Briefe an Irene und Max Heberle

Zürich, Elite-Hotel, 3. Oktober 1916

Sehr geehrter Herr Heberle,

sehr gern will ich das tun. Am besten bitten Sie Ihre Frau Gemahlin, die für die „Jugend“ bestimmten Gedichte mir zu senden, damit ich sie weitergebe. Ich bin nur für einige Tage in Zürich und kehre bald wieder nach Stolzenfels zurück.

Mit den ergebensten Grüßen und Empfehlungen an Ihre Frau Gemahlin verbleibe ich der Ihre Klabund

Davos-Dorf, Villa Stolzenfels, 26. November 1916

Sehr verehrte gnädige Frau,

ich gestatte mir die Mitteilung, dass die „Jugend“ von Ihren Gedichten auf meine Empfehlung eines der hübschesten akzeptiert hat. Das Honorar wird Ihnen in den nächsten Tagen zugehen. Ich werde mich freuen, wenn Sie mit der Jugend in dauernder Verbindung bleiben. Nur würde ich Ihnen empfehlen, nicht zu oft Verse zu senden. Vielleicht probieren Sie’s auch mal mit „kleiner Prosa“. Mit den ergebensten Grüßen, auch an Ihren Herrn Gemahl, der Ihre Klabund

Davos-Dorf, Villa Stolzenfels, 3. Januar 1917

Sehr geehrter Herr Heberle,

Ihre freundlichen Neujahrswünsche erwidere ich auf das beste. Ich hoffe, dass es mir bald einmal vergönnt ist, Passau zu sehen. Ich werde mir dann die Freiheit nehmen, Sie um Rat, Führung und Beistand zu bitten.

Mit ergebensten Grüßen, der Ihre Klabund

Telegramm: Locarno-Monti 18. Oktober 1918

irene in nacht zum siebzehnten ploetzlich operiert und mit gesunder kleiner irene erwacht befinden ausgezeichnet die gluecklichen eitern irene und fred klabund

Telegramm an Irene Heberle – Locarno-Monti, 18. Oktober 1918

dein sofortiges kommen zur pflege des kindes unbedingt erforderlich sonst Lebensgefahr für kind da keine amme zu kriegen klabund

Locarno-Monti 19. Oktober 1918

Lieber Vater,

ich möchte Dir über Irenens Krankheit, an der wir alle so schmerzlich leiden, einen getreulichen Bericht geben, von dem ich hoffe, dass er sofort die Zensur passiert. (Zwei meiner letzten Briefe habt Ihr nicht erhalten, wie ich bemerkte.)

Nach meiner Rückkehr aus Davos fand ich Irene schon fiebrig vor. Ich konsultierte sofort vier Arzte, einen Lungenspezialisten, einen Frauenspezialisten, zwei Chirurgen, die übereinstimmend der Ansicht waren, dass Irene eine normale Geburt in ihrem Zustand nicht überstehen würde. Wir entschlossen uns zu einer Operation, die eine Kapazität, Dr. Hermann in Lugano in seiner Privatklinik, übernehmen sollte. Leider verschlimmerte sich Irenes Befinden derart, dass ich es nicht mehr verantworten konnte, vor Euch und vor mir nicht, sie bei uns in unsrer Einsiedelei zu behalten. Ich brachte sie Sonntag im Auto ins Hospital. Hier bekam sie wieder alles Vermuten vorgestern Nacht (im siebenten Monat) die Wehen. Sie musste sofort operiert werden, nachts um halb drei, und ein gesundes kleines Mädchen, das wir Irene Fiete Anny Tony nennen wollen, kam zur Welt. Da die Operation Hals über Kopf exekutiert werden musste, war es nicht möglich, die nötigen zwei Tage Diät vorher zu halten. Irene wurde mit vollen Gedärmen operiert, die sich bis heute noch nicht entleert haben, und jenes hohe Fieber (über 40°) verursachen, das sie jetzt peinigt. Ich habe in der Nähe des Hospitals in einem kleinen Hotel ein Zimmer gemietet und bin immer bei ihr. Du musst überzeugt sein, dass ich alles tue, um ihre Lage zu erleichtern und ihr Herz zu erhellen. Ich halte es aber unbedingt für geboten, wenn ihre gute Mutter sofort herkommt: schon des Kindes wegen.

Ich will über meinen Zustand keine leeren Worte verlieren. Du wirst selber fühlen, wie es Dir ums Herz ist; und so auch mir. Gegen das Schicksal sind wir machtlos. Möge es uns gnädigst gesinnt sein! Dein Fred

Irene haucht mir einen Gruß an Dich zu! Sie denkt immer an Euch und empfindet es schmerzlich, dass sie nicht imstande ist, Dir selbst zu schreiben.

Locarno-Monti, Villa Neugeboren, 24. Oktober 1918

Lieber Vater,

Du hast hoffentlich meinen Brief erhalten, der Dir über Irenes Zustand Rechenschaft ablegte. Diesen Brief schrieb ich Dir – im Bett, wohin es mich zu allem Überfluss verschlagen hat. Ich bin seit drei Tagen an der Grippe krank, und dies kompliziert unsere sowieso schon komplizierten Verhältnisse noch bedeutend. Ich kann Irene gar nicht sprechen, und mit Deiner lieben Frau, die gestern eingetroffen ist, kann ich mich nur per Distanz übern Balkon unterhalten: so sind die beiden Frauen in diesen schweren Stunden ganz ohne männlichen Halt und Rat, und ganz auf sich angewiesen. Die Kleine gedeiht prächtig: es schien uns aber für beide: Mutter und Kind: das Beste, sie jetzt zu trennen. Irene braucht vor allem Ruhe. Leider ist es uns bis jetzt nicht gelungen, das Kind unterzubringen. Weder eine Amme noch eine Pflegerin war zu kriegen und das Säuglingsheim Zürich hatte niemand frei zum Schicken. Jetzt bleibt noch als letzte Hoffnung das Kindersanatorium in Ascona. Man ist so machtlos gegen die tausend Tücken des Schicksals.

Irene selbst geht es etwas besser, sie ist natürlich sehr matt und abgespannt.

Ich sende Dir 2 Drucksachen von mir: Appell an Wilson und Das neue Deutschland. Vielleicht quittierst Du über Ankunft. Nimm den herzlichsten Gruß Deines Fred

2 Drucksachen von mir. Das neue Deutschland erschien am 20. Oktober 1918 (ebenso wie danach Appell an Wilson) in der Neuen Zürcher Zeitung.

Locarno-Muralto, Villa Maria, etwa 28. Oktober 1918

Liebe Mama,

ich hatte vorgestern eine sehr schlechte Nacht, das Fieber stieg über 400, und da ich nun 8 Tage schon so herumzog, schien es mir doch gut, an eine schnelle und radikale Heilung zu denken, die oben eben nicht so leicht möglich war, weil ich eben alles selbst tun musste. Das ewige Aufstehen hat mich so kaputt gemacht. – Seit ich hier bin (eine kleine mediz. Privatklinik) fühle ich mich schon ausgezeichnet durch die Ruhe, die Schwester, die mich pflegt, eine Französin, ist sehr nett, und in ein paar Tagen wird hoffentlich alles gut sein.

Ich ließ heut im Hospital anläuten und mich nach Irenes Befinden erkundigen. Ich bin ganz deprimiert, dass es seit gestern nicht besser geht. Bitte willst Du so gut sein, und vielleicht um die Mittagszeit und Abendzeit, wenn Du essen gehst, immer hier anrufen und der Schwester (die Schwester spricht deutsch) genau erzählen, wie es Irene geht? Wenn irgendetwas besonders ist, so läutest Du natürlich extra an. Dass auf diesen einig schönen Sommer – dieser traurige Herbst folgen musste! Wir müssen uns unser Glück immer wieder schwer erkaufen … Dein trauriger Fred

Locarno-Muralto, noch vor 30. Oktober 1918

Liebste Mama,

mir ist durch Deine heutigen Telefonnachrichten so herzensangst geworden: ich schicke Dir darum einen Boten mit diesem Brief ins Spital und erbitte eine kurze klare Antwort. Sollte es ganz schlimm stehn, so bitte ich darum, für ein paar Minuten kommen zu dürfen. Es sollten dann, so lange ich da bin, keine Schwestern u. svw. im Zimmer sein. Ich könnte ja an der Verandatür draußen im Freien sein. Ich werde gewiss niemand anstecken. Dein tiefbetrübter Fred

Locarno-Muralto, 31. Oktober 1918

Liebster Vater,

nun weiß ich nicht mehr wo ich hin soll in der Welt. Ich habe keine Heimat mehr. Das Herz, darin sie war, schlägt nicht mehr. Die von allen grauenhaften Eruptionen erschütterte Erde ertrug ein hohes heiliges Glück wie das unsere nicht: denn es lächelte und war immer gut. Sie aber vermag nur noch zu grinsen und zu geifern. Und auch die Himmlischen lieben es nicht, wenn Menschen den Himmel auf die Erde herab tragen. So rissen sie uns auseinander – nur einen kurzen seligen Sommer wollten sie uns schenken. Dieser Sommer war die reinste und reichste Erfüllung meines Herzens. Ich werde einen zweiten nicht mehr erleben. Was mir Irene war: wusstest Du. Aber Du hast mich nie zu Dir darüber sprechen hören. Als Du mich auf jenem unvergesslichen Wege ins Bavonatal danach fragtest – da stockte ich und konnte nur einige rauhe Worte hervorbringen. Wir Henschkes haben als nordische Menschen immer eine große Scheu gehabt, zu anderen als dem geliebten Wesen selbst von der Liebe zu ihm zu reden. Heute, da dieses Wesen nicht mehr lebt; da muss meine Liebe überfließen, sie wogt uferlos hin und her, und sucht ein Bett, dass sie zur Ruhe komme. Irene war mir Frau, Geliebte, Mutter, Kind, alles, aber sie war mir mehr. Geflüchtet bin ich zu ihr als zu dem wahren und geistigen Bildnis des Friedens meiner Seele aus einer pestilenzialischen Gegenwart. Sie war die Göttin meiner besten Verse. Nur sie konnte ihnen vor ihrer Vollendung zulächeln und gewähren.

Gleich werden die Glocken sie zu Grabe läuten. Ich werde nicht an ihrem Grabe stehn, denn ich liege noch immer krank und elend zu Bett. Aber selbst wenn ich gesund wäre, ich könnte nicht ihr jene drei Handvoll Erde nachwerfen – denn diese Erde ist zu schmutzig für sie.

Gott wird ihr eine Handvoll Sterne nachwerfen und die Sonne wird sich verdunkeln.

Behaltet mich lieb als Euren Sohn. Und wenn ich nicht weiß wohin – darf ich zu Euch kommen? Da können wir dann von Irene reden – die einzige Freude, die uns geblieben ist. Dein Fred

Locarno-Muralto, Villa Maria, 2. November 1918

Liebste Mutter,

Deine Briefe liegen vor mir. Ich lese sie immer und immer wieder. Denn es sind die letzten, die mir von Irene erzählen. Der Brief vom 29., der noch so voll Hoffnung war, dann die zwei Zeilen, und der Brief nach dem Gang auf den Friedhof. Tag und Nacht ist Irene mein Gedanke, und Gott weiß, wie gern ich sterben würde. Ihr letztes und schönstes Bild ist immer bei mir: sie hat eine Blume in der Hand und lächelt. Und dieses Lächeln (sie konnte so himmlisch lächeln) wird mich immer zu Tränen beglücken. Ach, gewiss, man sollte stark sein, stark sein wie ein Mann, aber ich kann es nicht, ich bin. ganz schwach vor Schmerz. Sowie die Schwester draußen ist, weine ich. Manch‘ mal bin ich ganz voll Groll: ob man die letzte Nacht auch alles getan hat, ihre Schwäche zu überwinden? Ihr Herz reagierte so stark auf Alkohol, das weiß ich aus Erfahrung, hat man ihr, abgesehen von der Kampfereinspritzung, Sekt eingeflößt? Aber solche Betrachtungen sind jetzt so kindisch, ich weiß es, aber ich greife mit Verzweiflung nach jedem: wenn … Dass sie mir nichts mehr hat sagen lassen können, dass dem Priester ihr letztes Lächeln galt, das reißt mir auch das Herz entzwei. Ich kann nicht die Augen aufschlagen, ohne dass sie zu bluten beginnen.

Sehe ich aus diesem Fenster, so sehe ich die Kirche, in der wir getraut wurden. Sehe ich aus jenem, so sehe ich da die Madonna del Sasso und die Straßen von Monti, die wir so oft zusammen gegangen sind. Einen Sommer lang. Nur einen Sommer lang. Es war auch klimatisch und landschaftlich ein unwahrscheinlich, ja unirdisch schöner Sommer, wie ich ihn nie erlebt habe, und wie ich ihn nie wieder erleben werde. Je schöner der Sommer wurde, desto heißer liebten wir uns. Wir liebten uns ja immer mehr. Es kann eine Liebe wie die unsere diesen Sommer nicht sonst auf der Welt gegeben haben. Einmal, Irene schlief auf dem Balkon, es war in der Nacht und nur die Sterne leuchteten, sagte sie: Ich glaube, unser Glück ist zu groß. Man wird es uns nehmen. Ich habe solche Angst davor. – Man hat es uns genommen. Es ist so schwer, der Überlebende zu sein.

Bedenk, wie lange Euch das Glück der Gemeinsamkeit schon geschenkt ist: über zwanzig Jahre dürft Ihr es schön gemeinsam genießen. Und wir? Sechs Monate nur des reinsten Glückes waren uns gegeben … und wir waren so jung noch und eine ewige Jugend von vielen Jahren hätte uns noch blühen können.

Wer will ein lebend Engel sehn, Der muss zu meinem Weibe gehn. Wer will im Paradiese sein, Der ist zu mir geladen ein.

So schrieb ich diesen Sommer. Jetzt spricht Irene aus der Höhe die letzten beiden Verse. Vielleicht gestattet mir ein gütigeres Geschick als bisher, ihr bald zu folgen.

Grüße den Vater, ich lasse ihm herzlich Dank sagen für sein Telegramm, den Brief wird er ja inzwischen erhalten haben, und laß Dich umarmen von Deinem Fred

Locarno-Muralto, 7. November 1918

Liebe Mutter,

heute bin ich eine Stunde aufgestanden. Ich sitze am Fenster und sehe nach Westen. Es regnet. Die Berge sind in Nebeln. So ganz in Grau ich auch. Irenes Bild ist meine Freude. Tag und Nacht und immer wieder betrachte ich es. Ich höre sie dann atmen und sehe sie lächeln. Im Angesicht ihrer hab ich die „Totenklage“ geschrieben, die ich Dir schicke, sobald sie fertig ist. Die schönste, strengste, schwerste Form des Verses soll ihr huldigen: das Sonett. Mir werden diese Gedichte immer am nächsten stehn von allen meinen Dichtungen. Ob sie nun gut oder schlecht sind: sie sind die Tränen, die ich um sie weinte. Wenn Du für Euch und das Kind eine Abschrift, vielleicht auf der Maschine, herstellen lassen willst, so laß auch für mich drei oder vier Abzüge nebenher gehen. Das Exemplar meiner Hand erbitte ich zurück. Ich will es auf Irenens Grab legen. Ich kann es nicht noch einmal schreiben. Und hier mag ich es niemandem zur Abschrift und Sensation geben.

Der Regen wird auf Irenens Grab die Verse verwaschen, der Wind wird sie verwehn und wird sie zu Irene tragen.

Liebe Mutter, in einer Woche werd ich wieder oben in Monti sein. Was für Gefühle im Gedanken daran meine Brust durchirren, das brauche ich Dir nicht zu beschreiben Ich habe beschlossen, vorläufig hier zu bleiben. Wo soll ich auch hin? Ich werde überall gleich einsam sein. Sie langen Winterabende melden sich schon. Ich werde allein im Dunkeln sitzen, wie ein Kind, das zu Weihnachten auf die Bescherung wartet. Und warten will ich auf die Bescherung. Grüße den Vater und sei selbst herzlich gegrüßt von Deinem Fred.

Locarno-Muralto, 10. November 1918

Lieber Vater,

gestern bin ich zum ersten Mal ausgegangen, und mein erster Weg war zu Irene. Es hatte viele Tage geregnet, und so waren Kränze und Blumen noch frisch. Sie liegt an dem sonnigsten Teil der inneren Friedhofsmauer – neben einer zweiten Irene. Das Nachbargrab trägt ebenfalls diesen Namen. Ich dachte: wenn es später einmal möglich ist: man sollte Irene nach Passau oder Crossen in unser Erbbegräbnis bringen und dort neu beisetzen. Diese italienischen Friedhöfe sind bei aller Sonnenglut so kalt. So ohne Liebe schichten sie Grab an Grab und nehmen sich kaum die Mühe, einen Hügel aufzuwerfen. Die Grabdenkmäler sind böse zu betrachten: Marmor und Blech in fürchterlichen Kompositionen. Und dann: wollen wir nicht Irene in unserer Nähe haben? Ja: wenn sie in unserem Garten in Monti hätte beigesetzt werden können: sie läge gebettet in der Erde unseres Glückes. Ich sehe sie nicht gern so einsam unter den vielen Fremden. Auf alle Fälle aber will ich das Grab auf 30 Jahre mieten. Ich werde es eingittern und vom Gärtner Schäppi pflegen lassen. Wir werden uns, wenn die Zeitlage sich konsolidiert hat, dann endgültig entscheiden.

Die Arbeit meiner Tage ist, am Grabdenkmal für Irene zu meißeln. Es wird nicht aus Marmor bestehn – nur aus Worten und Versen. Aber ich will mit aller Kraft meines Herzens und aller Macht meiner Liebe darauf sinnen, dass es ihrer würdig wird.

Ich bin erschüttert wie am ersten Tage ihres Todes. Und mein Gewissen schwankt so sehr. Wenn ich die Augen ganz klar über mir aufschlage, muss ich bekennen: Mörder. Ich habe sie mit meinem Kind gemordet. Als ich sie damals umarmte, war wohl der Vernichtungstrieb böse in mir mächtig, der so oft in unserem Leben plötzlich auf­schlägt wie eine Schwefelflamme. Denn dies ist ja des Menschen Schicksal: dass er ohne den Tod nicht leben kann. Er stirbt – und mordet. Dein unglücklicher Fred

Locarno-Muralto, 10. November 1918

Liebe Mutter,

ich war eben wieder am Grab von Irene und traf zwei Schwestern vom Hospital und das junge Mädchen, das zuweilen bei Irene war. Sie erzählten mir von den letzten Stunden von Irene und dass sie immer gewartet habe, ob ich nicht käme, und immer, wenn die Tür gegangen sei, habe sie geglaubt, ich sei’s.

Mir ist das Herz fast stillgestanden. Warum hat man mich die Nacht nicht gerufen? So krank war ich doch nicht, dass ich unter diesen Umständen nicht hätte kommen sollen und müssen. Es war nicht recht, dass man nur Dir und dann zu spät telefonierte.

Ich will versuchen, das Leben weiter zu leben. Aber ich bin ganz zerbrochen. Gelingt es mir nicht, werden die wenigen Menschen, die mich lieben, mir nicht böse sein. Dein Fred

Locarno-Monti, Villa Neugeboren, 12. November 1918

Liebe Mutter,

ich sende Dir heute sämtliche Manuskripte von mir, die Irene gehört haben: für Dich und später für das Kind. Es ist eine ganze unveröffentlichte Szenenfolge darunter, die Dich grade heut sehr interessieren wird: geschrieben im Juni 1917, spiegelnd so vieles vom Oktober 1918. Die Manuskripte sind:

1. ) Eulenspiegel
2. ) Nachtwandler
3. ) Francois Villon
4. ) Harfenjule
5. ) Die Front
6. ) Gedichte
7. ) Mohammed

Ich schrieb Euch viele Briefe Euer Fred

Locarno-Monti, Villa Neugeboren, 14. November 1918

Lieber Vater,

ich habe Euch schon mindestens zehn Briefe und Manuskripte geschickt, aber noch keine Antwort erhalten. Ich bin natürlich ganz unorientiert über die postalischen Zustände in Bayern, und so sende ich auch diesen Brief in die Winde hinaus und hoffe, sie werden mir ein Echo bringen. Ich komme eben vom Steinmetz. Ich habe ihn beauftragt, Irenens Grab in Granit zu fassen und eine einfache weiße Marmortafel über ihrem Haupte anzubringen, auf der soll nichts stehen als: Irene, die beiden Daten und die erste Zeile eines Sonettes von mir. Ich habe ihr keinen andren zeitlich bedingten Namen geben mögen. Irene: das klingt nach Ewigkeit, nach ewigem Frieden, und so soll es durch die Sphären singen. Unter der Tafel laß ich eine Kassette auf einem Sockel anbringen, und in die Kassette lege ich alle meine Dichtungen, die ganz ihr zu Eigen waren: Irene, Die kleinen Vene für Irene, Die Totenklageund auch der Mutter schönes Buch, das ich mit leidenschaftlicher Bewegung dieser Tage wieder las: „Mein Kind“. – Ich habe auch alle Eure Briefe an Irene, die Ihr nach der Schweiz ihr sandtet, unter tausend Erschütterungen gelesen, und ich danke Euch aus tiefster Seele, dass Ihr Irene auf die Welt gebracht, dass Ihr sie mit Eurer Innigkeit und immergrünen Liebe so warm umhüllt, so hell beglänztet – und ich danke Euch vor allem, dass Ihr sie mir vertrauensvoll gegeben und geschenkt habt. Je inniger ich mit Irene zusammenwuchs, so wie sich Bäume oft umschlingende klarer und unbeirrbarer erkannte ich, dass ich mit ihr weit mehr in meinen Armen hielt, als eine auch noch sehr geliebte Frau. (War mir nur die gestorben, ich bisse die Zähne zusammen – und trüg es …) In Irene hatte ich, nach einem Löwenkampfe, das gefunden, was 99 von Hundert aller Menschen auf dieser Erde nie begegnet: die mystische, die kosmische Geliebte. Und deshalb fand ich auch in ihr die paradiesische Muse: die vollkommenste Seligkeit: und waren wir zusammen, wir hatten keinen Wunsch und kein Begehren mehr, wir hatten uns – und damit die Erde, und damit den Himmel. Ich erinnere mich der letzten 14 Tage, ehe Irene ins Hospital kam: wir konnten unsere Liebe nicht mehr übergipfeln, und ganz gewiss waren unsre Sinne heiliger Geist und ganz verklärt worden, denn zur körperlichen Liebe war Irene nicht mehr fähig. Ich weiß, wie viel ich ihr verdanke: sie hat mich weniger nicht gewandelt als ich sie. Und wenn ich je am seraphischen Throne Gnade finde: so ist’s um ihret‘ nicht um meinetwillen. Grüße die Mutter und sei herzlich gegrüßt von Deinem Fred

Locarno-Monti, 17. November 1918

Liebe Mutter,

es beruhigt mich immer ein wenig, wenn ich mit Euch reden darf. Ich weiß nicht einmal, ob meine vielen Briefe, Karten, Manuskripte, deren ich sicher so viel schickte als Tage vergangen sind seit ihrem Tode, Euch auch immer erreicht haben? Ich lebe auch nach ihrem Tode noch von ihrer Güte und Voraussicht. Der Haushalt hat ihr solches Vergnügen bereitet und sie hat ihn so prächtig eingerichtet. Ich brauche eigentlich nichts kaufen als Brot, für alles andere hat Irene gesorgt. Für viele Monate sind Kartoffeln, Eier, Früchte, eingemachte und frische (Äpfel und Trauben), kondensierte Milch, eingemachtes Gemüse, Fleischkonserven, Konfitüre, Reis, Mehl, Brotauf­strich (Pains) und Fleisch (Zunge, Speck, Rauchfleisch, Dauerwürste) aufgestapelt.

Es ist mir immer, als reiche sie mir alles übern Tisch. Die Bilder von Irene sind um mich: jenes mit der Blume, jenes mit der Katze, (die Madonna mit der Blume, die Madonna mit der Katze), jenes, wo sie unter der Säule sitzt in Mergoscia im Verzascatal und das kleine Bild im Schnee. Ich spreche immer mit ihr. ‚

Schlimm ist es, immer von neuem zu erwachen und immer wieder dem Tag ins Auge sehn zu müssen. Sein Auge ist so hell. Es blendet mich. Ich möchte immer im Dunkeln sein. Zuweilen blättere ich in Goethe oder Hölderlin. Kennst Du diesen Vierzeiler von Hölderlin? Er ist so ganz aus meiner Seele gesagt:

Das Angenehme dieser Welt hab ich genossen.
Die Jugendstunden sind wie lang wie lang verflossen!
April und Mai und Junius sind ferne.
Ich bin nichts mehr. Ich lebe nicht mehr gerne.

Dein Fred Ich schrieb im Bett, entschuldige den Bleistift!

Locarno-Monti, 24. November 1918

Liebe Mutter, ‚

wenn ich daran denke, was mir am wehesten tut von den Umständen bei Irenes Tod, so ist es immer wieder das, dass ich nicht die letzten Tage oder wenigstens Stunden bei ihr sein durfte. Gestern hörte ich von Soffel (nach und nach erfahre ich allerlei), dass Franzoni am 27ten abends bei mir war – ich war grade in die Villa Maria gefahren – um mit mir über Irene zu sprechen, und dass er mir sagen wollte, dass keine Hoff­nung mehr sei. Ich hatte ein so sonderbares Gefühl diesen Tag: als der Wagen nämlich kam, wollte ich ihn zahlen, da bleiben und nicht in die Villa Maria fahren. Erst allerlei Meditationen bewogen mich zur Fahrt. Wäre ich nur meinem dunklen Gefühl gefolgt! Ich hätte Franzoni gesprochen und ich hätte den 28. bei ihr sein können. Wir hätten noch einen ganzen Tag für uns gehabt. So glaubte Franzoni, dass es mir gesundheitlich zu schlecht ginge, als dass man mir’s sagen könne. Aber man argumentierte natürlich ganz falsch: nichts hat mich ja mehr mitgenommen, als dass ich so hilflos und unvorbereitet vor das Geschehnis gestellt wurde. Hätte ich Irene noch sprechen, halten und küssen können, mir wäre unendlich wohler: vielleicht hätte ihr Tod in meinen Armen mich mit erlöst: so bin ich nun ein armer Schacher und hänge so ganz allein am Kreuz meiner Qualen. Alle meine Tage zähle ich nach ihrem – und meinem Todestage. Euer unseliger Fred

Ich hatte eine Erscheinung vor einigen Nächten: ich lag wach im Bett, plötzlich war das ganze Zimmer mit einem Sturmwind erfüllt, der sekundenlang um mich brauste, dann ließ er nach. Und ein eisig kühler Windzug fuhr über meine Stirn. Gleichzeitig begann ganz dumpf aus nächster Nähe (in der Mauer, so schien es mir) eine Uhr zu schlagen. Sie schlug (ich zählte) – elf. (Ich sah dann nach meiner Uhr: es war halb zwei.)

Kennst Du das Buch „vom Leben nach dem Tode“ von Fechner (Inselverlag)?

Ich hatte Angst, bei den jetzigen postalischen Zuständen, die “Totenklage“ im Manuskript zu schicken: ich habs nun doch hier tippen lassen. Sie ist an Euch bereits abgegangen. Da bei den unsicheren Zuständen in Deutschland, die ich sehr pessimistisch beurteile, noch gar nicht bestimmt werden kann, wann sie in Buchdruck erscheinen kann, wäre es vielleicht hübsch, die Sonette allein, privat drucken zu lassen und sie allen denen als Andenken an Irene zu geben, die sie lieb gehabt haben. 2 Sonette auf die Seite ergibt einen Bogen. Und das würde in 100 Exemplaren vielleicht 70 Mark kosten.

Locarno-Monti, 26. November 1918

Doch, liebe Mutter, ich wäre noch zurechtgekommen, Irene noch einmal zu sehen, zu halten, zu fühlen, lies nur meinen letzten Brief über den Besuch Franzonis bei mir. In der Erinnerung an eine letzte Umarmung hätte ich vielleicht sogar noch einmal froh werden können, aber der Blitz hat mich aus heiterem Himmel getroffen. Ich war so ahnungslos – und dann so hilflos. – Jeden Tag muss ich mir das Leben neu erkämpfen. Jetzt ist doch schon ein Monat seit ihrem Tode vergangen, ach: verflossen in Tränen, wenn ich mich je beruhigen könnte, ich wäre beruhigt. Was soll ich noch? Was will ich noch? Was kann ich noch auf der Welt? Nachts habe ich Gehörhalluzinationen: es ist, als ob jemand immer an der Mauer meißelt, um sie aufzubrechen. Zuweilen zittert das Haus ganz dumpf wie ein Erdbeben. In der Küche lärmen die Teller und Kannen. Und dazwischen, wie auf einem Cello gespielt, zwei Töne, Moll, immer dieselben Töne, wenn ich sie am Tag in meinem Gedächtnis suche, finde ich sie nicht mehr. Natürlich rührt diese Verwirrung nur daher, dass meine Nerven so zerrissen sind. Irene hat mit diesen Verwirrungen nichts zu tun. Sie fühle ich manchmal selig fast leibhaftig in mir: es ist, als ob sich meine Poren öffnen und nehmen einen nicht definierbaren Hauch, der mich bis ins Rückenmark selig schaudern lässt, auf. Wenn ich sterbe, werde ich in ihr aufgehn, auffliegen und erlöst sein. Wäre es doch bald. Ich fürchte, der Mann, der nachts an der Mauer meißelt, könnte auch einmal daran gehen, mein Gehirn aufzumeißeln. – Ich gehe heute das Kind besuchen. Grüße herzlich Dei­nen Mann und sei umarmt. Dein Fred

Ich sende Dir 2 Hefte der Rarität: im 2ten ein längerer Gedichtzyklus von mir aus den Jahren 1915/16. Im 1. ein Gedicht auf ein Kaninchen.

Locarno-Monti, 28. November 1918

Lieber Vater,

ich sehe am Ende Deines letzten Briefes einige materielle Fragen und beantworte sie Dir hier: die 1500 M = 1000 Francs rund sind richtig eingetroffen.

Hospital (alles)                                        577.oo
Franzoni, Dr.                                             90,20
Sarg                                                        184.oo
Begräbnisplatz                                          60.oo
Begräbnis a) Wagen                                 79,50
b) Priester
Mönche Glockenläuten ect.                     270.oo
Gärtner circa                                              50.oo
Hermann Dr. circa                                      20.oo
Rusca Dr., /Operation) circa                    300.oo
Grabmal (Granit und Tafel) circa             150.oo

Gesamt:                                                  1480.oo

Die Ausgaben betragen also rund 1500 Francs. Ob und was Du über Deine schon gesandten 1000 Francs hinaus noch übernehmen willst, stelle ich Dir ganz anheim.-Gestern war ich beim Kind. Ich freue mich, dass es ihm so gut geht. (Ich habe Euch telegrafiert.)

Wetter und Landschaft bezaubern hier immer von neuem. Ich habe noch nicht ein­mal geheizt. (Allerdings zum Teil auch aus Faulheit.) Herzliche Grüße Euch beiden Euer Fred

Locarno-Monti, 28. November 1918

Liebe Mutter,

bist Du nicht froh, wie gut es unserem Kindlein geht? Seit acht Tagen kann es kaum genug kriegen; man hat die Nahrung gewechselt, und seitdem (ich konnte mich durch Augenschein überzeugen) blüht und leuchtet es förmlich auf. Ich bin auch so erleich­tert, dass ich gestern den ersten leichten Tag hatte, als ich von Ascona kam. Denn ich war so schwarzseherisch geworden, und als ich vor 14 Tagen drüben war, da wusste man gar nicht, was aus dem Kindlein werden würde: und eben aus dieser Ungewissheit heraus konnte man Dir keine Nachricht geben. Und man wollte Dir doch gute Nach­richt geben. Was der gestrige Gang auch für mich bedeutete: Du wirst es ahnen. Die Vorstellung, dass Irenes Opfer, ihre Hingabe an den Tod, vergeblich gewesen sein sollte, hätte mich von neuem an den Rand der Verzweiflung geführt. Und der Stun­den, da ich selber halb am Hinübersinken war, waren schon so viele. –

Die Manuskripte der ersten Sendung, da darfst Du mich nicht missverstehen, habe ich Dir nicht alle gesandt, weil sie besonders schön wären, sondern weil ich sie in guter Hut wissen will und weil eine Anzahl Unveröffentlichtes, wie die „Front“ und der „Neger“ darunter sind, die für das Kind doch einen Wert haben werden.

Die „Totenklage“ erhebt sich über all diesen wie ein weißer Turm, auf dem die schwarze Fahne weht. Du hast sie sicher inzwischen erhalten. Wenn Du in ihr liest, werden Irene und ich, wird unsere Einheit Dir immer auf besondere Art nahe und bewusst sein.

Irene ist ganz in mir. Ich fühle das immer stärker. Die Gedanken beflügelt sie mir, und meine Stirn lässt sie leuchten. Alles, was ich tue und sinne, geschieht aus ihr, aus dem Bewusstsein und der heiligen Überzeugung, dass unser Geschick, dass unsere Seelen nicht mehr auseinandergerissen werden können: hier nicht und dort nicht. Dein, Euer Fred

Locarno-Monti, 1. Dezember 1918

Liebe Mutter,

, jetzt habe ich wieder acht Tage von Euch nichts gehört. Ich weiß gar nicht, ob Du nun beruhigt bist wegen des Kindleins: ich sandte Dir ein Telegramm und einen ausführlichen Brief darüber. Auch Frl. Mendwyler schrieb Dir einmal. Die „Totenklage“ hast Du hoffentlich erhalten. Ich bringe meine Tage (und Nächte: denn ich schlafe oft bis fünf nicht) damit zu: den Weisheiten des »Alten« (Laotse) nachzusinnen« – »Sinn« ist sein Ausdruck für das höchste Wesen, für Gott – und hätte ich ihn nicht und gäbe mir nicht auch Spinoza’s Ethik und, mit Vorsicht geschlürft, manches von Fechner und du Prel Trost, so wäre ich wohl schon verzweifelt. Dies, dass ich den „Sinn“ habe – und das „Wort“, ihn auszudrücken, hält mich am Leben. Die „Vernunft“ beweist mir, dass ihre Seele unsterblich, dass meine Seele unsterblich, und dass wir beide einmal im großen „Sinn“, christlich gesprochen: in Gott ruhen werden. Gott wird einmal das Brautbett unserer Seelen sein. Mag auch das Herz im Schmerz der Sehnsucht, besonders wenn ich in diesen herrlichen Herbstnächten zum besternten Himmel aufblicke, manchmal zu zerreißen drohen: so weiß ich doch, dass wir nicht nur einander wieder haben wer‘ den, sondern dass wir einmal ganz eins sein werden. – Ich verdeutsche und verdeutliche mir den Laotse für mich ganz neu. Ich will ihn aufschreiben und dann Euch schicken. Vielleicht, dass ich Euch auch zu „Jüngern des Tao“ bekehre. Die Gesinnung im Tao ist auch meines Glaubens die einzige, die den Menschen über diese Zeit hinweghelfen kann. Ganz besonders der Deutsche sollte sie sich ganz zu eigen machen und ganz begreifen, dass er der Sieger im „Sinne“ sein wird, sobald er wahrhaft „schwach“ und wahrhaft „zart“ ist (das sind Taobegriffe).

