in Tippschrift so­zusagen zu denken. Ich z. B. bekomme beim Tippen eine perverse Vorliebe für Kommas und lange verzwickt zu schreibende Worte. Es ist ein ästhetischer Genuss, Gedichte auf der Schreibmaschine (o! schon dies Wort!) zu schreiben. Besonders so exotische, wo Worte wie Konipheren Hauptsteueramt Aprikosenmarmelade drin vorkommen. Ich gedenke mit einer neuen Lyrik auf den Markt zu treten: der Tipplyrik, die nur dazu da ist, getippt zu werden, (beileibe nicht etwa gelesen zu werden!) — und alle „Gefühlswerte“ allein durch das Tippen zu vermitteln. Zu der Annahme Ihres Stückes von Reinhardt gra­tuliere ich herzlich. Bitte, wollen Sie es mir nicht einmal zum Lesen schicken? — Von Herrn Henckell soll ich Ihnen beste Grüße übermitteln, (ist es übri­gens wahr, dass der Lese-Verlag Bankrott gemacht hat? ich wagte Henckell nicht zu fragen?) Mit den besten Empfehlungen an Ihre verehrte Frau Mutter herzlich ergeben Ihr Alfred Henschke.

Crossen (O), 24. 9. 12

Lieber Herr Heinrich,

ja, bitte schicken Sie das Blatt*, ich gebe Ihnen 999/1000 Gewissheit, dass mein Vater es für 50 M kauft. Legen Sie doch bitte noch ein paar andere Blätter bei (gute! wir waren uns ja über den Wert immer sehr einig) — ich möchte sie wenigstens zei­gen. Zum Kaufen werden sie ihm zu nackt sein—aber man kann nicht wissen. (Vielleicht verzeichnen sie die Preise irgendwo.)

Wieviel kostet denn das riesengroße Gemälde: Schreitendes Mädchen im Wald? Vielleicht dass ich irgendwo mal Reklame dafür machen kann. Herzlichen Gruß und vielen Dank für die Besor­gung. Ihr Alfred Henschke. Was für einen Rahmen würden Sie sich denken?

Crossen (0), 29. IX. 1912

Lieber Herr Heinrich,

mein Vater hat den Mut verloren — ich noch mehr. Ich bin (was ich nie gedacht) gründlich hereingefal­len. Er will den Kopf nicht kaufen, für „Unfertiges, Skizzenhaftes“ gebe er kein Geld, ja, wenn es ein Ölgemälde wäre. Außerdem begreife er den Mann nicht. Meine Mutter noch weniger. Meine Tante erst recht nicht. Sie nehmen es mir nicht übel. Ich kann nichts dafür. Es hat Familienszenen gegeben — im Anschluss an den Kampf gegen die Bilderstürmer — um ganz Allgemeines, um „Grundsätze“. Der nicht gemachte Doktor erhob sein Hydrahaupt. Ich sollte mich nicht mit törichtem Getue (Versen, überhaupt allen Schreibereien) „zersplittern“. Sie werden sich denken, wie mir’s manchmal im Halse aufsteigt. Auch umstehende Stilprobe* hat ihm nicht gefallen. Er betrachtet sie (wörtlich) als „literarische Wegelagereien“. Ich habe ihn gebeten, konsequent zu sein, und habe ihn gefragt, was denn seine ins Haus ge­schickte Reklame betreffs selbstfabriziertem Mund-und Selterwasser wäre? —

Morgen erhalten wir Besuch. Eine hübsche 20 jäh­rige Kusine von mir, die ich als Obersekundaner in den Strandkörben Borkums heiß geliebt habe. Hof­fentlich wird’s diesmal nicht so gefährlich. Herzlich Ihr Alfred Henschke.

Crossen, 16. X. 12

Lieber Herr Heinrich,

ich schicke Ihnen hiermit die Verse, S. Fischer hat sie mit nichtssagenden verbindlichen Floskeln zu­rückgesandt. Da ich mehr und mehr glaube, dass sie doch das Beste sind, was ich getan habe, und dass mindestens 40 davon einen guten Gedichtband geben müssten, will ich sie an einen andern Verleger schicken — aber an wen? Inselverlag? Sie sind doch eine anständige, wenn auch vielleicht unkluge Introduktion. Denn die Hoffnung auf den Segen des „Peter“ hab‘ ich längst fahren gelassen. Und die Crossener Geschichten sind doch nur ein Scherz. Sie sind hoffentlich Sonntag (oder Sonnabend) zu sprechen? Herzlich Ihr Alfred Henschke.

München, 21. X. 12

Lieber Herr Heinrich,

es tat mir leid, dass Sie am Sonntag nicht da waren — der Zufall hat gewollt, dass der Abend sich den­noch anmutig rundete: ich traf am Potsdamer Platz ein Mädchen, das ich vor zwei Jahren einmal etwas mehr gern gehabt habe als die andern. Und wir fuh­ren spazieren. Nun hat sich aber mein Schicksal er­füllt, ohne dass ich Sie hätte um Rat angehen kön­nen: ich trete am 1. November in eine hiesige Kunst­handlung ein. Goltz, der bekannte schöngeistige Buchhändler in der Briennerstraße, hat sie eben aufgemacht, und es wimmelt von Ex-Super-Intrapressionisten. Ort der Handlung ist der Odeonsplatz. Nach einem Probemonat will ich auf eineinhalbes Jahr Kon­trakt machen. Immatrikuliert bin ich nebenbei noch. Man kann nicht wissen (den Doktor* betreffend). Ich habe den Schritt getan, meine Eltern etc. zu be­ruhigen (ihnen für eine Zeit den Mund zu stopfen). Zweitens: ich will einen Ausgleich gegen meine phantastischen Kräfte.

Die Zwischenlandung im Kunst- und Buchhandel scheint das Gegebene. Und wie verlockend: die Per­spektive meiner Stellung! Student, Kunst“macher“. Kaufmann (wie gesund das sein wird für die „Seele“, gesetzt, der Körper bleibt intakt). Dichter, Recensent: und ganz so über allem zu schweben als ernster Abenteurer. (Fällt mir ein: vielleicht kann ich jetzt mal was für Wolff* tun!?) Bitte schreiben Sie mal bald. Herzlich Ihr ergebener Alfred Henschke.

München, Kaulbachstraße 56 part. – 18. XI. 12

Lieber Herr Heinrich,

mir wäre wohl wie nie: nette Mädchen lieben einen in reicher Blüte, man ist tüchtig zur Arbeit aufge­legt, man hat seine Freiheit wieder (denn, wenn Sie es noch nicht geahnt haben sollten: ich bin nicht mehr bei Goltz. Ich habe es einfach nicht ausgehal­ten, zu Tode hab ich mich – gelangweilt. Das erste Mal in meinem Leben) – wenn der Husten nicht schon wieder ferne durch den gräulichen Münchner Nebel bellte.

Eine andre, wie mir zuerst schien, Unannehmlich­keit sehe ich jetzt sehr von oben und mit Gelassen­heit an. Jemand in Genf behauptet, ein Kind von mir zu kriegen und bombardiert mich mit Briefen in fremdländischer Zunge. Man will es sich ab­treiben lassen und wünscht von mir einige hundert Frank zu diesem Behufe. Ich weigere mich beharr­lich durch Stillschweigen. Wenn ich schon ein Kind töten soll (was ich mir sehr überlegen würde) — muss es schon von mir sein. Obengenanntes Kind ist (aus nicht näher zu erläuternden hygienischen Gründen) keinesfalls von mir. Ich kann es beschwören. Und habe natürlich keine Lust mich mit Kindern fremder Väter irgendwie in Diskussion einzulassen. (Weiß aber nicht, wieweit das Recht mich unterstützt: denn auf die Entfernung die exceptio plurium des rich­tigen Vaters festzustellen ginge über meine Kräfte). Man muss abwarten. –

An dramatischen Arbeiten habe ich jetzt die Einakter „Vater und Fremdling“ sowie die drei Scenen „Alkestis“ und die 3-aktige Komödie „Die Verlobten“ fertigge­stellt. Die „Alkestis“ ist in Versen und sehr stilisiert. Ich werde sie mir noch einmal überlegen (ich halte sie für Kammerspiele sehr geeignet) und sie dann di­rekt zu Reiß schicken. Darf ich Sie bitten, ihm, gele­gentlich, die Ankunft des Stückes mitzuteilen. (Wei­ter nichts. Er ist doch hauptsächlich Theaterverlag, nicht wahr?)

Ich verkehre, durch Herrn Henckells freundliche Vermittlung auf der „Halbeschen“ Kegelbahn und beim „Jungen Krokodil“. Ich stelle meine Ansicht darüber für einen späteren Brief zurück. Mit herzlichen Grüßen Ihr sehr ergebener Alfred Henschke.

München, Kaulbachstr. 56 – 30. XII. 12

Lieber Herr Heinrich,

ein gutes neues Jahr! Ich bin in München geblieben und diesmal gar nicht nach Hause gefahren. Um nicht in schwierige Dialoge verwickelt zu werden und auch, weil ich arbeiten wollte. Ich habe soeben ein dreiaktiges Lustspiel (es ist durchaus hurenfrei) vollendet, und da ich mir das mit der „Alkestis“ immer noch sehr überlegt habe, so möchte ich das Lustspiel eigentlich und eine früher geschriebene dreiaktige Studentenkomödie an Herrn Reiß schicken, ob er sie nicht in seinen Bühnenvertrieb übernehmen kann. Ich schreibe Ihnen noch, wie ich mich entschlossen habe, Sie tun mir dann bitte den Gefallen und ma­chen Herrn Reiß darauf aufmerksam. Sie selber möchte ich mit Lesen der Sachen nicht behelligen, obgleich ich das Lustspiel für gut halte. Da ich aus einer Anzeige sehe, dass Reiss auch Verse (von Braun) verlegt, so werde ich das neu zusammengestellte Versbuch, da ich durchaus glaube, mit Braun konkurrieren zu können, den Komödien beilegen. Haben Sie im Dezemberheft der „Neuen Rundschau“ meine „Helena“ gelesen? (Sie ist ja schon alt.) — Hier verkehre ich jetzt in den „ersten literarischen Kreisen“. Den Weihnachtsabend habe ich mit Müh­sam zusammen bei Halbe verbracht. Halbe ist ein entzückender Mensch — und erzählen kann er, besser als er schreibt — aber seine Tochter ist noch entzückender. Er verehrte mir, ich empfand das wohltuend unliterarisch, da ich schon die dicke Tat des Dietrich Stobäus über meinem Haupte schweben sah, eine Gänseleberpastete und eine Flasche Danziger Gold. – Ich verdiene jetzt rasende Gelder mit meinen Ver­sen! den November allein 70 Mark! Aber ich komm‘ doch nicht aus. Und kein Schwein will eine Novelle. Ich finde das sehr merkwürdig. — Mein Vater schrieb mir, dass ich mich in Crossen schon wieder einmal missliebig gemacht hätte. In der „Frankfurter Oder­zeitung“ ist nämlich eine kleine Geschichte erschie­nen, und die Fr. O. Z. wird in Crossen sehr viel gele­sen. Und in dieser Geschichte haben sich verschiedene Crossener getroffen gefühlt: voran ein Gymnasial­professor und eine Briefbotenstochter. Ja: Dank vom Hause Habsburg. —

Mir geht’s ganz gut, wenn bloß der Husten nicht wäre. Ich möchte an die Riviera. Ich denke immer, das Lustspiel müsste genommen werden und dann reise ich auf Vorschuss ab. Herzlichen Gruß Ihr ergebener Alfred Henschke.

Bad Reichenhall, Bergweg 7 – 11. II. 1913

Lieber Herr Heinrich,

anbei schicke ich Ihnen endlich eine Auswahl Ge­dichte meines Freundes Klabund und bitte Sie sehr, sie, nach der Lektüre, Herrn Reiß zu geben, ob er sich etwa entschließen könnte, ein kleines Heft „die­ser vaganten hold frechen Liedkraft“ — wie Kerr so treffend bemerkt — herauszugeben. Auf schlechtem grauen Papier, 30 Seiten, kartoniert, Preis eine Mark oder so — mit Vorwort von Kerr!! (Ich meine, es könnte ein Geschäft werden, besonders wenn die Gedichte rechtzeitig zum Pro­zess herauskommen!!) In Parenthese: es existieren noch mehr Klabundgesänge als die übersandten, aber ungleichartige. — Reiß darf aber vor der Hand (d.h. vor dem Prozess wegen eventueller Zeugenschaft) nicht wissen, wer Klabund ist. Übergeben Sie ihm nur die Sachen mit einem schönen Gruß von Kla­bund. — Wenn er an Kerr schreibt und sich auf Kla­bund beruft (wegen des Vorwortes), so tut es Kerr sicher. Schon weil er sich einmal zusammenhängend über diese Zeiterscheinung äußern soll oder muss wohl oder übel — um der heftigen Angriffe willen, die er ihretwegen erfahren, nicht nur von der Polizei, sondern auch von der kunst- und staatserhaltenden Presse wie „Reichsbote“, „Kunstwart“* und so fort. Ich gehe hier eifrig meiner Kur nach (wenn nur die Mädchen nicht wären! Die verderben einem die gan­ze Diät): Inhalationen, Luft-, Solebäder, Massage, Trink-, Liegekur von früh sieben (es ist scheußlich früh) bis abends neun. Und das Wetter erst. Eine bessere Sintflut. Bitte schreiben Sie bald mal — Post ist bei dem Re­genwetter abgesehen von mehr oder weniger lang­weiligen Romanen — die einzige Zerstreuung. Herzlich Ihr ergebener Alfred Henschke.

Reichenhall, Bergweg 7 – 1. VII. 13

Lieber Herr Heinrich,

herzlichen Dank! Die andern Klabundgedichte sind aber noch viel ungeeigneter! Ich werde einige davon und dann einfach unbekannte Gedichte von mir schicken. Ich muss mir das noch überlegen, denn eben erhalte ich vom Verlag Kurt Wolff (ehemals Ro­wohlt) Leipzig ebenfalls ein Angebot auf Klabund – und zwar ein ziemlich sicheres. Der will allerdings nur etwa ein Dutzend komfortabel hergerichtet in seiner Sammlung „Der jüngste Tag“ (für eine Mark glaube ich) bringen – darin schon Leute wie der Allerweltsfreund Werfel und der Kabarettdivan Emmy Hen­nings vertreten sind.

Vor ein paar Tagen erhielt ich Vorladung nach München. Bin nicht hingefahren. Jetzt werden Sie mich wohl hier stellen. Immer Ihr ergebenster Alfred Henschke.

Reichenhall, Bergweg 7 – 5. Juli 1913

Lieber Herr Heinrich,

anbei noch 50 Gedichte von Klabund, die er sich aber zum größten Teil hat pumpen müssen; seine weite­ren legitimen Gedichte sind unmöglich (literarisch und sonst) verwendbar. Bitte erzählen Sie Reiß aber nicht, wer das Angebot gemacht hat, nur im allge­meinen! Hoffentlich bekommt Kerr nicht beifolgen­de Sendung irgendwie zu Gesicht, es sind sicher Verse darunter, die ihm schon mal unter andrer Signatur bekannt vor Augen lagen. Wenn er sich daran erin­nert, was ich wiederum nicht glaube. Die beifolgenden Gedichte habe ich so gewählt, dass sie wenigstens alle einen Stich ins Klabundische haben.

Herzlichen Dank für Ihre große Mühe! Hoffentlich gelingt’s. Am Dienstag werde ich hier vernommen. Als Zeuge.

(Übrigens: ich nehme an, Reiß interessiert sich für die Lyrik Klabunds? Er will doch keinen erotischen Sonderdruck bringen? In diesem Falle hätte ich die andern Klabundschen Strophen geschickt, die, wie gesagt, sonst unmöglich sind.) Ihr dankbar ergebener Alfred Henschke.

München, Herzogstr. 42 – 31. VII. 13

Lieber Herr Heinrich,

ich habe den Vertrag mit Reiß unterzeichnet. Ich danke Ihnen noch vielmals herzlich, dass Sie ihn auf mich aufmerksam gemacht haben. Ich möchte sehr gern nach Berlin. Nach Zehlendorf hinaus, wo Tannenluft ist und die trockne märkische Sonne. Ich hasse im Augenblick München. Ich habe wieder einen Anfall und Husten und spucke den lie­ben langen Tag. Ich möchte wieder auf ein paar Wo­chen weg (auch der Bummelteufel hat mich wieder gepackt) aber ich brauche eben Geld, viel Geld, viel mehr als mir selbst im besten Falle, wenn ich meine Eltern wieder darum angehe, zukommt. Und ich muss diesen Winter in den Süden. Ich möchte doch noch leben, eine Weile wenigstens noch. — Was meinen Sie dazu, wenn ich mich auf Grund des Gedichtbuches um den «Kleist-Preis» bemühe? Aber Reiß müsste das Buch an die Kleiststiftung schicken. Wenn ich es tue, sieht es so dumm aus. Ich weiß nicht, wer in der Kommission sitzt, aber Leute wie Kerr, Wedekind, Halbe, Dehmel wären doch gewiss für mich. Dann könnte ich schon den Dezember hin­untergehen. Ich habe dieses Jahr noch gar keine rechte Wärme gehabt, in Reichenhall hat es immer geregnet.

Bitte: was halten Sie davon?

Und Ihnen geht es auch nicht gut? Man kann beinah von nichts anderem mehr sprechen als von seiner de­fekten Gesundheit, mir scheint, auch eine Krankheit kann zum Beruf werden. Wo man unter Umständen sehr schnell avanciert und alle Vordermänner über­springt.

Mit herzlichen Grüßen

immer Ihr sehr ergebener Alfred Henschke.

9.VIII. 1913

Lieber Herr Heinrich,

herzlichen Dank für alle Ihre Mühe. Ich hatte Ihre Karte wohl falsch verstanden, deshalb schickte ich die Depesche. Ich werde als Kl. von jetzt ab direkt an R. schreiben, das ist auch Ihre Meinung, nicht wahr, und ihm auch die beanstandeten Gedichte noch schicken. Es wäre sehr nett, wenn er Kl. übernähme, es kann ein gutes Gedichtbuch werden, wenn die Aus­wahl danach besorgt wird; außerdem wäre auch die Anknüpfung für einen späteren Roman und für ein Buch Geschichten und für andere abenteuerliche Pläne gegeben. — Ich werde R. auf Entschluss und schnelle Auswahl drängen. —

Dass Sie krank sind, gefällt mir gar nicht. Aber das Wetter ist auch hier seit 3 Wochen abscheulich, reg­nerisch und kalt (bis 5 Grad! gestern schneite es auf den Hügeln ringsherum). Dass ich mir keine Erkäl­tung geholt habe, ist ein Wunder und beweist, dass die Kaltwasserkur doch ihr Gutes genützt und abgehärtet hat. —

Morgen fahre ich nach München zurück, Adresse: Herzogstr. 42. Wie lange ich in München bleibe, weiß ich nicht. Vielleicht verziehe ich. Wenn Berlin nur nicht so dreckige Luft und so entsetzliche Mäd­chen hätte, dann könnte man wieder einmal nach Berlin. Es ist schade, dass Sie nicht in München sind. Ich habe Sie oft vermisst. Ich entwickele mich immer einseitiger und weiß nicht wohin das führt. Und ich finde so wenig Menschen, mit denen sich vorausset­zungslos, ohne Umwege über die großen Allgemein­plätze reden und leben lässt.

Ich wünsche Ihnen baldige gute Besserung und glückliche Reise und ein paar schöne Tage in Paris (Paris ist auch eine meiner vielen Sehnsüchte.) Wenn Sie in Paris einen Maler namens Utrillo treffen, las­sen Sie sich Bilder von ihm zeigen, sie waren vor kurzer Zeit noch für 50 fr. zu haben, er ist ein wun­dervoller Maler. Ihr dankbar ergebener Alfred Henschke.

München, 11.8. 1913

Lieber Herr Heinrich,

her das Neuste wissen Sie noch nicht. Ich fahre übermorgen nach Davos. Habe „Jugend“ und „Simplizissimus“ (auch Reiß) um Vorschuss gekränkt. Wie das nun mit dem Prozess wird, weiß ich nicht. Ich wäre natürlich rasend gern nach Berlin gekommen, schon der Reklame wegen würde meine persönliche Anwesenheit vorteilhaft wirken. Aber ich habe na­türlich keine Lust, mir einer so lächerlichen Baga­telle wie dieser Gerichtsverhandlung zu Willen die Hände zu binden. Ich habe es sehr nötig, von Mün­chen jetzt fort zu gehn (ich möchte gar nicht, ich muss leider.) Der Arzt hält es für unumgänglich. Reichenhall hat gar nicht genützt. Also basta. Aber dann, den Frühling, bin ich hoffentlich in Ber­lin. Für längere Zeit. Es war doch meine erste Liebe. Mit herzlichen Grüßen immer Ihr sehr ergebener Alfred Henschke.

Arosa (Graubünden), 18. VIII. 13

Lieber Herr Heinrich,

wie der Arzt sagt, muss ich wohl den Winter über oben bleiben, dann ist Aussicht auf dauernde Hei­lung. Arbeiten darf ich. Aber nicht zu viel (?). Spa­zierengehen darf ich nicht. Jede Bewegung ist unter­sagt. Liegen, liegen, und nochmals liegen. — Ich habe Herrn Reiß eben ein Buch Humoresken* geschickt. An meinem Roman will ich tüchtig schaf­fen. (Es gibt aber kein Mädchen hier.) Herzlich Ihr sehr ergebener Alfred Henschke.

Arosa, 24 VIII. 13

Lieber Herr Heinrich,

nein, nicht wie Sie denken: es wird im Gegenteil ein ganz tolles Buch, hoffentlich druckt’s Reiß. (Ich schicke Ihnen bei Gelegenheit mal einige Kapitel: sanft und lammfromm erscheint dagegen der Pe­ter) –

Der Kleistpreis (Sekretariat bei E. Fleischel) ist für junge Talente gleichviel welcher Gattung. — Ja, ich möchte auch lieber «Klabund» einzig allein auf dem Titelbild prangen sehen. Aber wie steht’s mit der Propaganda? Die ist für zwei Namen doch sehr kostspielig. Und in den Zeitschriften bin ich als Henschke doch recht bekannt. Ich müsste vielleicht ganz und gar zu Klabund als Signatur übergehen. Wie meinen Sie? Nach dem Roman erwäge ich schon wieder einen merkwürdigen Plan: den Briefwechsel zweier Liebenden. Mit herzlichen Grüßen immer Ihr sehr ergebener Alfred Henschke.

Arosa, Beau-Rivage, 20. 9. 1913

Lieber Herr Heinrich,

am 23. ist nun der Prozess. Ich empfinde einige Be­klemmung nicht über den Ausgang, der ist mir gleichgültig, aber ich weiß nicht, wie mein Verteidi­ger seine Sache machen wird. Ich habe ihm gar keine Direktiven geben können, es ging alles zu schnell, und um, wie ursprünglich beabsichtigt, noch aus­führlichere Gutachten und Berliner Literaten als Sachverständige herbeizuschaffen, dazu reichte die Zeit nicht. Immerhin ist das Urteil Wedekinds über die zwei inkriminierten Gedichte sehenswert. Mir sind beim Lesen die Tränen heruntergelaufen vor Lachen (das war aber kein Lachen von oben herab, sondern aus der Sache heraus; ich bin Wedekind ja sicher sehr verwandt. Er ist übrigens einer der wenigen Menschen, die ich lieb habe). In dem einen Gedicht: „Wie schön, nach einer Liebeserfüllung im Bett al­lein zu sein“, nennt er die Stimmung „shakespea-resch“ und die Form „“. In dem andern Gedicht „zu Ende ist mit meiner Ruh‘ es. Ist das nun Lues …?“ vergleicht er Klabund mit Goethe und Wilhelm Busch (in einem Atemzug!). — Hof­fentlich schlägt das Buch ein, damit ein tüchtiger Fond da ist für den Roman, den ich jetzt schreibe und der zu dreiviertel der Urschrift fertig ist. Ich werde ihn „Der Rubin“ nennen und möchte ihn sehr gern, wenn Sie es erlauben, Ihnen widmen. — Wenn Sie einmal Zeit haben, schreiben Sie mir doch bitte einige Zeilen über das Buch Klabunds*. Und was-Sie von dieser Persiflage, die keine ist, halten. Die Auswahl hat zum größten Teil Reiß besorgt. Mit etwa 7 Gedichten war ich nicht einverstanden. Aber er pries sie so, dass ich sie drin ließ. Den Umschlag hab ich gar nicht zu Gesicht bekommen. Hof­fentlich ist er hübsch. —

Der Schnee, der hier auf den Bergen fällt, hat bald Arosa erreicht. Von der Kälte merkt man nur in den Stuben was. Draußen ists wunderschön. Herzlichen Gruß Ihr ergebener Alfred Henschke.

28.09.1913

Der Embryot

Ein junger Mann und Patriot
Verdingte sich als Embryot.
Dies ist ein köstlicher Beruf,
den er erst ganz aus sich erschuf.

Da ja die Ziffer der Geburt
Nach der Statistik rückwärts schnurrt:
Um jeder Weiterung zu steuern,
Ließ er als Embryo sich heuern.

Wie manche Frau, sonst kinderlos,
Stieß ihn entzückt aus ihrem Schoß!
Als Fritz, als Klaus, als Franz, als Hans
Steht er im Buch des Standesamts.

Die Wirkung dieses Jünglings war
In höchstem Maße wunderbar.
Es zeigen der Statistik Blätter
Ihn als des Vaterlandes Retter.

Klabund.

Arosa, 14. 10. 1913

Lieber Herr Heinrich,

Sie bekommen nächster Tage (mögen Sie?) meine neueste Komödie, frisch aus dem Fass. Eine roman­tische Berliner Komödie – Berlin N 24, meine erste dichterische Liebe quillt immer noch manchmal in mir empor. Ich halte sie für gut (leider nicht ganz abendfüllend, man müsste noch einen Einakter dazu spielen). Und würde sie dem „Kleinen Theater“ (Alt­mann, von dem ich viel Gutes hörte) einreihen las­sen. Es wäre ein Experiment — aber Altmann soll ja allerlei Experimente wagen. Es scheint mir ein gro­ßer Schritt zu sein von meiner ersten Berliner Ko­mödie (noch ganz befangen im Persönlichen, „Ab­gründe“ hieß sie, erinnern Sie sich?) bis zu dieser „objektiven“ Romantik eines Zuhälters, der für sein Kind zugrunde geht. —

Hoffentlich können Sie es lesen. Hier gibt’s ein Schreibmaschineninstitut, aber der Besitzer ist Eng­länder und kann unmöglich Berliner Dialekt schrei­ben. Geben Sie es nachher bitte an Reiß. (Falls Sie nicht eklatante Einwände hegen.) — Die drei Ein­akter*, die gedruckt sind, lege ich bei. Was soll man mit ihnen machen? Interessant ist nur der mittelste, „Der Diener in Rot“. —

Zufällig las ich kürzlich Ihren Aufsatz über Johannsen in Westermann und entsann mich einiger Zeich­nungen, die Sie mir mal von ihm zeigten. — Sie hatten doch so viel für den Charakter „Peter“ übrig. Was meinen Sie, wenn wir zusammen eine Komödie „Peter“ schrieben? Auch mir ist der „Cha­rakter“ Peter noch ziemlich zugegen, nur sehe ich mich außerstande, eine Handlung zu erfinden, um ihn herum. Können Sie das nicht? (Reklamieren Sie gegebenenfalls „Peter“ von Reiß.) Was meinen Sie? Es tut mir leid, dass Reiß damals Gorslebens Stück nicht gelesen hat. Er wäre eine schöne Ergänzung zu Unruh und ist menschlich und künstlerisch ein prächtiger Kerl. Jetzt hat ihn Wolff. Sein Stück ist schon von Berlin, Wien, Köln, München angenom­men. Mi‘ herzlichen Grüßen immer Ihr Henschke.

Arosa, 20. 10. 13

Lieber Herr Heinrich,

Sie erhalten beifolgend eingeschrieben die Komödie Das Kind (ich habe sie sehr gern), das Spiel „Alkestis“ und drei Einakter, wo wohl nur der Mittelste zu gebrauchen wäre, Reiß hat zugleich noch eine dreiaktige Komödie: „Brautfahrt“ da, die ich für recht hühnenwirksam halte: die Handlung ist ganz schwankhaft, biegt sich aber zur — Tragödie um (im letzten Akt). Also: 1. Akt Schwank 11. Akt Komö­die   in. Akt Tragikomödie. —

Die Arbeit am Roman ist nicht liegengeblieben. Lei­der bin ich jetzt da, wo ich in die Schreibmaschine diktieren müsste. Es ist mir unmöglich mit eigner Hand den (im Ganzen skizzierten Roman) noch ein­mal abzuschreiben. —

Augenblicklich fühle ich mich relativ sehr wohl. Es ist ja möglich, dass ich eines Tages fluchtartig den hiesigen Ausschank verlasse: aber bevor ich nicht mit dem Roman fertig bin, tu ich es nicht! Herzlich immer Ihr ergebener Alfred Henschke.

Arosa, 9.11.1913

Lieber Herr Heinrich,

so sieht Arosa jetzt aus! – Was das Kind betrifft, könnte Reiß es nicht wenigstens drucken? (Man mil­dert einige Ausdrücke.) Ich werde es ihm auch dem­nächst bei Übersendung eines neuen (japanischen) lyrischen Manuskripts vorstellen. Wenn er das nicht will, gebe ich es an einen andern Verlag z.B. Wolff-Leipzig, der sich schon einmal bereit erklärte, Sachen von mir zu bringen. — Was Arosas gesunde klare Luft die Arbeitskraft anregt, ist ungeheuer. Nie habe ich so viel Lust daran gehabt. Herzlich Ihr Henschke

12.11.1913

Lieber Herr Heinrich,

sind das nicht zwei rührende Elternbriefe?* (Ich meine es natürlich ohne jede Ironie.) Bitte schicken Sie sie zurück. Wenn Sie über Klabund in den Zei­tungen was sehen, wäre ich Ihnen für Übersendung sehr dankbar. (Das Pamphlet in der „Tägl. Rund­schau“ über Klabund-Henschke-Jucundus Fröhlich haben Sie wohl gelesen?) Herzlich Ihr Alfred Henschke

Arosa, 27. 11. 1913

Lieber Herr Heinrich,

Sie haben wohl recht mit meiner Unruhe: aber sie ist ein zu wesentlicher Teil von mir, als dass ich sie jemals verlieren würde. Mit dem Kind gebe ich Ih­nen nicht recht: ich könnte es nach Jahren, wie Sie sagen, gewiss nicht mehr überarbeiten. Da werde ich Gott weiß wo sein. Und andre Kinder haben. Auch ist es zu sehr Sturm und Drang der Jugend, als dass es dann noch zu veröffentlichen ging. Jetzt ist der einzig gegebene Zeitpunkt. Ich bin seit zehn Tagen (Sie sehen es gewiss an der Schrift!) toll verliebt. Und bin seitdem zu keinem vernünftigen Gedanken gekommen. Von Arbeit am Roman keine Rede. — Es ist ein Mädchen aus Uruguay, aber schon lange in Deutschland. Ganz braun. — Heute ist der Prozess! Herzlichen Gruß immer Ihr ergebenster Alfred Henschke.