„Wer sinnvoll kämpft, kämpft ohne Hass. Wer sinnvoll den Feind besiegen will, der bekriege ihn nicht. Das ist das Sein des Friedlichen. Das ist die Art, dienend bedient zu werden. Das heißt: ein Himmlischer werden, wie es der Ahnen Ahnung gebot.“

Sei umarmt und grüße Irenes Vater Dein Fred

Im Novemberheft der „Dame“ (Nr. 3) ist ein Bild von Irene.

Locarno-Monti, 4. Dezember 1918

Liebe Mutter,

ich komme eben vom Grabe von Irene. Es ist nun so schön hergerichtet, so schön, einfach und zart wie sie war. Eine schmale Steineinfassung, innen drei Reihen Buchs-Stauden. Am Kopfende ein Sockel. Auf dem Sockel die Kassette mit den Büchern. Und auf der Kassette eine Schale mit Moos, aus dem des Herbstes farbige Zweige hängen: Hagedorn, Weinlaub und Epheu, und zwischen den Blättern rote und violette fache Marmortafel: IRENE / 18. Qkt. 1896 / 30. Okt. 1918 / Dich kannte niemand außer Gott und mir – Klabund

Ich weiß, dass die Inschrift ein wenig hochmütig ist. Aber Ihr nehmt sie mir nicht übel, nicht wahr? Ich will das Grab fotografieren lassen und Euch ein Bild schicken. Die anderen Bilder sind noch nicht fertig. Ich konnte sie Euch noch nicht schicken. – Ich spiele jetzt manchmal am Morgen Klavier. Frau Dr. Jung hat den Schlüssel dagelassen. Ich habe wieder begonnen mit einem der ersten künstlerischen Spiele meiner Kindheit, Ich habe komponiert: Jeden muss ich gewöhnen…. das Dschinnistanlied aus dem Hafis, Zwiegespräch {Leierkastenmann), Die Zauberin und das kleine Lied von Dir, das da endet: „Ein Gott und eine Mutter sind deines Lebens Gut.“

Willst Du nicht einmal Deine Lieder an den Verlag Reuß und Itta, Konstanz, dem Herausgeber der Zeitbücher senden? Sie wurden darin sich hübsch ausnehmen, und ich würde an Deiner Stelle auch mit den Verlegern den Mut nicht sinken lassen. – Die Bücher, die der Vater erbittet, schick ich ab. Es ist möglich, dass ich einige Tage nach Zürich fahre. Die dortige Zentralbibliothek hat sonderbarerweise ein sehr wertvolles chinesisch‘ französisches (Doppeltext nebeneinander) Buch, das ich sehr nötig einsehen müsste, um über Laotse noch weiter zur „Einsicht“ zu kommen. Ich weiß nicht, ob man’s hierher‘ sendet. Die Postverhältnisse haben sich auch in Monti wiederum verschlechtert. Es sind wieder Züge eingestellt worden, und eigentlich kommt nur einmal am Tage Post. Lasst Euch herzlich grüßen von Eurem Fred

Unter den Sachen, die Frau Drach schicken soll, befindet sich auch meine kleine Schreibmaschine. Sie wird vermutlich ganz verstaubt sein. Würdet Ihr so gut sein, sie reinigen zu lassen? Besteht für gebrauchte Schrbmsch. Ausfuhrverbot?

Locarno-Monti, 6. Dezember 1918

Lieber Vater,

ich weiß, dass Du Dich damit beschäftigt hast, und so will ich Dir einmal von nichts erzählen als meinen letzten „okkulten“ Erlebnissen. Ich setze okkult in Anführungszeichen: nicht aus Spott. Sondern um darzutun, dass ich dem Okkultismus meiner Erlebnisse skeptisch gegenüber stehe – mit jener einen Ausnahme, die ich der Mutter schon erzählte: als das kühle Gewölk über meine Stirn fuhr. Da hatte ich das ganz bestimmte Gefühl, dem Tode nahe zu sein: ich rief Irene! und die Winde und Wolken lösten sich auf. Auch an die innere Erscheinung Irenes (in mir) glaube ich: sie kündigt sich immer durch denselben sonderbaren Schauer im Körper, zuweilen auch durch sekundenlange Starre im Körper an. – Alle anderen „Manifestationen“ halte ich für Produkte meines maßlos überreizten und übererregten Gehirns. Sie scheinen mir auch, und dies ist immer mein stärkster Einwand, zu töricht, um geistig zu sein. Das Tellerklappern in der Küche, das Hämmern an der Hausmauer, dann ein ewig dumpfer Schritt. Andere dumpfe Geräusche. Als gewissenhafter Beobachter habe ich meinen Puls gemessen und sie damit in Einklang zu bringen versucht, was nicht gelang. Musik sehr .mannigfacher Art ertönt. Sollte ich einschlafen, was oft bis 5 nicht geschieht, so wache ich durch irgendein Angstgefühl unbedingt um 12 auf. Es ruft mich dann immer etwas „ins Leben“. Und es ist dann Punkt zwölf: Gesichtshalluzinationen, an denen ich früher als 17 Jähriger litt, sind ganz selten und kaum da. Ein wenig Schleier‘ und Luftvorstellungen im Dunkel. Verwunderlich nur eine Vorstellung, die ich schon zweimal hatte: es ist Licht im Zimmer – und es wird auf einmal dämmrig, obgleich das Licht gleich hell brennt. Zweimal schleifte auch an der Wand meines Bettes (bei Licht) ein Unsichtbares vorbei.

Zum Schluss: was Euch ebenfalls interessieren wird: das Haus hier gilt als nicht ganz geheuer. (Es ist auf den Grundmauern eines anderen Hauses errichtet.) Es gibt viele Leute aus Ascona z.B., die es nicht betreten. Womit das zusammenhängt, habe ich noch nicht erfahren können. Dagegen will ich noch eins berichten: wenn man nach Locarno heruntergeht, die erste Abkürzung, steigt man an einem Bach herunter. Eine Art Brücke führt herüber. Dort haben drei meiner Bekannten nachts schon dieselbe Erscheinung gehabt. (Die eine, eine Dame, ist Hr. Soffel buchstäblich in die Arme gefallen vor Schreck.) Eine Erscheinung sitzt dort – nach den übereinstimmenden Erzählungen dieser drei – auf dem Stein der Brücke: weiß, wie eine Frau, mit einer langen Schleppe. – Ich bin manchmal nachts (zweimal erst ganz kürzlich) an der frag‘ liehen Stelle vorbeigegangen. Ich habe sie nicht gesehn. – Herzlichsten Gruß Dein Fred

P.S. Heute kam noch eine Rechnung, dies zu meiner Abrechnung: 90,40 Frcs. Apotheke.

Das Wichtigste, was wissenschaftlich für den Okkultismus geleistet werden müsste, wäre eine systematische Durchsicht und Übertragung der überreichen chinesischen okkulten Literatur. Die Chinesen sind seit Jahrtausenden Spiritisten. Seit Jahrtausenden gibt es bei ihnen eine sogenannte psychographische Literatur. Aber dann: die Spiritisten verstehen zwar viel: nur Chinesisch nicht …

Locarno-Monti, 6. Dezember 1918

Liebe Mutter,

es kommt wieder eine dunkle Welle über mich und ich muss mich stemmen, um nicht zu versinken. Als ich vor zehn Tagen drüben beim Kinde war, da wurde es mir beim Heimgang durchs Abendrot zum ersten Mal wieder ein wenig leicht ums Herz. Jetzt bin ich wieder so schwer. Der klare blaue Himmel drückt wie eine Eisenplatte auf mich, und im Feuer der Sterne beginne ich wie Reisig zu knistern. Sage mir nichts mehr von Irenens letzten Tagen, sonst werde ich noch irr und wahnsinnig. Du hast gewiss recht: ich war bis vor gar nicht langer Zeit noch ein Knabe. Aber grade diese Knabenhaftigkeit hat mich über tausend Abgründe hinweggetragen. Sonst hätte mich das Leben, das ich so leidenschaftlich führte, längst zerbrochen oder von innen aufgefressen. Ist es ein Hochmut, wenn ich sage, dass ich genauso nur zu Irene gekommen bin wie sie zu mir? Trotz allem. Ich glaube, dass Deine kühnsten Träume die Abenteuer nicht zu ersinnen vermögen, durch die ich mit heiler Haut und vor allem: mit heiler Seele: geschritten. Hätte ich nicht hundert Frauen gekannt: ich hätte Irene nicht so würdigen können. Ich messe sie alle nur an ihrem Maßstab.

Denk Dir: der Wald brennt immer noch! Mit dem großen Waldbrand hat auch mein Herz wieder zu brennen begonnen. Da hilft das Wasser des guten Zuredens nicht: da hülfe nur der Regen Gottes oder die Sintflut. Reif dazu wäre die Welt. Was für eine Mission könnte ich in ihr erfüllen, die ich dort nicht auch zu erfüllen vermöchte, voller und völliger? Aber ich bin ein Jünger des Tao (Irene hat, ganz ohne Wissen, mich zu ihm bekehrt.): das ist ein Gläubiger des sanften Mutes, ein Gläubiger der Zartheit: das zarte Herz wird die härteste Herrschaft überwinden (dies sei auch den Deutschen gesagt: inbrünstig) und so weiß ich: würde ich meinen Leib hier sinnlos (ein Taobegriff) zerstören – so müsste ich ihn mir umso mühsamer dort wieder auf­bauen, und die Seele müsste indes Frondienste leisten – wie hier so oft … Dennoch vermag ich mir die Möglichkeit eines Zwanges zum Weggehen vorzustellen: wenn eben die Schale, die ich hier noch trinken muss, noch bitterer sein würde als selbst die jenseits wie bitter immer vorstellbare. Denn wie soll seinen armen Brüdern ein Hilf loser helfen?

Liebe Mutter – ich kann Irenes Grab noch nicht allein lassen. Ich könnte im Augenblick nicht weggehen von hier. Es wäre wieder eine Trennung. Schmerzt mich auch jeder Gang, denn alle ist auch sie gegangen, so ist dieser Schmerz doch meine einzige Freude. Euer Fred

Wegen der „Sonette“ habe ich erst einmal bei verschiedenen Verlagen angefragt: es handelt sich nur darum, wann sie erscheinen können. Ich bin über die Lage des Verlagsbuchhandels z. Z. nicht orientiert. (Reiß druckte sie natürlich: aber die Frage ist, wann.)

Locarno Monti, 9. Dez. 1918

Lieber Vater,

ich war gestern in Ascona drüben. Ich habe das Kind wieder besucht und fand es sehr munter. Abends in einer verräucherten Osteria hatte ich eine (sehr interessante) Besprechung mit einem Freunde Lenins und Zinowjeffs. Wir saßen vor dem Kamin, in dem die Scheite brannten, an denen sich auch unsere Gedanken entzündeten: aber mir war immer, als spräche gleichsam nur mein vorderer, äußerer Mensch. Mir war, als stände ich selbst hinter meinem Stuhl und sähe mir über die Schultern, und hörte mit einer gewissen zärtlichen Nachsicht dem zu was »der andere« (nämlich ich …) sagte.

Die Schriften von Lenin usw. sandte ich Dir. Hoffentlich hast Du sie erhalten. Ich habe eine gewisse Dummheit gemacht: Als ich nach Monti zurückkehrte, habe ich im Bedürfnis der »Reinigung« und »Erledigung« eine Unmenge Manuskripte und Papiere verbrannt: darunter auch die Nachrichten der russischen Sowjetmission in Bern, die sie privatim verschickte. Ich hätte sie Dir aufheben sollen. Allein schon aus Kuriositätsgründen. – Dass die gesamte übrige Welt ein Interesse daran hat, die Bolschewiki möglichst dunkel anzuschwärzen, darüber haben wir ja schon mündlich gesprochen. Unerhört finde ich es, dass deutsche Revolutionstruppen gemeinsam mit ihren eigenen Henkern, den Alliierten, aus der Ukraine gegen die Bolschewiki vorgehen, wie ein Erlass von General Denikin dartut, und dass sie sich also mitschuldig machen jener scheußlichen Bestialitäten, die die Alliierten in Russland verüben. (Sie haben, mittelalterlich, die Bolschewiki für vogelfrei erklärt und haben sie schon zu Hunderten gehängt. Was das für Folgen auf das westliche Proletariat haben mag, wird man ja sehen. Vergessen wird das nicht werden: und sollte je das westliche Proletariat hoch‘ kommen: es wird alle »Bourgeois«, alle Bürger kurzerhand »aufhängen«.) Die Zeit ist wüst wie die Zeit der Bürgerkriege im Mittelalter: der Bauernkriege, der Religionskriege. (Was damals „Religion“ war, „Katholizismus und Protestantismus“, das ist jetzt „Demokratie“ und „Bolschewismus“.) – Als ich in der Nacht nach Hause ging, da fielen die Sternschnuppen, und was sollte ich mir anderes wünschen als den Tod? Vermag ich armer elender Mensch anderen zu helfen? Wenn Irene noch lebte, ich wäre gewiss längst in Deutschland. So kann ich nicht fliegen: Die Flügel fallen mir immer wieder zusammen. Dieselbe Leidenschaft, mit der ich einst am Leben hing, bringe ich nun dem Tod entgegen. Und ich kann es fast begreifen, wenn ein so sanfter Mensch wie Zinowjeff zum Massenmörder geworden ist und den Bourgeois zu Hunderten erschießen lässt. Brauchte ich den Schmerz zu meiner Reife? Ich brauchte das Glück, das ich im Sommer hatte, und nie hab ich so leicht gedacht und gearbeitet wie in diesem Sommer. Dein Fred

Ich sende Dir heute ein Exemplar der russischen Verfassung. Auf dieser Basis allein sollte man die Bolschewiki attackieren. Dort ist ihre Achillesferse.

Das deutsche Geld steht auf 58 (!). Ich brauchte 500 Francs im Monat, d. h. 1100 Mark!!

Unerhört finde ich es Nach dem in Brest-Litowsk am 9. Februar 1918 geschlossenen Separatfrieden des Deutschen Reiches mit der Ukraine marschierten deutsche und österreichische Truppen dort ein. Der eigentliche Zweck, Zugriff auf Lebensmittelressourcen zu gewinnen, wurde nur teilweise erreicht, die Trup­pen beteiligten sich auch an Kämpfen gegen revolutionäre Gruppen. General Denikin war einer der führenden Kommandeure der Weißen Garden im Kampf gegen die Rote Armee und andere revolutionäre Truppen.

Locarno-Monti, 11. Dezember 1918

Liebe Mutter,

heut hab ich Dir zwei Aufnahmen gesandt: vom Kind eine und eine vom Grab. Deine Verse sind hier: sie singen in mir weiter. Wir haben ja denselben Ton. Die Dursaite ist in uns beiden zerrissen. Ich bin müde und ganz abgespannt: meine Hände, die das schreiben, zittern, sechs Wochen einer ekstatischen Anspannung der Kräfte machen sich körperlich bemerkbar. Der »Leib« macht nicht mehr mit. Ich kann auch gar nicht mehr denken seit vier Tagen. Ich bin nur müde tot’totmüde. Die Arbeit am Laotse ist mitten drin stecken geblieben. Und grade in dem Moment, als ich ein überaus kostbares Buch erhielt: eine chinesisch französische Ausgabe des Taoteking: mit dem chinesischen Text und französischer Übersetzung daneben. Da hätt ich nun die Quelle, die ich suchte. Aber ich sitze daran, matt und übermüdet, wie ein Wanderer, der zu viel gegangen, die Quelle rauscht vorüber, und ich kann vor Übermüdung nicht einmal schöpfen.

Euren Optimismus vermag ich durchaus nicht zu begreifen. Ihr könnt auch Gott danken, dass Ihr noch Eisner habt. Revolutionen haben immer die Neigung, sich zu radikalisieren. Wollt Ihr statt Eisner – Mühsam? –

Das deutsche Geld sinkt angesichts der Putsche in Berlin rapide, schon sind allerersten deutschen Banken in der Schweiz … die Kredite gekündigt worden. Ein Zeichen, dass man an eine baldige Konsolidierung der deutschen Verhältnisse nicht mehr glaubt. Das deutsche Geld, 69 noch vor zehn Tagen, steht heute 52,50!! Sollte die Forderung der Entente effektuiert werden: dass der deutsche Goldschatz ausgeliefert wird, so ist das deutsche Geld so gut wie wertlos (da sein Wert auf der Golddeckung besteht). Ich fürchte, dass es auf 30 sinkt. Was ich allerdings dann machen soll, ist mir ein rechtes Rätsel. Jetzt schon ists bedenklich, denn ich habe eine Unzahl Rechnungen, über elfhundert Francs, noch nicht gezahlt, und lebe Gott weiß spartanisch genug. (Elfhundert Francs … das sind circa 2500 Mark!!) Ich rechnete heute alles nach: 6000 Mark! haben die 6 Wochen für uns beide gekostet! – Heute hatte ich eine lebhafte Auseinandersetzung mit einem bekannteren deutschen Bolschewik, einem Anhänger Liebknechts. Er wird demnächst bei Euch (d. h. in Deutschland) auftauchen. Es ist grotesk, dass in dem Moment, wo Lenin, wie die letzten Nachrichten zeigen, sich den Menschewiki (gemäßigteren Sozialisten) nähert, Liebknecht ihm womöglich übelmeinen will. Mit der Möglichkeit einer Diktatur des Proletariats solltet Ihr Euch immerhin vertraut machen! Euer Fredi

Anlage: 8 Bilder.

Locarno-Monti, Sonntag, 15. Dezember 1918

Liebe Mutter, lieber Vater,

was soll ich noch tun, um mich von der Notwendigkeit, mein Leben zu erhalten, so recht zu überzeugen? Verse sind nur gefrorene Tränen, und sie sind mir wie momentane Rauschmittel. Ich könnte ja auch Opium oder Morphium nehmen. Heut Nacht hab ich wieder bis halbsechs wachgelegen: mir kam die Idee und das Gefühl eines Dramas, und ich schrieb daran, sechshalbstunden hintereinander. Schlafen könnt ich natürlich dann kaum. Ich wälzte mich dann bis neun im Bett und trank dann starken Kaffee. Das kleine einaktige Drama, heut Morgen hab ichs zu Ende geschrieben, handelt natürlich von mir und Irene. Es heißt „Der Totengräber“. Die Szene ist der Friedhof, an einem Herbstnachmittag. Die Personen sind: der alte Totengräber, der junge Totengräber, der junge Herr und einige Sargträger. Ich laß es abschreiben und schick es Euch gleich. Ich werde mir gestatten, es Euch zu widmen, wenn es Euch Vergnügen (allerdings ein schlecht angebrachtes Wort, wo alles vom Sterben spricht) macht. Ich will es auch an den 3 Maskenverlag senden. Vielleicht, dass man’s zusammen mit einem Strindberg oder Hofmannsthaleinakter spielen kann. Es ist in Versen, und ich habe die Elegie auf Irene hineinkomponiert.

Soffels sind sehr nett, sie kochen für mich mit. Ich verberge ihnen meinen Zustand so gut ich kann, denn ich bin nicht für Sentimentalitäten. Es tut mir sehr leid, dass Deine Frau nun auch an der Grippe niederliegt. Hoffentlich bist Du schon wieder hergestellt, liebe Mutter, wenn Dich dieser Brief erreicht. Ich würde sie Dir von Herzen gern abnehmen, und alle Grippen der ganzen Welt dazu, dann braucht ich mir über nichts den Kopf und das Herz mehr zerbrechen. Ich will einmal zwei Tage nach Lugano fahren und den Versuch einer Luft- und Stimmungsänderung machen. Ich musste die Tage oft an die Ekstasen der Cecile Vedenken, in die ihr „Gott“ sie versetzte. Auch ich bin jeden Tag einmal auf das rasendste erregt, nur nicht von einem Gott, sondern von einer Göttin. Geist und Eros wohnen ja dicht beieinander und sind in ihrer höchsten Sublimierung eins. Da man nun aber (leider) noch mit einem Leib gepeinigt ist, so ist die völlige Unmöglichkeit der physischen Auflösung eine immer neue Tortur und Marter. – Habt Ihr die Zeitungen, die Bolschewiki Broschüren etc. erhalten? Besteht überhaupt noch Zensur in Deutschland? Die Bilder vom Kind? vom Grab? sind eingetroffen? Die herzlichsten Grüße Eures Fredi

Locarno-Monti, 18. Dezember 1918

Liebe Mutter,

das sogenannte Leben tritt an mich heran. Soll ich seinem so gar nicht lockenden Ruf folgen? Eine große schweizerische Verlagsanstalt hat mich aufgefordert, die Heraus gabe eines größeren bibliographischen Kataloges zu übernehmen, der auf einer ganz neuen Grundlage aufgebaut werden soll: es sollen nur Bücher einer bestimmten menschlich/politisch/ethischen Richtung aufgenommen werden, Bücher, die in die »neue Zeit« weisen. Mir würde viel Arbeit, monatelange, erwachsen; aber es könnte eine kulturelle Tat getan werden. Natürlich freut es mich, dass man an mich gedacht hat, beweist mir’s doch, dass man mich für irgendwie wichtig nimmt. Ich selber aber vermag das (das Wichtignehmen …) nur mit allerlei Sophistik, ich komme mir selbst so unwichtig vor – ein Augenaufschlag von Irene wäre mir wichtiger als zehntausend kulturelle Kataloge. Ja: solch ein Ketzer, solch ein Gläubiger bin ich.

Nun naht Weihnachten. Wir werden uns eine Gans braten, das wird aber auch das einig Festliche sein. Ich werde in die Nacht hinaus gehn, wie jeden Abend, und mit dem Mond und mit den Sternen sprechen. Jede Nacht geh ich nach Orselina hinüber oder die Straße nach Locarno hinab. Euer Fredi

Lugano, 19. Dezember 1918

Liebe Mutter,

ich bin nun nach Lugano gefahren. Ich hätte mir die Reise schenken können. Man kann vor sich selber nicht davonlaufen. Ich fahre morgen zurück. Es war sinn- und zwecklos. Es ist kalt hier. Und auf dem Generoso liegt der Schnee.

Darf ich Dir zwei kleine Bücher zu Weihnachten empfehlen? Sie sind beide in der Inselbücherei erschienen: Fechner, Vom Leben nach dem Tode, und Meister Eckharts „Buch der göttlichen Tröstung“.

Ich versuche, mich von ihnen trösten zu lassen. Für dieses Leben hab ich vertan und verspielt – ohne es recht zu wissen, wie ein Kind, das Ball spielt und den Ball zu hoch wirft. Da liegt er nun auf dem Dach, wie soll das Kind hinauf? Euer Fred

Locarno-Monti, 24. Dezember 1918

Liebe Mutter, lieber Vater,

es ist Heiligabend, ich komme eben von Irenens Grab. Der Korb ist nun gefüllt mit buntem Gesträuch. Zwischen dem Buchs stecken kleine Zweige mit roten Beeren und vor der Kassette liegt ein großer Kranz mit gelben Rosen.

Draußen fängts zu regnen an. Ich sitze hier im Swizzero – die Billardkugeln klirr gen. Die Italiener schreien, und ich weiß nicht, was ich denken soll, um nicht auch zu schreien – aber anders als ihre Heiterkeit und ihr Gelächter. So widerstrebend laß ich mich ins Leben ziehn: alle möglichen Korrespondenzen politischer und künstlerischer Richtung sind an mich inzwischen gekommen. Ob ich an einer Konferenz in Genf teilnehmen wolle. Ob ich dem politischen Rat der Arbeiter dort beitreten wolle und ob ich dies nicht inauguriern möchte. Sollte ich mich den mannigfachen Geschäften und Ideen nicht entziehn, so müsste ich wohl im Februar nach Deutschland kommen. Aber ins Blaue hinein mag ich nicht fahren. Nur wenn positive Arbeit möglich (mir möglich und im Allgemeinen möglich) ist.

Ich hatte in Lugano eine Besprechung, in deren Verlauf ich an die Räte in München, Dresden, Mannheim, wo ich Beziehungen habe, schrieb. Ich glaube, abgesehen von aller Schuldfrage und ganz abgesehn vom Entente-Imperialismus: es müsste alles getan werden, um Wilson zu stützen. Leider hat man das so recht bei der Berliner „Regierung“, die man ja nur in Gänsefüßchen setzen kann, nicht eingesehn. Was für ein logischer Kurzschluss, den Grafen Brockdorff zum Minister des Äußeren zu machen!! Man müsste aus „Wilsonleuten“ eine provisorische Friedenskommission bis zur Nationalversammlung bilden, Leuten, die das Vertrauen Wilsons haben und gegen die auch die Entente Einwände nicht finden kann. (Nb: mit einer rein sozialistischen Kommission wird die Entente nicht verhandeln.) Ich hörte von wohlinformierter Seite, dass Wilson auf eine solche Kommission nur wartet. Möglich darin sind nur unbelastete Leute: von den Diplomaten: Lichnowsky, Schlieben; von den Bürgerlichen: Dr. Muehlon, Prf Foerster, Prf Nicolai, auch Harden und Gerlach von den Sozialisten: Eisner, Dittmann, Bernstein, von den Intellektuellen: Heinrich Mann. Das sind doch alles, abgesehen von der Sympathie, die Amerika ihnen entgegenbringt, auch gute Deutsche.

Was meinst Du zu dieser Anregung? Aber Du bist wohl Eisner’s Gegner?

– Mit Deinem Vorschlag, dass Du ein Drittel des Kindes übernimmst, bin ich natürlich einverstanden. Seid beide umarmt von Eurem Fred

Locarno-Monti, 29. Dezember 1918

Liebe Mutter, lieber Vater,

ich danke Euch herzlich für Eure Weihnachtsgaben. Das Bild hat mir so wohl getan. Damals war alles noch Traum, was später Wirklichkeit werden sollte. Die Augen schön verschleiert und verträumt. Ich danke Gott, dass ich den Schleier heben durfte: in allen ihren letzten Bildern leuchten die Augen so klar und verklärt, so erfüllt. So habe ich ein wenig doch im Guten an ihrer Statue meißeln dürfen.

Der Artikel „An einen politischen Dichter“ hat mir allerlei Attacken eingetragen. Man hat ihn zum Teil auch missverstanden. In gewissem Sinne bin ich ja selbst „ein politischer Dichter“. Wogegen ich eiferte, das war nur jene extreme Anschauung, die da, von der Revolution begünstigt, hochkommt: als sei nur die These, der Appell, der Aufruf (in welcher dichterischen Form auch immer: z. B. Hasenclevers „Sohn“, Rubiner’s Schriften, Bechers Gedichte etc.) Dichtung. Alles andre sei ein „Tandaradei“. Trotz aller vorgeschobnen Geistigkeit ist diese programmatische Einengung der Dichtung dem naturalistischen Programm der 8oer Jahre verwandt und, eben als Einengung, zu bekämpfen.

Was sagt Ihr zu Berlin? Diese Entwicklung war so sicher wie 2×2=4. Denn die ganze Regierung Scheidemann etc. war von vornherein ein Angstprodukt ohne Idee und Tatkraft.

Ich habe verschiedentlich zu sprechen versucht (im Berl. Tagebl. z. B.), aber die deutsche Presse als Ausdruck der öffentlichen Meinung hat vor jedem Radikalismus der Idee eine Todesangst. Ich habe meine Auffassung im Sinne Laotse’s darzulegen versucht: man möchte das aber nicht gern hören. Die Bestätigung meiner Ideen kommt leider immer noch schneller als ich es selbst fürchten muss.

Wie steht es mit einer Aufenthaltsbewilligung in Passau für mich? (Die braucht man ja jetzt in Bayern, wie ich lese.) Ich möchte im Februar ganz gern herüberkommen und, wenn möglich, da und dort vorlesen.

Vorausgesetzt, dass ich bis dahin nicht auf der schwarzen Liste … der neuen Regierung stehe. Diese Groteske kann einem ja auch noch blühn. Falls es zu einem Kabinett Liebknecht – Ledebour kommt, was doch ziemlich sicher, so wird darin sicher auch mein intimster Feind: Franz Pfemfert, sitzen. (Er hat mich erst kürzlich spaltenlang attackiert.) Ich sende dem Vater dieser Tage die letzte der Gegenschriften gegen den Bolschewismus: Kossowski, ein russischer Sozialist, ist ihr Autor; Greulich, der Vorsitzende der Schweizer Sozialdemokratie, hat ihr das Vorwort geschrieben. Hast Du von der großen Diskussion über den Bolschewismus im Bunde „Neues Vaterland“ Berlin gelesen? Greiling (der Verfasser von Jaccuse), Nicolai, Pfemfert, Ströbel haben gesprochen. Als ein eben aus Russland wiedergekehrter Sozialist den Bolschewismus angriff und vorsprechen wollte, wurden sie niedergebrüllt. Unter diesem Signum steht überhaupt der politische Kampf in Deutschland. Wer das größere Maul hat, der hat die bessere Meinung. (Übrigens: Das weißt Du ja: ich urteile nicht leichtfertig über den Bolschewismus ab, wie das so viele tun. Aber man kann ihn nur »von innen heraus« bekämpfen. Er ist sehr stark als Gedanke.) Herzlich Euer Fred

Was sagt Ihr zu Berlin: Am 24. Dezember 1918 kam es zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen der im Stadtschloss einquartierten Volksmarinedivision und regulären Truppen. Die Volksmarinedivision weigerte sich, aus Berlin abzuziehen und forderte ausstehenden Sold. Die regulären Truppen unterla­gen, daraus resultierte u. a. die verstärkte Bildung von Freikorps. Am 29. Dezember verließen die Mit­glieder der USPD aus Protest den Rat der Volksbeauftragten, der daraufhin nur noch aus Angehörigen der Mehrheits-SPD bestand. Gustav Noske (SPD) trat dem Rat bei. Die Weihnachtskämpfe fanden im Januar 1919 ihre Fortsetzung in den Spartakusaufständen. Der Rat der Volksbeauftragten wurde nach den Wahlen vom 19. Januar 1919 von der neuen Exekutive unter Reichspräsident Friedrich Ebert und Ministerpräsident Philipp Scheidemann abgelöst.

Locarno-Monti, 31. Dezember 1918

Liebe Mutter, lieber Vater,

seit ein paar Tagen schlafe ich wie ein Toter bis zwölf Uhr mittags – der nur leider immer wieder aufwacht. Ich ziehe dieser Tage um: in Soffeis Wohnzimmer mit den zwei Balkons. Ich brauche ja keine Küche mehr, und was soll ich mit drei Zimmern? Ich lebe ja nur in einem. Außerdem erspare ich die Hälfte des Mietzinses, das ist auch etwas, vor allem, weil ich meine Wohnung in Monti ständig behalten möchte, auch wenn ich nach Deutschland zurückkehre. Einige Monate im Jahr möchte ich immer da sein, wo ich selig war. – Ich habe lange von Euch nichts gehört. Und schrieb und sandte Euch viel. Falls Reiß es mir gestattet, werde ich die „Sonette auf Irene“ in einer besonderen Ausgabe im Verlag der Rarität Kiel erscheinen lassen. Das Exemplar wird 2 Mark kosten, und Ihr könnt dann die paar Exemplare, die Ihr braucht, bedeutend billiger haben, als wenn man’s auf Eure Kosten gedruckt hätte.

Beim Kind war ich gestern zu Besuch. Eine alte Frau saß an der Wiege und sah mit zerfurchtem und zerrunzeltem Gesicht auf das kleine werdende Wesen. Oben, im ersten Stock, lag ihr Mann, ein Greis, im Sterben. Sie holte dann ein paar Blumen aus dem Garten und trug sie hinauf. Wenn man so alt ist, hat der Tod nur Tröstliches und Selbstverständliches. Ich hasse ihn und grolle ihm noch immer.

Heut ist Sylvester – der letzte Tag eines Jahres, das mich zum glücklichsten und unglücklichsten aller Menschen gemacht hat. Ich denke an ein Wort des jungen Goethe: (ich zitiere nur ungefähr nach der Erinnerung:) Gib mir Gott alle Freuden, die unendlichen, ganz, alle Leiden, die unendlichen, ganz …

Das Jahr hat mir viel geschenkt an Dichtung: Die Vollendung des Bracke im Januar, die Silvia im Frühling, die Harfenjule, die Arbeit am Hölderlin und Laotse im Sommer, – und im Winter: Die Totenklage, den Totengräber, Hafis und einen kleinen Band Balladen (Laotse – Franziskus – Montezuma etc.), die Ihr noch nicht kennt. Alles, alles aber ist gering vor einem ihrer Augenblicke und garnichts wert an ihrem Wert gemessen. Ihr letztes Bild ist das mit der Blume, von dem ich Euch die Vergrößerung schickte. Das andre, was Ihr wünscht, sende ich Euch noch. Seid umarmt von Eurem Fred

Locarno-Monti, 2. Januar 1919

Liebe Eltern,

alles, was von Irenens Wäsche, Kleidern, Strümpfen, Schuhen noch gut erhalten ist, habe ich aufgehoben für Großmutter und Enkelin, nur einiges wie das rote Jackett und ein paar Schuhe nach Wien geschickt: die Rohstoffnot wird ja noch lange anhalten, Ihr werdets brauchen können. Wenn Ihr im Sommer herkommt, was ich hoffe, könnt Ihr’s mitnehmen.

Schrieb ich Euch schon, dass ich umgezogen bin? Ich habe Soffeis Zimmer mit den riesigen zwei Balkonen übernommen: die Sonne brennt darin wie eine ganz nahe Fackel. Ich bin so froh für’s Kind, dass wir einen so warmen Winter haben. Es geht ihm gut; gestern war ich bei ihm, es hat so große blaue Augen wie Delfter Porzellanteller, das Haar ist jetzt rotbraun wie von einem Reh. Es wird wohl noch blond werden. Die Schwester sagte mir, Du hättest einen Vorschlag wegen Ammenmilch gemacht. Sie hat mit dem Doktor gesprochen: der meint entweder – oder. Eine Mischung hält er für gefährlich bezüglich der Verdauung. Ich glaube, es wird das Beste sein, das Kind vor läufig bis in den Frühling der Schwester zu lassen, und es vielleicht im Sommer ein paar Monate der Amme zu geben, eh Ihr’s mitnehmt.