Deutscher in Italien

Felder zwitschern. Menschen hirnumschlungen
Haben ihre Taten hingesungen,
Und der goldne Mond ist nicht verblüht.
Immer stand er über unsern Städten,
Wenn die Winde aus Italien wehten,
Himmelsfetzenblauumsprüht.

Manchen hat es übern Berg getrieben,
Südlichste Unendlichkeit zu lieben,
Und Venezia brach den Bann.
Ließ in grünen, stinkendsüßen Gassen
Ihren Fremdling Fremdestes erfassen,
Dass er jenes Weib nicht mehr vergessen kann.

Aber manchmal wallt es übermächtig,
Und die Adria erfunkelt nächtig,
Und des Blickes Stahl blitzt Mord,
Und der Rausch erhebt sich zum Gebete:
Meine Heimat! Meine grauen Städte!
O du Kälte! Klarheit! Nord! O Nord!

Alfred Henschke. 27.11. 1913

I.XII.1913

Lieber Herr Heinrich,

ich habe heute einen außerordentlich schlechten Tag: besonders die Nacht dachte ich, ich pfiffe mal wieder auf dem vorletzten Loche. Dank für Ihren Brief. Sie haben gewiss recht — aber wann werde ich mit dem Roman fertig? Da mir die außerordentlich not­wendige Bequemlichkeit, ihn im Liegen diktieren zu können, fehlt. — Und dann: meinen Sie nicht, dass es das Beste ist den Namen Klabund für meine ge­samte anständige Produktion anzunehmen? Wer kennt Alfred Henschke? Kann Beiß das Kind nicht an die Neue Kunst geben? Vielleicht führt die’s auf. —

O nein, nach Nachrichten dürste ich nicht. Ich habe mich nur gefreut, dass Richard Dehmel so für mich eingetreten ist. Seine Rede soll glänzend gewesen sein. Herzlichen Gruß immer Ihr Alfred Henschke.

Arosa, 3. 12. 13

Lieber Herr Heinrich,

ich habe heut von Herrn Reiß einen Brief erhalten, der mir nicht grade Lust macht, an meinem Roman weiter zu arbeiten, obgleich ich ihm gewiss nicht darum böse bin. –

Wissen Sie übrigens, dass ich nicht freigesprochen bin — entgegen den Zeitungsnachrichten? Und dass eine Sonderverhandlung gegen mich stattfinden wird! Ein Unsinn sondergleichen . .. und nur in der Paragraphen Wirtschaft des deutschen Rechts be­gründet. – Was sagen Sie zu den Zaberner Schweinereien? — Ich fühle mich absolut unwohl. Und dann diese senorita. Vielleicht rücke ich aus. Herzlich Ihr Henschke.

Arosa, 9. 12. 13

Lieber Herr Heinrich,

es geht schon wieder! Mir ist wieder wohl. Heut ha­be ich ein sehr schönes Kapitel vom Roman geschrie­ben. Ich glaube, der Roman wird doch gut! Noch fünf Kapitel, deren Verlauf auch schon feststeht, dann ist die erste Schrift fertig! Können Sie ihn dann in Berlin maschinenschreiben lassen? (Aber bitte noch nicht lesen!) Und mit Durchschuss! Es ist kein psychologischer, es ist ein lyrisch-grotesker Stil!

Gestern waren Italiener hier in roten Fräcken und mit Geigen und Guitarren. Wir haben getanzt. Herzlich ergeben Ihr Alfred Henschke.

Arosa, 15. 12. 13

Lieber Herr Heinrich,

ich wundere mich, dass ich von R. keine Antwort auf meine letzten Karten und Briefe bekomme. Er wird sie mir doch nicht übel genommen haben? Ich ver­langte und bat ihn um Rücksendung der Humores­ken, des Kindes und der Geishalieder. Die Humores­ken will ich in Zeitschriften verwerten (denke im Traum nicht an eine Buchausgabe jetzt), das Kind soll Kerr erhalten, der sich dafür interessiert — der Pan erscheint demnächst wieder, unter lebhafter Mitwirkung Klabunds natürlich. Betreffs der Gei­shalieder*, so schrieb ich R., behalte ich mir freie Hand vor, wenn R. sie nicht haben will. Das kann er mir doch nicht übelnehmen. — Gesundheitlich geht es mir ein wenig schlechter (nach Ansicht des Arztes). Ich spüre nicht viel davon. Vier Monate muss ich wohl noch bleiben. Bei Reuß und Pollack findet ein Klabundabend statt? Wer veranstaltet (liest) ihn denn? Herzliche Grüße ergebenst Alfred Henschke.

 Arosa, 19. 12. 13

Lieber Herr Heinrich,

entschuldigen Sie, wenn ich Sie nochmals mit einer Bitte überfalle: schicken Sie mir doch den Essay von Poppenberg. (Er wird mich nicht aufregen: ich habe anderes, schönes, zu denken und zu tun.) Gute Weihnachtswünsche! Heut‘ ist verdammt kalt. — 15 Grad. Man kann kaum schreiben. Herzlich ergeben Alfred Henschke.

Arosa, 27. 12. 13

Lieber Herr Heinrich,

vielen Dank für die Voß. Aber ich bin angenehm* enttäuscht. Die Kritik ist viel positiver, als ich dach­te, und vor allem, die Hauptsache: dass die „Voß“ sie gebracht hat. Sie macht besser Reklame als lauwar­mes Lob. Banal ist sie, aber nicht brutal — und Kla­bund wird aufstehen und sie sehr merkwürdig über­raschen. Ich kenne meine „Poppenberger“ Immer Ihr Henschke.

Arosa, 1. 1. 1914

Lieber Herr Heinrich,

nochmals alles Gute für das neue Jahr! — Ich selber will mich über das alte nicht beklagen: ich war glücklich und nach meinem Teil zufrieden in ihm. Die Krankheit ist ein besonderes Kapitel. Ich führe in meinem Leben doppelte Buchrechnung. Auf der einen Seite nimmt zwar die Krankheit erheblichen Raum ein; aber sie ist nur „notiert“ … Kenntnis genommen. Der Teufel soll mich frikassieren, wenn sie je Einfluss auf die andre Seite, auf mein wirk­liches Leben, gewinnen sollte. Stimmungen werden daran nichts ändern. —

Gestern besuchte mich Herr Sarx aus Berlin und brachte mir Grüße von Ihnen. Er scheint ja ein sehr sympathischer Mensch und Beamter zu sein. — In meiner Liebe (es ist kein bloßes Verliebtsein mehr) bin ich jetzt sehr glücklich und (den Um­ständen angemessen) ruhig. Ich habe ihr schon eini­ge Kapitel des Romans diktiert. Den Brief schreib‘ ich in ihrem Zimmer. Sie liegt im Bett und sieht mich eben an.

Eine lustige Geschichte: ein alter weißbärtiger Herr aus Braunschweig hat ihr seine Liebe erklärt. Und zwar auf recht sinnige Weise: er hat ihr einen Brief seines Sohnes an ihn, worin der Sohn in schwärmeri­scher Betrachtung den alten Greis und das junge schöne Wesen (in stelzendem Stil) in lächerliche Be­ziehungen bringt, überreicht, mit graziöser Ver­beugung, draußen auf dem Korridor und sie gebe­ten, den Brief . . . ins Spanische zu übersetzen. (Der liebenswürdige Trottel wohnt in unserer Pen­sion!) –

Heute erhielt ich wieder einen Geschäftsbrief eines sehr angesehenen Berliner Verlages, der mir beweist, dass Klabund in den drei Monaten heftig genug gewirkt hat. Da es schon das zweite Verlagsangebot von ersten Verlegern ist, sehe ich nicht ein, weshalb ich (in geschäftlichen Dingen) meine Bescheidenheit beibehalten soll. Auch mir wäre es angenehm, alle meine Bücher bei Reiß herauszubringen, aber da er nicht will, kann ich nichts tun. — Die Geishalieder sind absolut kein Risiko für ihn — und wenn er dar­in „keinen Fortschritt“ sieht, so wäre das doch kein Hindernis für eine Herausgabe. Er «schätzt sie ja sonst sehr» und will «alles tun, mich zu halten». (Wie Sie sagen!) Aber was heißt das: alles? Er hat mir immer noch nicht auf meine Briefe und Karten, vor drei Wochen abgesandt, geantwortet! Herzliche Grüße immer Ihr Alfred Henschke.

Arosa, Graubünden, Beau-Rivage 12. 1. 1914

Lieber Herr Heinrich,

ich bitte Sie, diesen Brief nicht als Alarmnachricht aufzufassen. Dazu liegt kein Grund vor. Sie brau­chen ihn auch nicht zu beantworten (er bedarf keiner Antwort). Heben Sie ihn nur bitte auf. — Da man nie weiß, was für einen (und manchmal recht‘ un­erwarteten) Verlauf eine chronische Krankheit nimmt, möchte ich im Folgenden für alle Fälle mein literarisches Testament* machen und Sie mit dessen Vollzug beauftragen. –

Wie die Dinge gegenwärtig liegen, wünsche ich vor allem die Publikation des (ziemlich weit gediehenen) Romans und eines zweiten Gedichtbandes. Meine lyrischen Manuskripte sind in einem Leitzordner ge­ordnet; eine Liste der Gedichte, die ich für den zwei­ten Band auswähle, ist ihm beigefügt. Die Geisha­lieder sind nicht für den Band geeignet, sondern, falls sich ein Verlag findet, gesondert zu veröffent­lichen. Ich möchte alle Manuskripte erst Reiß, da­nach dem Hyperionverlag angeboten sehen. Betreffs der größeren und kleineren Dramen lasse ich Ihnen freie Hand. Vielleicht lässt sich ein Band kleine Dra­men, wie Sie schon einmal meinten, gelegentlich zusammenstellen. – Die Humoresken werden ja dann längst erschienen sein. — Das Honorar (es wird ja gewiss nicht berauschend hoch werden) vermache ich vorläufig zu gleichen Teilen meinem Bruder Hans* und Ihnen. Ich bitte Sie, diese vorläufige Entschei­dung nicht übel zu deuten: ich kann vielleicht in die Lage kommen, es meinem Kinde geben zu müssen. Mit herzlichem Dank für Ihre Freundschaft (ich darf es doch so nennen?) immer Ihr treu ergebener Alfred Henschke.

Arosa, 10. III. 1914

Lieber Herr Heinrich,

habe seit zwei Monaten keine Feder für den Ro­man gerührt. Konnte es nicht. Jetzt ist so widriges Wetter hier. Föhn, Schneeschmelze. Viel zu früh im Jahr. Habe Lust, ein Schauspiel zu schreiben, gedanklich und sinnlich in eins. Was meinen Sie zu Gentz* und Fanny Eisler? Wo könnte man den Stoff herbekommen? Können Sie mir Quellen an­geben? Auch Simson fiel mir schon ein: aber Wedekind? Was ich bisher geschrieben: ich möch­te manchmal erbrechen. Könnt ich hier weg! Aben­teuer! Abenteuer! Abenteuer! brauch ich! Immer der Ihre Alfred Henschke.

Arosa, 25. III. 1914

Lieber Herr Heinrich,

plädieren Sie doch für Blondhaar, damit die Titelsuche mal ein Ende hat. Ich werde künftig die Titel immer zuerst schreiben! — Eine Frage: kennen Sie eine zuverlässige Berliner Filmfabrik? Irg­endeinen Regisseur oder so was persönlich? Viel­leicht Reiss? Ich möchte einige schaurige Films anbringen, weiß aber nicht wo. Wenn man die Leute nicht kennt, stehlen sie einem die Ideen. Ich habe ein Schäferspiel* in Alexandrinern ge­schrieben. Das zusammen mit „Alkestis“, „Das Kind“, „Der Diener in Rot“ gäbe später mal (nach dem Ro­man) ein nettes Buch „Kleine Dramen“ (Vier Stile: Klassik, Rokoko, Romantik, Realismus). Eins immer verschiedener als das andere. (Im Crossener Tageblatt habe ich einen Artikel ge­schrieben über eine eventuelle Crossener Gemäldegalerie, als deren Direktor ich – mich in Vorschlag brachte. Fein!) Herzlich ergeben Henschke.

Arosa, 2. IV. 1914

Lieber Herr Heinrich,

ich schicke gleichzeitig an Reiß eine Auswahl von 25 Titeln, ich kann aber auch noch mehr. Fackeln im Winde, Seiltänzer, Schwelende Fackeln sind die besten, denke ich. —

Ich bin etwas deprimiert. Ich komme heute vom Arzt. Mein Zustand hat sich etwas verschlechtert seit dem letzten Mal. Aber er gestattet mir — bei vorsichtiger Lebensweise — den Sommer in Berlin und München zu verbringen. Im Winter muss ich wieder rauf. — Es ist grässlich, krank zu sein und nicht sehr viel Geld zu haben. Herzlich der Ihre Alfred Henschke. Der Roman ist (provisorisch) fertig!

München, 5. 5. 14

Lieber Herr Heinrich,

Frau Resi Langer schickt mir eben (sie scheint eine reizende Frau zu sein) die Kritiken über den Klabundabend. Was im „Börsencourier“ steht, ist di­rekt fein. „S.Z.“ und „Lokalanzeiger“ gehen auch noch, dagegen das „B.T.“ (es scheint seinen Redaktionstrottel hingeschickt zu haben) und die „Vossische!“ „Neues und amüsantes Brettltalent…“ Leider gibt Reiß dieser Geistesrichtung Nahrung, wenn er das neue Buch „Klabunds Karussell“ (die Vossische hat darin recht!) nennt. Ich hatte in dem letzten Telegramm noch extra gebeten, das Beiwort weg zulassen. Na, nun ist das Unglück geschehen. Die Kritiker reiten schnell. — Mir werden jetzt eine Menge Recensionen zugetragen. Reiß wird sie wohl alle kennen. Kennt er den im „Hamburgischen Korrespondenten“, im „Merker“ und den Essay über mich) in der „Rheinisch-Westfälischen“:Der moderne Zynismus“? — Na, eins hat Klabund je­denfalls vermocht: Leben in die Bude gebracht, ‚an regt sich auf. Und Erregung ist die Hauptsache. Laues Lob fällt untern Tisch und verfault, schönste Grüße von Ihrem ergebensten Alfred Henschke.