Dass ich oben Irenens kleines Werk an unserem Heim zerreißen musste, hat mir weh getan. Jetzt sind die Wände oben kahl und kalt wie eh sie kam. Ich finde mich so schlecht zurecht in der Materie, und hätten Soffel, Mendwyler und drei Wandervögel nicht alles besorgt: ich wäre überhaupt nicht umgezogen. Jetzt aber: da wo ich jetzt bin: zieh ich nie mehr aus. Und wenn ich nach Deutschland reise, wie hoffentlich im Februar, behalte ich die Wohnung. – Über den Bolschewismus sende ich Dir noch Broschüren etc. Bitte heb sie mir auf: sie sind oft so schwer zu haben, weil die Schweiz sie z. Z. auch verboten hat.

Radek soll ja in Berlin sein? Man muss zwischen bolschewistischer Idee und bolschewistischer Methode unterscheiden: der letzteren bin ich ganz abgeneigt. Die erste ist auf dem Marsch durch die ganze Welt. Selbst Werfel ist schon Roter Gardist geworden …

Wäre in der bürgerlichen Demokratie nur ein Funken Geist, Tatkraft, Ziel zu finden! Nichts davon. Dich würde ein Buch sehr interessieren, weil es vermutlich ganz in Deinem Sinn geschrieben ist: es basiert auf Deinem Standpunkt: dass die Menschennatur nicht zu ändern ist. Es ist von einem amerikanischen Milliardär – der aber beinah Bolschewist wird! Es heißt John Kay, Die Weltallianz, Verlag [Lücke im Text] und ist die letzte Arbeit (Übersetzung) der Gräfin Reventlow gewesen.

Seid beide umarmt von Eurem Fred

Im Verlag von Reiß ist ein Almanach erschienen (Das Jahrzehnt), der Euch interessieren wird. Es kostet glaub ich 2 Mark.

Die Erwägungen der Masse sind eben die: die alte Wirtschaftsordnung hat uns den Krieg und das Chaos beschert. Schlimmer kann es beim Versuch, eine neue Wirtschaftsordnung aufzurichten, nicht werden.

Locarno-Monti, 6. Januar 1919

Liebe Mutter,

gestern und heute waren so schmerzensreiche Tage, ich ging nur halb noch im Leben. Gestern Abend hatte ich alles gerichtet, ich dachte, nun ist es gut, nun will ich es tun. Der Revolver lag auf dem Nachttisch, daneben ein Glas, gefüllt mit … Wasser. Auf den Kissen im Bett vor mir lag ihr Bild, ihre Briefe hielt ich in der Hand und das kleine Bündel blonder Haare. Dann weinte ich. Und dann war mein Mut dahin, denn verzweifelt wollte ich ja nicht hinübergehn, sondern ruhig und stolz und selig. Ich spiele nicht mit dem Gedanken, ich denke ihn immer wieder durch. Und ich denke, dass es recht sein kann, mit Willen und Wissen hinüberzugehn: wenn das transzendente Subjekt die Erkenntnis in uns aufstrahlen lässt, dass wir auf der Erde nicht weiter schreiten können. Dass unsre Zeit hier erfüllt ist. Davon bin ich überzeugt, dass niemand seinem Schicksal entgeht, d. h. dass man sich durch den Tod irgendeiner Pflicht nicht entziehen könnte. Aber was für irdische Pflichten hab ich noch, die meinen himmlischen Pflichten nicht nachstehen müssten? Die Mutter kann ich unsrem Kindlein nicht ersetzen: das musst Du tun. Und werd ich bessere Bücher schreiben können, mich edler manifestieren als bisher? Ein Kind des Glücks ehemals – bin ich jetzt nur noch ein Kind des Todes. Ich bin nur „Asche noch im Winde …“. Ich möchte den Satz Spinozas „Die Tugend ist das Glück“ einmal umkehren: Glück macht tugendhaft. Ich habe es gespürt, wie gut ich wurde in unsrem Glück. Soll Leid mich wieder schlecht machen? Fred

Monti della Trinitä, 9. Januar 1919

Liebe Eltern,

mein letzter Brief war recht kindisch, glaube ich, mir tut heut leid, dass ich ihn abgesandt hab. Von Euch hörte ich bald zwei Wochen nichts. Euer Weihnachtsbrief war die letzte Nachricht. Ich schickte Euch viele Briefe, Manuskripte (Totengräber, Balladen etc.), Zeitungen und Broschüren. Könnt Ihr mir nicht mal ein paar Nummern des Eisner’schen Blattes Die neue Zeitung senden? Und was sonst an neuen Zeitungspublikationen erscheint, nur mal Probenummern, zur Einsicht. – Zum Kindlein geh ich heut hinüber. Heut scheint wieder die Sonne, der Regen ist vorüber. Vor ein paar Tagen dacht ich schon, ich müsst mich wieder mal legen. Das ist nun vorbei. -Seid umarmt von Eurem Fred

Locarno-Monti, 10. Januar 1919

Lieber Vater,

ein paar Worte über den Bolschewismus:

Es steckt sehr viel Mystik in der Idee: das Urchristentum will sich verwirklichen: wie zur Zeit der Bauernkriege: „wir Armen und Elenden sind berufen und auserwählt.“ Bergpredigt: Selig sind die Armen und die Ärmsten, denn das Himmelreich ist ihrer … Dieses Himmelreich wollen s’ie auf ihre Weise auf die Erde hinab tragen, wobei die Mystik sich dann in Naturalistik auflöst, nämlich: die Engel werden Huren, und Gott … zum Volkskommissär … Jedenfalls kann man die Bewegung nicht von oben herab abtun, wie die bürgerliche Presse das beliebt. Ihre praktischen Ziele wären vielleicht zu erreichen, wenn man von Lenin lernen würde. D. h. zweierlei ist absolut vonnöten, sonst krepiert die deutsche Revolution wie die russische: rigoroser Arbeitszwang bei den Arbeitern (nicht bloß wie in Russland beim Bourgeois), und zweitens: Erhaltung und Vermehrung des Kapitals (denn wovon sollen die Arbeiter später leben, wenn sie statt der Zinsen vom Kapital leben, wie in Oberschlesien etc. geschah – und geschieht), und Vernichtung des Kapitalismus. Das ist nämlich zweierlei. Und die Identifizierung von Kapital und Kapitalismus war der gigantische Irrtum Lenins. Jetzt sieht er ihn ein – zu spät. Die Ultra’s sollen ihn wegen – Konterrevolution schon verhaftet haben. Lenin ein Reaktionär!!! Soweit hat der Wahnsinn, der Hunger und die Dummheit die Menschen gebracht!

Grüße bitte die Mutter. Sie möchte mir ein oder 2 korrigierte Exemplare ihrer gesamten Gedichte auf Irene schicken: ich will mich mal mit ein paar Verlegern in Verbindung setzen. Schulz‘ Euler kenn ich nicht, aber wenn er das Buch verlegen will ohne dass Du etwas zahlen musst, ließe sich darüber schon sprechen. Herzlich Euer Fred

Ich schickte an meinen Freund Kaufmann in München einen Brief, den ich ihn bat, Dir zur Ein­sichtnahme zu schicken. Hast Du ihn erhalten?

Locarno, Confiserie & Patisserie E. Scheurer, 15. Januar 1919

Liebe Mutter, lieber Vater,

ich schreibe Euch mit schwerem Herzen. Ich war eben beim Kindlein. Es geht ihm gar nicht gut. Ein plötzlicher Witterungswechsel ist eingetreten, und der ist ihm gar-nicht gut bekommen. Der Arzt war mehrmals da. Er ist der Meinung, dass ihm an Lunge, Herz usw. nichts fehlt: die Temperatur hat sich auf die Verdauungsorgane geschlagen. Es verdaut schlecht und nimmt nur ungern, was man ihm gibt: Milch, Tee, Haferbrei, ich weiß nicht was. Ich habe mich damit einverstanden erklärt, falls der Arzt es für nötig und möglich hält, ihm sofort eine Amme zu geben. Das heißt: man kann es nicht zu einer Amme geben, denn es braucht ja alle mögliche ärztliche Aufsicht und Pflege vorläufig, die den Ammen hiesiger Gegend nicht geläufig ist: man müsste eben eine Amme ins Haus nehmen. Die Kosten würden sich natürlich auf das circa 3 fache der jetzigen belaufen, ich könnte sie auch allein nicht auf mich nehmen, ich habe Euer Einverständnis als selbstverständlich vorausgesetzt, als ich die Schwester zu allem autorisierte, was der Arzt für nötig befinden würde. Wir wollen doch alles tun, um uns das Kindlein zu erhalten. Der Gedanke, Irenes Opfer könnte für das Dies­seits umsonst gebracht sein, ist grauenhaft und ganz geeignet, mich zu zerfleischen und zu entgeistern. Und vor acht Tagen ging es dem Kind so glänzend! Es lachte schon.

Mich hat der Gang nach Ascona wieder so müde gemacht. Ich war auf dem Rück­weg am Friedhof, ich wollte Irene bitten, ihr Kind uns doch zu lassen – denn was für eine irdische Zukunft bleibt uns noch? – aber das Friedhofstor war geschlossen und ich stand draußen vor den Eisenstäben wie im Gefängnis. Euer Fred

Locarno-Monti, 16. Januar 1919

Lieber Vater,

ich sandte Dir die gesamte Bolschewikiliteratur aus meinem Besitz. Da sie zum Teil verboten, zum Teil überhaupt nicht mehr aufzutreiben ist, bitte ich Dich, sie mir auf­zuheben: ich gedenke nämlich, sobald ich zur Ruhe komme, eine kleine »Psychologie des Bolschewismus« zu schreiben und benötige dafür die Schriften. Bitte quittiere mir ihre Ankunft. Ich sandte Dir:

1. ) Lenin u. Trotzki, Krieg und Revolution
2. ) Trotzki, Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Frieden
3. ) Trotzki, Arbeit und Disziplin werden die Sowjetmacht retten
4. ) Lenin,  Der Kampf ums Brot
5. ) Lenin, Der Kampf um die Sowjetmacht
6. ) Viator, Die äußere Lage Russlands
7. ) Tschitscherin, Der rote und der weiße Terror
8. ) Kossowski, Um den Bolschewismus
9) Burzew, Seid verflucht Ihr Bolschewiki
10.) Erlebnisse der Russlandschweizer in Russland

Seitdem die Sowjetmission aus Bern ausgewiesen ist, hat auch ihr Verlag (Promachos) aufgehört. Die Bücher haben also schon ungeahnt schnell nicht nur effektiven sondern auch bibliophilen Wert erlangt. Ich sende Dir nun noch das anarchokommunistische Programm Kropotkin’s (der von den Bolschewiki ermordet sein soll); er ist noch weiter links als die Bolschewiki, soweit ich bis jetzt urteilen kann.

Die letzte zusammenhängende Schrift Lenins, ein ganzes Buch, das sein System enthält: „Staat und Revolution war“ grade angekündigt, als die Berner Mission hinaus musste. Es wäre wohl das Interessanteste gewesen: Lenin hat sich im Lauf des Jahres nach rechts entwickelt. (Eine naturgeschichtliche Notwendigkeit: jede Regierung wird nach und nach konservativ.) – Schade, dass ich bei der Sitzung, wo Unterleitner sprach, nicht dabei war. Ich habe mit großem Interesse Deine Ausführungen gelesen … vielleicht hätte ich auch zum Wort gegriffen. (Vermutlich würde ich zu abstrakt sprechen für das Publikum.) – Übrigens ist das Spartacusprogramm im Druck erschienen mit Gegenargumenten im Verlag von Hermann Bousset, Verlag der Jugendlese Berlin S.W. 61. – Eure Mithilfe bei meinem Bücherkatalog ist mir erwünscht: ich sende Euch mein „Arbeitsprogramm“ und Ihr werdet sehen, dass Euch auch einiges zu helfen möglich ist. Wie schmerzlich ich Irene auch vom Materiellen vermisse, brauche ich nicht zu betonen. Meine Kleider etc. sind ganz durcheinandergekommen, und ich werde wohl als Bettelmann und halb zerlumpt bei Euch erscheinen. (Die Euren sind gut verpackt mit Hilfe Frl. Mendwyler’s.) Im März. Denn ich möchte den Katalog im Rohbau noch fertig machen und vor allem bei Euch nicht krank werden, wenn es kalt ist: nicht meinetwegen, das wäre mir gleich, sondern Euretwegen. Ich möchte Euch nicht belasten mit einem pflegebedürftigen Fred

Locarno, 18. Januar 1919

Liebe Eltern,

ich war beim Kindlein: es geht ihm besser. Ich atme wieder auf und hoffe wieder. Es trinkt wieder und schreit auch wieder. Einen Tag lang war es ganz still und nahm auch nichts mehr. – Es wird Euch interessieren: Der Oberbefehlshaber der Spartakisten in Berlin war niemand anders als Drach. Er soll sich, nach dem Berl. Tagebl. und Neue Zürch. Zeit, zu urteilen, sehr scharmant benommen haben. Ich war Monate lang mit ihm zusammen in Davos. Ich erinnere mich jetzt mit besonderer Bezüglichkeit einer Unterredung zwischen ihm und Grimm – dem Schweizer Sozialisten – in Lugano, Herbst 1917, der ich beiwohnte. Herzlich Euer Fred

Locarno-Monti, 20. Januar 1919

Liebe Mutter,

ich danke Dir, dass Du mich ein wenig lieb hast. Es sind so wenig Herzen, die mit mir schlagen. Nur wer mich liebt, kennt mich auch. (Ich ruhte so sanft in Irene: sie kannte mich bis in meine tiefsten Tiefen und höchsten Höhen, denn sie liebte mich.)

Du würdest die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn Dir mein Bild, gezeichnet von meinen freundlichen Feinden, vor die Augen käme: Konjunkturschreiber, mammonistischer Literaturschmock, Erpresser, Heiratsschwindler und Zuhälter: das wären noch die mildesten der mir gewidmeten Beiworte. Erschreckst Du nicht – vor mir? Oder – vor ihnen? – Ich bekam heute drahtliche und briefliche Aufforderung im Februar »drüben«: in Mannheim, in München, Berlin, vielleicht auch Kiel, Essen, Breslau, Dresden zu sprechen. Ich bin oft Feuer und Flamme dafür – und dann wieder Asche und Ruß. Bin ich robust genug zum „Volksredner“? Ich werde die Arme erheben – und plötzlich wird eine steinerne Wand da sein und ich werde in den Stein reden. Werfel würde diese Wand mit seinem Atem umblasen. Lenin sie mit seiner Faust zerhacken. Aber ich: ich werde hilflos dastehn: der fremde Zweifel an mir wird mich verzweifeln lassen. Ich werde jedem Recht geben, der mir Unrecht gibt. Ich stehe – wie oft! – auf der Seite meiner Feinde. Ich billige ihnen die milderndsten Umstände zu. Ja: es wird mir leichter, sie als mich zu lieben. Der Glaube an den Tao macht sanftmütig und demütig. Früher war ich ein brüllender Löwe, jetzt bin ich weiß Gott ein Schaf geworden …

In Frankfurt am Main erscheint eine neue Flugblattreihe zur Revolution (Verlag Tiedemann u. Uzielli). Ich hoffe, dass auch von mir ein Blatt erscheinen wird, zur Schuldfrage. Man schrieb mir, und ich sandte heute das Manuskript. Manchmal, wenn ich meine Gegner lese, dann meine ich, ich sei ganz allein am Krieg schuld, weil ich am 4. August 14 das Kriegsfreiwilligenlied schrieb.

Ich finde, dass „man“ in Deutschland ganz allgemein die Lage falsch beurteilt: einfach, weil man mit der Dauer dieses kommenden kapitalistischen „Friedens“ rechnet. Deutschland und Russland sind allerdings fertig, aus, erledigt – aber ich sehe die Entente ebenfalls vor dem Zusammenbruch. Sie haben das Menetekel des Brester Friedens nicht beachtet – jetzt werden sie selbst an einem bresthaften Frieden krepieren. In was für eine wilde Welt sind wir armen Schacher geboren! Während wir im Sumpf ersticken, darf Irene selig lächelnd über ihm bei den Gestirnen schweben. Ich werde mich freuen, wenn Deine Gedichte an sie neu erscheinen. Als Einleitung kämen vielleicht die paar Worte in Betracht, die ein Bekannter von mir ihr gewidmet hat. (Sie sollten im Berl. Bors, erscheinen, sind dann aber nicht erschienen: ich hab sie mir abge­schrieben, lege sie hier bei, erbitte sie aber nach Abschrift zurück.) Sie nennen allerdings meinen Namen. – Oft lese ich Irenes Briefe an mich. Sie sind so schön, dass ich schon dachte, man solle sie später einmal, wenn ich gestorben bin, wie eine kleine Bibel der Liebe drucken lassen. Sei umarmt von Deinem Fred

Locarno-Monti, 23. Januar 1919

Liebe Mutter,

ich war jetzt oft beim Kindlein; heut fand ich es viel wohler als vorgestern, auch runder im Gesicht, und es machte ganz große Augen, als es mich sah. Sicher strengte sich sein kleines Gehirn beträchtlich an, herauszubekommen, wer das wohl sein könne, der sich da über die Wiege beugte. Wie das mit der Amme wird, weiß ich noch nicht. Was die Kosten betrifft, so nehme ich Euren Vorschlag, den Überschuss mit mir zu teilen, dankbar an. (Meinen Vater möcht ich, vorläufig wenigstens, nicht wieder angehn: er hat mir kürz­lich zwei Mal geschrieben, dass er mir schicken wird, was er vermöchte, und er ist ganz ehrlich zu mir, und gar kein Mammonist, aber mehr könne er nicht schicken.) Ich will auch versuchen, für die Zeitungen wieder einiges zu schreiben. (In deutschem Geld be­trachtet, zahlen sie ja sehr gut: für das kleine Neujahrsgedicht von 12 Zeilen hat das Berl. Tagebl. 35 Mark geschickt, und die Vossische Zeitung hat für den Vorabdruck eines Brackekapitels von 4 Feuilletonspalten 100 Mark geschickt. In Francs schmilzt das ja immer sehr zusammen.) – Heut scheint mir der erste kalte Tag. Ich hab tüchtig eingeheizt. Aber der Ofen rauchte, und ich saß zuerst wie in einem Rauchfang. Wenn ich die Landschaft betrachte, so kann ich gar nicht begreifen, dass Winter gewesen ist oder noch werden soll. Es sieht noch ganz genau so grün, braun und violett aus wie im September. – Irene trag ich immer in mir. Abends rede ich mit ihr in unserer Sprache. Manchmal kommen dann Momente, wo ich spüre, dass gar keine Wand zwischen uns ist: Herz liegt an Herz. Dein Fred

Der Philosoph Bloch, die Dichterin Else Lasker-Schüler, der Dichter Bruno Frank schrieben so leidenschaftlich lieb von Irene, ich muss Dir die Briefe mal senden. Sämtliche Rechnungen, mit Ausnahme der Grabmiete, sind nun bezahlt.

Locarno-Monti, 28. Januar 1919

Liebe Mutter,

ich hoffe, dass es dem Kindlein weiter gut gehn wird. Das Wetter ist allerdings schon wieder umgeschlagen: der Winter scheint jetzt erst kommen zu wollen: heute lag Schnee auf Monti, Schnee auf dem Grabe. – Ich will in den nächsten Tagen nach Lu­gano fahren und mich wegen meiner Reise erkundigen. Von deutscher Seite gibts dies­mal wohl keine Schwierigkeiten – aber vielleicht von schweizerischer. Die Schweiz hat neuerdings wieder zweimal in ganz kurzer Frist ihre Einreisebestimmungen ver­schärft. Selbst Kranke werden nur nach genauester Prüfung ihrer Gründe noch ein­gelassen. Die besten Beziehungen zu schweizerischen Würdenträgern helfen nichts“: (So wartet die Gattin eines Bekannten von mir: der Mann hat in der Schweiz sein Ein­kommen, zahlt hier Steuern, seine Frau ist krank: seit sechs Wochen auf ihren Pass nach der Schweiz. Mit dem schweizerischen Konsul sind sie befreundet!) Ich muss mich also ganz genau vergewissern, ob ich wieder in die Schweiz zurückkann: denn ich habe ja meine Arbeiten, meine Manuskripte, Bücher etc. hier – und das Kind, und ich kann doch das alles im Augenblick nicht mit hinüber nehmen. (Auch die Arbeit am Katalog ist drüben kaum möglich, wenn der Verlag in der Schweiz ist.)

Die Idee mit den Balladen ist gewiss hübsch: aber ich weiß noch gar nicht, wie sich die Verlagsgeschäfte jetzt entwickeln werden. Reiß ist ziemlich skeptisch. Ich habe ja eine Unmenge unedierter Bücher liegen. Auch im Druck sind einige (Nachtwandler, Francois Villon, Der Totengräber), aber ich vermöchte nicht zu sagen, wann sie erscheinen können. (Am ehesten noch der Totengräber. Er soll als erster Irenes Gedächtnis dienen.) – Ich habe mich die letzten Monate wieder viel mit China beschäftigt. Eine Frucht davon (sie fiel vom Orangenbaum … würde der Chinese sagen) sollt Ihr bald kosten. – Warum seid Ihr so böse auf Eisner? Ich finde die Regierung Scheidemann das arroganteste und dümmste, was je über Deutschland geherrscht hat. Da war Wil‘ heim II. gegen diese Herrschaften weiß Gott von Gottes Gnaden … (Auf die Taten der Nationalversammlung bin auch ich neugierig. Dass man den ollen Naumann zum Präsidenten machen will: schon faul: würde der Berliner sagen.) Herzlichen Gruß Euer Fred

Grade dass die Nationalversammlung so „bürgerlich“ ausgefallen ist, stimmt herab. Ganze 24 Mann in der Opposition! 70 hätten mindestens hineingehört!

Locarno-Monti, 29./30. Januar 1919

Liebe Mutter,

mir ist wieder, als hätte ich ein Opiat genommen: heut hab ich in einem Zuge, kaum dass ich es aus der Bibliothek empfing, das Hauptwerk derTao-ssee-Literatur (der Epigonen Laotse’s) übersetzt: Das Buch der Vergeltung genannt. (Eine deutsche Übersetzung existiert bisher nicht, und ich bin besonders stolz, dass ich es ganz ohne Dictionnaire zustande gebracht habe. (Jetzt, beim Feilen, brauch ich ihn natürlich.)) Ich schick es Dir, sobald ich’s hab tippen lassen. Ich bin wieder ganz in China. Auch Su’tung’po und die andren großen lyrischen Meister der Chinesen sind mir wieder brüderlich nahe gekommen. Besonders hat mich Su’tung’po’s (er lebte um 1000 n. Chr.) Blumenschiff hingerissen. Ich halte es für das schönste Liebesgedicht der gesamten Weltliteratur, Goethe und Platen nicht ausgenommen. Ich habe einen Artikel nur über dies zehn-zeilige Gedicht geschrieben, Du erhältst ihn dann. Ich freue mich, dass Ihr Anteil nehmt an meinen Gedanken. Wem soll ich sie sonst sagen? Die Welt sieht nur das Bild. Ihr mags genügen. Die Rezensionen des Bracke sende ich Dir auch, mit der einen Ausnahme vom Berl. Tagebl. sind sie ausgezeichnet. – Auf einmal werd ich müde. Mein Kopf fällt schon nach links (die böse Seite: nach der Definition des Tao’ssee – übrigens auch der christlichen Mythologie – ists darum, weil links … das Herz sitzt?)

30.I. 1919

Das Allerneuste wisst Ihr gewiss noch nicht: dass die Berliner Regierung mich zum General ernannt hat, d. h. zum Kommandanten von Groß Berlin. Ich muss Euch ein‘ mal die Zeitungsnotizen darüber schicken. Die ersten hab ich leider achtlos weggeworfen, obgleich ich schon eine dunkle Ahnung hatte. Aber gestern kam eine Zeitung und da las ich, schon gar nicht mehr verwundert: Der Dichter als General. Und dann: Klabundals Revolutionsgeneral (Parallele: Moreau …) Seid umarmt von Eurem Fred

Locarno-Monti, 2. Februar 1919

Liebe Mutter,

ich bin mit Arbeit überhäuft wie ein Tagelöhner (nur dass der äußere Lohn der aufgewandten Mühe kaum entspricht). Der Katalog. Ständige Mitarbeit an den kritischen Zeitschriften wie Die neue Bücherschau, Bücherwurm etc. Repliken und Attacken da und dort. Dichtungen in Schweizerland, Wieland, Neue Rundschau, Weisse Blätter, Rarität, Junges Deutschland, u.s.w., u.s.w. Meine Übersetzungen aus dem Chinesisch – Französischen. Das Flugblatt. Plan eines Jahrbuches der reinen Philosophie, der reinen Dichtung (antipolemisch, antipolitisch, was die apriorische Seele betrifft). Dazu Korrekturen aller Art. Der Villon ist im Druck, erscheint demnächst. Der Totengräber wird gesetzt. Den Cherubim hab ich Reiß für Weihnachten vorgeschlagen: als lyrisches Werk größten Umfangs, enthaltend: die Sonette, die Oden, die Distichen, kl. Lieder, die Balladen und die chinesischen Liebesgedichte. Irene soll sich über den ihr errichteten Tempel nicht beklagen dürfen. Alles, alles, alles ist ihr gewidmet. – Die gewünschten Bücher und noch einige mehr werdet Ihr erhalten.

Ich sende Dir dieser Tage Die Dichtung, eine Publikation des Rolandverlages (mit der ich übrigens nichts zu tun habe). – Gefällt Dir Katharina?.

Anbei für Deine Autographensammlung einiges. – Die neue Verordnung für Geld hab ich noch nicht begriffen. Wenn man einer Person nur 150 M. (= 75 Frcs!) schicken darf: davon kann sie doch nicht leben! – Mit der Amme hat es vorläufig noch gute Weile: erstens ist keine aufzutreiben, und zweitens wäre sie im Augenblick, nach Ansicht des Arztes, nicht notwendig. Ich war heute wieder drüben; die Sorge bleibt uns ja noch. Eine Erkältung ist eben auch durch eine Amme nicht zu überwinden. -Ich selber bin wieder einmal seit drei Tagen in unleidlicher Stimmung. Offenbarungen darfst Du in diesem Brief daher nicht erwarten.Dein Fred

Locarno, 5. Februar 1919

Liebe Mutter,

Ich schätze Dich damit einverstanden, dass Du der Dame vier Deiner Gedichte, die ich ausgewählt habe, gegen ein Honorar von 100 (hundert) Mark überlässt? Es sind die Gedichte: Passion, Letztes Lied, Erfüllung, Mein Kind mein Frühling unter dem Gesamttitel Gedichte einer Mutter. Du hast nur mir zu antworten. In Eile, für heute herzlich Dein Fred

Lugano, Huguenin, Confiseur – Glacier, 11. Februar 1919

Liebe Mutter,

aus Cafehausrauch und Cafehausmusik heraus schreibe ich Dir. Ich bin in Lugano, meines Passes wegen. Man hat mich sehr aufmerksam und zuvorkommend behandelt und mir einen dreimonatigen Pass mit Rückvisum in die Schweiz sofort bewilligt. Jetzt fehlt nur das Rückvisum der Schweizer Behörden – und ich kann am ersten März reisen, und vielleicht Mitte März schon bei Euch sein. Mit dem Legationsrat von M., einem charmanten Vertreter des Preußentums, hatte ich eine halbstündige Besprechung: er schien mir allerlei zuzutrauen und bat mich nur, nicht etwa die spartakistische (!) Leitung zu übernehmen. Er hatte den Friedensverhandlungen von Brest bei‘ gewohnt und sprach mit Respekt von den Bolschewiki. Ich erklärte ihm, dass ich der Regierung Scheidemann-Ebert absolut antipathisch gegenüberstehe, aber ebenso antipathisch den Methoden der spartaciens, worauf er dann die Verantwortung zu über‘ nehmen sich getraute für meinen Pass. Ich werde in Mannheim, Karlsruhe, Frankfurt, München (Galerie Caspari), Berlin, Elberfeld, Breslau sprechen: jedenfalls hab ich mir das Programm so zurecht gemacht. Ich werde aus meinen Dichtungen lesen, im Arbeiterort Mannheim aber über … die chinesische Staatsphilosophie reden …

Beifolgende Karte betrachtet Euch recht aufmerksam: ich bin heute (effektiv) in Italien gewesen … Aber diese Italienreise hat mich an einem Tag so viel gekostet wie sonst eine wochenlange Italienreise nach Venedig oder Mailand. Scherz beiseite: in Campione auf italienischem Boden (in der Schweiz ists ja verboten) ist ein luxuriöses Kasino sozusagen zum Frieden am i. Februar eröffnet worden: mit genau den gleichen Attraktionen wie in Monte Carlo. Beim Anblick des grünen Tuches ist meine alte SpielIeidenschaft wieder erwacht: ich habe eine äußerst hohe Partie Roulette mitgespielt und, da ich leider nicht rechtzeitig aufzuhören verstand (ich hatte schon die Tasche voll Hundertfrancstücke!), meine gesamte mitgenommene Barschaft verloren. Das war eine Eselei, oder mehr als eine Eselei: denn ich sollte endlich vernünftig geworden sein, noch dazu jetzt, wo man so schwer Geld aus Deutschland bekommt, die Valuta so schlecht steht, und vom „Verdienen“ überhaupt gar keine Rede sein kann. Seid Ihr mir böse?

Ihr habt Recht. Irene fehlte auch hier. Aber ich will Euch versprechen, nicht mehr zu spielen: anstatt ihr. Dabei hab ich die unbezahlte Rechnung ihres Grabes (160 Francs) in der Tasche (das einzige, was ich noch nicht bezahlt habe, sie kam erst gestern). Ich habe also ihr Grab verspielt – und meines dazu … (Im Ganzen besitze ich, außer meinen Schulden, noch 500 Fr.) Und so etwas will anderen die chinesische Staatsphilosophie beibringen. Es sollte bei sich selber anfangen … Euer armseliger Fred

Locarno-Monti, 14. Februar 1919

Lieber Vater,

aber – aber! – wie kannst Du nur all den Unsinn glauben, der in der bairischen Hetzpresse über Eisner verbreitet wird! Eisner hat das Wort von den Kolonien nie gesprochen, und die Geschichte von den betressten Dienern ist nun gar zum Lachen. Es wird in der deutschen Presse so entsetzlich weiter gelogen, dass der Himmel sich verdunkelt. Schon steigt der Schatten Ludendorffs wieder über die Mauer, und wie bald wird er persönlich oder jedenfalls seine Reinkarnation wieder da sein, wenn man sich nicht besinnt. Ich finde die deutsche Nationalversammlung in ihren ersten Äußerungen kläglich: dass man David (!) zum Präsidenten, Ebert zum Reichshaupt machte, Scheidemann (!!) zum Ministerpräsidenten! Wir werden uns hoffentlich bald persönlich darüber in die Haare geraten können. – Ich bin sehr müde und sehr herunter seit fünf Tagen. Ich denke aber bis zum ersten wieder obenauf zu sein.

Ich sehe in mich hinein wie in einen ausgebrannten Vulkan. Die Verse, die Szenen, die Novellen: Das sind so die letzten Lavastücke, die aus dem Krater fliegen. In ihnen ist meine letzte Glut. Ich bin wie der Fechter, der den Arm mit dem Schwert heben möchte: aber er kann nicht mehr: die Sehne ist ihm durchschnitten. Ich freue mich, dass ich Euch ein wenig sein kann. Und ich danke Euch, dass Ihr mir Wärme entgegentragt: ich friere trotz des Südens. Ich war so verwöhnt von Liebe. In Liebe und Gegen­liebe drehte sich der Kreis. Nun ist es so leer um mich. Einöde und Wüste. Schakale und Geier. Und die Oase kann ich nicht mehr finden. – Soll ich wieder zum Leben erwachen, muss man mich wie ein Kind von fünf Monaten in den Brutofen setzen. –

Ich sandte Euch eine Menge Drucksachen. Die neuen Bestimmungen über die Ver­schickung von Geld sind mir noch dunkel. Von 150 M. (75 Frc!) kann doch kein Mensch leben! Ich habe aber von Reiß noch nicht das Februargeld, vom Rolandverlag Januar- u. Februargeld noch nicht erhalten. Das sind circa 800 Mark zusammen. Diese Unsicherheit ist natürlich nicht beruhigend für jemand, der von der Hand in den Mund lebt. Es würde mir bitter ankommen, hier weggehn zu müssen. Seid umarmt von Eurem Fred

Locarno-Monti, 19. Februar 1919

Liebste Mutter,

heut ist der erste Frühlingstag, und heute muss ich das Kind begraben. Ich werd in Eurem Namen einen kleinen Kranz, Maiglocken und Nelken auf den kleinen Sarg legen, und auf Irenes Grab einen Blumenstrauß. Das Kindlein wird neben seiner Mutter zu liegen kommen: in jenem Grab, das ich eigentlich mir zugedacht hatte.

Als ich am 15ten in Ascona war, da hatte ich nur mehr geringe Hoffnung. Ich habe, als ich nachts nach Hause ging, zum Mond und zu den Sternen gebetet. Als ich dann in meinem Zimmer war und von einem inneren Sturme beinah umgeweht wurde, da hab ich es mir nicht als gutes Zeichen gedeutet. Ist es noch nicht genug des Leides, mit dem ich wie Hiob überhäuft bin? Was für eine furchtbare Schuld muss ich büßen? Schuldig’unschuldig taumeln wir durchs Leben.

Warum bin ich verdammt ach ohn Erröten

Die Wesen, die ich lieben muss, zu töten?

In einer Stunde der Leidenschaft hab ich den liebsten Menschen dahingemordet, und einen zweiten, und mich dazu. Die Trinität des Todes. Aber diese Leidenschaft war eine heilige Leidenschaft – wie unrettbar verstrickt sind wir in Himmel und Hölle zugleich: Und aus der heiligen Leidenschaft wurde: eine bittre Leidenschaft, an der ich nun kümmerlich mich dahinschleppe.