München, 28. v. 1914

Lieber Herr Heinrich,

Sie erhalten mit nächster Post eingeschrieben mei­nen Roman „Der Rubin“, den ich Ihnen zueigne. Als Dank für Ihre geistige und tätige Freund­schaft! –

Es handelt sich in diesem Roman nicht um psycho­logische Kunststücke – sondern es geschieht etwas: Doppelt: oben und unten, außen und innen. Es ist ein expressionistischer Roman, bitte, treten Sie (und Reiß) nicht mit falschen Forderungen an ihn heran. Keine Analyse. Keine Tragödie. (Der Held stirbt — aber er stirbt einfach.) Sachliche Träumereien. Die Menschen um Josua sind Variationen feines Ich, Motivierungen seines Ich. Wahrscheinlichkeit gut nicht. Aber die Wahrheit des Klangs.

Wenn Sie den Roman gelesen haben — geben Sie ihn bitte weiter an Reiß.

Ich erhielt heute einen Brief von Reiß, den ich nicht begreife. Er nennt mich kontraktbrüchig, wenn ich eine Anthologie (mit einem andern zu­sammen) — also gar nichts Selbstgeschriebenes! — bei Müller herausgebe. Mit einem andern zusam­men. Ich bin doch nur mit meinen Sachen an ihn verpflichtet, nicht aber als Herausgeber. Sprechen Sie dieser Tage mit ihm? Gesundheitlich fühle ich mich sauschlecht. Herzlichst der Ihre Alfred Henschke.

 München, 8. 6. 1914

Lieber Herr Heinrich,

— am Dienstag wollte ich nun Berlin beglücken — und schon kommt wieder was (und welche) einem in die Quere. Und muss ich also meinen hiesigen Aufenthalt noch prolongieren. Den Roman kriegen Sie nun bestimmt morgen. Haben Sie den Brief, worin ich mich ein bisschen prinzipiell dazu äußer­te, erhalten? —

Was meine ernsthafte Produktion betrifft, bin ich wieder ganz ins lyrische Fahrwasser geraten. Sonst hab‘ ich mit der Anthologie und einer kleinen Ko­mödie, die ich nebenher mit einem andern schreibe, genug zu tun. —

Ihre Besorgnisse um „Klabund“ können Sie mir dann mündlich mitteilen. Ich verstehe Sie gut, aber ich gedenke Sie (aufs angenehmste) zu enttäuschen. Hoffentlich.

Mein gesundheitlicher Zustand? Bergauf. Bergab. Eine Woche so. Eine Woche so. Grüßen Sie Reiß; mit der Anthologie wird sich wohl alles noch besser einrenken. Aufregung hab‘ ich (zu allem andern) dadurch genug gehabt. Herzlich ergeben der Ihre Alfred Henschke.

Charlottenburg, 1. 7. 1914

Lieber Herr Heinrich,

Leben Sie wohl. Auf Wiedersehen im Herbst! Ge­stern Abend zuguterletzt hatte ich noch ein Rencontre mit einem Mann, von dem ich später erfuhr, dass er Herr Rudolf Johannes Schmied heiße und ebenfalls Autor des Erich Reiß Verlag sei: Ich hät­te ihm um ein Haar eine heruntergehauen, denn auch als er sich zu entschuldigen versuchte, tat er es auf eine so freche und besoffene Art, dass ich ihn stehen ließ. Er wusste natürlich nicht, wer ich bin. Jedenfalls habe ich mich zuletzt noch geärgert. — Wann gehen Sie in Urlaub? Meine nächste Adresse: Crossen/Oder Adlerapotheke. Herzlich der Ihre Alfred Henschke.

München. 3. 8. 1914

Lieber Herr Heinrich,

ich melde mich als Kriegsfreiwilliger bei den bairischen leichten Reitern. Hoffentlich nehmen sie mich. Ich meine, untätig hinter der Front zu liegen, lässt einen verfaulen und reibt mehr auf als noch so strapaziöser Dienst. Zum mindesten wer­den sie mir doch eine Waffe in die Hand drücken. Man kriegt gar keine Berliner Zeitungen mehr (sehr verspätet). Österreich schweigt überhaupt. Hier ist man bei der Arbeit: gestern wurden sie­ben Russen wegen Umtriebe erschossen. Herzlichen Gruß H.

München, 24. VIII. 1914

Lieber Herr Heinrich,

ich werde wohl nun die Hoffnung aufgeben müs­sen, irgendwie an die Front zu kommen. Ich werde mich auf mein Militärpapier: Landsturm ohne Waffe und ins Gebirge zurückziehen müssen. Da­mit man wenigstens nichts von den verfluchten Extrablättern zu Gesicht bekommt. Ich habe mich inzwischen über Reiß, dem ich ein lyrisches Flugblatt „Kriegslieder“ von mir (einen Bo­gen, hübsche bunte Titelzeichnung, 50 Pfg) ange­boten hatte, heftig geärgert. Er hat abgelehnt. Leichten Herzens! Ich ärgere mich umso mehr, als er die moralischen Forderungen, die er an mich anlässlich unserer Korrespondenz über Georg Müller (Sie erinnern sich) richtete, auf sich selber nicht anzuwenden gesonnen ist. Wenn ich das Flugblatt jetzt bei einem andern Verlag herausbringe, ist es für die Propaganda meiner bei Reiß erschienenen Werke glatt verloren. Und was könnte es für Pro­paganda machen, wenn es beispielsweise in 10 000 Exemplaren verkauft würde. — (Was gar nicht un­möglich ist.) Es tritt aber ein, was Reiß mir da­mals so heftig zum Vorwurf gemacht hat, ich wolle meine Produktion in alle Winde verstreuen. Wer bürgt mir dafür, dass Reiß mein nächstes Gedicht­buch druckt? Dass er sich nur die Rosinen, Novel­len und Romane aus dem Kuchen sucht? Wer soll mir dafür bürgen, wenn nicht sein „moralisches“ Verantwortlichkeitsgefühl? — Können Sie nicht mal gelegentlich mit Reiß sprechen? Viele herzliche Grüße stets Ihr ergebener Alfred Henschke.

München, 6. 9. 1914

Lieber Herr Heinrich,

ich werde nun noch einmal beim Landsturm ausge­mustert. Wahrscheinlich: tauglich zu Kanzleidien­sten. Wenn man mich doch wenigstens in Brüssel verwenden könnte. Ich werde an Goltz schreiben. Es ist schlimm, in München und im Cafe herumzusitzen und auf die Depeschen zu warten. Ich schon ganz absorbieren und ins Gebirge fahren nach Murnau (weil ich es auch eigent­lich mal wieder nötig hätte: gestern Abend und heute Nacht wackelte mein Kopf wie auf einer Stange und die Glieder zerrissen sich und schienen alle für sich zu existieren. Und das Ausatmen tat mir rasend weh. Das ging noch bis heute früh sie­ben. Jetzt ist’s 1, und alles wie weggeblasen.) -aber man kann es ja nicht. Der Not gehorchend hab‘ ich eine kleine dramatische Szene geschrieben: „Russland marschiert“. Personen: Ein Polizist, ein Jude, ein Wirt, ein Soldat, ein Mädchen, ein Balte, zwei Russen. Ort: Petersburg, August 1914. Das Stück wird in einer privaten Aufführung der Kam­merspiele hier (zum Besten der Notleidenden in Ostpreußen) wahrscheinlich übernächste Woche aufgeführt werden. Ich habe es an Reiß geschickt. Jetzt bin ich es ganz zufrieden, dass er das Flug­blatt nicht genommen hat. Es wird im „Gelben Ver­lag“ erscheinen. (Ein Verlag, der durch seine Verlagsrichtung zur Zeit die beste Propaganda dafür machen kann. Freilich begreif ich Reiß trotzdem nicht. Wer a sagt, muss auch b sagen. Er wird mir auch Dispens für ein zweites Flugblatt erteilen müssen. Ich höre, dass nur Erich Reiß in Berlin ist. Walther Reiß hätte es nach seiner Korrespondenz mit mir: „. . . ich werde nicht die Hand dazu geben, dass auch nur das Geringste bei einem andern Ver­lag erscheint. . .“ nicht über sich gebracht.) — Was treiben Sie sonst? In Berliner Zeitungen steht, dass ich bei der bairischen Kavallerie ein- und ausge­rückt wäre. Ach, leider nicht. Leider nicht. Ich fühle mich aber nun beinah‘ verpflichtet, wenig­stens reiten zu lernen. Herzliche Grüße der Ihre Alfred Henschke.

München, 25. 10. 1914

Lieber Herr Heinrich,

ich will mit den Einaktern nichts mehr zu tun ha­ben. Sie mögen zum Teufel fahren. Scheißdreck. Ich habe jetzt was Besseres zu tun. (Was, das ver­rate ich im ersten Stadium noch nicht.) Ich komme eben aus Haag, Oberbayern. Kleiner Marktflecken. Ich habe ein Mädchen besucht und war bei ihren Eltern. Alte verschrumpelte Bauersleute. Sehr freundliche und natürliche Menschen. (Und wahr­scheinlich mehr wert als ihre Tochter.) Zum Ab­schied haben sie die letzten Rosen und Georginen oder wie sie heißen aus ihrem Garten für mich ge­pflückt und mir die Handtasche mit Birnen und Äpfeln vollgesteckt. In Norddeutschland gibt es solche Menschen nicht. Es hat geregnet, das Mäd­chen hat geweint, aber als ich über Thann-Motz­bach hinaus war, schien die Sonne ins Coupe. Ich hatte das ganze Coupe für mich und zum ersten Mal seit Wochen wieder Buhe was zu lesen. Und was ich las, hat mich (zum Teil gewiss auch we­gen der langen Enthaltsamkeit) mächtig gepackt: E. Reichsfreiherr von Binder-Krieglstein „Aus dem Lande der Verdammnis“ (Vita). Es werden Bel­sen und Abenteuer in der russischen Mandschurei geschildert (besonders das Leben in Charbin). Zum ersten Mal ist mir der chinesische Volkscharakter eingegangen, den ich früher nie begriffen habe. Der russische ist mir ja vertraut. Ich finde, es ist ein rechtes Buch in Kriegszeit zu lesen und wun­dere mich, dass es immer noch die erste Auflage haben soll. Diese Tatsache bringt mich auf die Schlechtigkeit der Menschen im Allgemeinen: sie wissen nie, was gut ist, und meine Beobachtungen des letzten halben Jahres (seit ich aus Arosa zurück bin), werden demnächst einen vollkommenen Me­lancholiker aus mir gemacht haben, (soweit ich es noch nicht war.) Die Zeit stank. Wird sie es nach dem Kriege nicht mehr? Ich weiß nicht. — Mein Bruder Hans wird morgen oder übermorgen ausrücken. Er schrieb mir eine Karte wie: „Wir wer­den uns nur als freie Deutsche wiedersehen“, aber leider erhielt ich gleichzeitig einen Brief meines Vaters, der den patriotischen Eindruck der Karte beträchtlich zu mildern wusste. Er hat nämlich, ab­gesehen von seinem gewiss reichlichen Wechsel, Schulden wie ein Major gemacht und kann das Geld, da er dem Alkohol nicht sehr zugeneigt ist, nur in Gemeinschaft freundlicher Damen um die Ecke gebracht haben. Was das für freundliche Damen sind, kann man sich denken, wenn man Cottbus nur einen Blick geschenkt hat. Es gibt unendlich viele Soldatenkneipen mit roten Lichtern in Cottbus. Dass auch der Patriotismus sich schließlich nicht an­ders als erotisch zu entladen weiß, ist eine Hypothese, die mir nie geglaubt wurde, obgleich ich sie statistisch (Sänger-, Turn-, Kriegervereinsfeste) zu be­legen versuchte. Bei den Kriegsfreiwilligen haben wir den unumstößlichen Beweis. Ich erinnere mich bei der Kriegserklärung Österreichs an Serbien: ich war in Leipzig, Tausende marschierten (ich auch) unter Führung eines besoffenen Bäckergesellen nach dem österreichischen Konsulat. Ehrbare Leute alles. (Der Bäckergeselle musste schließlich in einer requi­rierten Droschke gefahren werden, er wollte von sei­ner Fahne nicht lassen.) Als man auseinanderging, wusste man nicht wohin. Man war noch immer nicht entspannt, noch immer geladen. Keiner sagte zum dem was: aber alle trafen sich … in den Bordellen wieder. Ich habe das zuvor nie erlebt, dass in solchen Häusern auch nicht ein Mädchen frei war. In Leipzig erlebte ichs. Die Gassen dröhnten vom Schritt der Kolonnen. Jeder war ein „Krieger“ und zog, von den Huren bewundert und mit Blumen ge­schmückt, zum Tore hinaus. —

Entschuldigen Sie die Schrift, ich habe meine Feder nicht. Ich zermartre mir den Kopf, wie ich noch in den Krieg kommen könnte. Wenn ich schießen lernte, fliegen lernte Reiten kann ich. Ich reite beinahe täglich und tue alles, was ich nicht darf, rauche Zi­garetten, — und mein Arzt muss zugeben, dass ich munterer bin denn zuvor. (Unberufen unbeschlappert, dreimal untern Tisch geklappert.) Herzliche Grüße, grüßen Sie bitte Reiß, der Ihre stets Alfred Henschke.

München, Montag (im Sept./Okt. 1914)

Lieber Herr Heinrich,

„Russland marschiert“ und „Der feiste Kapaun“ sowie „Tommy Atkins“ sind selbstverständlich nur Mittel, um über diese Zeit hinwegzukommen. Und wie ich mei­ne recht anständige Mittel. Die ganze Trilogie soll in den Münchner Kammerspielen und der Societät Berlin zur Aufführung kommen. Wissen Sie keinen netten Gesamttitel? Es sind alles drei Komödien, zwei spielt in Bordeaux, drei in einem Rekrutierungsbüro in London. Zwei ist ein Sammelsurium wahnwitziger ausländischer Presseberichte. (Ich lese das „Echo de Paris“ im Original.) — Es ist ein Spiel, aber ich war unglücklich, ehe ich es nicht hatte. Die er­sten Kriegswochen waren eine Tortur. Ich bitte doch Reiß ans Herz zu legen, dass er sie alle drei in einem hübschen kleinen Bande mit einer Zeichnung von Szafranski druckt, sobald die Semmeln noch warm sind. Ich hoffe, dass er mich nicht im Stich lässt jetzt. (Und etwa alle meine Kriegssachen andern Verle­gern in die Hände spielt), es würde mich nach dem guten Anfang bei Reiß schmerzen. Sie werden mir glauben, dass ich nicht renommiere, wenn ich schreibe, dass mir andere Verleger genug zu Gebote stehen. Ich will nicht. Und hoffe, dass auch Reiß meine Sa­chen nicht bei andern sehen will und die Vereinba­rungen, die sein Bruder getroffen hat, umstößt. (Sein Bruder hat den Roman angenommen. Es könnte sein, dass ich das Honorar einmal brauchte.) Entschuldigen Sie, wenn ich immerzu von Reiß rede, aber es geht mir durch den Kopf, weil ich von ihm überhaupt nichts höre. Und dann hab‘ ich die letzte Zeit rasend gearbeitet, wie ein Pferd, manch­mal von 10 Uhr früh bis 3 Uhr nachts. Ich bin ein wenig überreizt, trotzdem ich gestern und vorgestern im Gebirge war, was mich wundervoll beruhigte. Kennen Sie Mittenwald? Die architektonisch schön­ste Stadt Bayerns. Ein Bauerngesang. Mit dem Kar­wendel als Notenblatt. — Wissen Sie, dass ich eine Soldatenliedersammlung habe? Wohl die beste, die es zur Zeit gibt? Hunderte? Richtige Soldatenlieder‘! Ich will sie jetzt herausgeben. Beiß wird sie schwer­lich wollen. Er hat ja sein Wenns die Soldaten . . . das sehr hübsch ist, auf Vollständigkeit (Bayern und Österreich fehlt ganz) ja aber auch keinen Anspruch macht.

Können Sie mit ihm nicht telefonisch darüber spre­chen? Ich wage nicht zu schreiben, weil ich doch keine Antwort bekomme.

Herzliche Grüße. Ich bin zur Zeit nur ein entsetz­lich aufgeregtes Nervenbündel. Der Ihre Alfred Henschke.

München, 31. X. 1914

Lieber Herr Heinrich,

große Dinge gehen vor im Mond, die das Kalb selbst nicht gewohnt, heißt es irgendwo. Die Ereig­nisse (auch „in uns“, darf man das sagen) überren­nen und überrasen sich. Vielleicht komme ich (irgendwie) an die Front. Schwache Hoffnung! Ich reite. Sie wissen es. Ich lerne schießen. Ich werde eine Reise um die Welt machen und quer durch Me­xiko reiten. Was werde ich nicht alles. (Reiß muss meinen Vertrag ändern: in eine monatliche Rente. Wird er es tun? 200—300 M.) Ich habe den Maler Seewald gefunden. Krieg ist! Sie werden bald von uns zwei hören. Ob Reiß mit uns zweien was anfan­gen wird? (können?) Herzlich herzlich Alfred Henschke.

Crossen, 23. 12. 14

Lieber Herr Heinrich,

alles Gute zu Weihnachten und zu 1915! Hier spürt man in zwei Stunden mehr vom Krieg als in München in einem halben Jahr. Das machen die vielen gefangenen Russen*, die man sieht. Sechstausend sind’s. Die meisten hervorragend gut mit hellbraunen festen Mänteln und großen Schuhen ausgerüstet. Einzelne allerdings: zum Jammern: nur mit schmutzigen Tüchern umwickelt. Einzelne kleine greisenhafte Kerle. Mongolen. Bärtige Juden. Balten mit Fransen. Ich muss viel Korrekturen lesen für das dicke Buch, das ich im „Gelben Verlag“ herausgebe. Nach Berlin komme ich auf der Rückreise nach München. Haben Sie die Novelle „Marietta“ gelesen? Herrn Döring sprach ich. Frau Döring äußerte sich lobend über Ihre Gedichte, die sie gekauft hat. Herzlich Alfred Henschke.

Berlin, 29.1. 1915

Lieber Herr Heinrich,

schade, dass ich Sie heute verfehlt habe. Haben Sie meine Karte nicht bekommen? Ich will nämlich mor­gen (Sonntag) Abend fahren und hätte Sie gerne noch endgültig wegen Reiß gesprochen. Denn ich weiß gar nicht, was ich tun soll. Ich werde morgen früh wahrscheinlich zu ihm gehen. Zum mindesten muss ich Geld haben, um nach München zurückzu­kommen. (Mit dem D. T. ist es nichts geworden. Leider.) —

Gestern hab‘ ich S.S. gesprochen. Sie war schön wie nie. Eine himmlische Erscheinung. Hinterher traf ich dann das Fräulein aus Eberswalde. Und ferner ein Mädchen aus Halensee, welches sich „Künstlerin“ nannte und Blumenstücke malt. — Ich bin heute todmüde und kann nur immer an S. S. denken. (Ich werde diese Worte zu magischen Zei­chen erheben!) Herzlichen Gruß Alfred Henschke.

München, 15. III. 15

Lieber Herr Heinrich,

Ich schwelge — wie lange schon? im größten dichte­rischen Ehebund meines Lebens. Sie sollen bald dar­über Bescheid erhalten. Reiß muss das trotz des Krie­ges zu Weihnachten drucken. Immer Ihr Klabund.

München, 9. 5. 15

Lieber Herr Heinrich,

es scheint, dass Reiß überhaupt nichts mehr von mir nehmen will. Dabei ist gerade jetzt ein Bedürfnis nach guter Belletristik vorhanden, die nichts mit dem +++ Krieg zu tun hat. Ob es die „Insel“ ma­chen wird, weiß ich nicht. Ich frage an. Ich bin dann mit Gottes Hilfe bei 5 Verlagen: Reiß, Insel, Georg Müller, Goltz, Gelber Verlag . . . Aber es gibt ja noch mehr. (Walther Reiß wird sich freuen, denke ich mir, wenn er ruhmgekrönt wieder in den Verlag ein­tritt. Warum ist er so ohne jede Initiative?) — Die italienischen Gemüsehändler sind hier auf dem Viktualienmarkt (angeblich) verprügelt worden. Aber man ist kälter als ich dachte. Man beginnt die Niedertracht dieser Bundesgenossenschaft gewissermaßen ästhetisch zu genießen. Was für ein gemeines und dreckiges Pack! Gott wie süß! Immer Ihr Klabund.

München, 17.5. 15

Lieber Herr Heinrich,

sowie der Roman bei einem andern Verleger erscheint, ist R. . .. mein Verleger nicht mehr. Das geht nicht. „Dumpfe Trommel und berauschtes Gong“, chinesische Kriegsgedichte (sie sind mir besser gelungen als „Litaipe“, sie sind noch freier übertragen und haben oft nur das chinesische Motiv behalten) erscheint min im Inselverlag. Mit „Litaipe“ bin ich mir noch nicht einig. Vielleicht mache ich eine große Ausgabe (100 unbekannte Gedichte, direkt aus dem Chinesi­schen übersetzt mit einem hiesigen Chinakenner). Vielleicht. Ich habe jetzt meine Kriegsgedichte ge­sammelt, soweit sie rein künstlerischen unaktuellen Wert haben. 40. Sie kennen sie nicht. Ich biete sie Reiß an. Vielleicht lassen Sie sie sich gelegentlich von ihm zeigen.

Schienther bietet mir Buchkritik im D.T. an. Ich will es tun, weil man schöne Bücher umsonst be­kommt. Sonst bin ich so faul.

Gefällt Ihnen das Buch von H. E. Jacob* über seine (angebliche) Reise durch den belgischen Krieg? Schönsten Gruß immer Ihr Klabund.

Erster Juni 1915

Lieber Herr Heinrich,

vielen Dank für Ihren Brief. Bitte bemühen Sie sich nicht mit Reiß. Ich werde schon allein mit ihm fer­tig werden. So oder so. —

Auch hier ist die Stimmung sehr zuversichtlich. Grade durch den Eintritt Italiens hat sie sich gefe­stigt und erhoben. Jetzt braucht bloß noch der König von Griechenland zu sterben. Und Amerika (eben­falls) „losschlagen“ – dann haben wir das Fiasko einer deutschen „Diplomatie“ erlebt, wie es erbärm­licher eine Diplomatie, für die Anführungsstriche noch zu gut sind, nicht geben kann. Wie lächerlich von dieser Presse, dem deutschen Volke aufzureden, als sei seine völlige Isolierung nur eine Folge seiner Tüchtigkeit und Tugend. Biblische Beweisführung: Der Gerechte muss viel leiden . . . Aber weshalb sind uns alle alle feind? auch die neutralsten Neutralen: Holland, Dänemark, Norwegen. In Schweden und Spanien genießen wir vereinzelt Sympathien. Süd-und Nordamerika ist gegen uns. Die Schweiz ist höchst zweifelhaft. Nicht mal die Türkei ist kultu­rell unser. Sie gehört geistig mehr zu Frankreich. Und Österreich? —

Es ist uns eben („unter dem herrschenden Regime“) nicht gelungen, die prachtvolle Organisation unseres Heeres, unserer Beamtenschaft mit werbendem Geist zu erfüllen. Wir haben einen Idealismus nur zum Privatgebrauch, als „Ding an sich“, gelöst von der Erde, zu geben vermocht. Wie der Franzose. Wie (vor allem) der Engländer, der (nämlich) auch Idea­list ist. Wie wäre die Weltherrschaft Englands ohne «Idealismus», aber eben jenen englischen Idealismus der Tat denkbar? Man glaubt doch nicht im Ernst, dass England Indien mit Brutalität, mit roher Waf­fengewalt regiert? oder Ägypten? Mit seinen ganzen tausend Kolonialsoldaten? Woher jene Macht Eng­lands über Russland? Über Frankreich? über Italien? (das ein paar Tage nach den schwersten Niederlagen der Verbündeten in Galizien und an den Dardanel­len in den Krieg marschiert). Repressalien? Kohlen? (Die hätte es doch auch von uns kriegen können) — das ist die „andere Seite“, die man schließlich auch mal betrachten muss. Es wird schwere innere Kämpfe bei uns geben. (England scheint mir unbesiegbar.  

Wie Deutschland. Deutschland aus militärischen, England aus weltpolitischen Gründen.) Diese kom­mende Zeit müssen wir erleben. Wir wollen dabei sein.

„Die Tage tauchen vor uns auf wie Inseln,

Die unentdeckt in dunklen Meeren lagen ..“

Das ist ein schönes Gedicht. Ich lese gern in Ihren Gedichten. Eigentlich nicht der Gedichte wegen. Ihretwegen. Immer Ihr Klabund.

München, 6. 7. 15

Lieber Herr Heinrich,

Sie haben schon recht mit Ihrer Ansicht von der In­fektion des Geistes von dem Gedanken des „ewigen Krieges“. Ich muss übrigens mal wieder nach Berlin, längere Zeit, hier kann man nicht eine einzige No­velle schreiben, weil die Luft so weich ist. Das ganze „Karussell“ ist doch schließlich „Berliner Marke“. Und dasselbe in blassblau, aber besser, müsste man doch noch mal schreiben. Hin und wieder denke ich an „Peter“, werde ganz gerührt und bekomme Heimweh nach Berlin N. Reiß war hier, hat es aber nicht für nötig gehalten, mich anzurufen. Im Herbst will er nun ein Buch von mir bringen. Ich will jeden Tag nach Mittenwald (kommen Sie doch auch hin! Sehr schön und relativ billig! 5,50 täglich!). Herzlichst Klabund.

 München, 15. IX. 1915

Lieber Herr Heinrich,

wie lange habe ich nichts von Ihnen gehört. (Sie von mir wohl auch . . .) Alle paar Wochen krieg‘ ich Sehnsucht nach Berlin, heute zum Beispiel. Nach dem
Geruch von Berlin. (München riecht so indifferent, so gar nichts, so flaches Hochland.) Ich war in Mittenwald. Das tat mir gut. Vorgestern wurde ich wieder mal gemustert. Auf 6 Monate (wieder) zurück. Sehen Sie Reiß manchmal, den Gentleman, der sich mit dem Drucken von Büchern befasst? Herzlichst Ihr Klabund.

München, 3. X. 1915

Lieber Herr Heinrich,

die Zeilen an meinen Bruder stehen in der Skizze „Mittenwald“! Inzwischen habe ich noch drei Sachen: HölderlinLeuchtet Ihre Uhr des Nachts? — Der Igelan Reiß geschickt. Ich glaube, es wird ein ganz anständiges Buch. Nur wieder die Sorge um den Titel! „Kriegstagebuch“ allein klingt so präten­tiös, da ich ja gar nicht im Krieg war. Was meinen Sie zu „Defensive“, ein Titel, der den defensiven Cha­rakter des Buches (defensiv gegen den Krieg) sehr gut kennzeichnet und zugleich stark genug auf den Krieg selbst hinweist. „Klabunds Karussell im Krieg“ geht ja leider nicht. Was ist Ihre Meinung über den Titel? Herzlichen Gruß Klabund.

München, 11. X. 1915

Lieber Herr Heinrich,

ich schrieb Reiß, dass ich Uhr, Feldherr und Hölder­lin (als — vortrefflichen — Epilog: milde, resignierter Ausklang des Kriegsbuches) drin behalten möchte. Titel: das gibt wieder Kopfzerbrechen. „Klabunds Kriegsbuch“ so alleine — geht nicht. Aber vielleicht: „Klabunds Kriegsbuch in Prosa“? Reiß muss ja auf jeden Fall im Frühjahr die „Himmelsleiter“ folgen lassen. Mit meinem zweiten Roman, an dem ich täg­lich (oder vielmehr nächtlich) arbeite, hoffe ich bis dahin auch fertig zu sein. Er wird sehr kurios — Soll ich Ihnen von meinem außerliterarischen Leben erzählen? Allerlei Frauen und Kinder. Ich liebe jetzt die 16-jährigen. Ich bin doch Fetischist für Brüste, und das sind die einzigen, die noch schöne Brüste haben. Ich selber werde auch immer jünger. Immer jünger. Das ist eigentlich verdächtig. Schmeckt so nach Auflösung nach der andern Seite hin. Ich sehe jetzt so jung aus, als ob ich mein Bruder wäre. Und mein Bruder sieht so alt aus, als ob er ich wäre. — Die Wohnung, die ich habe, ist — endlich mal — sehr hübsch. Und Zentralheizung. Ich fühle mich wohl drin. Meiner Lunge bekommt die trockne Luft der Zentralheizung scheinbar gut. Dagegen bin ich sonst in ärztlicher Behandlung, seit einem Monat schon… Meinem Bruder geht es besser. Er ist aus dem Laza­rett entlassen. Hat Urlaub und kommt dann nach Jüterbog zum Offizierskursus. Möchten Sie ihn kennenlernen? Sie wissen, dass ich viel von ihm halte. Seit er aus dem Feld zurück, habe ich ihn aber leider noch nicht gesehen. Herzlichsten Gruß Ihr Klabund.

München, 24. 10. 15

Lieber Herr Heinrich,

ich bin infolge tausenderlei Verkettungen in einer entsetzlich gereizten Stimmung. Ich habe Reiß geschrieben, telegraphiert: Der Titel „Kriegsbuch“ allein ist für mich unmöglich. — Ich habe noch mehr Kriegsbücher geschrieben, auch in anderen Verlagen. Ich begreife überhaupt nicht, dass man nicht den Titel wählt, den ich vorschlage: „Der goldene Tod. Ein Kriegsbuch von Klabund“. Schließlich geht doch das nicht bis in die Puppen mit Klabund im Titel: Klabunds erster Roman, Klabunds zweiter Roman, Klabunds weitere Gedichte usw. Das geht doch nicht.

Ich bin auch überzeugt, dass „Kriegsbuch“ im Titel schlecht wirkt: geschäftlich. Die Leute kaufen keine direkten Kriegsbücher. (Und das ist es ja auch gar nicht.) Ich finde „Der goldene Tod“ sehr einprägsam und wirkungsvoll. Wenn Reiß alles selbst bestimmen will, ohne meine Zustimmung, Schrift, Papier, Titel, Format usw. dann kann er sich auch meine Bücher künftig selbst schreiben. Schönsten Gruß Ihr Klabund.

München, 28. 10. 15

Lieber Herr Heinrich,

ich fühle, was Ihr kleiner Neffe Ihnen bedeutete: wohl das, was mein Bruder mir ist. Das Schlimmste ist doch der Tod. Die Vernichtung eines jungen Her­zens zerstört mehr, als die Erbauung eines Straßbur­ger Domes je wieder errichten könnte. Auch ich bin auf die Organisation des Todes, wie sie der Krieg erzeugt, immer wieder in Resignation und Tränen gestürzt. Ich bin müde von dem vielen Tod. Als neu­lich eine Maschinengewehrkompagnie verladen wur­de, hab‘ ich geheult wie ein Schlosshund. — Ich liege seit einigen Tagen im Bett. Ein mixtum compositum von Magen- Darm- Lungen- und Nie­renkrankheit, hoffentlich brauch‘ ich nicht operiert zu werden. Ich habe wie eine schwangere Frau im­mer heiße Flaschen auf dem Bauch liegen (und wei­ter unten eiskalte). Es gibt keinen vernünftigen Menschen mehr in Europa. Wir sind alle „ver­rückt“. Herzlichst drückt Ihnen die Hand Ihr Alfred Henschke.