An was das Kindlein gestorben ist, ist mir so ganz nicht klar. Wohl an seiner Zartheit und Schwäche. Der Verdauungsapparat und der Blutumlauf funktionierten schon seit einer Woche nicht mehr recht. Dazu kamen Schluckbeschwerden, an denen es sichtbar schmerzlich litt. Ich fürchte fast, es hat Kehlkopftuberkulose gehabt, ob‘ gleich der Arzt die Tuberkulose verneint. Es war so reizend geworden die letzte Zeit, man sah, wie es begann, ein Mensch zu werden. Es unterschied die Leute schon, sah von einem zum andern, und wenn jemand ins Zimmer trat oder die Türe ging, bc sonders wenn die Schwester kam, machte es sich durch Laute bemerkbar. Du ärmste Mutter hast nun Dein Kind zum zweiten Mal verloren – und ich die Hoffnung auf eine zweite Irene. Lasst Euch beide umarmen von Eurem Fred

Locarno-Monti, 20. Februar 1919

Liebe Mutter,

ich sandte Dir heute eine ganze Reihe neuste Literatur, die Dich vielleicht interessiert. (Nicht zum Rezensieren!) Ich bekomme ja immer eine Unmenge ins Haus geschickt. (Hülsenbeck und Hardenberg gefallen mir: das übrige: dubios und unansehnlich.) In der Sammlung Das neuste Gedicht wird auch von mir demnächst ein Heft erschei­nen. Ich dachte zuerst die Oden auf Irene zu senden. Aber schließlich schienen sie mir zu schade dafür: ich will den Cherubim nicht auseinanderreißen, ich hoffe, dass er im Herbst bei Reiß erscheinen kann. So gab ich Montezuma und ein groteskes Gedicht Die gefiederte Welt zur Auswahl, legte auch Entwürfe von Titelbildern bei, die ich selbst „zeichnete“. – An die Neue Zürcher Zeitung schickte ich heute einen Artikel: „Der Völkerbund der Alliierten“. Ich finde das „Völkerbund“programm lachhaft. – In „Der Revolutionär“ Nr. 1 erscheint ein Artikel von mir (geschrieben November 18): Hör es, Deutscher! In der Breslauer politischen Zeitschrift: Die Erde: Der Mann mit der schwarzen Maske. Im Neuen Merkur und den Münchner Blättern Gedichte, in den Menschen – Dresden eine Rechtfertigung: Pro domo (auf verschiedene Angriffe). Du siehst: die junge Literatur rührt sich wieder kräftig – und ich in ihr.

(Das ist der vierte Brief in drei Tagen!) Seid beide umarmt von Eurem Fred

Das deutsche Geld steht so schlecht (49!), dass ich die Briefe nicht mehr eingeschrieben schicken kann!

Das dunkle Schiff (Gryphius) erscheint in neuer, vermutlich gekürzter Ausgabe: Falls Du’s noch nicht hast: besorg Dir ein Exemplar der ersten Auflage (Rolandverlag).

Locarno, Casino Kursaal, 25. Februar 1919

Liebe Mutter,

decke ich Euch nicht gradezu mit weißem Papier zu, so viel schreib ich Euch? Nun ist der Frühling da: ich laufe wieder mit Hemd und Hose herum, komme mir aber fast wie in einer Maskerade vor. Die Abende sind schon so hell und wir essen wieder auf der Steinterrasse vor dem Hause. Ich gehe jeden Abend nach Locarno herunter und dann die Nacht durch die absolute Dunkelheit heim. Die Dunkelheit tut so wohl. Ich fühle mich längst nicht so einsam und allein wie in meinem Zimmer. In diesen Tagen vor einem Jahr sind wir hergekommen.

– Ich bin noch immer sehr gehemmt: in Gedanken und Gebärden. Manchmal ertappe ich mich bei einer Geste oder einem Schritt, mit dem ich nichts anzufangen weiß. So auseinander bin ich und so meiner gar nicht sicher. Minutenlang blieb ich neulich auf dem Weg an einem Brombeergesträuch stehn: ohne zu wissen warum, und erst nachher fiel mir meine Hilflosigkeit ein und dass solche Schwäche schon hart die Grenzen der Psychopathie streift.

Viel Freude machen mir die ausgezeichneten Besprechungen des Bracke, ich sende sie Euch nächstens. Sie sind mir eine geringe Bestätigung, dass ich nicht zufällig, sondern notwendigerweise »da bin«. –

Ich hoffe, Du autorisierst mich auch sonst, Deine Gedichte (natürlich nur in anständigen Revuen) zu publizieren. Ich denke, die Publikation in der Dame macht Dir einiges Vergnügen. Immer Euer Fred

Eben im Cafe las ich im Berl. Tagebl. Vom 21. ebenfalls ein Brackefeuilleton.

Locarno-Monti, 7. März 1919

Liebe Mutter,

seit drei Wochen höre ich nichts mehr von Euch. Ich schrieb Euch so viel, und ich weiß gar nicht: seid Ihr krank oder regiert Spartacus oder sonstwer in Passau, dass die Post nicht funktioniert? Ich hörte Dich so gern sprechen, Irene sprach aus Dir. Du hast mir auch wegen Deiner Gedichte, die ich in die Dame bringen wollte, noch nicht geantwortet. – Das Grab wird nun sommerlich hergerichtet: blühende Blumen werden gepflanzt, und an der Mauer empor: Efeu. Soll ich eine kleine Tafel für das Kindlein anbringen las-sen? Ich glaube, es ist nicht nötig: es würde nicht hübsch aussehn, da der Platz so klein ist, und wir wissen ja, wer uns da ruht. Der Arzt meinte noch, es wäre an Atresie gestor­ben: das heißt an der unvollkommenen Ausbildung einiger innerer Organe (Magen, Darm), und ein längeres Leben wäre ihm niemals zu prophezeien gewesen. – Auch die unverrückbarsten wissenschaftlichen Tatsachen sind kein Trost: er mag nun Recht haben oder nicht: es hat gelebt – und lebt nicht mehr … dies ist unsre Erfahrung …

Der Totengräber erscheint im April. Ich widme ihn auch in der öffentlichen Ausgabe Euch – falls Ihr nicht protestiert. Ein grotesksentimentales Gedicht Die gefiederte Welt, halb parodisch, erscheint ebenfalls bald. Ferner der Villon. –

Ich warte und warte auf das Visum aus Bern. Seit sechs Wochen schon. Ich habe eine Anzahl Möglichkeiten, in Deutschland zu lesen. – Gestern kam die Nachricht vom Abbruch der Waffenstillstandsverhandlungen, die mir nicht unerwartet kam. Die Entente hatte sich ja schon längst als eine imperialistisch-kapitalistisch-sadistische Räuberbande demaskiert. Nun: ihre eignen Bolschewisten werden ihr eine Rechnung präsentieren, die sie sich schwerlich vermutet hat. Seid umarmt Euer Fred

Bellinzona, 21. März 1919

Birraria bavarese (!!)

Liebe Mutter,

in Bellinzona, in einer alten birraria. 8 Tage bin ich nun von Hause fort. Immer wieder versuch ich, vor mir selbst davonzulaufen. Die Physis rebelliert gegen die Psyche. Aber es ist ein aus- und einsichtloses Beginnen. Heut geh ich heim. Hoffentlich find ich viel Post: Briefe auch von Euch.

Lieber heute als morgen kam ich nach Deutschland. Aber in Bern, auf der Frem­denpolizei, ist man unhöflich und rücksichtslos geworden: aus reiner Bolschewikiangst. Jeder Reisende ins Deutsche Revolutionäre wird beargwöhnt. Und nun gar: der Literat! Man hat mir 6 Wochen gar nicht – und dann falsch geantwortet. Ich tele­grafiere, ich schreibe express: bisher rührt sich nichts. Die Schweizer sind Preußen geworden – (und die Entente militaristisch).

Die Nationalversammlung: kläglich. Rationalversammlung. Unbeseelt. Der alte Reichs- und Seichstag. Ich schreibe ein Pamphlet dagegen.

Ich empfehle Euch: (schick es Euch): Hauptmann Deutschle: Ein deutsches Kriegsbuch, das mir weit besonders und besser zu sein scheint als die üblichen Latzko’s und Frank’s. Immer Euer Fred

Ich empfehle Euch …: Karl Zimmermann (d. i. Käthe Zimmermann-Jatho). Der Hauptmann Deutschle. Buch für Enkel. Zürich: Rascher, 1919; Andreas Latzko, Menschen im Krieg. Zürich: Rascher, 1917; ders., Frauen im Krieg. 1918; Bruno Frank, Strophen im Krieg. Ein Flugblatt. München: Langen, [1915]

Locarno-Monti, 21. März 1919

Liebe Mutter,

von Deinen neuen Gedichten hab ich eines, das mir sehr gefiel, Das goldne Gespinst be­titelt und an den Orchideengarten geschickt. Die andern leg ich Dir hier wieder bei: sie scheinen mir irgendwie nicht fertig. Du musst noch an ihnen sinnen und feilen. Die Dame hat die 4 Gedichte akzeptiert, das Honorar aber noch nicht gesandt. Du erhältst es dann sofort. – Irenes Grab hab ich wieder neu herrichten lassen: an der Mauer hab ich Efeu pflanzen lassen und Stiefmütterchen zwischen den Steinen. Auf den Sockel: Hyazinthen.

Heute ist, sonderbar verspätet, auf all die blühenden Mandelbäume und Mimosen der erste richtige Schnee gefallen in diesem Winter. Er ist liegen geblieben und es schneit noch immer.

Gestern schrieb mir Reiß, Die Nachtwandler werden im Herbst erscheinen und ent­weder Der Cherubim oder Silvia (der zweite Teil von Irene). Auch Silvia … ist ja Irene. Ich hab die Nachtwandler heute noch einmal durchgeblättert und bin wieder tief erschrocken über meine unheimlichen Ahnungen, die ich schon 1917 hatte. So un­entrinnbar sind sie alle eingetroffen, und so muss ich auch glauben, dass meine eigene Todesahnung mehr als ein dunkler Wunsch und ein dunkles Spiel ist.

Im Revolutionär erscheint ein 2ter Artikel von mir: Der Wiedertäufer. Ferner ein Pamphlet gegen die Nationalversammlung, das Euch recht wenig gefallen wird. Es ist, noch dazu, im Berliner Jargon geschrieben.

Die 100 Fr. hab ich erhalten. Schönsten Dank. Wann werd ich Euch besuchen können? Man ist entsetzlich unliebenswürdig geworden gegen die Fremden und seit 6 Wochen telegrafiere und schreibe ich mich expreß halb zu Tod nach Bern. Immer Euer Fred

Locarno-Monti, 27. März 1919

Liebe Mutter,

Ihr könnt Euch einen Begriff machen von der Unhöflichkeit der schweizerischen Behörden, wie sie sie neuerdings zu pflegen scheinen, wenn Ihr vernehmt, dass ich seit 7 (!) Wochen auf eine Antwort aus Bern (Eidg. Fremdenzentrale) wegen meiner Reise warte. Alles Telegrafieren und Expresschreiben hilft nichts. Dies ist der einzige Grund, dass ich noch nicht in Deutschland bin. Meine Vortragsreise werde ich wohl aufgeben müssen: im Mai wirds zu spät: und nur sehr schmerzlich laß ich sie fahren: Hamburg, Mannheim, Coburg, München, Karlsruhe etc. hatte ich schon abgeschlossen. – Hier ist das schlechte Winterwetter jetzt im Frühling eingekehrt. Es ist kalt und nass. Ein paar Tage fühlte ich mich auch nicht wohl, einen Tag lag ich im Bett. Irgendetwas Vernünftiges oder Schönes hab ich die letzten Wochen nicht getan. Ich habe nur die Oden auf Irene gesichtet und durchgefeilt und denke beinah daran, sie als kleinen Sonderband zu publizieren: meine literarischen Freunde sind der Ansicht, dass sie das Reichste enthalten, was ich an Lyrik geschrieben habe. (Es sind jetzt 22.)

Was hältst Du davon? Montezuma erscheint als kleines Sonderheft im Neusten Gedicht, Der Totengräber in einer vermutlich einmaligen Ausgabe von 500 Exemplaren im Verlag „Die schöne Rarität“ – Kiel, Preußerstr. 19. Zwei Exemplare kann ich Euch geben. Wenn Ihr mehr wollt, tut Ihr gut, sie vorauszubestellen. (Sie kosten 2,50 nur.) Um das Blumenschiff kämpfen Inselverlag und Rolandverlag. Ich begreife nicht, wo all das Papier herkommt bei dem offenbaren Papiermangel. – Was die Rezensionen betrifft: so braucht Ihr nur (kürzest) zu rezensieren, was positive Werte bietet. – Emp­fehlt mich Kubin. – Das deutsche Geld steigt und fällt wie die Woge des Meeres. In 4 Wochen wird die jetzige Regierung gestürzt sein – oder glaubt Ihr anders? Ich sehe schon die grauen Schatten der Unabhängigen an der Kinoleinwand des Nationaltheaters auftauchen. (Ich hab ein Pamphlet gegen die Nationalversammlung geschrieben: Das wird mir vermutlich neue „Freunde“ schaffen …)

Seid umarmt von Eurem Fred 

Locarno, 31. März 1919

Liebe Eltern,

einen kurzen herzlichen Gruß aus einer Birraria, wo ich aus lauter Schwermut (und in Gedanken an Wilson …) einen schlechten Americano trinke … Ich freue mich so, ein paar Tage (Wochen?) bei Euch seelisch auszuruhn. Ich habe solches Heimweh. Nach Irene. Heut las ich die Korrekturen vom Totengräber. Die Wunde blutet immer frisch. Immer wieder muss ich lebendigen Leibes mein Leben begraben. Euer Fred

Regensburg, vor 20. April 1919

Liebe Mutter, lieber Vater,

ich bin heut Nacht im Auftrag des 3. Armeekorps im Auto fortgebracht worden nach Regensburg Brigade. Ich bitte Dich, sofort die nötigen Schritte zu unternehmen, die zur Aufklärung beitragen könnten. Ängstigt Euch nicht! Seid umarmt Euer Fred

Nürnberg, 20. April 1919

Liebste Mutter, liebster Vater,

ich bin seit gestern im Untersuchungsgefängnis Nürnberg eingeliefert. Alles weitere, alles bittere, einmal mündlich. Ich weiß nicht, was wird. Ich bin vollkommen hilf- und machtlos. Mehr darf ich nicht schreiben.

Euer unglücklicher und unschuldiger Fred, der Euch umarmt

Nürnberg, 21. April 1919

Ostermontag, Untersuchungsgefängnis Nürnberg

Liebste Eltern,

ich darf nur Tatsächliches schreiben, nichts, was über nackten Bericht hinausginge, ich verschiebe das, was ich so schwer auf dem Herzen habe, für später (wann ist das?), und berichte Euch folgende Tatsachen:

In Passau wurde ich, entgegen der Erklärung des verhaftenden Offiziers, in einem vollkommen dunklen, feuchten und kalten Raum untergebracht, der nichts ent­hielt als eine Pritsche mit Strohsack. Kein Kissen, keine Decke, kein Licht – nichts.

In Straubing wurde ich im Arrestlokal der Cheveauleger untergebracht: kalt, feucht, enthaltend nichts als eine Pritsche mit Sack und Decken. Das Essen: graue Suppe und stinkender Stockfisch war nicht zu genießen. Ein Soldat verschaffte mir einen Pfannenkuchen.

Im Zuchthaus Straubing kam ich in eine sogenannte Krankenzelle, die nichts ent­hielt als ein Lager zu ebener Erde. Es war wenigstens warm. (Geheizt.) Es gab eine gute Suppe, ein paar Kartoffeln, ein Stück Brot.

In Nürnberg kam ich ins Arrestlokal eines Infanterieregiments. Abends ins Untersuchungsgefängnis. Zu Essen erhielt ich den ganzen Tag von früh 5 bis abends nichts als: 1 Glas Schnaps um 5 Uhr früh und ein Stück Brot um 6 Uhr abends.

Meine Nordzelle hier sieht so aus:

ganz kleines Fenster oben. Spucknapf Aborteimer, aufklappbarer Tisch, aufklappbares Lager, sehr hart, dünne Decke.

Aufklappbarer Stuhl.

Zu Essen gibt es früh 7: Kaffee, mittags: Suppe und Kartoffeln. Abends ein Stück Käse. – Die Richter, der Arzt, alle haben Osterferien. Seid umarmt von Eurem Fred

Ich denke an mein Paradies in Monti. Regelt sich die Affäre nicht schleunigst, innerhalb acht Tagen: meine Rückkehr steht auf dem Spiel: meine Wohnung, meine Arbeit, meine Gesundheit, meine Existenz steht auf dem Spiel.

Nürnberg, 22. April 1919

BITTE DRINGENDE HAFTENTLASSUNG FORDERN GEGEN BUERG-SCHAFT ODER KAUTION EUER FRED

Nürnberg, 23. April 1919

Liebster Vater,

jeder Tag, den ich hier bleiben muss, kostet Nerven- und Seelenkräfte, die ich für An­gelegenheiten des Himmels, für solche der Hölle nicht vergeuden möchte. Ich warte fieberhaft auf eine Lösung. Ich kann schwer glauben, dass auf Grund dieses Tele­gramms von einer vernünftigen Justiz Anklage gegen mich erhoben werden kann. Wenn man wegen »Beziehungen zur Räterepublik« verhaften will: dann müsste man ja sämtliche Beamte, Soldaten, Arbeiter etc., die die Ausrufung der Räterepublik effektiv mitgemacht haben, verhaften: das sind doch an die Hunderttausend. Und ich habe mit der Räterepublik an sich doch garnichts zu tun gehabt. Du erinnerst Dich sehr gut meines Ausspruches, den ich in Gegenwart von Kubin getan: schade, dass ich nicht drei Tage früher nach München gekommen bin. Vielleicht hätte ich die Ausru­fung der Räterepublik verhindern können. – Nun das mag eine Überschätzung meines Ansehens und Namens sein: ja, sie ist es ganz gewiss, aber der Ausspruch allein charakterisiert doch meine Stellung zur Genüge. – Ich bin ganz trostlos, dass ich nichts von Euch höre. Von morgen ab gehn ja auch keine Personenzüge mehr. Über die juristische Berechtigung meiner Verhaftung (ich bin noch immer im Militäruntersuchungsgefängnis, ich, ein Zivilist!) gehn auch allerlei Bedenken durch meinen Kopf. Mir ist, als triebe die alte militaristische Ludendorffdiktatur Schindluder mit mir. Als wolle irgendeine intrigante Macht mich martern. – Falls Du keine baldigste Möglichkeit, dass ich freikomme, siehst, so sende bitte: Geld, Bücher, Wäsche. Irene, die Tote, hält mich am Leben. Umarme Irene, die Lebende. Sag ihr, wie dankbar ich ihr bin.

Die Vortragsreise ist ins Wasser gefallen. Ich will Schadenersatzklage erheben. Ich las Euch den letzten Abend Platen. Erinnert Ihr Euch? Exoriar aliquis … Euer Euch liebender Fred

Den Crossner Eltern will ich erst schreiben, wenn ich klarer sehe. Sind Korrekturen gekommen?

Nürnberg, 24. April 1919

Liebste Mutter, liebster Vater,

ich habe Euch viele, viele Briefe geschrieben: aber ich konnte sie ja nicht senden. Meine Gedanken aber waren immer bei Euch, ich fühle Euch ja recht als meine zweiten Eltern, da Ihr die Eltern von Irene seid. Wenn ich fror, hab ich mich gewärmt an der Wärme Eurer Herzen. Ich habe ein „Tagebuch im Gefängnis“ geschrieben, das wird Euch meine mehr vegetierte als gelebte, meine erlittene und erduldete Zeit hier nahe bringen. Herr J. N. Zilcher ist sehr liebenswürdig. Heute brachte er mir Kakes und Pressack. Ich habe ja bis heute immer gehungert. Ich habe mich gleich einmal wieder satt gegessen. Endlich habe ichs auch durchgesetzt, dass ich abends Essen von einem Restaurant geschickt bekomme: ich hatte doch keine Lebensmittelkarten. Herr J. N. Zilcher hat mir auch damit geholfen. Dankt ihm vielmals! Wenn es doch gelänge, mich baldigst frei zu bekommen! Seit heute gehn ja keine Personenzüge mehr. Es ist eine wirre Zeit.

Meine Eltern in Crossen haben seit circa 6 Wochen, von der Depesche abgesehen, nichts von mir gehört. Könnt Ihr ihnen nicht diplomatisch schreiben. Ich möchte, der Schweiz wegen, dass meine Verhaftung vorläufig nicht publik wird, sonst werde ich noch, bei der Bolschewistenfurcht der Schweizer, an der Schweizer Grenze zurück‘ gewiesen. Ich hoffe, die deutsche Presse hat noch nichts berichtet. Ich werde später selbst das Wort ergreifen.

Ich ließ Dich, lieber Vater, bitten durch Herrn J. N. Zilcher, ihm doch für alle Fälle alle meine Sachen sofort zu senden: vor allem die Brieftasche mit all den Ausweisen, auch meinen Koffer, auch alles Geld bitte abzüglich der Auslagen, die Du für mich hast, in einem Scheck auf meinen Namen, damit ichs in die Schweiz mitnehmen darf, das ist meine Hoffnung, dass es mir gelingt, die Erlaubnis zur Rückkehr in die Schweiz zu kriegen, ja meinetwegen sollen sie mich an die Grenze stellen, meine Gefühle für dieses Deutschland sind naturgemäß nicht die rosigsten. Ich wäre selig, überselig, wenn ich erst wieder drüben wäre. In meinem Monte Paradies. Umarme die Mutter. Und tausend Dank für all die Mühe, die Ihr mit mir armem Schacher habt. Immer Euer dankbarst und treu ergebener Fred

Bitte sende meine Post an die Adresse von Justizrat Zilcher! – Wenn ich nur in circa 10 Tagen wieder in der Schweiz sein kann: Ihr wisst, dass eine Schweizer Aufenthaltungsbewilligung, wie ich sie habe, nach einer bestimmten Zeit erlischt. Die Schweiz gibt keine neuen mehr aus!! Ich könnte also nicht zurück!

Das Tagebuch ist auch für meine Crossner Eltern bestimmt. Bitte es ihnen ankündigen, aber noch nicht senden!! Oder vielleicht wartet Ihr mit der Ankündigung auch noch.

Noch eins: im Nachttisch liegt ein kleines Fläschchen, da steht Pyramidön drauf (wegen der Grenzkontrolle), es ist aber Zyankali, das stärkste Gift, drin, bitte es ja gut verwahren, dass nichts mit geschieht!

Die Ausweise: Pass, Niederlassungsbewilligung etc. bitte ich extra, nicht im Koffer zu schicken.

Nürnberg, 25. April 1919

EBEN ENTLASZEN TAUSEND DANK AUCH DIR BITTE ALLE MEINE SACHEN EXPRESZ JUSTIZRAT ZILCHER SENDEN GELD IM SCHECK AUF MEINEN NAMEN U AUSWEISE GESONDERT EINGESCHRIEBEN EXPRESZ. BITTE MICH MORGEN MIT MUTTER ZWISCHEN 8 & 10 ODER 2-4 HOTEL KOENIGSHOF ANRUFEN. BIN SEHR SEHR NERVOES UND ERREGT NOCH IMMER. MOECHTE SOFORT HEIM NACH MONTI. UMARMUNGEN EURES FRED

Nürnberg, 5. Mai 1919

Liebste Eltern,

ich denke mit Wehmut an die schönen Passauer Tage voll einer so zarten und doch sicheren Geborgenheit. Jetzt tobt wieder die wilde Welt um mich, in der [ich] mich früher einmal sehr wohl gefühlt habe, die mich jetzt aber immer wieder anekelt.

Ich bin aus dem Hotel ausgezogen. Ich war nur eine Nacht drin. Ich habe mich diesmal über den Direktor und einen Lümmel von Boy zu sehr geärgert. Ich wohne jetzt bei Dr. Graf, Sulzbacherstr. 80. Ich bekam heute noch einen Brief aus Coburg, in dem man mich dringend einlädt, doch noch zu kommen. Ich weiß noch nicht, was ich tue. Ich dachte auch daran, mich hier ein paar Tage mit Fiete zu treffen. (Ich weiß nicht, ob Irene Euch von Fiete schrieb? Sie hatten-beide einander sehr lieb, und viel‘ leicht hätten mir ein paar Tage mit ihr verbracht ganz gut getan. Irene weiß, dass ich ihr nichts raube.) Ich bin noch ganz unschlüssig. Ich müsste, wenn ich Coburg akzeptiere, Mannheim etc. wieder anschieben.

Seid noch viel vielmals bedankt für Eure Liebe und Güte. Ich bin ja trotz all des Ge­rassels und Lärms um mich, trotz all meiner weltmännischen Jahre immer ein einsamer Mensch gewesen. In Irene fand ich mich erlöst. Mein Herz sprach offen und frei. Wenn Ihr nicht wärt, und ein paar, ganz wenig, Menschen noch, würde es ganz verstummen.

Seid umarmt von Eurem Fred

Nürnberg, Sulzbacher Straße 80, 7. Mai 1919

Liebe Eltern,

der Abend gestern war ein großer Erfolg. Das Haus war ausverkauft! Die Leute standen und saßen auf den unmöglichsten Geräten und Borden. Ich las Gedichte, I-hi-wie, Hölderlin und Bracke, und ich hatte den Eindruck, dass man mir mit offener Seele entgegenkam, und ich nur hineinschütten brauchte. Wie die Kritiken ausfallen werden, weiß ich natürlich nicht. Kritiker, das sind ja nicht immer – Menschen. Es waren aber von anderen literarischen Klubs Mitglieder da, von auswärts, und man hat mich für den Herbst sofort zu einer neuen „Tournee“ verpflichtet: ich soll in Gera, Weimar, Jena, Altenburg lesen. (Jetzt hab ich ja leider keine Zeit mehr. Heut fahr ich aber doch noch nach Coburg, das mir extra Reisevergünstigung noch zusagte, wenn ich gleich käme und Donnerstag (morgen Abend) läse.) – Falls dringende Post, sendet sie bitte an Lederer, Augusta Anlage 9, Mannheim. – Denkt Euch: der Verein hat sogar ein Geschäft mit mir gemacht! Ich habe ihm das Dreifache von dem eingebracht, was bei Edschmid, der kürzlich hier las, abfiel. So etwas freut natürlich das zweite, mammonistische Herz dieser Leute. Seid herzlich umarmt von Eurem Fred

Wie hätte Irene gestrahlt vor Glück bei solch einem Abend. Sie hat sich immer weit mehr und herzlicher gefreut über meine Erfolge als ich.

Mannheim, 13. Mai 1919

Liebe Eltern,

einen herzlichen Gruß in aller Eile! Ich bin immer auf den Beinen, laufend, Autogramme schreibend, schreiend, redend, brüllend, angegriffen und angebetet. Ich schreibe Euch bald in Ruhe. Euer getreuer Fred

Locarno, 24. Mai 1919

Liebe Mutter,

ich bitte Dich, mir auch bei meiner Tieranthologie zu helfen. Wenn Du was weißt oder findest: sage es oder sende es mir sofort. – Ich bin gestern Abend, ziemlich diffus und nervös, hier angekommen. Die unheimlich angehäufte Arbeit wird mich über einen Zustand der Erschlaffung und des immer neuen immer alten Schmerzes hinweg­heben. Ich war noch am Abend um acht an Irenes Grab.

– Ich denke daran, falls es nur einigermaßen Ruhe wird, im August, nach Erledigung meiner vertraglich übernommenen Arbeiten, wieder nach Deutschland zu kommen. Euer Fred

Locarno-Monti, 2. Juni 1919

Liebe Mutter, ‚

ich weiß nicht, ob Du z. B. den Brief von Kaufmann gelesen hast: hoffentlich. Die „Befreiung Münchens“ muss eine sehr sonderbare Befreiung gewesen sein. Ich habe dann auch in Heidelberg noch einen guten Freund von mir gesprochen, der in München bis zum letzten Tag geblieben und dann auch verhaftet war. Die „Preußen“ haben sich außerordentlich beliebt gemacht. (Dass die „Ermordung“ Stuck’s und Dall Armi’s eine Provokationslüge war, habe ich alter Esel, der auch immer wieder mal zwischendurch auf ein Regierungstelegramm reinfällt, wieder mal allzu spät ein-gesehn. Die Ermordung der „Geiseln“ hat sich ja auch anders vollzogen, als die Presseschwindler es darzustellen beliebten. Ich habe in Nürnberg das offizielle Protokoll des Münchner Polizeipräsidiums über diesen Fall gelesen.) Die Tatsache, dass alle bedeutenden Führer der radikalen Opposition in Deutschland hingemordet worden sind von Liebknecht, R. Luxemburg, Jokisch (nicht der schlesische Jokisch), bis auf Eisner, Landauer, Dorrenbach usw. spricht Bände. Aber ein Leutnant Vogel entkommt – unter dem Schutz des gnädigen Mäzen Noske (das +++ Protegé Deines Mannes …). Im heutigen Deutschland gilt es ja schon als verdächtig, wenn man »Revolutionär« ist. Es ist entsetzlich, wie dieses arme Deutschland zerfleischt wird: außen von Schakalen und innen von den Aasgeiern des alten Systems. Wie weit ist es dann noch bis zur Wiederaufrichtung der Monarchie? Es scheint die Zeit zu nahen, dass man sich ernsthaft die Frage vorlegt, ob man nicht trotz aller prinzipiellen Unterschiede, die einen vom offiziellen Parteiprogramm der K.P.D. trennen, aus Gründen des revolutionären Protestes zu Spartakus übertreten soll. Euer Fred

Locarno-Monti 3. Juni 1919

Liebe Mutter,

, ich habe Dir eine ganze Anzahl Journale geschickt, in denen wieder Beiträge von mir waren. Die Front erscheint unter dem Titel Erwachen fortlaufend im Revolutionär. Dann auch als Buch. Ebenfalls im Revolutionär Verlag. Dort auch: Tao (meine politisch-ethischen Essays). Der Dresdner Verlag hat die Ode auf Montezuma besonders prunkvoll gedruckt. Das Tierbuch, das ich mit Soffel mache, schreitet fort, – weniger der Kalender, gegen den ja viele äußere und innere Hemmungen vorliegen. Die Briefe habe ich alle erhalten. Schönsten Dank. Meine Meinung zum „Frieden“ findet sich ziemlich wörtlich in einem Artikel der Nationalzeitung von Ragaz, den ich heute Vater sende. (Ragaz ist Pfarrer, aber radikaler Sozialist.) Die Nationalzeitung hatte übrigens auch über meine Verhaftung referiert. Ich bin auf der Redaktion gewesen und habe mir erlaubt, einige Aufklärung über die Zustände in Bayern zu geben. Diese Aufklärung ist nicht ohne Wirkung auf die Leitartikel geblieben, wie ich bereits konstatiert habe. – Der erste Brief, den ich hier vorfand, war das Schreiben der Süddeutschen Konzertdirektion Dresden wegen einer Vortragstournee im Herbst!! Ich möchte gern und bald wieder hinüber. Deutschland hat mich aus meiner Passion wieder zur Aktion geweckt, und ich bin jetzt grade wegen der Dornröschenruhe hier nervös bis in die Fingerspitzen. Selbst zum Saufen hätte ich wieder einmal Lust (Trinken wäre ein zu schwächlicher Ausdruck) und zu allen unheiligen Dingen, und mit Ulla Weinblatt kennst Du die Geliebte des schwedischen Dichters Bellmann – möchte ich einmal tanzen. Erschreckst Du nicht ein wenig über meine plötzlich wieder durchbrechende Vitalität? Wenn ich erst wieder lebendig bin, dann werde ich sehr lebendig. -Seid beide umarmt, vielleicht und hoffentlich sehn wir uns sehr bald wieder, Euer Fred

Engel ist für Deine Autographensammlung: der bekannte Literaturhistoriker.

Eben erhalte ich von dem großen Verlag Dürr und Weber die Anfrage, ob ich für seine wirtschaftlich politische Bücherei einen Band übernehmen will. Was meint Ihr? Es würde mich schon interessieren, eine Monographie, z. B. Revolution und Revolutionen ganz historisch fundiert, zu schreiben. Aber meinen dichterischen Arbeiten nimmt das wieder Zeit weg. Seit Monaten komme ich jetzt schon nicht mehr dazu.

Locarno-Monti, 5. Juni 1919

Liebe Mutter,

es ist viertel vor drei, eigentlich noch früh für mich, denn ich habe schon mehrmals bis fünf, sechs durchgearbeitet. Ich habe Kopfweh und friere. Ich habe viel, vielleicht zu viel, übernommen. Ich könnte gut eine Sekretärin gebrauchen und wenns nicht so teuer war, würd ich mir jemand auf Stunden zum Tippen ins Haus nehmen. Aber angesichts der jetzigen Valuta wage ich keine Extravaganzen. Ich sende Dir einige Kritiken, soweit ich sie selbst schon habe, bitte verwahre sie mit den andern Eulenspiegelkritiken. Dass ein Leutnant der Regierungstruppen in meinem Bett geschlafen hat, das hat mich verdrossen. Meine Sympathie für die weißen Garden, die mit Unrecht die Farbe der Lilie und der Unschuld führen, denn sie sind schwer mit Schuld bedeckt, ist ja stets minimal gewesen. Ich lese jetzt täglich die Deutsche Zeitung Berlin und ich würde Vater auch empfehlen, sie recht aufmerksam zu lesen. Es ist das Blatt der Alldeutschen, und da wird er erfahren, was diese Herrn sich leisten dürfen, ohne von den weißen Noskegarden behelligt zu werden: ganz einfach, weil Noske ihr Schuhputzer ist. Ganz offen predigen sie den Kampf gegen die Regierung und reden für die Wiederaufrichtung der Monarchie. Der Kaiser wird glorifiziert. Die Aufnahme des Kriegs, seine Rückberufung, gefordert und die Revolutionäre des 9. November (also Scheidemann u. s. w.) werden schon „Verräter“ genannt. Es ist ja überhaupt im revolutionären Deutschland verboten, Revolutionär zu sein. (Verdauungs)Ruhe ist die erste Bürger-pflicht und die neue kapitalistische Ordnung ist das Zeichen, unter dem (immer mal wieder) gesiegt wird. Wie sagte Kronprinz Wilhelm 1914? „Jesiegt wird auf alle Fälle …“ (In Amerika werden schon Wetten abgeschlossen über die Restitution der Monarchie in Deutschland …) Das Bürgertum, das so sanft den Einmarsch der „Regierungstruppen betrachtete, wird ebenso sanft den neuen Monarchen einreiten sehn, und keine Hand wird sich rühren, wenn man die paar hundert wirklichen Revolutionäre (nicht bloß Spartakisten sinds) an die Wand stellt. Dass Levine erschossen werden soll, find ich grauenhaft. Er ist am Geiselmord sicher ganz unschuldig, er ist ein Lamm (Lamm Levine hieß er bei seinen Freunden). Wird man Toller etwa auch erschießen?