München, 18. 11. 15

Lieber Herr Heinrich,

mein neuer Roman „Moreau“ ist bereits bei Reiß. Falls Sie ihn gelegentlich lesen sollten, wäre ich Ih­nen für Ihre Meinung verbunden. Er ist in einem ganz anderen Stil geschrieben, fiebernd, wieder voll sachlicher Romantik. Unerotisch! Ich habe lange geschwankt, ob ich einzelne Szenen (die Eroberung der Flotte durch Kavallerie), den Schluss (die Schlacht bei Dresden) ausführlicher behandeln sollte: was auf jeden Fall nur eine Frage der stilistischen Einsicht, keinesfalls des Vermögens ist. (Im Gegenteil: die oben erstgenannte Szene könnte zu ausführlichster Gestaltung in Hinsicht auf ihre groteske Veranla­gung reizen.) Ich habe die Szene kurz, karg und fieb­rig gelassen. (Übrigens war ich krank, als ich das Buch schrieb!) —

„Der Marketenderwagen“ — ist das nicht ein entzückender Titel? Ist der nicht tausendmal besser als alle die Klabunds Kriegsbuch, Kriegsgeschichten, die so farblos waren? Herzlichen Gruß Ihr Klabund.

Crossen/Oder, 26. 12. 15

Lieber Herr Heinrich,

Dank für Ihren Brief. Auch ich bin Ihrer Meinung über den „Moreau“ (der übrigens bei meiner Vorle­sung in München starken Eindruck gemacht hat: Kritiken haben z. T. auch in Berliner Zeitungen gestanden: Der Abend war eine kleine Sensation für München — was ich selber kaum erwartet hatte). Reiß muss ihn natürlich im März bringen: ich be­rühre auf der Rückreise Berlin und habe verschiede­nes mit ihm zu besprechen. Ich finde, dass er in sei­ner Propaganda für mich viel zu lau ist. Er muss viel mehr Spektakel machen. Wie Wolff mit seinen Leu­ten. —

Habe ich Ihnen „Dragoner und Husaren“ und das kleine Inselbuch distanzierter Kriegslyrik „Dumpfe Trommel“ geschickt? Ich bin nicht recht im Bild. Dass Reiß sich die beiden kleinen (meines Glaubens recht anständigen) Bücher hat entgehen lassen, war — un­ter uns — eine Eselei von ihm. (Auch geschäftlich: von den „Dragoner und Husaren“ erscheint das fünfte Tausend.) —

Weshalb ich neulich nicht kam? Es war eine plötz­liche Laune von mir, in Halle auszusteigen. Ein plötzlicher Widerwille gegen Berlin. Mein Instinkt leitete mich recht: ich verlebte in Halle zwei Stun­den, die ich nicht vergessen werde. — Ich werde mich sehr freuen, Sie den 4ten Januar eben wiederzusehen. Ich bin natürlich schon voll neuer mehr oder weniger phantastischer Pläne. Alles Gute für das neue Kriegsjahr! Ihr Klabund.

München, 25. 1. 16

Lieber Herr Heinrich,

in Eile ein paar Zeilen. Mir geht es nicht gut. Aber schließlich ist dieser Zustand schon zu latent bei mir, als dass man noch darüber reden sollte. Es wird langweilig. Vom Militär bin ich endgültig freigekom­men. Als einziger bei der letzten Musterung. (Nach der 9. Untersuchung.) Ich möchte oder vielmehr soll nach Davos. In diesem Fall müsste ich Reiß, so leid es mir tut, um monatlich 200 M (statt 150 M.) kränken.—

Im Winter will ich, nach dem „Moreau“, ein großes Gedichtbuch herausgeben: eine Auswahl aus der „Himmelsleiter“ und der „Roten Nachtigall“, die leider bei Reiß liegen. Vielleicht sehen Sie sie gelegentlich an und machen Vorschläge. — Von Arbeit ist natür­lich keine Rede. —

Die Affäre mit meinem Bruder hat sich noch mal, aber sehr schwer, regeln lassen. Er war in der Tat schon sehr moralisch geknickt. Ich bin eigentlich im­mer im Fieber und sehr deprimiert. Aber das geht vorüber. Herzlichst Ihr Klabund.

Davos, 12. 2. 16

Lieber Herr Heinrich,

da wären wir nun und fühlen uns vorläufig sehr wohl: ich scheine es mit der Pension sehr gut getrof­fen zu haben. Südzimmer mit eigener Liegehalle. Ganze Pension (5! Mahlzeiten: mittag und abend große Dinge) nur 8,50 den Tag. Und das Essen vor­trefflich. Über die Menschen wage ich noch nichts zu sagen. Sonst ist bedeutender Betrieb hier. Viel „Welt“. Engländer, Griechen, Franzosen, Italiener, Deutsche, Amerikaner, Russen, alles durch- und übereinander. Dazu Fleisch jeden Tag. Sonntag Schlagrahm. Kurz: der zur Zeit nur irgend liefer­bare „Friede“. Schreiben Sie bald Ihrem Klabund.

Davos-Dorf, 12. III. 1916

Lieber Herr Heinrich,

Dank für Ihren Brief. Das Problem des goldenen Kasseroll beschäftigt mich fortgesetzt: aber ich bin mir über die Änderung noch keineswegs klar. Be­denken Sie: die Szene geht auf Napoleons Erschei­nen bei Moreau zurück. Ich müsste ungefähr 10 Sei­ten umkomponieren. Nun bliebe der Ausweg: Moreau die Szene träumen zu lassen. Dazu brauchte es nur des Anfangs einiger Sätze. Aber: ist der kleine Ro­man nicht trotz aller heftigen Romantik sehr direkt? Und wäre nicht das vielleicht ein Riß, ein Zerschnei­den des Stils?… Die ersten Korrekturen hab ich schon gelesen. —

Eine Erzählung hab‘ ich hier geschrieben: „Die Krank­heit“, etwa dreiviertel so lang wie der „Moreau“ und auch mal als kleines selbständiges Buch herauszubringen. Im Stil dem „Moreau“ diametral entgegen. Der Held ist ein junger Mann namens Sylvester, der auch in einem projektierten Roman Sylvester und [ein Wort unleserlich] seine Rolle spielt .- Der Fasching ist vorbei. Hier haben wir ihn gefeiert: ich habe rasend getanzt. Ach man sah wieder rote und gelbe und violette Pierretten und hielt sie-in seinen Armen. Es gab wieder spaßhaft ernste Fa­schingsabenteuer mit Tränen und Gelächter. Eben läuten die Sonntagsglocken. Ich muss daran denken, dass Franz Marc gefallen ist. Der wie keiner die bun­ten Tiere geliebt hat. (Und gehören die Pierretten nicht auch zu den bunten Tieren?) Ich sehe immer seine roten Rehe, sein blaues Pferd. Er war ein Bayer: aber viel näher dem Gebirge als Franz Stuck! Ich weiß nichts von ihm, als dass ich mit ihm die drei Tage, ehe er ausrückte, im Münchner Cafe „Stefanie“ gesessen und ihn menschlich liebgewonnen habe. Er hat mir noch einmal geschrieben. Dann habe ich nichts mehr von ihm gehört. Ihr Klabund.

Davos, 22. III. 1916

Lieber Herr Heinrich,

wissen Sie, als Bankbeamter, keine Möglichkeit, billig Schweizer Geld zu kriegen? Kann man nicht bei einer deutschen Bank deutsche Kriegsanleihe, sagen wir 1000 M. mit 800 Frank beleihen, die man bei einigermaßen normalem Kurs wieder zurückzahlt? Bitte schreiben Sie mir bald darüber. Ich bin wieder ein wenig elend. Alle paar Tage kriech ich mal ins Bett. Da sind aber auch die +++ Frauenzimmer dran schuld. Wenn da so weiter geht, reise ich ab und fahre nach Locarno. Die schönsten Grüße Ihr Klabund

Zürich, 3. IV. 1916

Lieber Herr Heinrich,

Sie sehen, ich bin nicht mehr in Davos. Schon seit 6 Tagen nicht mehr. Ich bin Hals über Kopf abge­reist. Nach sehr schmerzlichen Erlebnissen. Ich bin vielleicht ein guter Menschenkenner, aber ein schlechter Psychologe. Ich habe fünf glücklich- unglückliche Tage hier in Zürich verlebt mit einer Davoser Freundin. Nun bin ich seit vorgestern allein, hocke ziellos hier im Hotel und weiß nicht, wohin. Weshalb. Und so weiter. Wenn man eine Heimat hätte! Unsereiner hat keine. Auch München entschwindet. —

Was den „Moreau“ betrifft, so war ich zu irgendwel­chen umfassenden Änderungen unfähig und unlustig. Ich habe nur mit Mühe die notwendige Korrektur gelesen. Einen einzigen winzigen Satz hab‘ ich an die Kasserollszene herangeschoben: „Da erwach Moreau.“ Punkt. Streusand. Noch eins: ich möchte, wenn es noch geht, das erzählende Präsens (das mir erst so gefiel) überall in „Moreau“ in das Präterium umändern. Wer könnte das machen? Sie? Aber ist vielleicht schon des Druckes wegen zu spät. Ich bin viel müder und elender als damals, da ich von München nach Davos kam. Wenn ich nach Davos zurückkönnte. Aber ich kann nicht. Herzlichen Gruß Ihr Klabund.

Oberstdorf, 11.5. 16

Lieber Herr Heinrich,

h bin wieder in Deutschland. Wer weiß, auf wie lange Zeit! In einigen Tagen gehe ich nach Mün­chen. Wissen Sie was von „Moreau“? Die schönsten Grüße Ihr Klabund.

München, 30. 5. 16

Lieber Herr Heinrich,

es ist schade, dass das wunderschön gedruckte Buch so voller Druckfehler ist. Z. B. stehen in dem Lied des Christophe allein fünf! –

Ich habe mich, entgegen meinem ersten Eindruck, wieder an München und Deutschland gewöhnt. Ich war zuerst sehr danieder; es ist doch keine Kleinig­keit aus dem Frieden in den Krieg zurückzukehren, und alle jene schmerzlichen und schmerzlichsten Assoziationen wieder auftauchen zu sehen, die man schon versunken glaubte. Um mehr zum Realen (und doch nicht ganz Realen) zu kommen: in Berlin soll es ja um die Ernährung der Bevölkerung schlimm stehen? Schon seit Monaten? Hier merkt man noch nicht viel. Jedenfalls ist an den Fleischtagen noch immer viel Fleisch zu haben. Man isst noch immer trefflichen Schweinebraten mit Salat für 1,20 M und ein ganzes Menu (Suppe, zwei Gänge, Nachtisch) für 1,30—1,70. Es sind viel Berliner hier, die ihre Wehklagen aus Berlin mitbringen, und sich (vor­läufig wenigstens noch: ehe das Ausfuhrverbot aus Bayern, das scheinbar besteht, nicht aufgehoben wird) vollfressen. Je weniger es zu essen gibt, um so materialistischer werden die Leute. Diese klare Rech­nung scheint den Oberpatrioten noch nicht aufge­gangen. –

Wie geht es Ihnen persönlich? Zuweilen hat man verdammt das Gefühl, sich noch gerade über Wasser zu halten. Entsetzlich finde ich es, dass alle Beteilig­ten schon für einen künftigen Krieg rüsten, da sie bei diesem scheinbar nicht ganz auf ihre Kosten kommen. Ein unmenschliches Gezücht, diese Men­schen. Schreiben Sie bald mal Ihrem Sie herzlich grüßenden Klabund. Ich stelle jetzt das Gedichtbuch für den Herbst zu­sammen. Es wird so dick wie die Bibel.

München, 27. VI. 16

Lieber Herr Heinrich,

kommen Sie doch im Juli nach Oberbayern! Ich werde dann (wahrscheinlich mit meinem Vater) in Mit­tenwald oder Garmisch sein. Schon der Magenfrage wegen müsste Bayern für einen Berliner doch heuer ein Aufatmen sein.

Lieber Herr Heinrich: ich habe gar keine Hoffnung mehr für eine „bessere Welt“. Ich lese Andreas Gryphius‘ Sonette und finde . . . unsere Zeit. Hätte man nicht in sich den Zwang und den Willen: zur formalen Bändigung eines schlechthin widerlichen Chaos — man müsste entweder blödsinnig werden oder sich aufhängen. – Die Gedichte, die ich Reiß sandte, sind in der Form alle nachgeprüft; der zweite ‚Teil allerdings stellenweise schlecht zu lesen. Die Abtei­lungen, die ich schon gewählt habe, sind je 25—50 Gedichte stark. Viel möchte ich diesmal nicht strei­chen.

Ich habe mit einem hiesigen Verleger einen Vertrag auf Herausgabe einer Bühnenserie abgeschlossen. (Reiß weiß das noch nicht). Ich erhalte eine monatliche Rente von circa 200 M dafür. (Soviel wie bei Reiß). Ich werde ihm auch die Geishalieder anhän­gen. Und eine freie Nachdichtung des Omar. Denken Sie: ich habe ein Komödienmanuskript ver­loren! Das stimmt mich auch nicht heiter. Schönsten Gruß Ihr Klabund.

Davos-Dorf, 18. September 16

Lieber Herr Heinrich,

fünf Wochen bin ich nun schon wieder in dieser abenteuerlichen Einöde und fühle mich unendlich wohl. Der Druck des „Krieges“ ist von mir genom­men, und ich atme eine friedliche Luft. Ich habe in diesen fünf Wochen einen neuen kleinen Roman, „Franziskus“ genannt, geschrieben: in der Haltung des „Moreau“, aber ruhiger, gefasster. Ich bedaure, im Sinne des Verlegers, sehr, dass ich keine langen Ro­mane schreiben kann: aber mein ganzer Zustand prädisponiert mich zum „kleinen Roman“ — den es ja eigentlich in Deutschland bisher noch nicht gibt, und in dem ich vielleicht wirklich etwas Dauerndes vollbringen darf. („Gunther“ wird vielleicht ein dickes Buch, aber wie weit entfernt liegt es noch!) Ich schicke Reiß dieser Tage den „Franziskus“ und bitte sehr um Ihre Meinung. – Wie geht es Ihnen? Ich trauere immer noch unserer letzten Verfehlung nach. – Wäre Friede: Wir könnten vielleicht einmal zusammen hier sein! Heut ist ein herrlicher Tag: blau, kühl, mit durchsichtigen dünnen Wolken an den Hängen. Herbst. Ich werde immer „ethischer“ gerichtet. „Franziskus“ beweist es. Eine kleine Reise nach Nürnberg hat mich recht nachdenklich ge­macht. Wir wandeln uns doch. Und ich hoffe, um „Franziskus“ zu zitieren, „auf eine entscheidende Wendung zum Guten.“ Immer Ihr Klabund. Jetzt interessiert mich eine Idee von 1848.