Trotz der vorgerückten Stunde hab ich mich in Wut geredet. (Vater und ich würden jetzt heftiger aneinander geraten denn je.) Ich wollte Dir eigentlich von meinen Arbeiten erzählen. Ein ander Mal. Herzlich Dein Fred

Locarno-Monti, 16. Juni 1919

Lieber Vater,

ich las heute in der Frankfurter, dass die Linksparteien in München durch die Ereig­nisse, welche die gegen München in Szene gesetzte Exekution heraufbeschworen, gewaltigen Zulauf bekommen hätten. Ein sehr bezeichnendes Symptom. Wenn die Generäle ein wenig mehr Psychologie besäßen, hätten sie das voraussehen können. Auch Du lebst ja leider immer noch in Gedankengängen Bismarckscher Politik. „Es kommt ja doch schließlich alles auf den Erfolg an.“ Nein, lieber Vater, das ist ganz und gar nicht meine Meinung. Der Erfolg ist eine relative Größe: so relativ wie die Dauer unseres menschlichen Lebens. Bismarck hatte 40 Jahre „Erfolg“ – und dann? Hoff­mann wird 6 Wochen „Erfolg“ haben. Infolge einer Eisenkur, zu der er nicht berech­tigt war – moralisch und politisch nicht berechtigt. Es ist ein großer Unterschied zwischen der Geiselermordung der 9 und den standrechtlichen Erschießungen der 186. Der Geiselmord war eine Repressalie auf die standrechtliche Erschießung von 12 Menschen bei Starnberg, die jetzt schon Gegenstand des Protestes selbst der Mehrheitssozialisten ist, und war von inferioren Organen der Räteregierung selbst­ständig ausgeführt. Die standrechtlichen Massenerschießungen in München waren offizielle Bluttaten der Regierung Hoffmann, die sich mit ihnen identifizierte. Ich freue mich, dass auch einzelne Bürgerliche entschieden dagegen protestieren, darunter Lujo Brentano und Thomas Mann. Ich habe absolut zuverlässige Leute über Mün­chen gesprochen, die bis zuletzt da waren. Mich hats geschaudert. Alle Einsichtigen behaupten, dass die Schuld an den Kämpfen nur auf Seiten der Regierung Hoffmann-Schneppenhorst lag, die ein „Exempel statuieren“ wollte. Toller war immer zum Ver­handeln bereit. Man hätte sich nichts vergeben: im Gegenteil: man hätte vernunftge­mäß gehandelt, wenn man verhandelt hätte. Leute wie Frank und Kaufmann, abso­lute Gegner der Räterepublik, sind ganz rabiat geworden seit den Erfahrungen, die sie mit dem weißen Terror machten. Wie kindlich milde das Standgericht der Räte­republik gehandhabt wurde, hat ja der Prozess gegen die Leiter des Revolutionstri­bunals ergeben. – Ich habe übrigens in einem Telegramm an die Regierung Hoffmann gegen die Erschießung Levines protestiert. – Dass man Frau A. von ihren drei klei­nen Kindern weg verhaftet hat, finde ich abscheulich. Aber Tausende sind so sinnlos gemordet worden ad majorem dei militarismi gloriam. Was kann man für sie tun? Bitte orientiere Dich! – Weißt Du, dass ich ein Gefühl der Scham habe, dass ich so frei herumlaufe, während doch alle anständigen Leute in Bayern verhaftet sind? Hätte ich gewusst, welche Auferstehung der Militarismus in so kurzer Zeit feiern würde: ich hätte mich bei meinem Protokoll auf nichts eingelassen und einfach meine Freilas­sung gefordert. Gegenüber diesem Beelzebub haben sich alle einsichtigen Männer solidarisch zu erklären: und obgleich ich kein Parteigänger der Räterepublik war: gegenüber Schneppenhorst-Hoffmann werd ich stets die Partei eines Levine ergrei­fen. Diesem gegenüber bin ich sein „Genosse“. Grüß Matthes und sage ihm, dass der Besuch auf dem Aberham jetzt einen bitteren Nachgeschmack im Munde bei mir ausgelöst hat. Ich las, dass die Regierung Hoffmann ihr ursprünglich gegebenes Wort, die Rotgardisten als Kriegsgefangene zu behandeln, gebrochen hat, und dass die gefangenen Rotgardisten zu Festung zwischen 1 bis 3 Jahren verurteilt werden. Matthes hat den Leuten oben damals noch die Freilassung in ein paar Tagen versprochen. Jetzt werden sie wohl noch oben sitzen. Falls das wahr ist, hoffe ich, dass er auch dieser Regierung den Krempel vor die Füße wirft: die im Lügen (das haben die Bamberger Hetzberichte in der Presse schon gezeigt) den alten Alldeutschen nicht nachsteht. Und die genauso in den Händen der Militärs ist wie die alte. – Aber das wollt Ihr ja nicht sehn.

Heute las ich in der Nationalversammlung, dass die gesamten Parteien bis zur Erledigung der Friedensfrage einen neuen Burgfrieden geschlossen haben. Einem solchen hätte ich nur zugestimmt unter der Bedingung der sofortigen Amnestierung der Münchener politischen Gefangenen und der sofortigen Aufhebung der Standgerichte. Herzlichen Gruß, auch an Mutter Dein Fred

Ja: ich werde mir meine Ostererlebnisse zur Warnung dienen lassen: aber in einem anderen Sinn als Du meinst. Ich werde jeden Kompromiss, und sei er noch so gering, mit den partisans der Noske-Lützow-Schneppenhorst künftig ablehnen.

Zürich, Elitehotel, 28. Juni 1919

Liebe Mutter,

ich bin für einige Tage in Zürich. Ein Leipziger Verleger hatte mir nach Locarno telegrafiert, dass er mich sprechen wolle. Gegen Ersatz der Reisespesen bin ich dann hier‘ hergefahren und wir haben zusammen konferiert. Es handelt sich um laufende Mitarbeit an einer Serienbücherei für Volksaufklärung im politischen, wirtschaftlichen, literarischen Sinne. Ich werde wahrscheinlich eine Deutsche Literaturgeschichte für ihn schreiben. Außerdem vielleicht eine Kinderbibel (die Bibel für Kinder im Alter von 10-13 Jahren). Das sind Aufgaben, die mich gewiss locken. Aber Zeit Zeit Zeit! – Ich war gestern auf der Zentralbibliothek. Das ist das einzige, was ich in Locarno entbehre. Dieses Wühlen in alten schönen Büchern und edlen Drucken. Ich hatte die Erstausgabe des Wandsbecker Boten (1774) in der Hand und Geßner’s Idyllen. Bei aller Hochachtung vor dem deutschen Buchgewerbe heutzutage: solche Bücher können sie nicht mehr drucken. Ich kramte auch wegen meines Tierbuchs nach und fand noch manches in alten lateinischen Schriftstellern (Flavianus, Romulus) und auch manche unbekannte Fabeln des Aesop und des Phädrus. (Die deutschen Fabeldichter des 17. und 18. Jahrhunderts: Lichtwer, Goeckingk, Pfeffel sind eigentlich nur Nachtreter des Aesop, die ihn geschickt paraphrasieren.) – Ich fahre morgen wieder nach Locarno zurück. Die Großstadt ermüdet mich. Wenn ich überhaupt all das erledigen soll, was ich bis zum Winter machen müsste, muss ich (wenigstens) den Dreizehnstundentag bei mir einführen. – Der „Friede“ ist gestern unterzeichnet worden. Kein Mensch hat sich hier drum gekümmert: in dem richtigen Gefühl, dass dieser »Friede« nicht einmal eine Etappe auf dem Leidenswege bedeutet, den wir beschritten haben. – Die vielen Unruhen in Deutschland sind alles spontane lokalistische Aktionen: ich sehe das ganz deutlich. Sie schaden der wirklichen revol. Bewegung nur: aber die Massen, unter‘ ernährt und fanatisch erregt, gehorchen ihren Führern nicht mehr: den Mehrheitssozialisten und Unabhängigen längst nicht mehr, aber auch nicht mehr den Spartacusführern. – Frische Blumen hab ich zuweilen auf Irenes Grab getragen: aber sie halten sich in der dörrenden Sonne nicht. Der Gärtner Schäppi hat ein geschmackvolles, braun und silbernes künstliches Blumenbukett angebracht. Im Sommer in Locarno gehts wirklich kaum anders. – Hier in Zürich ists kalt, winterlich, man könnte heizen. Seid beide umarmt von Eurem Fred

Was ist mit Frau Anny? Sag Vater, dass ich das Geld ihm von Deutschland aus schicken lasse!

Ohne Ortsangabe, 3. Juli 1919

Liebe Mutter,

ich habe Dir ein Exemplar Deiner Gedichte geschickt, damit Du sie vielleicht an einige Verlage wieder schicken kannst. Hast Du schon mal bei Reuß und Itta, Konstanz, Zeitbücher, angefragt? Und bei Eugen Salzer, Heilbronn? – Ich möchte Dir heute einen Plan mitteilen, der eigentlich immer greifbarere Gestalt annimmt. Ich möchte mir ein kleines Haus bauen, vielleicht in der Nähe Heidelbergs, vielleicht auch irgendwo in Bayern. Ganz klein, Küche, Schlafzimmer, Wohnzimmer, Fremdenzimmer. Grade so groß, dass es auch bei einer eventuellen Kommunisierung der Häuser mir ganz allein verbleibt. Falls Ihr die Möbel noch nicht verkauft habt, bitte, wartet noch ein wenig, ich würde sie Euch dann abkaufen. Bis zum 1. September will ich noch hier bleiben. Ob länger, das weiß ich noch nicht. Herzlichen Gruß Euer Fred

Ohne Ortsangabe, 3. Juli 1919

Lieber Vater,

1.) es handelt sich nicht um einen „Starnberger Geiselmord“, sondern um die standrechtliche Erschießung von gefangenen Rotgardisten bei Pöcking. Dies ist kein „Roter‘ Gardeschwindel“, sondern findet sich amtlich protokolliert in der Liste der standrechtlichen Erschießungen in München (185) in den Münchner Neuesten Nachrichten.

2.) nachgrade wird die skandalöse Mitschuld der Regierung Hoffmann an der Räterepublik durch die Prozesse (Levine, Niekisch, Sauber usw.) immer offenbarer. Die Zeugen, die der Regierung angehören, werden entweder gar nicht oder privatim vernommen, um eine Kompromittierung der Regierung Hoffmann zu vereiteln. Das wird aber nicht mehr lange gehn, der Prozess Schneppenhorst contra Neue Zeitung wird hoffentlich Klarheit bringen. Die Regierung sucht die Wahrheit künstlich zu verdunkeln. -Einer solchen Regierung stimmst Du zu? Aus „Ruhe und Ordnung“? Und Du glaubst noch immer all dem effektiven Schwindel, der in der „Regierungspresse“ (inclusive regierungssozialistischen Blättern) aufgetischt wird? – Es ist nicht zu verwundern, dass man nach all den Erfahrungen der letzten Monate immer weiter abrückt von solchem Ge-sinn-del, und dass die maßlose Erbitterung, die unter den Massen herrscht, eines Tages keine friedliche Entladung finden wird: ich finde es nur zu begreiflich, denn ich erlebe an mir selbst, wie mich die letzten Monate elektrisiert haben. Es wetterleuchtet heftiger denn je. Wird das Gewitter vorüberziehn? Wird es einschlagen? Dein Fred

Locarno-Monti, 10. Juli 1919

Liebe Mutter,

Dank für Deine treue Mitarbeit! Sie ist uns sehr von Nutzen. Möchtest Du mir die Französische Lyrik nicht einfach schicken? Ich glaub, es ist ein Buch, und Du brauchst dann nicht abzuschreiben, was Dir doch gewiss Mühe macht. (Maupassant und Souvestre sind aber Prosa?) Jedenfalls sind mir die Franzosen sehr wichtig. Auch Dein Spinnengedicht vermisse ich. Ich nehme es unbedingt auf. Am 1. August muss das Manuskript fertig sein, vertragsgemäß. Und am 1. September – die Literaturgeschichte. (Ich habe noch keine Zeile geschrieben …) Deine Bücher gab ich Frl. Mimi Simon, Karlsruhe, Bismarckstr. 41. Ich habe ihr schon mehrmals geschrieben, sie sofort abzusenden.

Ich hab schon wieder Einladungen zu Vorträgen. Angeblich will man nun den Totengräber auch in Mannheim spielen. Ich bin aber nachgrade sehr misstrauisch dem Theater gegenüber. Es ist das einzige, was mich immer enttäuscht hat. Die Nachtwandler sollen erschienen sein. Auch Gefiederte Welt und Himmlischer Vagant. Ich habe selber noch kein Exemplar, von keinem. Ich sende Dir mit gleicher Post das Pamphlet, und 2 Zeitschriften. – Eigentlich ist es eine Tollkühnheit von mir, eine Literaturgeschichte so gut wie ohne jedes Hilfsmittel hier oben auf dem Berge schreiben zu wollen, ohne Bibliothek, einzig auf mein gutes Gedächtnis bauend. Ich komm mir vor wie Harras, der kühne Springer. Seid beide umarmt von Eurem Fred

Locarno-Monti, 15. Juli 1919

Liebe Mutter,

der neuste Plan, der mich beschäftigt, ist der: ein Volksepos zu schreiben. Schon bei Behandlung der mittelalterlichen Epen in meiner kleinen Literaturgeschichte ‚wurde ich der Schönheit und der unmittelbaren volkstümlichen Wirksamkeit dieser alten Sagenstoffe wieder eingedenk, und als ich dann zufällig das Fragment Ahasver von Goethe las, war es mir ganz klar, wie man die alte deutsche Legende gestalten müsse, um sie wieder neu zu erwecken. Stofflich und ethisch sagt mir die Sage von Robert dem Teufel am meisten zu, und ich will versuchen, ihr nahe zu kommen. Wenn Du die gesandten Teilabschnitte immer in 5 Exemplaren tippen lässt, will ich Dir gern das Werk, der Reihe nach, wie es entsteht, schicken. Und ich hoffe, dass es kein Fragment bleibt wie der Ahasver. Ich lege die ersten Kapitel bei. Herzlichen Gruß Dir und Vater Max Dein Klabund

Frau Wend, Nürnberg, Spittlertorgraben 19/1 hat so ausgezeichnete Aufnahmen von mir gemacht (die im Hut!). Hat sie Dir keine geschickt? Ich schriebs ihr doch, aber sie soll die Rechnung mir schicken.

Locarno-Monti, 28. Juli 1919

Liebe Mutter,

ich bin um 6 ins Bett gekommen. Von achtzehn Stunden hab ich 12 an der Literaturgeschichte geschrieben. Ich muss am 1. September fertig sein, so hab ichs vertraglich ausgemacht (das Buch soll noch Weihnachten erscheinen). Der 1. September hängt wie ein Damoklesschwert über mir, denn bis dahin sollen auch der Katalog und 3 Anthologien, deren Herausgabe ich nebenher übernommen habe, fertig sein. (Neben dem Tierkreis eine lyrische Anthologie Das trunkene Lied und eine Anthologie WeibertreuLiebesgeschichten aus der indischen, chinesischen, altdeutschen usw. Literatur.) Zacharias Werner schrieb ein Schicksalsdrama mit dem Titel Der 24. Februar. Ich werde eines schreiben mit dem Titel „Der 1. September“. Nach dem ersten September muss ich mich aber unbedingt ordentlich ausruhen. Ich muss mal Monate lang faullenzen. Hin und wieder streiken die Nerven doch. Ich werde wohl erst den ersten September hinüberkommen. Die Valuta ist immer noch entsetzlich tief. (34!) Deshalb recht eigentlich hab ich die Anthologien übernommen. Aber was sind 1500 Mark? Nicht mal 500 Francs. Habt Ihr all die Bücher erhalten. (Die Politik hab ich für ein paar Wochen aufs Regal gestellt…) Immer Euer Fred

Locarno-Monti, 10. August 1919

Liebe Mutter,

ich war einige Tage fort. In Basel. Zu einer Hochzeit. Ich habe ein schönes, aber schmerzliches Erlebnis gehabt, das mich sehr bewegte. Seit Irenes Tod ist auch dem süßesten Trunk ein gallebittrer Tropfen beigemischt. Vielleicht schreibe ich Dir einmal mehr, wenn ich mich darüber beruhigt habe.

Ich sende Euch mit gleicher Post einige Broschüren über billige Bauten. Die Broschüren sind jetzt erschienen, um der Wohnungsnot abzuhelfen, und es geht daraus hervor, dass man für 2000-3000 Mark das hübscheste Eigenheim haben kann. Vater soll sich bitte mal die Pläne durchsehn, und mir sagen, was er dazu meint. Ich möchte mir zu gern eines bauen lassen. – (Die Möbel lässt man einbauen: viel braucht man ja nicht, zwei Betten auf alle Fälle, ein Kleider- ein Bücherschrank u.s.w.) Vielleicht beteiligt er sich dran, und man baut es etwas größer: dann könnt Ihr im Sommer Eure Ferien da verleben. Mit den herzlichsten Grüßen Euer Fred

Inliegend die Autogramme: von Johst, Henckell, Harbeck

Locarno-Monti, 13. August 1919

Liebe Mutter,

jeden Tag kommen Anfragen, und ich müsste zugleich zwölf Menschen sein, um alles zu erfüllen, was man von mir verlangt. Da möchte der Dreiländer Verlag ein Buch, ein Verlag in Hannover, in Wien E. P. Tal, ein neu gegründeter Berliner Verlag. Bei Reclam soll ich eine Geßnerausgabe machen. Dort eine Heineauswahl bevorworten. Seit mei­ner Rückkehr aus Basel bin ich schlecht zur Arbeit aufgelegt, und ich muss mich zusammenreißen, um das Notwendigste (und das ist schon genug) zu tun.

Das Erlebnis, das ich in Basel hatte, bedrängt mich mehr als ich zuerst wahr haben wollte. Es hat sich, medizinisch ausgedrückt, aufs Herz geschlagen. Was soll ich tun? Soll ich noch einmal nach Basel fahren, in drei Wochen? Ich werd es wohl tun müssen, sonst hab ich keine Ruhe. Ich wage mir keine klare Vorstellung zu machen von dem, was geschieht oder geschehen sollte oder geschehen müsste. Dass meine Sinne wieder erwachen, ist nur allzu erklärlich und natürlich. Ists mehr? Oder bin ich nur deshalb so unruhig, weil mein Gefühl noch nicht die natürliche Auslösung fand? Das Mädchen, ein reizendes Geschöpf, ist beinah noch an Alter ein halbes Kind: 16,17 Jahre. Wie soll ich ihr Gefühl für mich definieren? Allgemeine vage Verliebtheit in die Welt, bei der ich nur grade zufällig das Objekt bin? Verliebtheit einfach in den Dichter, gemischt mit Respekt und ein wenig Eitelkeit, von ihm geliebt zu werden? Oder einfach: Liebe? Ich wage mich nicht so einfach für das letzte zu entscheiden. Sie ist die Tochter einer sehr angesehenen Basler Familie. Die leben alle in den konventionellsten und engsten Verhältnissen. Vielleicht hat sie nur der Hauch der Freiheit, der über sie hin wehte, einen Abend lang, berauscht? –

Den Totengräber kann ich in das Gedichtbuch nicht aufnehmen. Ich habe ihn schon für die neue Auflage dem Dresdner Verlag versprochen. Ich las ihn gestern wieder einmal und mit ganz besonders starker Teilnahme, grade als ich einen Brief von dem kleinen Basler Mädchen empfangen hatte. Die psychologische Deutung dieser Instinkthandlung überlasse ich den Psychoanalytikern. Oder auch Dir, wenn Du willst:

Herzlichsten Gruß Euch beiden Euer getreuer Fred

Crossen/Oder, 5. Oktober 1919

Liebe Mutter,

offen gestanden ängstigt mich das lange Ausbleiben der 5!! Kisten jetzt auch, ich sende Euch inliegend die Aufgabescheine, reklamiert doch bitte, die Kisten enthalten Irene’s sämtliche Sachen, Decken u.s.w., zwei sind voll Bücher und Manuskripten, ein kleiner Schuhkoffer ist auch noch dabei. Versichert habe ich die Sachen nicht: es kostet ein Heidengeld, ein paar hundert Mark, und ist vollkommen überflüssig, die Haftpflicht der Bahn besteht sowieso noch: ich erinnere mich in der Vossischen Zeitung vor einiger Zeit einen Artikel eines Berliner Anwaltes gelesen zu haben, der dem Publikum das überflüssige der Versicherung recht eindringlich zu Gemüte führte. Der Inhalt der Kisten ist zum größten Teil unersetzlich, ich hoffe immer noch, dass sie noch kommen. – Den Schlüssel zu meinem Koffer lege ich bei, falls ich mal was brauche. – Mit Fiete hast Du so ziemlich recht: sie ist ein seelenguter Mensch, aber in Tausend Illusionen befangen, an denen ich ganz unschuldig bin, denn ich bin immer fast brutal offen zu ihr gewesen. Sie hat mir in Berlin eine furchtbare Szene gemacht, ich habe sie nur mit Mühe vom Selbstmord abhalten können. Ich habe sie sehr gern und lieb, aber sie hat meine Beziehungen zu ihr immer überschätzt. Ich dachte ihr alles hinreichend klar gemacht zu haben: da kommt vor ein paar Tagen ein Brief von ihr – mit einem Heiratsantrag, und zwar in ganz diktatorischer Form: ich werde dich heiraten, ich werde dir Kinder schenken, ich bin notwendig zu deiner Entwicklung u. usw. Der Brief ist psychologisch so falsch fundiert, dass ich erschrak. Mit meinem entschlossenem: Nein: wird das Kapitel Fiete wohl seinen Abschluss gefunden haben. – Arbeiten hab ich mehr als genug. Die Korrekturen am Tierkreis verschlingen viel Zeit. Zu einer Heine Auswahl soll ich ein Vorwort schreiben. Bei Reclam mache ich eine Geßnerausgabe, Geßner ist einer meiner Lieblingsdichter. Hoffentlich werde ich auch sonst mit Reclam einig: er schlug mir einen kleinen Band Klabund vor: Verse und Prosa. Über die endgültige Gestaltung meines diesjährigen Gedichtbandes bin ich mir immer noch nicht klar. Ich habe jetzt Silvia und die Oden an Irene zusammengestellt, aus stilistischen Gründen. Viele andere Pläne schweben, darunter der eines persönlichen Auftretens bei Reinhardt. Was denkst Du? Die Eltern lassen Euch beide herzlich grüßen. – Kann man die Schreibmaschine aufgeben? Sie ist so praktisch, vor allem, weil der Drucker nie meine Schrift lesen kann. In den letzten „Weißen Blättern“ finden sich wieder die scheußlichsten sinn- und klangentstellenden Druckfehler, übrigens auch im „Orchideengarten“. Immer Euer Fred – Gruß an Kubin

Crossen/Oder, 10. Oktober 1919

Lieber Vater,

aber natürlich komme ich zu Euch, es fragt sich eben nur wann. Wie kommt Ihr dar auf, dass ich gar nicht zu Euch käme? Würde ich Euch sonst alle Kisten auf den Hals schicken? Anbei eine Vollmacht, die hoffentlich genügt. Wenn ich zu Euch komme, ist’s hoffentlich schön warm bei Euch. Hier ist’s höllisch kalt. Könnt Ihr wenigstens ein Zimmer tüchtig heizen? Und wird Euch das Klappern meiner Schreibmaschine nicht stören? Ich schreib schon wie ein alter Bürovorsteher. Mutter sollte sich auch so eine Maschine zu Weihnachten schenken lassen, es ist ein ganz besonderes System von der AEG Berlin. Das Modell, das mein Vater hat, ist noch einfacher: lateinische Schrift: er hat mir diese Maschine eigentlich bloß geschenkt, weil sie ihm zu umstand‘ lieh ist. Gekauft hat er sie aus patriotischen Gründen: deutsche Schrift … Er hat seinerzeit 3 Maschinen gekauft: das Stück zu 100 / hundert / Mark. Jetzt werden sie allerdings bedeutend mehr kosten. Du kannst sie bei mir ja einsehen. Es ist eine ganz kleine Maschine. – An Schäppi hatte ich schon längst geschrieben und ihn gebeten, das Grab zum 18. Oktober schön herzurichten. Ich schreibe aber nochmal. Epheu hatte ich schon früher an der Mauer pflanzen lassen. Der Friedhof Sant‘ Antonio selbst ist ja unsäglich trist. Das einzig Schöne an ihm: dass er ganz in der südlichsten Sonne liegt.

Ich habe heute bei der schweizerischen Gesandtschaft ein Dauervisum beantragt, damit könnte ich wenigstens alle paar Monate mal 14 Tage in die Schweiz. Ich las in den Annoncen der Münchner Neuesten verschiedentlich billige Häuser oder Häuser in Bayern angeboten. Es tat mir leid, 1915 ein kleines Haus in Solln nicht gekauft zu haben, das mir damals für ein paar tausend Mark angeboten wurde.

Die herzlichsten Grüße, auch von den hiesigen Eltern, Euch beiden Euer Fred

Crossen/Oder, nach 10. Oktober 1919

Lieber Vater,

scheinbar hast Du meinen letzten Brief nicht erhalten. Die Zustände auf der Post sind ja nachgrade auch skandalös. Heute grade erfahr ich, dass zwei eingeschriebene Briefe nach Berlin verlorengegangen sind. Der eine enthielt ein Vorwort zu einer kleinen Heineausgabe. – Die Vollmacht sende ich Dir hier zurück. Ja: bitte behüte mir doch das Zimmer, Du kannst ja sagen, dass es meine ständige Wohnung sei, was ja auch stimmt, da ich alle meine Sachen bei Euch habe – und dass ich nur auf Reisen sei. An Schäppi hatte ich schon längst geschrieben. Er wird es schön herrichten. Verfügt nur über alles, was Ihr von Irenen’s Sachen haben wollt. Nur wenn Ihr etwas an andere geben wollt, bitte fragt mich erst, weil ich ja auch einiges für mich behalten möchte. Wenn Ihr nächstes Jahr nach Locarno geht, so nehmt mich mit. Ich habe schon jetzt solche Sehnsucht nach Berg und See und Sonne von Monti. Die Aussicht, die ich hier habe: soll ich Dir sie beschreiben? Restaurant Blauer Engel, Restaurant Otto Grenzius, Weinschank Auguste Kopsch, verwitwete Jaensch … Deiner Bitte betreffs der Korrekturen kann ich leider nicht willfahren, da die Irene ja bereits gedruckt in der zweiten Auflage vorliegt, eine Neuauflage dieses schwierigen Versbuches in absehbarer Zeit kaum in Betracht kommt. Was die Distichen betrifft, werde ich sie wohl nicht in die Buchform übernehmen. Dagegen ist „Max“ aus den Nachtwandlern exkommuniziert … Es freut mich, dass Dir Landauer etwas bedeutet. Ich stimme in so vielem mit ihm überein, Auch er war ja eher Anarchist als Kommunist. Wenn Du etwas Vernünftiges über Russland lesen willst, so lies Paquet, Geist der russischen Revolution, Verlag Kurt Wolff. Es müsste allen Bürgern, anstelle der albernen Broschüren der antibolschewistischen Liga, gratis in’s Haus getragen werden. Herzlichen Gruß Euch beiden Euer Fred

Crossen/Oder, 15. Oktober 1919

Liebe Mutter,

es geht mir schon etwas besser, aber nach Basel zur Premiere vom Hannibal am 20 werd ich doch noch nicht fahren können. Acht Tage werd ich wohl noch hier bleiben müssen. Dann kann ich hoffentlich mit meinen Vorträgen beginnen. Vor ein paar Tagen bekam ich einen Brief von meiner alten Wirtin in München, die immer so nett für mich gesorgt hat. Es wäre hübsch, wenn sich Gelegenheit fände, wieder ihr Zimmer zu nehmen: dann könnt ich mich nach Wunsch zwischen Passau und München teilen. Die Verbindung ist doch schon erträglich? Hier sind ja die Schnellzüge eingestellt, aber ich hoffe per Auto von hier abreisen zu können. – Eine Karte von Schäppi leg ich bei, er wird alles gewiss sehr hübsch herrichten. Wir sprechen oft von Irene. Meine Eltern haben eine wirklich sehr gut gelungene Vergrößerung eines Bildes machen lassen, die will ich Euch mitbringen. Meine Mutter weint noch täglich vor Irenens Bilde, sie stellt immer Blumen davor. Ich selber erscheine mir wieder als der ahasverische Wanderer, der ich früher war, ehe ich Irene hatte – keine Ruhe habe ich, nicht da, nicht dort. Die Arbeit betäubt, aber das sollte sie ja nicht, sie sollte ja spornen und erheben. Der Tierkreis ist nun fertig: ein Buch von über 500 Seiten. Auch Das trunkene Lied. Die Korrekturen vom Dreiklang, so nenne ich das neue Gedichtbuch nun, sind ebenfalls bald fertig. Das erscheint dann mit den Nachtwandlern zusammen. Mit der Literaturgeschichte hab ich noch eine Riesenarbeit gehabt: sie war zu lang geraten: denk Dir: 130 Seiten hab ich streichen müssen. Darunter vieles Wichtige.

Herzliche Grüße, auch von den Eltern hier, immer Euer Fred

Bitte leg Deinem nächsten Brief das Gedicht: Der arme Konrad bei.

Crossen/Oder, nach 15. Oktober 1919

Liebe Mutter,

ich bin sehr ungeschickt: jetzt hab ich die Abschrift vom armen Konrad verloren. Willst Du das Maß Deiner Güte voll machen und ihn nochmal abschreiben? Ja: die Balladen erscheinen extra, auch bei Reiß. Der Totengräber im Dresdner Verlag von 1917. Aber natürlich komme ich zu Euch: eine Parabel: im Jahr 1909 wollte ich nach Lausanne fah­ren: ich kam über Berlin – und blieb ein ganzes Jahr in Berlin. Dann fuhr ich nach Kopenhagen, nach Holland, nach Venedig – und, durch den Simplon, nach Lausanne. Ich war also doch nach Lausanne gekommen … Liebt Ihr eingemachte Seefische, wie Aale, Flundern, Krabben usw.? Ich kann Euch eine Adresse verschaffen, wo Ihr sie direkt beziehen könnt zu sehr mäßigen Preisen. Wir beziehen schon seit Jahren daher. Ich weiß ja nicht, ob Ihr solche Fischesser seid wie wir. Übrigens spreche ich nur pro domo: für mich: wenn ich zu Euch komme – würde ich gern mal geräucherte Fische etc. essen …Ja: so sieht die Menschenliebe aus Eures getreuen Fred

Crossen/Oder, 18. Oktober 1919

Liebe Mutter,

heut ist der 18te. Ich denke an die, die ich nie vergessen werde, und die der schönste und beste Teil meines Lebens war. Wenn ich Euch wehgetan haben sollte, so bitte ich Euch um Verzeihung. Ich bin manchmal böse, ohne böse sein zu wollen. Euer Fred

Crossen/Oder, 21. Oktober 1919

Liebe Mutter,

die Briefe von Frau Jung schicke ich Dir hier mit zurück. Sie sind sehr lieb. Ich soll auch in Jena lesen, dann werde ich sie ja sprechen. Jeden Tag wollt ich fahren, nun bin ich immer noch hier, ich hab’s bei meiner Erkältung nicht riskiert. Übermorgen fahre ich aber bestimmt. Heut kam ein Telegramm aus Basel vom Theater, danach scheint der Hannibal ein großer Erfolg gewesen zu sein. Na, wir sind allmählich zum wenn auch frommen Skeptiker geworden: warten wir die Kritiken ab. Hier hab ich viel in alten Briefen und Manuskripten gekramt. Ich fand ganze Kisten, die ich völlig vergessen hatte, und ganz verschüttete Erinnerungen blühten wieder auf. Mein erstes „Drama“ fand ich: den Konflikt zwischen Napoleon und Metternich behandelnd, geschrieben 1903 … ich war damals zwölf Jahr. Dann fand ich meine ersten Gedichte. Einen Roman: Die Fahrt ins Leben, in Prima geschrieben und Bruchstücke jenes fürchterlichen Buches, Peter betitelt, in der ersten Zeit meines Berliner Aufenthaltes geschrieben von einem Zynismus und einer Verachtung des Menschen, wie er so ganz nur aus dem Bild Berlin begriffen werden kann. So sieht Berlin in der Tat aus: das Buch ist von einer scheußlichen Aktualität. Hoffentlich find ich’s nochmal ganz wieder. – Das Packet kommt eben. Vielen Dank. Wenn Du schreibst, angesichts des kleinen Umschlags „Gedichte 1904-1906“, wie meine Mutter sich darüber gefreut haben müsste: so berührst Du da einen dunklen Punkt in meinen Beziehungen zu ihr. Meine Mutter kann heute noch nicht begreifen, wieso ich Gedichte schreibe »die doch ganz überflüssig sind«. Sie versteht mich nur instinktiv, nur mütterlich. Dass ich zuweilen, in unbewachten Augenblicken, stark antipathische Gefühle gegen sie habe (vielleicht sogar Hassgefühle …): das mag von ihrem Unverständnis meinem Wesentlichsten gegenüber herrühren. An sich Ist sie eine seelengute Frau. Immer Dein Fred

Berlin, Halleschestr. 21/1. r., Ende Oktober 1919

Liebe Mutter,

es regnet, regnet, regnet. Ich bin vollkommen durchnässt von dem durch die Stadt Jagen. Ich wohne hier ganz nett, aber sehr primitiv: ein kleines Zimmer nach dem Hof heraus, dunkel, ein Schlafsofa, das mich an meine Nürnberger Gefängnismatratze erinnert: so hart ist es. Die Leute sind sehr nett: so nett, dass ich Furcht hätte, weg zu gehn. Denn leider fehlt mir das Wichtigste für Berlin: das Telefon. Eine Verständigung ohne das erfordert Unendlichkeiten an Zeit und Nervenkraft. – Heut war ich im Deut‘ sehen Theater. Man will mich engagieren: als eine Art Hausdichter für ein neues Reinhardtsches Unternehmen. Man will mir zahlen 600 M. monatlich, außerdem Pantomime, Puppenspiel etc., was ich schreiben soll, extra. Ferner noch für ein persönliches Auftreten 3000 M. (fünf Wochen). Was meinst Du dazu? Ich hatte natürlich 4000 M. gefordert, weil ich die jetzigen Berliner Zustände kenne. Auch 4000 M. sind nämlich absolut kein Geld in Berlin und 600 M. ist ein pourboire. Immerhin könnt ich auch circa 1000 M. im Monat nur von Reinhardt nehmen. (So viel braucht man in Berlin.) Nehm ich Reiß etc. hinzu, so kam ich auf ein nettes Sümmchen: und heute hat man mir gar schon ein Jahreseinkommen von 50 000 „in Aussicht gestellt“. Das ist Berlin. Von apriorischer Kunst keine Rede. Man kauft den Dichter wie man den Operettentenor, wie man sechs Waggon Kernseife kauft: um Geschäfte zu machen.

Aber am 1. Januar will ich doch nach München und Passau kommen. Bis dahin hab ichs wahrscheinlich bis hier. Und irgendetwas Vernünftiges kann man in dem Trubel schwerlich zu Stande bringen.