Davos-Dorf, 5. XI. 1916

Lieber Herr Heinrich,

Dank für Ihre Karte. „Franziskus“ hat R. inzwischen erhalten, vielleicht bitten Sie ihn sich mal aus. Die Couplets machen mir keine nennenswerte Freude, aber Geld, und das brauch‘ ich so notwendig. Ich lei­de direkt an „Geldkomplexen“. Über den Erfolg des -Wegenerabends bin ich — im Gegensatz zu Reiß — gar nicht entzückt. Wie ich aus privaten Briefen und zum Teil auch aus den Kritiken lese, hat Wegener mich in Grund und Boden hineinrezitiert: schlecht, nachlässig und leise. Die Briefe, die ich von sonst ganz harmlosen Leuten erhalten habe, sind gerade­zu empört über die Art, wie W. mich behandelt hat. Von der dritten Reihe an hat schon kein Mensch mehr ihn verstanden. Es war also ein Experiment, dessen Wiederholung ich R. nicht empfehle; da lese ich schon lieber selber. — Schreiben Sie doch bald einmal wieder. Ich bin so allein hier. Die herzlichsten Grüße Ihr getreuer Klabund.

 Davos-Dorf, 17. XI. 1916

Lieber Herr Heinrich,

Dank für Ihren Brief. (Entschuldigen Sie den Blei­stift, ich schreibe im Liegen.) — Nein: es ist unmöglich, den „Franziskus“ mit anderen Sachen zusammenzudrucken. Er muss ebenso wie der „Moreau“ erscheinen: als zweiter Teil der Tetra-oder Trilogie, die ich plane: Held, Heiliger, Dichter, Dirne. Am „Gunther“ deute ich oft. Ich habe auch viele neue Verse geschrieben und plane auch einen längeren epischen Hymnus. — Dass Reiß mit dem Wegenerabend das Beste wollte: daran zweifle ich nicht. Wenn der Abend trotzdem nicht den von mir erhofften Erfolg (Reiß mag mit ihm zufrieden sein) hatte, so liegt das an zweierlei: daran erstens, dass Wegener wie ich vermute nur aus Geldgründen gelesen hat, und ich ihm so gleichgültig bin wie weiß Gott wer: er innere Beziehungen zu mir wahrscheinlich nicht fand. Und zweitens an der Geste von Reiß, mit der er augenscheinlich den Abend inszeniert hat. Ich finde es grundfalsch, mich als den Dichter, der bisher nur einer kleinen Anzahl Literaturfreunde bekannt ist und der einem größeren Kreise gewonnen werden soll, zu propagieren. Man suggeriert Publikum und Kritik Ideen ein, die vollkommen falsch basiert sind. Meine Bücher sind jetzt (alle zusammen) in über 30 000 Exemplaren verbreitet. Das bedeutet mindestens 150000 Leser. Sind das noch „einige Literaturfreunde?“

— Die Geldfrage — .ja. das ist wahrhaftig lästig. Man verbraucht so viel Energie damit. Schönste Grüße Ihr Klabund.

Davos, 1. 1. 1917

Lieber Herr Heinrich,

vielen Dank für Ihren Brief. Nein, meine Eltern haben sehr unrecht: Arosa würde mir gar nicht mehr bekommen: Die Menschen sind dort zu leer, und die Luft ist zu leicht. Ich fühle mich sehr wohl hier, lebe mit einer schönen blonden Freundin ein apolli­nisches Leben, arbeite und denke viel. Und mein ein­ziger (nur entfernt an der Oberfläche fühlbarer) Schmerz ist, dass ich mit meinem Gelde nicht aus­komme, woran zum Teil natürlich der schlechte Kursstand schuld ist. Für 600 M 490 Franken zu er­halten, macht keinen Spaß.

Ich habe mancherlei gearbeitet, und darüber möchte ich Ihre Meinung hören. Ich bitte Sie, wenn Sie Zeit haben, sich von Reiß die beiden Manuskripte „Fran­ziskus“ (Roman eines Hundes) und „Irene oder die Ge­sinnung“ geben zu lassen. Letzteres ein Gesang, ein Aufruf, ein Hymnus in 40 rhythmischen Abteilun­gen. Beide verraten deutlich die Wendung, die ich seit dem „Moreau“ durchgemacht habe: sie gehen ganz entschieden vom Unbekümmert-Spielerischen zum Geistig-Zwecklichen über. Gerade weil Sie das „Un­bekümmerte“ an mir (meiner Kunst) so liebten, bin ich auf Ihre Einstellung zu den neuen Schriften sehr neugierig. „Irene“ soll im Frühjahr erscheinen. Bitte sagen Sie mir alles, was Sie denken: ich halte beide für ein Fortschreiten gegen „Moreau“ und „Himmels­leiter“. Aber ich habe nur „Gesichte“, bin kein „Schauender“. Alles Gute im neuen Jahr! Immer Ihr Klabund.

Davos-Dorf, 7.II. 17

Lieber Herr Heinrich,

meinen letzten Brief werden Sie erhalten haben. Ich weiß nicht, ob Sie inzwischen Zeit und vor allem Laune gefunden haben, den „Franziskus“ und „Irene“ zu lesen.

Der Bruch mit Amerika (und den übrigen Neutra­len: denn von einer wohlwollenden Neutralität kann bei keinem mehr die Rede sein) hat doch gewiss auch Berlin erschüttert. Eine kleine Angelegenheit ist das nicht und froh, wie der Bund der Landwirte, kann man bei Betrachtung der Weltlage nicht werden. Ich begreife die Notwendigkeit eines solchen Schrittes nach der anmaßenden und irren Ablehnung des deutschen Friedensangebotes. Hoffen wir nur, dass der U-Krieg Erfolg hat.

Hier in Davos herrschte am Tage des Bruches mit Amerika natürlich auch eine aufgeregte Stimmung. Viele faselten von einem Bruch der Schweiz mit Deutschland und packten die Koffer. Das ist natür­lich ausgeschlossen. Bern hat (inoffiziell bisher) Wil­son abgewinkt.

Ich habe in diesen Tagen ein neues Groteskenbuch zusammengestellt: 30 sind es inzwischen geworden: viel einheitlicher das Ganze, gedrungener und ge­formter als das „Karussell“. Ich hätte beinah Lust, es mit bunten Bildern von mir zu schmücken: grotes­ken Dingen, was hielten Sie davon? Ein Freund schreibt mir eben über den „Franziskus“: er findet die Einleitung überflüssig (sogar „unreinlich“), und möchte die Geschichte Seite 8 beginnen lassen: „Ich stand am Bug…“ Was meinen Sie? Ich habe ihm geantwortet, aus dem „Unreinlichen“ motiviert sich die Sehnsucht nach „Ein-samkeit“ und aus ihm erst löst und erlöst sich die Fabel. Und — der Mensch. Es handelt sich um die Geschichte einer Erlösung. -Von Reiß höre ich nichts, obgleich ich dringend, be­sonders des „Hannibal“ wegen von ihm hören möchte. Ich gehe in 3 Wochen in den Tessin. Die herzlichsten Grüße Ihr Klabund.

Davos-Dorf, 15.II. 17

Lieber Herr Heinrich,

es schmerzt mich, dass Sie und Reiß so wenig für die „Irene“ übrig haben. Aber zum mindesten Sie sind ja ein so überzeugter Realist (wenn auch mit romanti­schem Einschlag), dass ich mich nicht weiter ver­wundere und es nur sehr bedaure, dass Sie sich so brüsk von einem abstrakten Geschöpf wie „Irene“ wen­den. Ich will alle Seiten meines Wesens ausgedrückt sehen, und es genügt mir durchaus nicht, nur „gute“ Bücher zu schreiben. Die Divergenz der Möglichkei­ten (meines Erlebens) fordert das. Ich will an einem Punkte meines Lebens mit meiner „Idee“ im Ein­klang sein. Und dennoch wild und zart, sanft und schnelle sein. Verbesserungsfähig ist die „Irene“ schon: ich habe inzwischen bereits wieder heftig in ihr herumgestrichen, aber ich lasse sie auf gar keinen Fall fallen: da sie vor der letzten Instanz, meinem Gewissen, besteht. Wird sie Reiß drucken? Er schreibt darüber unklar: ich würde ihm indessen ra­ten, sie trotz seiner Animosität dagegen zu publizie­ren. Andernfalls würde er sich wieder eine meines Glaubens wichtige Arbeit von mir entgehen lassen, die die „Insel“ oder „Wolff“ mit Handkuss nehmen würden! „Franziskus“ gefällt Ihnen auch nicht so recht? Schade! Was werden Sie dann zu meinen Grotesken sagen? Über die Einleitung zum „Franzis­kus“ denke ich nach; verspreche aber nichts. Schönsten Gruß Ihr Klabund.

Lugano, 15. 4. 17

Lieber Herr Heinrich,

eben erhalte ich Ihren Brief. Ich bin auf zwei Tage in Lugano. Ein „Frühling“ dieses Jahr! Dantisch -höllisch nur denkbar. Es hagelt erratische Blöcke. Meteoren-Gebirge. — Ihrer Anregung will ich gerne nachgehen. Nur: „Mohammed“ war eben, (und eigentlich auch nach meinem Plan) kein Epileptiker. Nur ein: sagen wir: rationalistischer Phantast! Es wäre schön, wenn ich nicht fortgesetzt kein Geld hätte! Ich fühle mich ins erste Semester zurückver­setzt. Herzlichst Ihr Klabund.

Locarno, 7. 5. 17

Lieber Herr Heinrich,

Ihren Wunsch nach „Vertiefung“ des „Mohammed“ kann ich doch nicht erfüllen: ich sehe ihn eben „flächiger“, und gar nicht so als Religionsgründer, sondern mehr als bunten Mann und strahlenden Menschen. Hoffentlich lassen Sie ihn auch — ohne Hakennase gelten. Herzlichst Ihr Klabund.

 Passau, 16. 9. 17

Lieber Herr Heinrich, Sie werden erstaunt sein, mich in Deutschland zu sehen! Ich bitte auch aus den verschiedensten Grün­en um Diskretion! (Nur Reiß darf’s noch wissen), Ich würde mich natürlich sehr freuen, Sie wieder zu sehen — wer weiß, wann und ob uns später noch einmal die Gelegenheit blüht! Ich hoffe, halb incogito nach Berlin zu kommen und würde Ihnen in diesem Falle telegrafieren. In was für Zeiten leben wir! Die Renaissance war
ein Puppentheater dagegen! Herzlichst (nur so heiße ich hier) Ihr Alfred Henschke. cand. phil.

Locarno, 29. 10. 17

Lieber Herr Heinrich,

ich habe so lange nichts von Ihnen gehört! Wie geht es Ihnen? Wie leid tat es mir, nicht nach Berlin kommen zu können. Aber ich tat gut daran. Reiß hat Ihnen wohl den Brief gezeigt, in dem ich von all den Widerlichkeiten schrieb, die mir angehängt wurden. Ich mag sie nicht nochmals beschreiben. — Die Post aus Deutschland geht jetzt recht lange. Wochenlang. Und man kommt sich, seitdem die Zü­ge auch auf dem Gotthard arg beschränkt sind, wie in die Zeit der Postkutschen versetzt vor. Die deut­schen Erfolge in Italien haben hier lebhaften Ein­druck gemacht. Im Cafe Swizzero stehen die Tessiner dick zu Klumpen geballt und schreien und gesti­kulieren. Ich hoffe, dass sie uns im weiteren Verlauf der Operationen nicht die Fensterscheiben einschmeißen. Seien Sie herzlich gegrüßt von Ihrem Klabund.

Basel, 17.12.17

Lieber Herr Heinrich,

ich lebe zur Zeit in Basel. Mein äußerst altmodisch eingerichtetes kleines Zimmer geht auf den Rhein hinaus. Den ganzen Tag und die ganze Nacht don­nern die Kanonen vom Elsass. Manchmal klirren die Fenster und man meint in der Front zu stehen. Ich friere den ganzen Tag. Das macht die verdammte Kohlennot. Nicht desto weniger habe ich die letzte Zeit in Locarno — nach Weihnachten kehre ich wie­der in den Tessin zurück — und hier in Basel viel und vieles getan. Platonische Dialoge über Politik und Dichtung skizziert. (Ich bin durchaus nicht für ihre „Identität“: wie die allerjüngste Mode es dartun will). Ein lyrisches Portrait des Francois Villon gezeichnet. Einen „Nero“ (in Prosa) begonnen. Viele dramatische Skizzen und Experimente, davon ausge­führt : „Silvius oder der Mondsüchtige“:, ein Schauspiel (in 16 Bildern). Fast fertig: „Der Rebell“, eine chine­sische Komödie. „Tacitus und Suetonius“, Biographie der römischen Kaiser, haben mich stark beschäftigt. Sie haben mich in meiner pessimistischen Anschau­ung vom Ausgang dieses Krieges nur bekräftigt. Wenn auf dem Unterbau der freien römischen Re­publik: dieses grauenhaft groteske Gebäude der römischen Kaiserzeit möglich war: diese dunkelste und ungeklärteste Episode der menschlichen Geschichte — dunkel trotz reichhaltigster Quellen so ist eben in dieser Welt alles möglich. Aller Fortschritt er­scheint vor solchem Hintergründe als phrasenhafter Bluff. Die These: Der Mensch ist gut — wird fast zur Blasphemie. —

Die Entente, soviel scheint mir sicher, krepiert. Ganz folgerichtigerweise: an einem Denkfehler. Die Rede Wilsons vorm Kongress im Winter (Januar) 1917 war der Höhepunkt der Ententepolitik. Von da ab geht’s, zuerst nicht sichtbar, abwärts. Der aus militärischen Gründen beinah vollzogene Verrat an der russischen Revolution {Kornilow!), Stockholm, die Hetze Clemenceaus gegen Caillaux — von dem ich Ihnen, falls ich in Deutschland wäre, einiges erzäh­len könnte — die Rede Lord Georges, Asquiths, die Föhnstimmung in der italienischen Kammer: alle beweisen sie, dass die Entente vor dem Umsturz steht: aus keinem andern Grunde, als weil sie es nicht vermocht hat, ihre Ideen in Tatsachen umzusetzen. Das Komische ist jetzt, dass die Zentralmäch­te die ursprünglichen Ideen der Entente — gegen die Entente zu verteidigen scheinen. (Im übrigen wis­sen Sie meine Meinung über das Dynastische: die graue Wolke vor der deutschen Sonne.) Seien Sie herzlich gegrüßt von Ihrem Klabund.

Basel, 22.1.1918

Lieber Herr Heinrich,

ich freue mich immer, wenn Sie schreiben: Dank für Ihre Zeilen. Ich bin den letzten Monat von den fürchterlichsten Aufregungen heimgesucht worden, und Sie können sich denken (oder nicht denken) in was für Stimmung ich zuweilen bin. Es brauchte ein Buch, Ihnen meine Erlebnisse etwa während der Kriegszeit in der Schweiz zu erzählen. Sollte ich ein­mal dazu kommen, meine Memoiren zu schreiben, so wird das sicher mein interessantestes Werk wer­den — ebenso interessant für den Leser – wie aufrei­bend für den Autor, da er sie „erlebte“. Ich habe Wind gesät und Sturm geerntet, der mich aber nicht fortfegen soll. Ich stehe fest auf meinen zwei Beinen-Davos, Zürich, Locarno, Lugano, Basel — haben mich kennen (wenn auch nicht erkennen) lernen. Eine Wolke von Hass schwebt immer über meinem Haupte. Ich würde mein Privatleben nicht halb so wichtig nehmen — zwänge mich nicht die Außenwelt dazu. In Davos hat man es so weit gebracht, dass we­nig fehlte, und man hätte eine Protestversammlung gegen mein Dasein einberufen. Es gibt sowieso viele Pensionen in Davos, die mich nicht mehr aufneh­men. Wenn Sie sich meiner erinnern, so wird Ihnen schwerlich ein Teufelskopf mit Hörnern aufsteigen, als welchen man mich aber sieht. Ruinierte Familien, verratene Freunde, ausgelöschte Mädchen, in Brand gesteckte Häuser — bezeichnen meinen Weg (on dit). Neugierig sehe ich hin und wieder in den Spiegel, aber ich entdecke nichts von alledem, nur ein leiden­des Kindergesicht.