Seid beide umarmt und legt dem Packet, falls noch nicht abgeschickt, die dauerhaften Juchtenstiefel bei. Ich bin so froh, dass ich Euch habe. Euer Fred

Berlin, Ende Oktober 1919

Liebe Eltern, vielen Dank für Euer treues Gedenken! Ich habe mich noch gar nicht eingelebt. Daran ist aber doch nicht Berlin schuld, sondern ich bin’s wohl selbst. Seit Jahren hab ich mich nicht so gottverlassen gefühlt wie in diesen Tagen. Ja: ich erinnere mich: 1910 war ich mal in ähnlicher Lage und Laune. Das sind jetzt 9 Jahre her. Als ich um Irene in Monti trauerte, es klingt paradox, wenn ichs sage: in meinem tiefsten Schmerz war ich glücklicher als jetzt, wo ich in mein Herz hineinstarre wie in ein großes schwarzes , leeres gähnendes Loch. – Ich bekam gestern einen Prospekt von Meran. Ich sehne mich so nach dem Süden. Es ist so kalt und nass hier. Ich will bis Januar ein wenig Geld zusammenscharren, vielleicht reichts zu einer Reise im Frühling. – Mit Rein-hardt hab ich abgeschlossen, bisher nur mündlich, aber mündlicher Vertrag gilt ja auch: ich erhalte 6400 M. von ihm. Dafür werd ich den Clown im Zirkus Schumann machen. Es ist ja alles egal. – Die Basler Rezensionen schick ich. Sie sind sehr gut. -Frl. Romang schrieb mir, dass sie sich verheiratet. – Die Literaturgeschichte schick ich Dir auch

Berlin, Mitte Oktober 1919

Liebe Mutter,

ich mache für Reiß (fürs nächste Jahr) eine kleine Anthologie Der Tanz. Kannst Du mir wieder helfen? Bitte schick mir doch, wenns Dir keine Mühe macht: von meinen Büchern:

Iwan Göll, Unterwelt
Robert Braun, Gang in der Nacht
Kurt Bock, Verse vor Tag
Eichendorff, (Reclam)
Hölty, (Reclam)
Matthisson, (Reclam)
Kerr, Die Harfe
C. F. Meyer, Gedichte
Gryphius, Dunkles Schiff
Platen, Gedichte
A. R. Meyer, Der neue Frauenlob
Aus Volkes Mund (Anthologie Voigtländer)
Fleming, Gedichte (Reclam)

Deine Venuslieder, die ich Dir mal gab, leg bitte auch bei und was Dir sonst gut dünkt. Oder laß es abschreiben. – Das trunkene Lied, das jetzt bei Reiß erscheint, wird ein entzückendes Buch: in der Ausstattung das Hübscheste, was Reiß gemacht hat. –

Dass Gefiederte Welt und Montezuma im Dresdner Verlag erschienen sind, weißt Du. Reiß macht außer dem Dreiklang auch noch ein Buch Balladen. Der Totengräber erscheint neu im Dresdner Verlag. –

Mein violettdunkelblauer Anzug: könnt Ihr mir den auch noch senden? Gell ich mach Dir scheußlich viel Arbeit? Auch alle weißen Smoking Hemden schick mit. Ich brauch sie dringend. Hier kostet eins 81 Mark!! Falls Du dort welche zu 30 Mark noch auftreibst, was ja zufällig sein kann: kauf mir eins oder zwei, Kragengröße 39. Herzlich Euer Fred

Berlin, Ende Oktober 1919

Liebe Mutter,

Reclam schrieb mir heute: er wird einen kleinen Auswahlband: Prosa und Vers: von mir bringen. Ist das nicht sehr nett? Damit bin ich ja dann zum Zehntelklassiker und zur wahren Popularität avanciert. – Dass ich Geßner bei Reclam ediere, weißt Du wohl schon. Bei zwei neuen großen Unternehmungen: neue Klassikerausgaben: soll ich als Herausgeber fungieren. Meine Literaturgeschichte wird gleich in zehn Auflagen gedruckt. Der Mann hat Mut. – Leider dauert der Druck bei den jetzigen Verhältnis‘ sen ewig lange. Die Nachtwandler sollen schon seit einem halben Jahr erscheinen. Am Dreiklangarbeite ich noch: er wird vor Frühjahr wohl nicht kommen. Ein besonderes Buch Balladen macht Reiß auch noch. – Dann hab ich noch eine Idee (in fede): Bild und Dichtung. Ein Monumentalwerk. Soll hier zum 1. März fertig werden. Kosten-punkt 40 Mark. Mit vielen Bildern. Arbeit hab ich mehr als genug. Das Provisorische von Wohnung etc. wirkt natürlich lähmend. Das Leben ist auf die Dauer irrsinnig teuer hier. Ich brauche ohne Vergnügungssteuer, ohne Wohnung, d. h. Essen, Trinken, Fahren etc. 50 M. pro Tag. In der Beziehung ists gut, dass Reinhardt da ist. Er kann zahlen … Erkältet bin ich, seit ich hier bin. – In Hamburg hat man, wie ich nachträglich las, die Totengräber doch noch verschandelt. Na, Du wirst ja die Kritiken lesen. Ich habe protestiert. Aber was helfen alle Proteste? (Man sehe Deutschland!) – Ich bin froh, wenn ich aus dem Hexenkessel hier einigermaßen heil herausgelange. – Die Französ. Lyrik liegt hier. Dagegen hab ich nie die Venuslieder bekommen, die ich sogar brauche. Ein Zensurbeamter hat sie gewiss gestohlen. Seid umarmt Euer Fred

Berlin, 1. November 1919

Liebe Mutter,

am 30. nachts 1 Uhr stand ich auf dem Potsdamer Platz. Es war die Sterbestunde Irenes. Ein unendlicher Lärm tobte auf mich ein. Die Straßenverkäufer schrien, die Automobile ratterten, die Kokotten zischten wie Schlangen, oben die elektrischen Bogenlampen sahen wie tausend böse Monde auf mich herab. Ganz fern, ganz hoch leuchtete leise Irenens Stern. – Liebe Mutter, bitte, schickt mir nichts zu meinem Geburtstag. Bücher kann ich haben so viel ich will. Ich brauche nichts, und was ich an Kleidern etc. brauche, kann ich mir selbst kaufen. Hoffentlich brauch ich nur keinen Frack bei Reinhardt. Der kostet jetzt so viel wie früher das Jahresgehalt eines Lehrers war. In solchen Sachen ist Berlin unbezahlbar. – Ich lese am 6. in Rostock, am 7. in Berlin, am 9. in Hamburg, am 11. in Kiel, am 13. in Königsberg. Hoffentlich funktioniert alles mit den Zügen. Heute geh ich noch mal ins Deutsche Theater: wahrscheinlich wird mein Vertrag mit Reinhardt perfekt. Dann zieh ich hier aus und in eine gute Pension. Für 20 Mark kann man eine haben. Auch die Filmleute beginnen sich auf mich zu stürzen. Man fragt, ob ich den Moreau verfilmen lassen möchte. Und man wirft mit 5 stelligen Zahlen nur so herum. Alles redet hier in Zahlen.

Basel war ein sehr großer Erfolg. Ich las jetzt die Kritiken, die Du bekommst. Anny Romang muss entzückend gewesen sein als amerikanische Miß. – Mein neues Gedichtbuch ist fertig, die Prospekte schon abgeschickt. Es sieht jetzt ganz anders aus als der Cherubim. Aber es hat an Geschlossenheit sehr gewonnen; Reiß, Dr. Kayser u. usw. halten es für mein bestes Buch schlechthin. Wie gefällt Dir der Titel: Dreiklang? Der Mittelteil: Coelia: sind die Oden auf Irene. Dr. Kayser schrieb, es bedeute einen „Gipfel in der jungdeutschen Lyrik“ überhaupt. Es ist sehr schmal und dünn geworden: nur 83 Seiten. Du erhältst es sofort.  Euer Fredi, der Euch umarmt.

Das Mädchen aus Basel schrieb einen reizenden Brief. Soll ich ihn Dir senden?

Berlin, 10. November 1919

Liebe Mutter,

es ist so unangenehm, daß der Koffer mit den Kleidern noch nicht hier ist. Das Wetter ist furchtbar: Schnee und Sturm: wenn ich den Pelz nicht hätte von meinem Großvater, ich war verloren. Denn ich habe ja nur Sommerkleider hier. Der 9. November ist im Schneegestöber überhaupt nicht sichtbar geworden. Alle Gerüchte über kommunistische Putschabsichten waren (natürlich) Unfug. »Gefeiert« ist er überhaupt nicht worden. Rote Fahnen und Schleifen sah ich nicht eine einzige. Eine unglaubliche „Revolution“. – Am 7. hab ich hier im Rahmen der Reiß’schen Verlagsabende gelesen. Ich habe mich immer noch nicht erholt von diesem Abend. Ich hatte Reiß vergeblich gebeten, Resi Langer für diesen Abend wegzulassen: sie ist mehr eine literarische Operettendiva. Die Diskrepanz zwischen den beiden Teilen war für mein Ohr und mein Herz unerträglich: Sie las Sachen aus dem Karussell und Morgenrot, die ihr liegen, die aber zu dem, was ich heute mache, so gut wie keine Beziehung mehr haben. Ich las Franziskus und einige Balladen. – Schuld bin natürlich nur ich: warum war ich so schwach und ließ mich von Reiß überreden. – Die meisten Leute werden das gewiss gar nicht gemerkt haben, aber die paar, auf die es mir ankommt, sicher. Und so ist für mein Gefühl dieser Abend absolut verunglückt. –

Die Leute, die zum Vergnügen hier sind, werden Berlin gewiss reizend finden. Wenn man aber zu tun hat, so gehört zu der geringsten Sache ein riesiger Aufwand von Willenskraft und Nervenkraft und Kombinationstalent, daß man zu der und der Zeit da ist: dazu muss man die sämtlichen Fahrmöglichkeiten im Kopf haben, aus der Unter grundbahn auf die Tram, aus der Tram auf die Stadtbahn „stürzen“. Hier „stürzt“ man überhaupt nur. Mit Gehen kommt man nicht weiter. Seid beide umarmt von Eurem Fred

Berlin 25. November 1919

Liebe Mutter,

das Packet kam eben. Herzlichen Dank! – Ich war gestern zur Generalprobe der Orestie im Großen Schauspielhaus. Das Haus ist herrlich. Die Beleuchtungsanlagen unwahrscheinlich schön. (Es gibt keine Lampen: die Säulen und die Kuppel leuchtet!) Es war nach 12 (nachts), als ich ziemlich unbefriedigt das Haus verließ. Der zweite Teil war noch nicht mal zu Ende. Ich hatte den Eindruck einer antiquierten Angelegenheit: Vorjahren war ich viel tiefer von Oedipus ergriffen worden. – Man hätte die Antigone in der Hölderlinschen Übersetzung spielen sollen. –

Die Bücher ziehen sich furchtbar hinaus. Alles sollte schon erschienen sein, und noch ist nichts da: weder Dreiklang noch Nachtwandler, weder Trunkenes Lied noch Tierkreis, weder Hafis noch Literaturgeschichte. Der Verlag der letzteren hat mir einen bösen Streich gespielt. Ich bat ausdrücklich um eine letzte Textrevision. Er schickte sie nicht und gab das Buch so in Druck. Ich fürchte mich direkt vor dem Erscheinen. – Die Sonette werden in einer besonders schönen Ausgabe bei Reiß erscheinen: nur in 300 Exemplaren. – Es handelt sich bei der Tanzanthologie um eine lyrische Anthologie.

Herzlichen Gruß Euch beiden. Ich schreibe im Bett. Ich bin ziemlich müde. Euer Fred

Berlin, 10. Dezember 1919

Liebe Mutter,

Schall und Rauch hat vorgestern seine Pforten aufgetan: die Kritiken im Tageblatt, Mittagszeitung, 8’Uhr-Abendblatt sind ja himmelnd. Ich stehe nicht auf dem Standpunkt, ich finde die ganze Sache gräulich, und hätte ich das Wie und Was früher gewusst: ich hätte nicht mitgemacht. Ich bin durch den Namen Reinhardt verführt, auf den Leim gekrochen. Na: jetzt heißt’s die Zähne zusammenbeißen und den Monat durchhalten. – Monti umgibt sich in meiner Erinnerung mit immer goldener Gloriole. Könnte ich doch wieder hin. – Es wird Dich freuen, zu hören, daß Reiß die Sonette ganz besonders schön herausgeben will: mit Beigabe von Radierungen oder Lithographien. Seid beide herzlich umarmt von Euerem Fred

Berlin, 15. Dezember 1919

Liebe Mutter,

Dank für die Briefe. Ich wünsche mir nichts zu Weihnachten. Und was ich mir wünsche, das kann man mir doch nicht geben. – Sag doch dem Wohnungsamt, daß ich irgendwo doch eine ständige Wohnung haben muss. Wo soll ich denn meine Sachen lassen? Die verwildern übrigens schön: besonders die Wäsche hier und die Kleidung. Ich kann mich doch nicht darum kümmern. Ich verstehe es ja auch nicht. – Von Schall und Rauch hab ich ein neues günstiges Angebot bekommen: ich soll ab 1. 1. in die Direktion eintreten (das täte auch not! bei dem literarischen Saustall). Ich brauchte dazu nicht in Berlin sein, das mache ich schon zur Bedingung. Und bekam ein Jahresgehalt von 15 000 Mark. Das sollte ich doch eigentlich akzeptieren. Dann brauchte ich ein ganzes Jahr mal kein Geld verdienen. Was meinst Du? Was denkst Du Dir dada-bei? (Ich schicke Dir die beiden neusten sehr amüsanten Dadahefte.) Seid beide umarmt Euer Fred

Berlin, 20. Dezember 1919

Liebste Mutter,

tausend Dank für das reiche bunte Packet! Ihr beschenkt mich mit so vielem, aber was mir am wertvollsten ist: mit Eurer Liebe, die ich Euch bitte, auch in das neue Jahr und alle neuen Jahre mit hinüberzunehmen, die uns, soll ich sagen: beschieden oder noch auferlegt sind? Ich bin ja ein gebrochner Mensch, und meine das nicht im sentimentalen Sinn, sondern: die Strahlen meines Wesens, das irgendwie von der Sonne kommt, sind gebrochen, ich bin nicht mehr eins mit mir. Der Baum hat über der Wurzel einen Bruch bekommen. – Hast Du von Einstein gelesen? Die Welt ist voll von seinem Ruhme und seinen Forschungsresultaten. Und dennoch, wenn die Menschheit wirk­lich einsichtig wäre, hätte sie die Relativitätstheorie in der Wissenschaft, in den Wis­senschaften, schon längst begreifen müssen, es ist die simpelste Wahrheit, wenn man vom geistigen Standpunkt her kommt. Ich erinnere mich, 1917 in Davos mit Levy einen langen Disput gehabt zu haben, wobei ich wörtlich dieselbe These wie Einstein aufstellte, ohne wissenschaftliche Experimente gemacht oder nötig zu haben: denn es gibt eine absolute Wahrheit, die mit Experimenten nichts zu tun hat: sie muss aus den geistigen Grundtatsachen abstrahiert werden. Levy bestritt damals meine Ansicht, kam aber am nächsten Tage zu mir und sagte: Ich glaube, Sie haben recht. – Was wer­den die Menschen nun aber mit Einstein machen? Sie werden, wie einst bei Newton, stehen bleiben, anstelle die Relativität sämtlicher Wissenschaften, einschließlich der Mathematik, zu erkennen, und nicht nur der Wissenschaften, sondern aller Bezirke aus dem Reich der praktischen Vernunft, einschließlich der moralischen und ökonomischen Gebiete. Wir müssen einmal mündlich über all das reden. – Bitte, laß die rot unterstrichenen Lieder abschreiben! Aber tu’s nicht selbst! Es ist tödlich langweilig. Seid beide herzlich umarmt von Eurem Fred

Berlin, 26. Dezember 1919

Liebe Mutter,

diese Tage und diese Nächte haben mir wieder sehr weh getan. Ich suchte überall nach Irene. Ich bin durch die Straßen gelaufen, ihr irgendwo zu begegnen. Was die Vernunft längst weiß: Herz und Auge und Ohr wollen es noch immer nicht begreifen. – Ich hatte selbst in diesen Tagen allzu viel zu tun. Das neue Programm steht unter meiner Leitung. Ich habe auch zum ersten Mal Regie geführt und Du wirst vielleicht als Laie nicht verste­hen, was [für] eine entsetzliche Nervenkraft dazu gehört und wie man einfach fertig ist nach ein paar Stunden Proben. Ich sende Dir das neue Programm und alle Texte. Laß Dir’s andeuten: als Ansager kommt ein spanischer Wundertheaterdirektor, dann eine Sän­gerin zur Laute, eine Tänzerin, ein Finne mit dem Kantele, Gussy Holl mit Liedern, H. v. Meyerinck mit einer Szene Der Spieler, Mady Christians als dancing girl, Twardowski mit Parodien, Graetz als Zeitungsjunge und ein politischer Film von Trier. Die Texte der Lieder und Szenen sind alle von mir, z. Z. unter einem neuen Pseudonym: Pol Patt …

Ich bin jetzt auf ein Jahr eingetreten, ich schrieb’s Dir wohl schon. Gottseidank hab ich ausdrücklich ausgemacht, daß ich nicht in Berlin bleiben brauch. – Eine andre Stelle ist mir von einem deutschamerikanischen Zeitungskonzern angeboten worden. Ich bin mir aber noch nicht schlüssig und erbitte Euren Rat. Ich neige dazu, es abzu­lehnen, obgleich die materiellen Bedingungen glänzende sind: ich soll die Redaktion einer neuen Tageszeitung übernehmen, die mit einem Kapital von 10 (zehn) Millionen Mark gegründet wird. Ich erhielte 40 000 Mark. Dazu die 15 000 Mark von Reinhardt: Summe: 55 000 Mark, so daß ich, meine Bücher noch einbezogen, auf ein Jahresein­kommen von 70 000 Mark rechnen könnte – wenn ich in Berlin bliebe und mich halb tot arbeitete. Was denkt Ihr? Berlin ist ganz amerikanisiert. Die paar Leute, die ge­braucht werden, werden irrsinnig bezahlt. Träte ich gar noch in ein Filmunternehmen ein, so kämen weitere 15 000 – 20 000 M. im Jahr dazu und 100 000 Mark wären die Bilanz eines zweiten Berliner Jahres – in dem ich aber vielleicht schon kaputt war. Denn 8, 10, 12 stündige Arbeitszeit: es würde nicht reichen.

Wenn mir jemand 1000 Francs im Monat verschaffte, ich ließe alles liegen: und ginge zurück nach Monti. –

Die Reise nach Passau hat sich auch hübsch verteuert. Schlafwagen I. Klasse – anders werde ich doch kaum fahren können, denn es gibt nur den Nachtzug und 14 Stunden ste­hen kann ich nicht – wird 200 Mark kosten!! Hoffentlich auf baldiges Wiedersehen, so um den 15ten, 20sten Januar herum. Mit herzlichen Grüßen und Umarmungen Euer Fred

Berlin, 22. Januar 1920

Liebe Mutter,

ich höre so garnichts von Euch. Ich schickte Dir so viel: Briefe, Bücher, Zeitschriften, den Dreiklang. Ich weiß gar nicht, ob alles ankam? Hat Vater z. B. den Buddha erhalten? Mir fällt ein: Du schenktest ihm auf meinen Rat den Untergang des Abendlandes von Spengler im Frühling: ich hörte gern mal seine Meinung darüber. Es ist das einzige historisch philosophische Werk der Gegenwart, scheint mir. Aber wir können uns doch hoffentlich bald mündlich unterhalten. Es ist Kismet, daß immer wieder etwas dazwischen kommt: ich wäre gern längst bei Euch. Auf einmal wieder die Sperre. Und jetzt bin ich ein wenig (es ist nicht schlimm: nicht die Lunge) krank. Ich habe, wie der Franzose so hübsch sagt, attrape quelque chose. Es tangiert mich gar nicht seelisch: Seit Irenes Tod hab ich einen großen Gleichmut allen äußeren Begebnissen und Erscheinungen gegenüber gewonnen. – Anny Romang war bis gestern einige Tage hier. Wir waren oft zusammen. Sie wird im Sommer heiraten. – Wie erscheint Dir der Dreiklang? Ich sehe ihn – wenn ich vom Persönlichen abstrahiere, was sich für uns von selbst versteht und begreift – als ein typisches Buch an: vielleicht das erste Gedicht‘ buch der naclvexpressionistischen und post’aktivistischen Epoche. Und (irgendwie) in einer Reihe stehend mit: Spengler, Keyserling, Bloch. – Ich schreibe diesen Brief im Bett und bitte Dich, die Schrift zu entschuldigen. Seid beide umarmt von Eurem Fred

„Ich bin Mitglied von allerlei Gesellschaften geworden, darunter der Kantgesellschaft, lebhaft applaudiert von Vaihinger, ihrem Vorsitzenden, dem Als-ob-Phänomenologen. Den ersten anti-kantianischen Aufsatz habe ich schon publiciert, betitelt: ich schon publiciert, betitelt: „Laotse und die Kantgesell­schaft.“ Aus einem Brief Klabunds an Ernst Levy, [Berlin], 15. Februar 1920,

Berlin, 4. Februar 1920

Liebe Mutter,

hier der Zettel, ich habe ihn ausgefüllt. Ich denke, von Euch aus dann später nach München zu gehn: »zum Studieren«: (alt genug bin ich ja dazu …) – es soll sonst nicht leicht sein, Aufenthaltsbewilligung zu bekommen. Der reaktionäre Rummel in München soll scheußlich sein. – Hier tret ich – aushilfsweise – noch mal auf. Die Holl ist krank, die Christians auch. Die Grippe herrscht. In Rostock, Jena, Meiningen, Braun‘ schweig: so in der Provinz: lese ich dieser Tage — wenn nicht wieder was dazwischen kommt. Von meiner Mannheimer Matinee habt Ihr gelesen? – In der Neuen Zürcher Zeitung bin ich als »Jude« (!!!) attackiert worden: so was! Der Antisemitismus ist eine nette Sache, wenn er sich gegen Nicht Juden richtet. – Berlin wird immer billiger. Du machst Dir keinen Begriff. Schneiderreparaturen hab ich jetzt 2 x bezahlt: 125 und 50 Mark! Das Bügeln kostet mehr als früher ein ganzer Anzug. Berlin hat mich wieder böse und boshaft gemacht: ich glaube, mein nächstes wird eine Tragikomödie sein. Im übrigen ist alles da: bloß die Preise sind danach: geräucherte Aale 20 M. das Pfund, Gänsepökelbrust: 30 M., Leberwurst 15 M., amerikanisches Fleisch 10 M., Butter 25-30 M. das Pfund. Honig 12 M., Kaffee 26 M. Das sind so die Abendbrotdelikatessen. Ausgezeichnetes Marzipan 30 M., Schokolade 30 M., Kakes 22 M. – Als Hausfrau interessiert Dich das gewiss, wobei allerdings die Qualität sehr gut ist. Immerhin kommt ein Abendessen auf 10 M. bescheiden gerechnet. Frühstück, Honig etc. nicht viel weniger. Ich brauche rund 50 M. den Tag. Die Hauptmahlzeit esse ich: Schweinskotlett oder Kalbsbraten oder Omelett – alles ohne Karte, mit Suppe und Nachtisch 12-15 M. ebenfalls sehr gut. In München soll es halb so teuer sein. Herzlichen Gruß Euch beiden Euer Fred

Berlin, 14. Februar 1920

Liebe Mutter,

macht es Dir Mühe unter den Zeitungsausschnitten der letzten Zeit einen herauszusuchen, der meinen Protest wegen der Hamburger Aufführung des Totengräber enthält? Ich brauchte ihn nämlich bald. In der Neuen Zürcher Zeitung hat man mich antisemitisch angepöbelt … man glaubte, ich sei ein Jude … ausgerechnet i c h. In Schall und Rauch hat Mady Christians mit einem Revolutionsrag von mir im Februarprogramm einen Bombenerfolg. Ich denke, gegen den 25. herüberzukommen. Hoffentlich kommt diesmal nichts dazwischen.

Herzlichen Gruß Euch beiden Euer Fred

Meiningen, 22. Februar 1920

Liebe Mutter,

ich sende Dir einen herzlichen Gruß aus Meiningen. Ich bin ganz begeistert von dem kleinen Nest: ich sprach heute früh im Theater und fand die freundlichste Aufnahme. Das Publikum ist überall besser, enthousiasmierter und leichter – und tiefer zu packen als in Berlin. Nicht in Berlin sein: dies schon ist das Glück … Wenn ich „Schall und Rauch“ erst los wäre, ich wäre selig. Aber leider bin ich ja materiell zu sehr daran geknüpft. Ich rücke Euch nun immer näher. Wenn ich meine Sachen gepackt hätte, dann könnte ich schon morgen bei Euch sein, denn Meiningen ist näher an Euch als an Berlin.

Zehn Tage wird es nun aber wohl noch dauern. Ich denke am 15. bestimmt und spätestens bei Euch zu sein. – Frau Wesselsky besuchte mich vorhin und brachte mir Grüße von Euch. Ich freue mich, daß es Euch gut geht. Seid beide herzlichst umarmt von Eurem Fred

Was man hier noch gut und billig isst – und trinkt! In Berlin gibts nur noch Essig.

Berlin, 12. März 1920

Lieber Vater,

Dein Telegramm: „… hat keine Eile, daß Du kommst …“ klingt so böse, als ob Ihr mich gar nicht mehr haben wollt. Und dabei macht Ihr Euch keine Vorstellung, wie lange ich mich schon nach Euch: nach ein bisschen Ruhe, Frieden, Heim und Heimlichkeit sehne. Immer wieder kommt irgendwas dazwischen: das ist so typisch berlinisch: hier „kommt immer etwas dazwischen“. – Ihr macht Euch übrigens fesch her-aus, Ihr Passauer: alle Achtung: Handgranaten, Bomben, Gummiknüppel: das sind doch kein leerer Wahn. Was in den letzten 14 Tagen allein die entfesselte Soldateska geleistet hat: ist unglaublich. Die Reaktion marschiert nicht: sondern sie ist da. Und bis Ungarn sind nur noch ein paar Schritte. Die Ereignisse machen mich recht nach­denklich, und ich gehe mit mir schwanger, ob ich nicht doch, trotz aller prinzipiellen Unterschiede, der U.S.P.D. oder der K.P.D. beitreten soll: nur um gegen die Reaktion in Reih und Glied zu stehn. – Beifolgendes Telegramm interessiert Euch gewiss: Der Totengräber wurde in Mannheim vorgestern aufgeführt. Gestern las ich mit großem Erfolg im Lessingbund Braunschweig. Seid beide umarmt von Euerem Fred

Hannover, 2. Mai 1920

3/4 10 abends.

Liebe Mutter,

in Eile ein paar Zeilen im Zimmer des Oberregisseurs flüchtig aufs Papier geworfen. Draußen spielen sie den dritten Akt des Tristan. Ich habe in den paar Tagen viele Dinge und Menschen erlebt. Der Bub ist ganz entzückend, ein lieber Kerl, eine hübsche Mischung aus Frechheit und Versonnenheit. Er nannte mich immer Klabünterle; ich habe ihm natürlich Schokolade mitgebracht und auf diese Weise sein Herz gewonnen. Frau D. ist natürlich ziemlich herunter mit ihren Nerven. Ihr Mann ist jetzt im Gefängnis in Berlin. Ich traf noch in Berlin die kleine Stenotypistin und die Dame in Blau, die Du ja nicht magst, die aber sehr aufreizend auf mich wirkt. Sie geht ins Blut wie (immerhin) Friedenssekt. Um in Eile nur alles kurz zu rekapitulieren: bei Reinhardt und Schall und Rauch hat’s einen Krach gegeben. Es war sehr gut, daß ich nach Berlin kam, so habe ich noch ein paar tausend Mark für mich gerettet und bin mit sofortiger Wirkung ab 1. Mai aus Schall und Rauch ausgeschieden. Das ist keine Schande. Im Gegenteil. Vielleicht hätte ich materiell mehr retten können, wenn ich mich auf juristische Kniffe verstünde und mit Klagen etc. gedroht hätte. Ich hab’s bleiben lassen und den Vergleich angenommen. Es scheint, daß durch Schiebungen irgendwelcher Art Schall u. Rauch gehalten werden soll. (Neue Gesellschaft etc.) Hollaender, Herald, Theobald Tiger sind ebenfalls ausgetreten. – Jetzt sitz ich hier. Gestern 2 Akte Entführung aus dem Serail. Ich wohne im Gasthaus Hindenburg (!!!), Bödekerstr. 79, da Küppers, den ich sprach, schwer krank zu Bett liegt. (Grippe oder so: ganz plötzlich: Frau u. Kind kranken auch.) Morgen wohne ich der Probe bei. Heute früh war Vortrag. In aller Eile seid herzlichst und mit Sehnsucht nach Passaus Frieden umarmt von Eurem Fred

Grüße an die guten Menschen: Hingsamer, Kieffer, Schulrat samt weiblichem Anhang.

Hannover, 7. Mai 1920

Liebe Mutter,

ein paar Worte in aller Eile. Heut Abend ist die Aufführung. Ich habe täglich von 10 bis 4,5 den Proben beigewohnt. Dazu jeden Abend bis in die tiefe Nacht oder den frühen Morgen eingeladen: Du kannst Dir denken, daß ich nach dem Passauer Frieden zuweilen große Sehnsucht bekam. Gefressen (so muss man’s schon nennen) und gesoffen hab ich hier in Hannover wie seit Jahren nicht. Der hiesige Oberregisseur Dr. Roenneke ist sehr tüchtig, ich bin mit der Vorstellung sehr einverstanden, es ist alles, was man aus den Kräften und den Mitteln eines früheren Hoftheaters herausholen kann. Sehr bedauert habe ich, daß das Intime Theater Nürnberg den Hannibal dieser Tage aufgeführt hat, ohne daß ich’s wusste. Freunde schrieben mir, daß die Aufführung und Regie unter aller Kritik gewesen sei und daß das Publikum am Schluss auf das ausgiebigste gezischt habe. Hätt ich davon gewusst: ich wäre natürlich nach Nürnberg gefahren und hätte die Regie selbst übernommen. Den 4. Akt darf man überhaupt nicht spielen: er ist für’s Buch. – Morgen fahr ich ab. Seid beide herzlich umarmt von Eurem Fred

Hannover, 8. Mai 1920

nachtwandler entfesselten bei ausgezeichneter darstellung eine erbitterte theater-Schlacht wie sie hannover bisher nicht sah schliesslich besiegte die begeisterte und rasende Jugend den organisierten widerstand einer hoftheatercliojie und rief dichter regisseur und darstellung an die 20 mal vor rampe und eisernen Vorhang. – gruss fred

Heidelberg, vor dem 15. Mai 1920

Liebe Mutter,

Dank für Deinen Brief. Ich denke in der Woche nach Pfingsten wieder bei Euch zu sein. Dann will ich mich ausruhn, allerlei kleine Dinge tun wie die Anthologie und mich auch wieder einmal richtig und gut satt essen. (In Hannover war’s sehr gut, in Heidelberg und Mannheim gibts kein Essen, das ist schon mehr ein Fraß.) Ich habe viele Freunde überall gefunden. Roenneke, der Regisseur vom Theater, die Kritiker Frerking und Havemann in Hannover, Dr. Küppers, den Gründer der Kestnergesellschaft, den Dichter Schiebelhuth, den Verleger Steegemann: alle in Hannover; hier in Heidelberg den Kunsthistoriker Fraenger, den alten Philips, ich nenne nur Menschen, zu denen ich irgendwie herzlicher empfinde. Auch das Zusammensein mit der Dame in Blau und Mimi tat und tut mir zweifellos so wohl. Die Welt hält sich halt durch das Gesetz der Waage in der Schwebe. Der Friede muss erkämpft werden. Die Pressehetze gegen mich tangiert mich nicht weiter. Ich stehe viel zu fest und sicher auf mir, als daß mich ein Pressekuli aus dem Gleichgewicht brächte. – Gratuliere Dir zu Deiner Kan­didatur. Vielleicht ist Sternheims Kandidat jetzt die richtige Lektüre für Dich? – Ich sende den Reclam-Vertrag hier mit. Gib ihn Vater. – Ich schreibe diese Zeilen unter den grünen Bäumen der Stiftsmühle am Neckar. Am Abend wollen wir mit dem Boot nach Heidelberg zurückfahren. Seid beide umarmt von Eurem Fred

Mein Geld wird knapp. Ich werde vermutlich drahtlich drum bitten müssen.

Heidelberg, 15. Mai 1920

Liebe Mutter,

nur in aller Eile ein herzlicher Gruß aus Heidelberg; ich sitze am Neckar und starre in die roten Mauern des Schlosses. Wolken sausen über den Himmel, und es wird bald hell, bald dunkel. Wie auch in mir. Gestern war ein herrliches Fest in Wolfsbrunnen, wir sangen die Lieder des alten unsterblichen Bellmann und am Ende auch Lieder von Werfel und mir. Heut Abend wird hier der Ur‘ Hamlet gespielt. Ich kann Dir alles nur andeuten. Mimi ist hier. Sie trug gestern einen Reifrock, denn sie spielte Ulla Winblad, die Geliebte des schwedischen Dichters. Habt Ihr mein Telegramm erhalten? Ich hab bald kein Geld mehr. Seid umarmt Euer Fred

Nürnberg, Sulzbacher Straße 80 bei Graf, 25. Mai 1920

Liebe Mutter,

ich wollte Euch heut antelefonieren, da hieß es: Passau gestört! Ihr werdet doch nicht: entweder eine Rätemonarchie oder eine Wittelsbacherrepublik „ausgerufen“ haben! Ich komme Sonntag mit dem Schnellzug Nürnberg-Passau (ich weiß nicht, wann er geht). Ich lese noch am Samstag hier. Ich fühle mich sehr wohl. Die Fahrt Heidelberg-Nürnberg habe ich zum Teil im Auto zurückgelegt, die Bergstraße entlang bis Frankfurt, auf diese Weise bin ich blitzschnell hier gewesen (Heidelberg-Nürnberg etwa 7 Stunden!).

Zu meinem fürchterlichen Entsetzen fällt mir eben ein, daß ich die Hauptsache der ganzen Reise vergessen habe: um dessentwillen ich eigentlich fuhr: ich vergaß – die Nationalversammlungsmarken mitzubringen … ich weiß nicht, ob ich dem Vater unter die Augen treten darf… Übrigens bitte ich den Vater, daß er mich in die Wählerlisten einzeichnen lässt, damit ich wählen kann. (U.S.P. oder K.P.D.: der Mord an Paasche, diese bestialische Scheußlichkeit hat mich wieder ganz in Rage gebracht.) Daß Ihr mit diesen Hunden ein Bündnis abgeschlossen habt in Bayern, Ihr Demokraten mit diesen autokratischen Metzgern, das las ich gestern und glaubte es kaum. Die Demokratische Partei hat mit ihrem Anschluss an die Mittelpartei ihr Daseinsrecht verwirkt. Sie soll und muss krepieren. –

Vorläufig bleib ich wieder bei Euch, 4 Wochen zum mindesten, wenn Ihr mich nicht an die Luft setzt, die ja allerdings jetzt mehr als lau ist: hier brodelt eine tropische Hitze. Seid beide umarmt von Eurem Fred

München, Samstag, 24. Juli 1920

Liebste Mutter, liebster Vater,

schade, daß Ihr nun nicht mehr nach München kommt, so lange ich da bin. Ich ver­stehe übrigens den Satz in Vaters Brief nicht: Habt Ihr die Reise verschoben oder fahrt Ihr etwa, im Hinblick auf Polen, gar nicht? – Ich habe München, oder vielmehr mich, schon wieder so satt, daß ich gleich spornstreichs wieder nach Passau möchte. Das Vergnügen macht auf die Dauer kein Vergnügen. Frank und Fredi haben mich sehr lieb aufgenommen: Frank hat einen Vortragsabend gehalten, dessen Erlös er mir schenkt, was ich ganz und gar nicht recht finde: meint Ihr nicht auch, daß ich das nicht annehme? Heute Abend ist bei Mannheimer großes Gartenfest: tout Munich ist da, ich werde auch hingehn. Was mir sonst in diesen Tagen an Schiebern, Filmdi­ven, Artisten, Schriftstellern, Malern, Mädchen, Lautensängerinnen, unglücklichen Witwen, Verlagsbuchhändlern etc. begegnet ist, kann ich nicht auseinanderhalten. Hin und wieder war auch ein Mensch darunter. Ich bin natürlich schon wieder tot‘ müde. Geld habe ich auch zum Fenster hinausgeschmissen. Ihr müsst mir bitte nach Mittenwald welches schicken. Ich sag Euch noch die Adresse: vorläufig für Post ab Dienstag: Mittenwald postlagernd.

Seid beide herzlich umarmt von Eurem Fred, der sich nach Euch wirklich sehnt.

Die Karte ist für Mutters Autographensammlung. Meine Schrift ist schrecklich. Ich kann schon nicht mehr schreiben.

Mittenwald, 11. August 1920

Liebe Mutter,

der Hans hat mich eingeladen, August und September bei ihm zu bleiben. Jetzt bin ich nun glücklich von drei Seiten eingeladen, es wird mir schwer gemacht, mich zu entscheiden; das Atelier ist auch noch für mich reserviert; was könnt ich, was sollt ich, was wollt ich – was müsst ich alles tun! – Mimi ist noch mein Stern. Aber ein zweiter Stern ist neben ihr aufgegangen, überm Karwendel.

Ich habe ein ganz untragisches Leben hier. Ich bin ganz entsetzlich faul. Ich denke immer, ich müsst mal wieder was tun. Aber ich weiß nicht was. Zuweilen lese ich ein paar Seiten Dostojewski, aber dann ists mir schon zu viel. Ich bin weder glücklich noch unglücklich. Das Dasein hängt in der Schwebe. In München hab ich Dutzende von Menschen getroffen, ich glaube immer, den ersten Teil des Winters werd ich in Mün­chen verleben und erst das Frühjahr in Italien. – Heut hab ich Kartoffeln gehamstert bei einer Bäuerin. Auch den Buben von Hans muss ich manchmal warten. Neulich war hier Ganghofergedächtnisfeier: Almenrausch und Edelwoaß. Am Schluss: lebende Bilder: der Dichter im Kreise seiner wackeren Gebirgler, dichtend. – Das Wetter wechselt: Regen, Sonnenschein. Ich ging gern mal nach Innsbruck. Nach Füssen ists von hier leider so weit: von früh 9 bis nachmittag 4 braucht ich: die Strecke Garmisch-Reutte (45 Kilometer!!) dauertallein circa 4 Stunden – eine halbe Schnellzugstunde wär’s! – Seid beide umarmt von Eurem Fred

München, 21. August 1920

Liebe Mutter,

ich schreibe Dir, in vieler Eile und mit einem Bleistiftstumpf, um Dir und Vater einen guten Sonntag zu wünschen. Ich bin wieder in München, bleibe einige Tage oder auch länger. Mimi fährt Montag wieder nach Karlsruhe. Sie war sehr lieb. Trotzdem ist es grade Zeit, daß sie wieder geht. Ich kann Frauen auf die Dauer nicht vertragen. Es sei denn, sie seien wie Irene, an die ich soo oft mit süßer Sehnsucht dachte. Das Fannerl hat geweint. Auf der Reise hab ich in den Karamasoffs geblättert. Mimi sagte immer, ich hätte solche Ähnlichkeit mit Dimitriy. Vielleicht … Heute hab ich sie gewürgt, und das war gewiss nicht recht. Ach, das Schönste ist doch die Freiheit: den Kopf in den Nacken geworfen zu den Sternen sehn. – Sendet mir bitte die Post nach hier nach. Von der Literaturgeschichte, die andauernd gekauft wird, will der Verlag eine sehr große Auflage drucken. Das würde mich – auch aus materiellen Gründen – lebhaft freuen. Ich habe noch den Hans um 1000 M. bitten müssen, und im ganzen sicher circa 4000 M. verbraucht. Ich bitte um eine Quittung oder Bestätigung, daß das Büro 1000 M. an Hans geschickt hat, wie ich bat (die Postanweisungen hab ich unterschrieben zurückgeschickt).

Seid beide heftig umarmt: das Leben ist doch lebenswert: trotz Teufel, Tod und Tränen. Euer Fred

München, Schwindstr. 29/IV. I., vor dem 2. September 1920

Liebste Mutter,

es ist ein Uhr nacht und ich schreibe Dir schnell noch, ehe ich zu Bett gehe. Ich habe eben die Heiligenlegenden korrigiert. Bitte (der Verlag hats verdöst) schick mir doch – das Manuskript wird wohl in Vaters Geldschrank liegen – die Quellenangabe aus den Heiligenlegenden. Wenn Du ihr Brotmarken und etwas Zucker beilegen könntest: wär’s sehr nett. Ich hause wild wie in einer Räuberhöhle. Ich muss mir ja alles selbst machen.

Ich lebe viel, aber ich arbeite auch viel. Die letzten zwei Tage hab ich zwanzig Gedichte geschrieben. – Heut traf ich den Philosophen Ernst Bloch. Gestern den Professor Kutscher, mit dem ich bis in die Nacht soff. Vorvorgestern war ich bei Johst. Jagerspacher sah ich: das Beste ist immer noch das grünrosa Kissen, auf dem der eine Akt liegt: bezaubernd. Seine letzten Sachen sind zu virtuos, zu süß. Seid umarmt von Eurem Fred

München, vor dem 14. September 1920

Liebste Mutter,

Dein Brief hat mich wieder beruhigt: Du bist mir doch noch zugetan. Ich habe doch gar keine Anlage zur Sentimentalität, aber in meinem Gefühl zu Euch scheint sie manchmal gesteigert da: so sehr hänge ich an Euch. – Lies inliegende Karte und sei so gut und suche mir die Kritiken von Vortragsabenden (Nürnberg, Meiningen, Mannheim, Braunschweig etc.) heraus und schicke sie mir. Ich sichte sie dann. – Mit Reiß bin ich augenblicklich in Differenzen, finanziellen natürlich. Ich will ihn um zehntausend Mark ersuchen, für Italien, und ich meine, er ist verpflichtet, sie mir zu geben, findest Du nicht auch? Denk Dir: Moreau, Karussell, Marketenderwagen: sind alle drei momentan vergriffen! Er ist so entsetzlich langweilig mit Neudrucken. – Die Sonette sind fertig, erscheinen in 14 Tagen. Die Heiligenlegenden Anfang Oktober. Ebenso der Laotse. – In Meyer’s neuestem Konversationslexikon bin ich bereits zu finden!! Auch in dem Herder’schen! Die Münchener Medizinische Wochenschrift hat sich ausführlich mit meinen Davoser Büchern beschäftigt. (Heft vom 7. August.) Kubin traf ich gestern zufällig. – Jagerspacher ist ein großes Erlebnis, wenn man seine Sachen (die schönsten: der Akt mit dem grünrosa Kissen, den er selbst dreimal plagiiert hat, so sehr gefiel er ihm der Geiger, der eine Christus) zum ersten Mal sieht. Nach und nach verliert sich dieser Eindruck und man bemerkt, wieviel Sentimentalität und Mache in vielen, besonders den letzten, seiner Malereien steckt. Er ist ein guter Akademiker und als solcher natürlich besser als alle schlechten Expressionisten. Die Neue Sezession ist überhaupt recht schwach dieses Jahr: gefallen haben mir: Erbslöh, Der Desenberg, Jawlensky, Improvisationen, Th.Th. Heine, Unter der Weide, Kanoldt, ein Stilleben, Kokoschka, Herrenportrait, Lichtenberger, Ludwigstraße, Pechstein, Frauenhaus, Pascin, Weihlicher Akt, Seewald, Waldlandschaft, Werefkin, Das rote Tor, Doerner, Pilsensee, ein Davringhausen. Das wäre alles. Niederschmetternd ist garnichts. – Kubin ist ein Heros gegen das meiste Geschreibsel und Gekritzel dort. – Viel übrig habe ich für Pascin (nur gering vertreten), der Heine (bei Cassirer) ganz entzückend illustriert hat. – Gestern war ich beim Fest der internationalen freien sozialistischen Jugend. (Tonhalle.) Es war der erste Welttag der Jugend. – Die U.S.P. kann als Partei die Moskauer diktatorischen Forderungen nicht annehmen, sonst ist sie nicht mehr.

Mir gefällt dieser Ton gar nicht: denn was weiß Moskau von Deutschland? (Vielleicht gehe ich nächstens mal hin. Aber ich glaube, ich bin den Bolschewiki auch nicht recht, denn ich bin ja immerhin ein homo sapiens, ein denkendes Wesen, und das Denken gebe ich selbst bei Lenin, den ich sehr verehre, nicht auf. Seid umarmt Euer Fred

München, 14. September 1920

Liebe Mutter,

bitte schick sofort an das Schauspielhaus Bad Pyrmont, Intendant Dr. Ulbrich für Klabund diese Bücher: Mohammed (Handexemplar: korrigiert), Villon, Feueranbeter, Sinngedicht, Bracke, Himmelsleiter. – Ich habe ja nichts hier und lese wahrscheinlich auch in Oldenburg und Hannover. – Ferner schick einen Klabundprospekt an: Konzertbüro Bernstein, Holzgraben 6, Hannover. (Den mit der Oppenheimerzeichnung.) – Die Kritiken sind zu zufällig: die wichtigsten fehlen. – Herzlichen Gruß Euer Fred – Frau Kaufmann liegt, wie es scheint, im Sterben.

München, 21. September 1920

Liebe Mutter,

Dr. Ulbrich schreibt „Ich kann Ihnen zu meiner Freude mitteilen daß der Hannibal ein starker, herzlicher Erfolg gewesen ist. Am Schluss verlangte man nach Ihnen und ich musste dem Publikum in Ihrem Namen danken …“ Das ist nett, gell? – Ich bin entsetzlich erkältet, huste und belle, schlucke Codein und Spitzwegerichtee, es hilft nichts. Ich soll nach Berlin, Reiß telegrafierte heute, am 28. lesen und mit ihm Verhandeln, wir sind uns durchaus nicht einig. Ich weiß noch nicht, was tun. –

Gestern haben wir Frau Kaufmann beerdigt. Ich bekam auf dem Friedhof einen Weinkrampf, nicht im Hinblick auf die gewiss sehr gute Frau K., sondern weil im Augenblick die ganze Atmosphäre von Locarno so leibhaftig wurde. Es ist ja grade die Zeit jetzt, zwei Jahre sinds, die Wunde brennt noch immer. Seid umarmt Euer Fred

Feldafing, am See, 25. September 1920

Liebe Mutter,

Deinen Brief, den Du in der Karte erwähnst, habe ich nicht erhalten! So wenig wie 2 Sendungen des Dürr und Weberverlages, die schon die Korrekturen erhalten soll‘ ten. Ich verstehe das gar nicht, es ist sehr ärgerlich, weil das Buch doch zu Weihnacht erscheinen soll – aber vielleicht bin ich schon wieder »unter Polizeiaufsicht«. In München sind ja muntere Zustände in dieser Hinsicht. Ich hoffe, am Montag fahren zu können: mein Husten scheint nachzulassen. Wenn ich von Reiß Geld erhalte, fahre ich vielleicht schon in 14 Tagen nach Meran. Vielleicht auch nicht. Ich kann ja nie was Festes sagen. Verteidigt mein Zimmer aber bitte mit Löwenmut! Ich muss doch irgendwo zu Hause sein können, wenn ich nicht irgendwo eine Heimat habe, werd ich krank.

Pfirsichblüte Wie süß du duftest Bunte Trösterin Wenn die Regenfee Sich über dich beugt Und ihre Tränen Dich benetzen.

Wie gefällt Dir diese Improvisation? Sie ist von Li Tai’pe (und von mir). Seid beide umarmt und denkt manchmal an Euren Fred

München, nach dem 25. September 1920

Liebe Mutter,

es ist halb drei nachts. Abends kam ich von Feldafing, wo ich mit Frank und Fredi zusammen war: jetzt hab ich noch gearbeitet bis jetzt: Korrekturen gelesen, Briefe an Theaterdirektoren geschrieben, an Konzertagenturen, jetzt schreib ich noch zum Abschluss einen, der mir viel lieber ist als die andren: an Dich. Ich habe so viel aus‘ gehalten, in jeder Beziehung, daß ich mich über meine Nerven wundre, daß sie noch nicht gerissen sind. Zu allem andren macht mir auch Reiß die lebhafteste Sorge: Du kannst Dir denken, daß München nicht ganz billig ist, selbst bei nicht allzu großen Ansprüchen: mein Geld geht jedenfalls langsam den Weg alles Irdischen, ich brauche unbedingt eine größere Summe, soll ich nach Meran gehen, was ich wohl ziemlich nötig hab: 10 oder 20 tausend, ich werd mit Reiß einen schweren Kampf haben am Dienstag. Montag fahr ich nach Berlin, trotz meiner Erkältung. Wie ich am Dienstagabend sprechen soll: ist mir noch schleierhaft. (Entschuldige die Schrift.) Ich will auch versuchen, Wegener zu sprechen, wegen einem Film. Ich komme auf jeden Fall vor Meran noch zu Euch: ich denk in 14 Tagen, nach Mannheim (12. Oktober).

Wenn ich das Geld erst hätt: es macht mir ernsthaft zu schaffen. – Ach, das falsche Handtuch, das ist ja furchtbar. – Vielleicht bekomm ich ein Kind von einer schönen blonden (verheirateten – getrennt lebenden) Frau, aber um Gotteswillen: ich möcht’s doch nicht. – Immer Dein Fred

München, vor dem 12. Oktober 1920

Liebe Mutter,

vor einigen Tagen schrieb ich an die Basler Nationalzeitung, ich sandte ihr einige Manuskripte und bat sie, das Honorar dafür direkt nach Locarno, an den Gärtner Schäppi zu senden, damit er das Grab zum 18. schmücke. An Frl. Mendwyler schrieb ich auch. Ich denke so oft an Locarno und wenn ich an Meran denke, denke ich eigentlich auch an Locarno. Ja, hoffentlich gibt Reiß das Geld. Ich denke, am Sonntag nach Berlin zu fahren, unwohl fühle ich mich eigentlich nicht: ich bin wohl etwas fiebrig, aber das Ärgste ist der Husten: weil ich meinen Vortragsverpflichtungen dann nicht nachkommen kann.

Am 12. ist Hannibal in Mannheim. Ich möchte doch endlich mal ihn auf der Bühne sehn. – Mit dem Schauspielhaus hier, das mit Hidalla einen großen Erfolg hatte, ver­handle ich wegen dem Armen Kaspar. Es wird hoffentlich was. – Ich ließ mich gestern untersuchen. Aber die Lungenärzte sind ja immer viel ängstlicher als es nottut. Wenn’s nach denen ging, war ich schon längst nicht mehr. – Ja: mit der Liebe und mit dem Lieben ist es so eine Sache: Mann und Frau werden sich hier nur verstehn – wenn sie sich lieben … Die physische und psychische Konstitution ist zu verschieden. -Gestern und heute scheint die Sonne. Das tut so wohl. Meine Mutter ist auch krank. Sie schont sich halt nie. Und mein Vater ist, neben seinem Beruf als Apotheker, immer noch (ich glaube im 5. Jahr!) unbesoldeter Bürgermeister! Ich finde das einen Skandal. Seid beide umarmt von Eurem Fred

Berlin, vor 14. Oktober 1920

Liebste Mutter,

ich hoffe, sehr bald zu kommen: bitte schick keine Post etc. mehr nach. Am 14. steigt Hannibal über die Mannheimer Bretter: es ist wirklich traurig, daß immer was dazwischen kommt, wenn ich meine Stücke sehen will. Ich fühle mich nämlich so gar nicht gut, daß ich kaum werde reisen können (Berlin ab 8 Uhr früh, Mannheim an 12 Uhr nachts!!) – Ich habe hier natürlich hauptsächlich meine geschäftlichen Angelegenheiten geordnet: ich habe einen neuen Vertrag mit Reiß geschlossen, der ja nicht ganz in meinem Sinne ist, er hat fast zu viele »Rechte«, auch mit den Prozenten musste ich auf 15 % herabgehn. Dafür hat er sich verpflichtet, mir in 4 Raten, sofort beginnend, 12 000 Mark ä conto auszuzahlen: und das war mir ja das Wichtigste, Geld für Meran in die Hand zu bekommen. Ich werde vielleicht sogar Lire von ihm erhalten, wobei ich allerdings auch reinfallen kann – er aber auch. Das Risiko ist auf beiden Seiten. – Mit meinem Vortrag hatte ich auch Pech: er war ausverkauft: aber am selben Tag begann der Zeitungsstreik, so daß nur im Vorwärts und im Börsen Courier Referate standen: die großen Zeitungen erscheinen nicht.

Heut Abend bin ich bei dem Münchner Christus: bei Eugen Klopfer zu Gast. Ich bin tottotmüde. Ich möchte gern auch noch nach Crossen, aber ich weiß nicht, ob ich die Energie aufbringen werde. Benn traf ich hier und noch einige Bekannte. Für die Rakete soll ich einige Couplets machen. Materiell wär’s zu gebrauchen. Seid umarmt, ich fiebere ein wenig, das macht auch so matt. Euer Fred

Berlin, 18. Oktober 1920

Liebste Mutter, liebster Vater –

heut ist der 18. Oktober, und im Gedenken an Irene umarme ich Euch innig. Ich war auf der Buchbinderei und veranlasste sie, Euch ein Exemplar der Sonette voraus zu binden und Euch zum heutigen Tag zu senden. Ich hoffe, daß es inzwischen in Eure Hände gekommen ist und daß es Euch sagt, wie unwandelbar mein Herz an Irene hängt, wie unlösbar ich an sie geknüpft und gebunden bin. Alle Frauen, die ich liebe oder schaffe: sind nur sie und immer wieder sie. Das Fräulein im Armen Kaspar – die Gonhild im FranziskusMaria im Mohammed: sie und immer wieder sie. Ich habe Frl. Mendwyler gebeten, ihr Grab für heute zu schmücken. Es werden Dahlien und Astern sein. – Ich selbst muss diese Tage noch in Berlin bleiben, denn es entscheidet sich vieles. Ich habe versucht, einen Film zu schreiben, die Legende des St. Gregor in das heutige Russland übertragen. Immer ist bei Euch Euer Fred

Berlin, vor 21. Oktober 1920

Liebste Mutter,

ja: so was muss einem natürlich in Berlin passieren! Und nicht nur der Mantel ist flöten gegangen: auch ein seidener Shawl, meine Wildlederhandschuh und ein Kneifer. –

Ich arbeite viel. Ich habe drei kleine einaktige Komödien geschrieben: Der fremde Gast, Die ewige Wiederkehr, Die Lösung der sozialen Frage. Ich nehme sie mit in den Band meiner gesammelten Dramen auf, der bei Kaemmerer-Dresden erscheinen soll. Reiß wird meine grotesken Gedichte sammeln. Und ein Sonderdruck von meinen Litaipegedichten steht auch in Aussicht. – Hast Du noch ein zweites Exemplar Deiner Gedichte, genau wie wir sie ausgesucht hatten? Dann schick mir’s bitte!! Ich habe übrigens auch bei Kaemmerer deinetwegen gedrängt, und ich gebe die Hoffnung bei ihm noch nicht auf. – Ich schlafe immer schlecht, huste viel, fühle mich aber geistig so munter wie je. Habe auch eine Menge neuer Gedichte geschrieben. Seid herzlich umarmt von Eurem Fred

Crossen/Oder, 21. Oktober 1920

Liebe Mutter, lieber Vater,

ich bin seit vorgestern in Crossen. Im allgemeinen fühle ich mich ja recht gut: trotzdem irgendwas nicht stimmt. Ich habe Schmerzen am Rippenfell und muss auch immer husten. Ich hoffe, daß das bis zum ersten einigermaßen nachgelassen hat: ich habe nämlich – erschreckt nicht – für den November ein Doppelengagement an Rakete und Schall und Rauch angenommen – natürlich nur der materiellen Seite wegen und in Hinblick auf meine mysteriöse Italienreise. Ich bekomme für den einen Monat ungefähr so viel wie voriges Jahr für fünf Monate. Auch möchte ich die mir gegebene Berliner Galgenfrist noch dazu benutzen um Filmverbindungen anzuknüpfen. – Berlin ist noch teurer geworden und ich bin eine schwere Menge Geld schon losgeworden für Wäsche, Schuhe etc., auch hab ich einige Schulden zurückgezahlt und bin natürlich sofort von „guten Freunden“ angepumpt worden. Dazu rechne ich Frau D. selbstverständlich nicht, der ich ja gern half. – Was ist übrigens in Passau für mich noch einge­laufen? Dürr und Weber schrieb was von 600 Mark. Post bitte ich Euch nach Berlin zu senden: ab 28. bin ich wieder da. – Habt Ihr die Sonette erhalten? Soffel schrieb mir, für fünf Francs könne er mich unterbringen: das sind aber leider immer noch 70 Mark. Und dann ist’s noch ganz primitiv. Da wird Meran wohl angebrachter sein.

Meine Eltern, die sehr lieb zu mir sind, lassen Euch herzlich grüßen. – Nachher muss ich zum Zahnarzt: ich habe eine furchtbare Angst. Reiß wird wohl meine gesammelten chinesischen Gedichte bringen. Seid umarmt von Euerem Fred

Crossen/Oder, nach dem 21. Oktober 1920

Liebe Mutter,

vielen Dank für Deinen Brief. Ich begreife es aber ganz und gar nicht, weshalb die Wohnungskommission mir mein Zimmer nehmen kann. Ich habe hier mit meinem Vater gesprochen, der doch auch damit zu tun hat und der das entschieden bestreitet. Ich habe einen Beruf, der mancherlei Reisen erfordert: man kann mir währenddessen nicht gut meine Wohnung wegnehmen, dann könnte ja z.B. ein Reisender überhaupt keine Wohnung haben: wenn er monatelang weg ist. Ich bin ja auch gar nicht abgemeldet von Euch: also stellt Euch nur auf die Hinterbeine: was soll ich im Gasthaus zur Eisenbahn? Dann kann ich ja auch Gott weiß wo wohnen. Ich würde die Sache sogar prozessieren. Vor dem ersten, zweiten Dezember kann ich natürlich nicht kommen: wir werden dann sehn, was weiter wird. – Die freundlichen Kritiken stell ich Dir hier wieder zu: leg sie zu den übrigen. – Ich komponiere auf Teufel komm raus: die Valetti, die Kürschner, der Adalbert (in der Rakete) sollen Sachen von mir singen. In Schall und Rauch singe … ich selbst. Ein kühnes Wagnis mit meinem rostigen Bariton. Seid beide umarmt von Euerem Fred

Die Eltern hier lassen herzlichst grüßen. Mein Geburtstagswunsch? Daß ich mein Zimmer behalten darf!

Berlin, 11. November 1920

Liebste Mutter,

was soll ich da sagen? Im Hotel zu wohnen, das war natürlich recht umständlich; viel‘ leicht ist Vater so gut und lässt auf alle Fälle das Licht legen und kauft die Matratzen auf meine Kosten alles. Bei der Gelegenheit frag ihn doch bitte, wieviel Geld ich noch bei ihm liegen habe, vor allem möchte ich gern wissen, ob der Verlag Dürr und Weber seinerzeit ungefähr 600 M. geschickt hat. – Ich arbeite viel, zu viel vielleicht, aber das meiste nur Dinge, die an der Peripherie liegen. Ich habe jetzt den Tartarin neu über setzt: er soll noch zu Weihnachten erscheinen mit Illustrationen von George Grosz. (Der wäre auch ein fabelhafter Illustrator für meine Hurenlieder.) Der Inselverlag hat sich so töricht benommen. Ich denke aber, daß Reiß jetzt meine neuen chinesischen Verse bringen wird. – Der Laotse ist erschienen. Die Heiligenlegenden auch. Ich habe noch keine Exemplare. – Ich versuche jetzt einen Film zu schreiben; hoffentlich gelingts. Ein neues Cabaret will mich als künstlerischen Beirat engagieren. Ich tu’s aber nur, wenn ich nicht mich für Berlin verpflichten muss. – Wie sanft und schön waren die Münchner Tage dagegen! Hier ist immer alles in Aufruhr. Man rast, rennt, und wenn mal Verkehrsstreik ist, ist man völlig verzweifelt. Denn es kommt alles auf die Geschwindigkeit an. – Bitte: vergiss nicht mir meine Brotmarken immer zu senden! Das ist das einzige, was ich unbedingt brauche. Ich bin ja noch bei Euch angemeldet. Auch von meinem Zucker gelegentlich. Alles andere ist hier zu haben. Es ist aber noch teurer als voriges Jahr. Ich glaube nicht, daß ich mit 4000 M. im Monat auskomme (9500 hab ich). Aber vielleicht spare ich summa summarum von Berlin 5000. Das wäre schon etwas. – Gestern war mein Bruder hier. Ein Stück Tartarin er selbst. Aber viel sympathischer als das letzte Mal. Ein wirklich lieber Junge wieder. Seid umarmt Euer Fred

Berlin, 30. November 1920

Liebste Mutter,

herzlichen Dank für die beiden Pakete. Sie trafen eben ein. Ich bedauere so sehr, daß ich Dir immer Arbeit machen muss, und so unangenehme Arbeit! Die Manuskripte sind, soweit ich sehe, alle die, die ich brauche. (Das französische Manuskript wird wohl auch darunter sein.) Eines braucht ich noch, wegen der Gedichte: das Tagebuch aus dem Gefängnis, von dem Du mir bitte 2 Ex. senden magst. – Heute spreche ich zum letzten Mal im Schall und Rauch, Gottseidank. Vorgestern war ich in einer Loge auf gefordert, zu sprechen, wo ein Herr Matthes Großmeister war.

Vater bitt ich, das Geld für mich zu bewahren: mir die Rechnung des Buchhändlers zu schicken, die ich wenigstens durchsehen muss. – Ich arbeite viel. Bin – relativ -glücklich; nur der Husten ist dies Jahr besonders arg. Was wünscht Ihr Euch zu Weihnachten? Der Hans Adler hat im E. P. Tal Verlag, Wien, ein ganz reizendes (auch im Druck!) Gedichtbuch veröffentlicht: Affentheater. Mein neues Gedichtbuch wird recht kurios: es ist so vieles drin, was nur auf dem Berliner Asphalt entstehen konnte. Vielleicht gefällts Dir gar nicht. – Der Titel Die Galgenleiter oder Der Galgen lässt allerlei Vermutungen zu! Herzlich umarmt Euch Euer Fred

Berlin, nach 1. Dezember 1920

Liebe Mutter,

ich habe auch bei Reiß keine Abschrift des Eros mehr gefunden. Bitte sieh noch einmal genau nach, in einem Koffer z. B., ob es nicht da ist. Ich erinnere mich genau, daß ich die Mappe nicht mitgenommen habe. – Heute bekam ich ein Telegramm aus Wien, ob ich im Januar in Wien sprechen wolle, eventuell auch in Graz, Linz, Salzburg. Vielleicht tu ich es. Ich bin mir noch nicht ganz klar. Dann würde ich über Passau fahren und Weihnachten bei Euch sein. –

Schick mir doch alle Gedichte, die Du sonst noch geschrieben hast, noch mal zur Durchsieht. Ich sprach gestern mit einem hiesigen sehr angesehenen Verleger, der auch von mir Bücher gebracht hat, und in dessen Richtung Du gut passen würdest. Ich glaube Dir mit 90% Gewissheit versprechen zu können, dass Deine Lieder im Frühjahr bei ihm erscheinen werden. Wir haben sogar die Type schon ausgesucht. Er wird direkt an Dich schreiben.

Herzlich umarmt Dich Dein Fred

Berlin, nach 1. Dezember 1920

Liebe Mutter,

Du bist sehr ungerecht: ich kann die Pakete doch erst dann bestätigen, wenn sie da sind! Z.B. ist der Pelz, der sicher später als manches andere abgeschickt wurde, schon vor einigen Tagen eingetroffen – wie ich Dir sofort schrieb. – Heute kommt erst der Zucker, Martha Burkhardt und Dein freundlicher Brief. Ja: der Neger ist auch ange­kommen, Du bist von ihm befreit. Und für die Zigaretten bedanke ich mich nochmals herzlich. (Du bist genau wie meine Mutter: wenn sie mir ein Packet schickt, muss ich ihr ausdrücklich bestätigen, daß auch der Umschlag und der Bindfaden mit angekom­men ist…) Das Buch der M. B. ist reizend. Ich schreibe gern darüber. Vorgestern war ich zum letzten Mal in Schall und Rauch aufgetreten. Gottseidank. Leider ist Berlin unwahrscheinlich teuer geworden: ich brauche circa 6000 M. im Monat. Ich kann das nicht mehr lange aushalten. (Jetzt zehre ich noch von Vergangenem.) Es ist genau nochmal so teuer wie voriges Jahr. Ich soll wieder Vorträge halten in Breslau, Münster, Duisburg, Mannheim etc., aber ich weiß noch nicht, ob ich’s tu. – Wo steckt nur der Eros? Ich brauche einige Gedichte für den neuen Gedichtband. Und das Nichts, Le bala-din und das Gefängnistagebuch: darum muss ich Dich noch kränken. Ich glaube, in ein­samen Nächten fluchst Du mir und dem Schicksal, das Dich mit mir gesegnet. – Wenn ich nach Passau – mal komm ich sicher – müssen wir zusammen endlich die beiden Anthologien machen. Reiß wird schon böse. Und hier gehts ja nicht. Seid umarmt von Eurem Fred

Berlin, 19. Dezember 1920

Liebste Mutter, liebster Vater,

ich sende Euch meine herzlichsten Weihnachtsgrüße – und Wünsche! Das kleine Geschenk, das ich für Dich habe, liebe Mutter: wirst Du wohl rechtzeitig zum Heiligen Abend erhalten. Es wiegt nicht mehr als 20 Gramm … wiegt aber vielleicht schwerer: für Dich … Was ich mir wünsche? Daß mir Euere Liebe und Zuneigung erhalten bleiben möge: so wie ich Euch immer in meinem Herzen tragen werde. –

Ich arbeite jetzt an einem Auswahlband meiner gesamten Lyrik, den ich Das Glocken­spiel nennen möchte. Ich bin neugierig, ob Du dieselben Gedichte bei mir liebst wie ich. Ich wähle sehr sorgsam. Z. B. aus Litaipe 3 Gedichte, der chines. Kriegslyrik 3, der Geisha Osen 4, Feueranbeter 6, Villon 7, Morgenrot 12, Himmelsleiter 15, Irene 5, Dreiklang 18 etc. und dann noch 30 neue. – Ich finde diesen Plan hübscher als die Galgenleiter, die ich noch beiseite stelle. – Im Februar soll ich nach Königsberg. Für 8000 M. Soll ich? Ich täts nur des Geldes wegen. An sich ekelt mich das alles schon: dieses Auftreten in den Cabarets. Aber wie soll man Geld verdienen? Ich weiß es nicht. Seid beide umarmt von Euerem Fredi, der jetzt (Sonntag 19. XII. 1920) nachmittag 4 Uhr noch im Bett liegt … (und sich nicht schämt …)

Berlin, 23. Dezember 1920

Liebste Mutter,

eben ist das Packet eingetroffen, was ich Dir hiermit bestätige erst mal: Die Manu-skripte hab ich Dir schon längst bestätigt, seitdem hab ich Dir mindestens drei Briefe geschrieben. Und mein Weihnachtsgeschenk – ist es etwa auch nicht eingetroffen? Und mein Weihnachtsbrief? Herzlich danke ich Euch für alles, was im Packet sein wird (ich hab es noch nicht geöffnet). Und mehr noch für Eure Liebe, die Ihr mir erhalten sollt. Meine zweite Heimat ist ja doch bei Euch. – Ich habe die letzten Tage so viel zu tun gehabt: auch Aufregungen aller Art: gestern war Premiere in dem neuen Cabaret, dessen literarischer Beirat ich bin. Ich bin neugierig auf die Presse. Heut Nacht bin ich erst um 4 nach Hause gekommen. Überhaupt: dieses Berlin. Trotzdem fühle ich mich dies Jahr wohl, was eine reine psychologische und psychische Angelegenheit ist. Recht zum Leben erwacht bin ich ja erst diesen Frühling bei Euch und dann in München. Im vorigen Winter lag noch allzu viel Trauer und Nebel auf meinem Herzen. Seid umarmt von Eurem Fred

31. Dezember 1920

Liebe Mutter,

daß die 20 Gramm noch nicht eingetroffen, ist mir völlig rätselhaft. Man kann sich heute wirklich auf nichts mehr verlassen. Nicht mal auf sich selber: das sah ich gestern. Nachdem ich gestern früh ziemlich heftig Blut gespuckt hatte, bekam ich abends im Cabaret einen regulären Blutsturz. Heute liege ich nun auf der Nase und ärgere mich, daß ich gezwungen im Bett liege: freiwillig lag ich gern. Die Blütenträume des Cabaret haben damit (was an sich nicht schade ist) ihr vorläufiges Ende erreicht. Farewell Königsberg! Und so manches andere. Ich werde sobald als möglich von Berlin weg müssen: in den Süden. Im Frühling bin ich dann wieder bei Euch. Alles Gute im neuen Jahr, das für uns dasselbe bedeuten soll wie das alte Jahr: wir wollen dieselben bleiben. Immer Euer Fred

Hast Du im Tagebl. den Artikel Angewandter Expressionismus gelesen?