„Villon“, „Die Nachtwandler“, „Eulenspiegel“ liegen jetzt bei Reiß. Über letzteren würde ich gern Ihre Ansicht hören. Eine technische Frage: Sie halten es doch für völlig einwandfrei, wenn ich Legenden und Anekdoten aus dem Volk in einem solchen Volksbuch derartig verwende, wie ich es getan habe? Ich habe gewichtige Anwälte: Goethe (Brief an Kestner über Clavigo) und Shakespeare (Caesar usw.) — die es nicht anders hielten, von Boccaccio gar nicht zu re­den. Wie denken Sie? Der „Eulenspiegel“ ist mein Buch: trotz dieser Entlehnungen. (Ich habe auch aus meinen Crossener Geschichten dreimal Anleihen gemacht.) Übrigens bin ich auch in Literatenkreisen z.B. Zürichs, der bestgehasste Mann. Ich will nicht kolportieren, was die [ein Wort unleserlich] Gesinnungsapostel, dieses Gesindel, über mich ver­breiten.

Der Bogen ist zu Ende. Und der Brief mag mit allen herzlichen Wünschen an Sie ausklingen. Immer Ihr Klabund.

Locarno-Monti, Villa Neugeboren 30. VI. 1918

Lieber Herr Heinrich,

lange hörte ich nichts mehr von Ihnen! Wie geht es Ihnen? Ich lebe noch immer im Tessin, oberhalb von Locarno, in einer Tier- und Gartenidylle. Schlangen (an einem Tag fing ich einmal elf — mit der Hand), Rieseneidechsen und tropische Schmetterlinge sind meine Genossen. (Ein Kapitel meines nächsten Vers-buches wird „der Tierkreis“ heißen.) Ich habe mich verheiratet: mit einer Frau, die ganz Tier, ganz Kind, ganz Schmetterling ist, wie jene Wesen, die uns umgeben. Sie war schwer lungen­krank. Und kehlkopfkrank. Aber sie genest. — Was von draußen, von der Welt, hereinfliegt, ist misstönig und übellaut. Die praktische Vernunft — wo ist sie hin? Immer methodischer rast der Machtwahn und der Irrsinn des vollen Geldbeutels und des leeren Herzens. Bitter kommt uns die Erkenntnis von der Unerfahrenheit unserer Lage 1914. Jedes neue Jahr geißelt uns mehr. Wann werden wir nach Deutsch­land zurück können? Herzlichst immer Ihr Klabund

15.10.1918

Lieber Herr Heinrich,

es geht uns nicht so gut, wie Sie anzunehmen schei­nen. Meine Frau ist schwer erkrankt. Sie liegt im Spital, und wird wohl noch Wochen liegen bleiben müssen, ehe sie sich der schweren Operation unter­ziehen kann, der sie sich unterziehen muss, wenn sie ihr Leben nicht gefährden will. (Es ist absolut aus­geschlossen, dass sie in ihrem jetzigen Zustand eine normale Geburt überstehen würde.) Meine Arbeit — ich hatte den Roman der proletari­schen Revolution, in die Jahrhunderte zurückverlegt, zu schreiben begonnen — stockt natürlich. Der „Eu­lenspiegel“ ist inzwischen ausgedruckt. (Sie haben vielleicht schon ein Exemplar?) — Ich bin über die Wendung in Deutschland (welch eine Wendung durch Gottes Fügung! — Sie kennen das alte Hohenzollernwort?) beglückt, wenngleich ich bisher nur Worte sehe. Aber erst Taten werden die neue Regierung legitimieren: Amnestie, Verfas­sungsänderung, Neuwahl des Reichstages. Des Deut­schen Moral hat in der Welt seit Brest jeden Kredit verloren. Sie erinnern sich meines offenen Briefes vom 3. Juni vergangenen Jahres? Ich habe Mal für Mal recht gehabt — und behalten. Aber damals siegte man ja fortwährend, und niemand ahnte die Kata­strophe. Meine Thesen wurden verdächtigt, verhöhnt und verlacht.

Reiß scheint sich ein Vergnügen daraus zu machen, meine Stimmung noch ein weiteres zu „heben“. Er antwortet auf dringendste Briefe überhaupt nicht, schickt nie das Geld zum ausbedungenen Termin, so dass ich immer telegrafieren (und wie notwendig hab ich’s!) muss; und schickt es auch nie in deutschen Noten, worum ich ihn schon tausendmal bat, weil ich dann wechseln kann wann ich will. (Jetzt z.B. hab‘ ich durch seine Ungefälligkeit in einem Monat 100 Franken verloren!)

Ich werde meine politischen Aufsätze sammeln in einem kleinen Buch! Ich hoffe, wir sehen uns im Frühling in Deutschland. Schönsten Gruß  Ihr Klabund.

Telegramm – Locarno – 30/10 4 Uhr 40
Lieber freund heute nacht ist meine ueber alles
geliebte frau sanft entschlafen bitte Reiß benach-
richtigen    Ihr unglücklichster -Klabund –

Locarno, 9. XI. 1918

Lieber Herr Heinrich,

Sie haben sich vielleicht ein wenig gewundert über das Telegramm: aber ich war so bestürzt und so ver­zweifelt, ich musste es den paar Leuten, von denen ich glaube, dass sie hin und wieder an mich denken, in die Welt hinaus schreien.

Irene war mir das, was ihr Name besagt: der Friede meiner Seele. Der ist nun dahin. Ich war an irr reines Herz wahrhaft geflüchtet aus einer unbe­schreiblich schmutzigen Welt. Wir lebten in Monti wie in einer Eremitage nur mit Sternen, Wolken und Tieren. Die Harmonie ihres Wesens war voll­kommen. Sie war ganz eins mit Erde und Gestirn. Gütig, schön, sanft, treu, tapfer — welche Tugenden besaß sie nicht, ganz ohne Kampf als göttliches Ge­schenk?

Dass sie ewig neben mir im Lichte stehen würde, ich hatte es kaum zu hoffen gewagt. Dazu war sie zu engelhaft, zu schwebend. Aber einige Jahre, so malte ich es mir, würden wir doch miteinander selig sein können. Nun wurden es einige Monate. Und bitter bereue ich es, dass ich ihr, wie ich’s zuerst wollte, das Kind nicht im ersten Monat nehmen ließ. Aber sie hatte solche himmlische Freude an dem Kind, dass ich’s nicht über mich brachte. Und als sie ope­riert worden war und man ihr das lebende Kind auf den Arm gab, da lächelte sie paradiesisch. Das Kind ist nun im Säuglingsheim untergebracht. Es wird Irene heißen wie sie.

Ich neide sie um ihren Tod. Zu beweinen sind wir, die Überlebenden. Scheint Ihnen diese Zeit nicht immer fürchterlicher zu vereitern? Mich schüttelt der Ekel, wenn ich die Zeitungen aus beiden Lagern, das nur ein Lager der Lüge ist, lesen muss. Ich habe vor etwa drei Wochen einen „Appell an Wilson“ in der „Neuen Zürcher Zeitung“ gerichtet. Ich weiß nicht, ob Sie ihn gelesen haben. Wir sind ja so macht­los. Aber es ist wohl gut so. So wie der Geist sich an der Macht inficiert, ist’s auch um ihn geschehn. Ich beuge mich immer mehr den Weisheiten des Laotse. —

Wie der Mann im Märchen, der auszog einen goldnen Schatz zu heben, ihn auch gewann, bis ihm ein böser Zauberer alles nahm, so kehr‘ ich nach Deutsch­land zurück, müde und elend, ein rechter Landstrei­cher, der nicht weiß wohin, mit leeren Händen und übervollem Herzen.

(Ich liege heute auch schon den achtzehnten Tag in der Klinik (ich habe Irene die letzten Tage vor ihrem Tode nicht mehr sehn dürfen), Montag will ich nach meiner Wohnung, Monti-Locarno, Villa Neugeboren, zurück. Neugeboren . . . ein bitteres Wort. ..) Mit herzlichem Gruß Ihr Klabund.

Villa Neugeboren, Locarno-Monti, 17. 11. 18

Lieber Herr Heinrich,

ich sende Ihnen (die postalischen Zustände in Deutschland erlauben doch die Verschickung wert­voller Manuskripte?) in nächster Zeit die beiden letzten Teile meines lyrischen Hauptwerkes, der „Trilogie“: („Irene oder die Gesinnung“ war der erste), „Silvia oder die Verheißung“ und „Coelia oder die Er­füllung.“ Ich schicke sie Ihnen, damit Sie sie lesen; geben Sie sie dann bitte an Reiß weiter. Ich will Ihnen einiges wenige darüber sagen, ich schrieb es eben an die Eltern von Irene, und so schreib ich es Ihnen ab, denn ich bin zu müde, es noch einmal neu zu sagen:

„Ihr, die Ihr mich ein wenig kennt (wie wenige ken­nen mich, und außer Irene kannte mich so recht wohl niemand), wisst, wie selbst das scheinbar Ty­pischste, das Stilisierteste bei mir auf dem persön­lichsten Erlebnis fußt. So ist denn die „Triologie“ nichts anderes als mein Leben mit Irene: vom Anfang, da sie zu mir trat, bis zu jenem bitteren Ende, da sie von mir ging. „Coelia oder die Erfüllung“: das ist die Totenklage, die ich schrieb nach ihrem Tode. Coe­lia, das heißt Die Himmlische (wie Silvia die Wald­frau : Silvia symbolisiert unsere Idylle in Monti, unsren Sommer) — aber wie so anders hatte ich mir die Erfüllung gedacht! Ich hatte gemeint, den Him­mel auf die Erde herabzurufen, nun hat der Himmel die Erde von mir genommen. Im Kinde wollten wir erfüllt sein und seine Zukunft wollt‘ ich, getragen von der unsern, darin singen. Nun hat das Kind uns aus dem Paradies gestoßen, und was ich singe, das sind die Klagelieder Jeremiä, die Qualen des Prome­theus, dem ein Geier die Brust zerreißt, die Schreie Hiobs. —

Wer von meinen vielen Gegnern, die mich so gern als herzlosen Faiseur und gar Schurken an die Wand malten, würde glauben, dass sich in mir ein Leander, ein Romeoschicksal erfüllt? Die Revolution in Deutschland erscheint mir nur wie eine Fackel zu ihrer Totenfeier entzündet. Ihr Klabund.

Monti-Locarno, 29. XI. 18

Lieber Herr Heinrich,

die Vernunft beweist. Aber das Herz lässt sich von ihr nicht weisen, wenn der Weise eine Waise ge­worden ist. Spricht (nicht so, aber in ähnlichem Sin­ne) der Tao. Wäre ich nicht ein Jünger des Tao (der einzigen Philosophie, die dem Menschen dieser + + + Zeit etwas zu sagen hätte: denn es ist eine lebendige Philosophie, eine Philosophie, die gelebt werden muss und nach der gestorben werden muss), ich wäre längst verzweifelt. Wüsste ich nicht, dass die Seele Stern und Sonne ist, nicht dass sie bloß Objekte der Augen sind, wüsste ich nicht dass die Einzelseele so gut unsterblich wie die Gesamtseele (der „Urtao“), so hätte ich mir längst eine Kugel in den Kopf ge­jagt. Denn jeden Tag muss ich mir neu erkämpfen. Und nur dieses ist mein Trost: dass mein Augenauf­schlag sie bedeutet, dass ich sie atme, und auf ihr denke.

Ich habe inzwischen die „Totenklage“ doch zuerst an Reiß geschickt: aus praktischer Erwägung. Ich muss­te das Maschinengeld haben. Aber bitte: erbitten Sie sich die Verse von ihm und blättern Sie in ihnen. In mir. Ihr Klabund.

Sie betrachten — von Berlin aus! — die politische Lage als sozusagen zu den besten Hoffnungen berechti­gend? Ich glaube, dass in den nächsten Jahren keine Mutter auf der ganzen Welt mehr gern guter Hoff­nung wird. Ich sehe ganz schwarz.

Locarno-Monti, 7.1. 1919

Lieber Herr Heinrich,

Dank für Ihre guten Wünsche! Wenn Wünsche hel­fen könnten … Ich bin über Irenens Tod noch nicht hinweggekommen. Und ich werde ihn erst dann über­wunden haben, wenn ich mich selber, d.h. meinen Tod — überwunden habe. Was für ein lebendiger Mensch war ich doch! Mit welcher Leidenschaft zum Leben! Nun bin ich wie mitten durch gebrochen, und weder dort noch hier. Weder tot noch lebendig. Wer mir einmal gesagt hätte, vor einem Jahr, vor einem halben Jahr, mein Lebensinhalt würde einmal der Tod sein, den hätte ich ungläubig verlacht. Woran denke ich? Worauf hoffe ich? Wem gilt meine Lei­denschaft? Meine Freundschaft? Dem Tod, der mir in Gestalt der geliebten Frau immer verführerischer erscheint. Unsere Liebe war im Sommer zu einen solchen Glut emporgeflammt, dass ich am eigenen Leibe, an eigener Seele erfuhr was es heißt: ein Ro­meo, ein Leander zu sein. Ich war durch hundert Frauen gegangen und weil ich hundert Frauen kannte: umso einziger erschien mir dieses Wunder an Frau und nie nie wieder werde ich ihr begegnen. Ich habe die Vollkommenheit umarmt. Aber: wer die Schönheit angeschaut mit Augen, ist dem Tode schon anheimgegeben … (Platen). Sie vereinigte die Rein­heit „Beatricens“, die Schönheit „Lauras“ mit der Güte der heiligen „Katharina“ und der Kindlichkeit der Braut des Novalis: „Sophie“.

Sie galt der kleinen bayrischen Stadt, der sie ent­stammte, wie eine Heilige: die ganze Stadt hat geweint bei ihrem Tode. Nun hasst man mich. Gewiss mit Recht. Denn mit dem Kinde hab‘ ich sie getötet. Meine höchste Seligkeit wurde meine tiefste Schuld. In welchem Labyrinth wandeln wir armen Men­schen! Wie hilflos zappelt unsre Erde, die schwarze fliege, im großen, goldenen Spinngewebe! Ich will alle meine Verse, die ich ihr geschrieben habe, vereinigen in einem Band „Der Cherubim“: die Elegie, die Sonette, die Oden, Distichen und Kleinen Lieder. Und als Anhang: den kleinen Einakter: „Der Totengräber“ samt einem kleinen Buch Balladen. Herzlichst Ihr Klabund.

17.11. 1919
Lieber Herr Heinrich,
Irene hat heute ihr Kind zu sich gerufen.
Ihr Klabund.