Berlin, Sanatorium Dr. Weil, Viktoriastr. 46, 4. Januar 1921

Liebe Mutter,

eigentlich gegen meinen Willen haben mich meine hiesigen Freunde – z. T. auch auf Betreiben meiner Eltern – in ein Sanatorium gebracht, wo ich seit drei Tagen liege, Tag und Nacht von einer Schwester betreut, die wie ein Polizist mit Argusaugen über mich wacht. Den Besuch hat man mir auch sehr beschnitten. Ich fühle mich soweit ganz gut. Temperatur hab ich, seit dem Blutsturz, so gut wie keine (zwischen 37 und 37,8). Vorher hatt ich doch manchmal bis 38,8. Vielleicht hat die Blutung ganz gut getan: der Dreck kommt raus. Auch mit dem Husten ist es besser. Liegen werd ich ja vorläufig noch müssen, bis kein Blut mehr im Auswurf ist. Eine Menge Menschen haben sich ganz rührend benommen, darunter Leute, denen ich nie etwas Gutes getan.

Das Sanatorium ist natürlich sehr teuer (ich schätze 150-200 M. den Tag, man hats mir noch nicht gesagt). Aber alle möglichen und unmöglichen Leute bieten mir Geld an. (Nebenbei zur Frage des Antisemitismus: es sind fast alles Juden, die sich so wirklich nobel zeigen. Später, in Ruhe, mal mehr.) Ganz außerordentlich hat sich auch Drach bewährt, der viel für mich getan hat, und ich habe ihm doch nicht immer Gutes erwiesen. Zu meiner Verwunderung hab ich gesehn, wie viele Menschen an mir hängen und mich lieb haben. Und das tut auch wohl. Seid umarmt von Eurem Fred

Irenes Bild steht auf dem Nachttisch. Ich sehe sie oft an.

Berlin, Sanatorium Dr. Weil, Viktoriastr. 46, 8. Januar 1921

Liebe Mutter, ‚

ich glaube, ich schrieb Dir schon, daß ich – seit dem 1. schon – hier im Sanatorium bin. Eine Schwester ist Tag und Nacht bei mir. Es wird sehr für mich gesorgt: zu essen und zu trinken bekomme ich, was ich will. Sehr viel Milch, Butter, Eier, Huhn, Schinken u.s.w. Ich brauch nur bestellen. Die Preise sind natürlich dem und Berlin entsprechend. (Die erste Wochenrechnung betrug 1200 M! Also fast 200 M. den Tag.) Ich könnte das auch gar nicht lange aushalten, aber es scheint (ich sage – scheint, weil ich hier als Objekt liege und von meinem Wohltäter bisher durch die Zeitung hauptsächlich erfahren habe) daß der Direktor des Berliner Cabarets „Rakete“ u. „Schwarzer Kater“ für den Sanatoriumsaufenthalt aufkommen will. Ich rechne, daß ich für einen dreimonatlichen Erholungsaufenthalt 15 000 M. werde brauchen, vielleicht und hof­fentlich weniger, denn so viel Geld hab ich noch nicht zusammen. Vorläufig gehts mir recht gut. Seit heute ist kein Blut mehr gekommen und hoffentlich hält das an. Auf­stehen werd ich wohl vorläufig noch nicht dürfen. So fühle ich mich auch noch nicht.

Seid beide umarmt, grüßt Kubin und Eure Freunde Euer Fred

Berlin, nach dem 25. Januar 1921

Liebe Mutter,

besonders das zweite Gedicht ist ja sehr originell und lustig. Der alte Mann gefällt mir. Das Bild von Kubin schick bitte an den Verleger direkt. Weshalb gefällt es Dir nicht? – Die Pariser Konferenz hat mir wieder einen argen Stoß versetzt. Ich wollte doch nach Meran. Als ich gestern Lire kaufen wollte, da stellte es sich heraus, daß ein katastrophaler Kurssturz wieder eingesetzt hat. Ich wollte 2500 Lire kaufen. Von einem zum andern Tag sollte ich 1000 M.(!) mehr bezahlen. (Und es stürzt immer weiter.) Ich habe direkt einen Hass auf diese „Valuta“. Gibt es in Österreich nicht, bei Innsbruck oben: da gehn doch Bergbahnen rauf: irgendwohin? z.B. Kursanatorien? Die Krone steht doch so schlecht. – Es geht mir immer besser. In 8-10 Tagen verlasse ich hoffentlich dieses Sanitätszuchthaus. Seid beide umarmt Euer Fred

Ich soll eine Geschichte der Weltliteratur schreiben. Was meinst Du?

Meran, Pension Burgund, Franz-Ferdinand-Quai, 14. März 1921

Liebe Eltern,

nun bin ich schon 4 Tage hier, die Sonne scheint unaufhörlich, ich liege auf dem Bal­kon, aber wenn ich mich auch körperlich recht wohl fühle: ein allgemeines Wohlbefin­den will sich noch nicht einstellen. Ich bin wieder einmal sehr in Unordnung meiner selbst. Na, das wird sich schon beheben. Solche Depressionszustände gehen auch vor­über. – Ich bitte Vater, mir doch 3000 M. möglichst umgehend zu schicken, am besten wohl, sie durch eine Passauer Bank an die Banco di Roma, Meran auf meinen Namen (Alfred Henschke Klabund) überweisen zu lassen. Ich glaube, es dauert lange genug. Das Geld, das mir vor meiner Abreise nach hier von Berlin aus überwiesen wurde, ist noch nicht hier. – Das Leben kostet hier ungefähr so viel wie in Berlin. Teurer ist es jedenfalls nicht. Was habt Ihr denn für Bekannte hier, von denen Ihr spracht? Ich spiele mit dem Gedanken, noch weiter südlich zu gehen (Capri? Positano?). Vielleicht fahre ich heute Nachmittag auf das Vigiljoch. Seid beide umarmt von Euerem Fred

Meran, 21. März 1921

Liebe Mutter,

Du sagst: Stimmungssache – aber diese Depression hat doch irgend einen Grund: ich paddle schon eine Woche in diesem Froschsumpf, und es ist ganz trübe um mich und in mir. Ich bin eine schweifende, eine vagierende Natur: aber irgendwo muss ich einen festen Punkt haben, um den ich schwinge: irgendwo muss Heimat und Haus und Herd sein. Ich habe dieser Tage so oft an Irene gedacht. Ich las auch die Korrek­turen zu den kleinen Liedern. Und mir kamen, seit vielen Monaten, allerlei dunkle Wünsche wieder: nicht mehr zu sein. Seit dem Aufenthalt voriges Jahr bei Euch, seit München und Berlin war ich doch wieder in die Balance gekommen. Jetzt schwanke ich wieder. Vielleicht fahre ich zurück über die Schweiz (Locarno), wenn es nicht zu teuer wird. – Die Korrekturen sende ich Dir: bewahre sie mir bitte, auch die Aus­schnitte. – Die Italiener benehmen sich hier im besetzten Gebiet sehr nett und zuvor­kommend. Sie drücken oft ein oder zwei Augen zu. (Die deutschen Zeitungen hier sind extrem alldeutsch: und in ihren Ausfällen gegen die Entente und Italien nicht grade zurückhaltend.) Deutschland hat durch die Haltung der Entente überall viele Freunde sich geworben: seine Stellung in der Welt festigt sich von Tag zu Tag: nur dürfen keine Dummheiten gemacht werden wie sie Bayern in der Einwohnerwehr­frage beliebt. Sonst könnte im Nu die alte Meinung wieder da sein.

Ich verkehre hier mit Polen. Es wird Vater interessieren, daß sie für Deutschland sind: Oberschlesien wird deutsch werden, das glaube ich bestimmt: aber nicht, weil die Deutschen dort deutsch, sondern weil der polnische Arbeiter, aufgeklärt von Rosa Luxemburg, im deutschen Gewerkschaftssinn organisiert, deutsch stimmen wird: gegen die polnische Reaktion, gegen den polnischen Militarismus und Kriegsdienst. Das ist die Meinung der hiesigen Polen, und sie haben zweifellos recht. Denn wenn es nach der Statistik ginge: müsste Oberschlesien, das 60% (oder mehr) polnisch sprechende Bevölkerung enthält, polnisch stimmen. Hoffentlich beginnt Deutschland diesen Massepolen und polnischen Arbeitern gegenüber sofort mit einer Politik der Versöhnung und des Ausgleichs, und macht nicht wieder die gleichen Fehler wie früher in der Polenpolitik. – Es tat mir sehr leid, Euch in München nicht treffen zu können. Es wurde leider 2 Tage zu spät. Seid beide umarmt von Eurem Fred

Hat Vater den Vertrag mit Kaemmerer erhalten, auf Grund dessen ich wahrscheinlich klagen muss?

Ich lese: Vehse, Geschichte des preußischen Hofes: und werde mit Hass und Verachtung getränkt für dieses Pack: Hohenzollern genannt. (Das Buch ist ganz anders gemeint!!)

(Wieviele handschriftliche Seiten hat meine Literaturgesch. im Manuskript? 300?) Schreib bald!

Isola di Capri, Villa Giulia, Poststempel: 1. April 1921

Liebe Eltern,

ich sende Euch einen herzlichen Gruß. Es ist bezaubernd schön hier, Ithaka und Orplid, aber es erinnert mich alles allzu schmerzlich an Locarno. Ich weiß nicht, wie lange ich noch hier bleibe. Vielleicht einige Tage, vielleicht einige Wochen. Forse si, forse no. Diese Landschaft hat zu viel seelische und sinnliche Reize, um ohne die Gegenwart eines geliebten Wesens recht ertragen werden zu können. Euer Fred

Positano, Provincia di Salerno, Albergo Roma, 15. April 1921

Liebe Irene,

mir ist das Wort „Irene“ ebenso in den Sinn und den Bleistift gekommen, daß ich es stehen lassen möchte. Ich sitze auf der Terrasse meines Hotelzimmers, vor mir das weite weite Meer. Ganz dahinten irgendwo muss Afrika liegen. Die Wolken hängen schwer vom Gebirge herab, über das ich heute Morgen mit einem kleinen Wagen gefahren bin. Positano hat weder Bahn- noch Schiffsverbindung. Es liegt ein wenig wild, ein wenig grotesk zwischen den Felsen, ein Sarazenennest. Gasthöfe gibt es zwei, drei: ganz im altväterlichen Stil. Als ich mit dem Wagen vorfuhr und der Wirt mir die Hand gab und mir seine Frau vorstellte und mir persönlich das sehr große Zimmer zeigte, fühlte ich mich weiß Gott in welche Zeit versetzt. Wenn man in Goethes Italienischer Reise liest, kann man ähnliche Eindrücke empfangen. Das weite Meer beruhigt unendlich. Nur die Abende werden lang werden: es gibt nur Kerzenbeleuchtung. Ich denke bis zum 25. etwa hier zu bleiben, dann über Amalfi, Salerno, Pästum, Pompeji nach Neapel, von dort nach Rom zu fahren, wo mich Post ab 28. etwa trifft: Via Sardegna 34, Hotel Viktoria. Vielleicht könnt Ihr mir noch mal nach hier schreiben und schickt mir doch bitte einen Haufen abgelegter Berliner Tageblätter, 8’Uhr Abendblätter, Münchner Neuste Nachrichten. Ich weiß absolut nicht, seit Wochen, was in Deutschland vorgeht. Die Neapler Lokalblätter bringen nichts über Deutschland. Für die interessiert nur ein Skandalprozess oder das Lotto. Erscheinen Deine Verse bald? Seid beide umarmt von Eurem Fred

Amalfi, 23. Mai 1921

Liebe Eltern,

diese Straße gehe ich heut Abend von Amalfi nach Positano. Ich sah so viel des Schönsten, noch gestern: Ravello und Amalfi. Ravello, der Garten und der Blick des normannischen Palazzo Ruffo, das ist unbeschreiblich. Überhaupt fühle ich mich der alten normannischen Architektur (um 1000) am tiefsten verwandt von allem, was ich in Italien sah. Herzlich Euer Fred

Positano, 27. Mai 1921

Liebe Mutter,

es wird so heiß hier, daß ich wohl in den nächsten Tagen abfahren werde. Wohin, das weiß der Himmel: vorläufig nach Rom, doch da es dort nicht kühler sein wird, weiter nördlich. Ich kann Hitze zwar gut vertragen, aber es muss dann ein Garten beim Haus sein und die Möglichkeit, völlig nackt herumzulaufen. Ich gehe immer um 4 ans Meer und bade und gehe nach Sonnenuntergang heim. Essen kann ich kaum noch. Soffel hat mich aufgefordert, nach Ascona zu kommen. Es würde mich aus vielen Gründen locken. Aber ich kann mir das ja auch für den Herbst aufsparen. Ich muss auch gestehen, daß ich noch einen zweiten Grund habe, Positano zu verlassen, und das ist (Du wirst: natürlich! sagen) eine Frau. Ich habe seit drei Wochen einen Flirt mit einer Neapolitanerin: einem jungen Mädchen aus angesehener und wohlhabender Familie. Sie war in Positano, ist jetzt in Amalfi und kommt nächste Woche wieder nach Positano. Natürlich sind die Eltern bei ihr, ein dicker freundlicher Vielfraß und Bonhomme und eine träge schläfrige Donna, welche gar nicht „mobile“ ist. Dazu eine Zofe, Pferd und Wagen. – Die Integrität und Virginität des jungen Mädchens ist in Süditalien kanonisches Gesetz. Es wird mit Argusaugen bewacht und jeder Versuch, es zu durchbrechen, wird mit dem Dolch der Camorra oder mit der Ehe bestraft. Kurz gesagt, ich fürchte, wenn ich hier bleibe, eines Morgens als Gatte einer gewiss sehr hübschen und liebenswürdigen Neapolitanerin aufzuwachen, sie auf dem Korso in der Via Caracciolo nachmittags spazieren fahren zu müssen und im Übrigen den restlichen Verstand bei der Hitze in Neapel völlig aufzugeben. Ich fühle jetzt schon, wie willensschwach ich hier werde und wie man eigentlich alles mit mir machen kann, wenn man es nur energisch anfangt. Also werde ich, wie Casanova aus der Bleikammer Venedigs, aus dem Backofen Neapels zu fliehen versuchen. Immer Dein F.

München, 24. Juni 1921

Liebe Eltern,

ich bin vorläufig beim Fredi Kaufmann, Widenmayerstr. 45/IV., Telefon 21154. – Bringt mir auch La Rochefoucauld, Maximen, in meiner Übersetzung mit [Gedanken zur Liebe) falls sie da sind. Auf baldiges Wiedersehn freut sich sehr Euer Fred

Ich habe heute schon den ganzen Tag auf der Bibliothek gearbeitet. Im Theater will ich mir Nestroy (Kammerspiele) und Von morgens bis mitternachts (Neue Bühne) mit Euch ansehn.

Nestroy: Am 17. Juni 1921 hatte sein Stück Einen Jux will er sich machen in den Münchner Kammerspie­len unter der Regie von Paul Kalbeck, u. a. mit Elisabeth Bergner, Uraufführung.

München, 5. Juli 1921

Liebe Mutter,

Dein Buch ist reizend. Gratulor. Bitte schick mir 10 Exemplare, jedes in einem Couvert. Ich werde Dir Rezensionen besorgen. (Abonnier bei Schustermann!! Übrigens sende mir alle Schustermannausschnitte: es kann doch sein, daß ich mal einen brauche oder polemisieren muss. Du bekommst sie dann zurück, zum Aufbewahren. Anbei der Panzer. Frist circa 3 Wochen.) Der russische Ausschnitt interessierte mich. Das ist aber keine russische Dichtung, sondern italienischer Futurismus in russischer Sprache. Übersetzung (z.T. wörtlich) aus einem Manifest Marinetti’s. Wenn die Leute nicht so dumm wären, würden sie so etwas sofort richtig diagnostizieren. Seid beide umarmt, grüßt Kubin Immer Euer Fred

Darf ich Dich um ein Inhaltsverzeichnis meiner im Kassenschrank liegenden Grotesken und kleinen Skizzen (Kleines Tage- ‚Nachtbuch) umgehend bitten? Leg auch den Artikel Preußentum und Sozialismus bei. Wo sind meine politischen Aufsätze: bei Euch?

München, 8. Juli 1921

Liebe Eltern,

der Abend war eine Sensation für München. Der Saal überfüllt, so daß ich die Vorlesung am Dienstag (heut lese ich im literhist. Seminar der Universität) wiederholen muss. Münchener Neuste, Münchener Zeitung, Südd. Presse schrieben sehr nett. Habt Ihr die schamlose Begeiferung der Augsburger gelesen? Kann man dagegen nichts tun? Herzlich Euer Fred

München, 10. Juli 1921

Liebe Mutter,

ich habe schon wieder eine Bitte an Dich. Sende mir doch mein Gefängnistagebuch und zwar in Schreibmaschinenform. Ich mache Dir so arg zu schaffen: sei mir nicht böse! Wo bleiben die 10 Echo’s, darum ich bat? Es ist wirklich ein reizendes Buch. Und schreib mir in eins eine Widmung! Seid umarmt von Eurem Fred

München, 27. Juli 1921

Liebe Mutter,

Dank für alles: ich bitte Dich, den Roman erst dann zu schicken, wenn ich nochmals drum schreibe. Ich wollt mich nur vergewissern. – Ich arbeite sehr viel. Zum 1. August muss ich ja das Manuskript der Weltliteratur abliefern. Die Hitze ist fürchterlich. Ich bin den ganzen Tag nackt, soweit ich nicht hinausmuss. Vermutlich fahre ich Freitag nach Gauting auf ein paar Wochen. Vielleicht im August wieder nach Italien. (Dann aber im Auftrag einer Zeitung.) Braucht Vater die mille mark? Im August kann ich sie ihm wiedergeben. Die 50 M. vom Inselverlag schick ihm doch bitte wieder zurück. Das ist kein Honorar, sondern ein Hundelohn. – Herzlich Dein alter, vielmehr junger, ich bin sehr munter Fred

Gauting, 25. September 1921

Liebste Mutter,

Du wolltest mir ein Inhaltsverzeichnis der Sammlung des Kaemmererverlages senden! Ich bitte Dich darum! – Willst Du meinen neuen Roman lesen? Dann sende ich ihn Dir: Du musst ihn nur bitte weiterschicken an die Redaktion der Neuen Rundschau, (Dr. Rudolf Kayser), Berlin, Bülowstr., S. Fischer Verlag. Seid beide umarmt von Eurem Fred

Der Herbst ist die letzten Tage so schön. Feuerrote Apfel liegen im grünen Gras des Gartens und abends ziehen sich blutrote Streifen über den blauen Himmel.

Ohne Ortsangabe, Samstag, 8. Oktober 1921

Liebe Mutter,

ich fahr heut nach Partenkirchen, Hotel Gibson. Auf eine Woche. Ich bin ein wenig müde, körperlich und seelisch müde. Zu allem Überfluss hat man mir wieder übel mit‘ gespielt, mein Glaube an den Anstand des Menschen wankt bedenklich. Ich hatte mir 1000 Lire für eine Italienreise aufgespart. Als ich heute vor der Abreise aufräume: seh ich, daß man mir den Tausendlireschein aus der verschlossnen Schublade … gestohlen hat. Wer, das weiß ich noch nicht. Geb Gott, daß es nicht wieder ein „guter Freund“ ist. – Es ist so trist; wie lange muss man wieder arbeiten, wie mechanisch arbeiten, um das wieder einzuholen, und eigentlich ist meine diesjährige Italienreise nun endgültig ins Wasser gefallen. Liebe Menschen gibt es, weiß Gott. Seid beide umarmt von Eurem Fred

Partenkirchen, Hotel Gibson, 10. Oktober 1921

Liebe Mutter,

einen herzlichen Gruß aus dem sommerlich heißen Herbst. Aus Meranersatz. (Ich bin hier eingeladen, sonst könnt ich mir das Gibson nicht leisten. Dies in Parenthese, damit Ihr nicht glaubt, aus Indien sei das Goldschiff eingelaufen.) Eine Frage an Vater: befindet sich unter den Papieren, die ich ihm seinerzeit zur Aufbewahrung gab, ein Schuldschein von Drach über etwa 2000 M.? Ich möchte ihn jetzt eintreiben. Daß mir meine Lire gestohlen worden sind, schrieb ich wohl bereits? Ja, heiter ist die Kunst -zu stehlen. Den Roman sollst Du lesen, sobald er erst einigermaßen fertig ist. Seid beide umarmt von Eurem Fred

Berlin, 15. November 1921

Liebe Mutter,

Deine Gedichte will ich gern wieder der Dame geben, wenn Du sie noch einmal durcharbeitest. (In der Anlage mit Anmerkungen zurück.) – Ich fühle mich recht wohl hier, obgleich ich ganz improvisiert lebe: meine Kleider, Schuhe etc. sind zum Teil bei Fredi, zum Teil noch in Gauting. – Uber Deine Gedichte sprach ich mit Heyden sie scheinen ganz gut zu gehen. (Ich glaube, zwei Tausend hat er verkauft.) Mein Laotse erscheint schon im 13. Tausend, die Geisha und Sinngedicht im 10. Tausend, die Literaturgeschichte im 30. Tausend: ich hoffe, daß das so weiter geht. Die 3 Romane sind bei Reiß. Jetzt kommt noch ein Groteskenband (Rolandverlag): betitelt: Der Kunterhuntergang des Abendlandes. Die Weltliteratur (ich habe leider noch kein Exemplar, Du bekommst es dann auch) ist erschienen. Ebenso der Reclam, den ich beilege, der als Ganzes wieder ein Gruß an Irene ist, deren Eltern umarmt Euer Fred

Berlin S. W., Halleschestr. 21/1. r., nach dem 15. November 1921

Liebe Mutter,

ich war in Hamburg und Kiel. Sende Dir (die teilweise sehr guten) Kritiken. Hast Du die Rezensionen vom Hannibal da? Dann bitte ich darum: ich muss ihn propagieren. Das Lustspielhaus soll ihn spielen. Ich sinne an einer Zeitkomödie. Berlin ist lebendig und interessant wie immer. (München dagegen eine Nachtwächteratmosphäre.) Ferner: Gotha will den Totengräber spielen. Habe keine Exemplare mehr. Sende mir doch einige (2-3) bitte. – Ich habe an Soffel’s geschrieben, etwa am 20. Oktober, daß sie auf Irenens Grab Astern niederlegen möchten. Die Valuta ist ja so schlimm, daß bald niemand mehr in die Schweiz kann. Davos soll verödet sein von Deutschen. – Es ist viel in diesen Tagen erschienen: die 3 kleinen Romane, die Weltliteratur, die Kleinen Lieder für Irene (im Kleinen Klabund Buch Reclam). Seid umarmt von Eurem Fredi

Berlin, 10. Dezember 1921

Liebste Mutter,

ich wünsche mir nichts zu Weihnachten als Eure unveränderte Liebe. Habe ich Dir eigentlich schon die 3 Romane geschickt? Sie stehen Dir natürlich zu. Bitte schreib mir davon (nach, Crossen, wohin ich in einigen Tagen fahre). Und – jetzt kommt wie der etwas Unangenehmes für Dich – mich beschäftigt wieder einmal der Bauernkrieg.

Ich habe bei Dir noch einige Bücher und Broschüren liegen. Machts Dir was, sie nach Crossen zu senden? Dang bitte! Seid beide umarmt von Eurem Fred

Crossen/Oder, 24. Dezember 1921

Liebe Mutter, lieber Vater,

die herzlichsten Weihnachtsgrüße und Neujahrswünsche senden wir Euch. Wir denken so oft an Euch. Irenens Bild ist mit Tannenzweigen vom Weihnachtsbaum besteckt. Sie blickt wie die Madonna mit dem Tannenzweig auf uns segnend hernieder. Daß ich noch immer mit ihr zusammen lebe: Ihr habt es aus allen meinen letzten Büchern wieder ersehen. Auch in dem großen neuen Roman steht sie wieder im Mittelpunkt: Agathe, das ist niemand anders als sie. Und im Franziskus, der Brief an Giuletta: er war einmal an sie gerichtet. Und wie Faust Helena in jedem Weibe suchte, so suche ich in jeder Irene. Diese Sehnsucht ist unauslöschlich in mir eingebrannt. Die Mädchen und Frauen, die ich lieb habe oder die mich lieb haben, wissen es auch. Ich betrüge ja niemand, weder sie – noch Irene.

Auch meine Eltern lassen Euch herzlichst grüßen. Sie haben so viel zu tun: Vater im Geschäft, Mutter im Haushalt, daß sie zum Schreiben nicht kommen. Sie müssten beide mal tüchtig ausspannen. Mein Bruder, der stud. pharm., ist ebenfalls eingetrof­fen, mit seiner Jenenser Braut. Seid umarmt von Eurem getreuen Fred

Crossen, 3. Januar 1922

Liebste Mutter,

Dank für Deinen Brief. Carossa, dessen Gedichte und den ich selbst sehr gern habe, hat mit den Kindheitsmemoiren auch auf mich wenig Eindruck gemacht. Aber warten wir das Ganze ab. Dagegen weise ich Dich auf Bert Brecht hin, einen jungen, etwas ungefügen Augsburger, der im letzten Merkur ein Gedicht, im vorigen eine Novelle hatte. Ich habe ihn bei Reiß untergebracht. Ich halte ihn für ungewöhnlich begabt. -Der Nachtwandler freute ich mich. Felber ist ein geschickter Mann. Und Sinsheimer war ja so liebenswürdig als er nur sein konnte. – In Berlin lebte und arbeitete ich viel. Gestern bin ich mit der endgültigen Redaktion meiner ausgewählten Gedichte fertig geworden. Ein Jahr grade habe ich gebraucht, um aus etwa 2000 Gedichten 100 auszuscheiden als die, die mir die relativ und absolut besten scheinen. Ich bin gespannt, ob die Auswahl Deinem Sinn entspricht. – An einer Zeitkomödie arbeite ich seit lan­gem. Ich denke bald fertig zu sein. Auch der neue Roman beschäftigt mich stark. -Meine Eltern grüßen Euch beide herzlich, es umarmt Euch Euer Fred

Die neuen Post- und Eisenbahntarife sind katastrophal.

Berlin, nach 3. Januar 1922

Liebste Mutter,

Berlin ist ganz verschneit. Wie gern war ich im Gebirge. Ich habe solche Sehnsucht nach Davoser Sonne. Aber was hilfts? Man muss durch den Tiergarten stapfen und denken, die Häuser hinter den Bäumen wären Berge und die Bogenlampe dort der Mond. – Ich habe (schon wieder) eine Bitte. Ich bereite eine Neuauflage des Leierkastenmann vor. Ich streiche ihn zusammen und erweitere ihn gleichzeitig. (Ich strei­che z. B. Die Schwiegermutter …) Bitte: schick mir aber Korrekturen von den bayri­schen Liedern, und zwar: Hatschier, Auf der Walze, Der Spezi, die ich gern drin lassen möchte. Ferner: schick mir doch leihweise Dragoner und Husaren. Ich möchte daraus einiges aufnehmen. – Wie geht es Euch sonst? Ich hoffe immer noch auf eine Berliner Aufführung. (Noch am Grabe pflanzt er die Hoffnung auf.) – Die [Münchner] Neusten gießen ja merkwürdig viel Öl auf meine erregten Wogen. Den Moreau haben sie ja auch wieder mit Lob bedacht. Dagegen hat mich (den Nachtwandler) „mein“ Blatt beschimpft: die Morgenpost] – Seid beide umarmt, Gruß auch von meinem Vater, der zur Kammersitzung ein paar Tage hier war und heute abreiste. Immer Euer Fred

Berlin, vor 8. Februar 1922

Liebste Mutter,

schon wieder muss ich Dich mit einer Bitte belästigen: mir etwas, und zwar umgehend, zu schicken: nämlich die Korrekturen meiner Geschichte der Weltliteratur, die bekanntlich am Schluss etwas gekürzt werden musste. Denke Dir, ich soll Dozent an der Lessinghochschule werden, und soll schon am 10. Februar mit den Vorlesungen beginnen: Weltliteratur im Umriss. Ich brauche dazu auch die chinesischen Bücher, die ich da habe (bei Dir), ferner Ägyptisches etc.: ich vertraue Dir, daß Du mir das Richtige schickst. Es tut mir leid, Dir immer nur Mühe, nie Freude bereiten zu müs­sen, aber es ist so dringend nötig für mich: ich brauche die Sachen umgehend. Es umarmt Dich, tausendmal dankend, Dein Fred

Berlin, 8. Februar 1922

Liebe Mutter,

es ist lieb von Ceka noch an uns zu denken. Aber helfen kann man ihr natürlich nicht. Was wären nur 100 Francs für uns! Ein Vermögen! Ich träume ja immer noch meinen italischen Traum. Vor einigen Tagen brachte mir jemand einen Mimosenbusch. Der Duft machte mich ganz schwermütig. Es herrscht seit Wochen eine bittere russische Kälte hier. (Ich kann mich eines solchen Winters nicht erinnern.) Als in den letzten Tagen infolge des Streiks kein Licht da war, keine Kohle, kein Gas: da kam mir Berlin völlig wie Moskau vor, besonders nachts, wenn in den meisten Restaurants nur kärgliche Ker­zen brannten, der Ofen kalt, das Essen teuer war, und draußen im Dunkeln die Spitz­buben reiche Ernte hielten. – Im allgemeinen ist mir dieser Winter, gesundheitlich und seelisch, ganz besonders seelisch, bisher (unberufen: dreimal untern Tisch geklopft) sehr gut bekommen. Ich fühlte und fühle mich glücklich wie der Türmer im Faust:

Ihr Augen, was je ihr gesehn: Es sei, wie es wolle, Es war doch so schön. –

Montag soll ich meine Dozentur an der Lessinghochschule antreten. Eigentlich macht mich das ein wenig beklommen. Ich habe ja noch nie so gesprochen. – Nachdenklich macht mich auch, daß ich die Übersetzung einer französischen Operette zugesagt habe, ich soll 10 000 M. dafür bekommen und habe schon 4000 erhalten. Ich hätte nicht übel Lust, die 4000 zurückzuzahlen, so dringend ich sie brauchte, und den Kram sein zu lassen. Es ist doch eine furchtbare Nervenvergeudung.

Grüße Vater herzlich und sei, immer in der Hoffnung auf ein Wiedersehn, herzlich umarmt von Deinem Fred

Berlin, 3. März 1922

Liebe Mutter,

mein Vater, der sein Stadtratmandat niedergelegt hat, ist zum Ehrenbürger von Cros­sen ernannt worden. Bitte schreib ihm doch ein paar Zeilen: er freut sich dann sehr darüber. Er ist ein so ausgezeichneter Mensch. – Ich stecke tief in aller Arbeit. Neulich waren ein paar Tage Frühling. Schon wieder vorbei. Man friert wieder. Leider sind die Devisen wieder beträchtlich gestiegen. (Mich interessiert das nur wegen meiner Hoff­nung auf Italien.) Alle Leute hier befürchten, der Dollar käme noch auf 400. Und das hat auch die größte Wahrscheinlichkeit für sich. Eine Teuerung ist hier, davon macht Ihr Euch keinen Begriff. Mit 5-6000 kann man notdürftig existieren.

Die Preise haben sich, seit ich im November kam, um 100% gehoben. – Heut kamen die ersten Korrekturen meines neuen Gedichtbandes. Weißt Du keinen Titel? Es sind Balladen, Mythen und Oden. Euch beide umarmt Euer Fredi

Berlin, 29. März 1922

Liebe Mutter,

für Deinen Brief samt den Balladen dank ich Dir vielmals. Ich weiß nicht, ob ich Dir schon schrieb, daß ich mich nieder legen musste. Ich liege heute schon drei Wochen, aber seit zwei Tagen ist die Temperatur unter 38, nun wird es langsam wieder wer-den. Ich komme gern im Mai zu Euch. Hinterher will ich dann ins Gebirge. Wenn ich jetzt aufstehen kann, geh ich noch ein paar Wochen nach Crossen. Eine Italienreise ist einem ja unmöglich geworden. Ich spiele mit dem Gedanken einer Reise nach Serbien, aber ich muss erst genau wissen, wie der Dinar steht etc.: es scheint ja relativ billig zu sein und ist sicher abenteuerlich genug. Südlich genug ist es auch in den Küstenstäd­ten. Ich sah den Prospekt eines Grand Hotels Imperial in Ragusa, der mir sehr gefiel. Aber das ist noch Fata Morgana. – Deine Balladen las ich aufmerksam. Sie sind, mit Ausnahme der völlig verunglückten Marienlegende (unmöglicher Schluss!), alle sehr hübsch im Vorwurf und schon in vielen Einzelheiten. Vieles ist schwach, nicht durch­dacht, nicht durchgeformt. Ich habe es unterstrichen. Das Beste ist Der schwarze Tod. Schick ihn mal an die Jugend. – Die Puppe muss sehr bearbeitet werden. Reizvoll sind sie alle. Aber arbeiten musst Du an allen noch heftig. Des laß Dich nicht verdrießen. Seid beide umarmt von Eurem Fred

Heidelberg, Scheffelhaus, 15. Mai 1922

Liebste Eltern,

ich treibe mich nun schon wochenlang, oder bald ists schon ein Monat, in der Weltge­schichte herum. War in Tangermünde – Magdeburg – im Harz – Halberstadt – Gos­lar – Hildesheim – Mainz – Koblenz – Wiesbaden – Darmstadt – Mannheim – und bin hier gelandet. Nächste Woche will ich in den Schwarzwald. Dann endlich nach München. Es ist herrlich heiß. Der Neckar glänzt wie ein Spiegel. Ich sitze halbnackt hier im Garten. An den Abenden sitze ich mit Freunden zusammen, ich habe viele in der Gegend, und wir trinken (hier noch billigen) Schoppenwein, der das Hirn lüftet und reinigt von dem Berliner Staub. Ich bin so faul, es ist unbeschreiblich. Ich musste am 1. Juli ein größeres Manuskript abliefern, ich glaube, ich werde vertragsbrüchig. Ich lasse mich (von mir selbst) verwöhnen, und gestern spielte ich den grand seigneur auf dem Schloss Hotel einer hübschen und charmanten Elsässerin gegenüber. Im Elsass ist die Stimmung den Franzosen gegenüber sehr kühl geworden, fast feindselig, und auch im besetzten Gebiet (Mainz etc.) hat man durchaus den Eindruck, dass es den (ursprünglich freundlich begrüßten) Franzosen völlig misslungen ist, moralische Eroberungen zu machen. In Mainz leben jetzt allein 25 000 Zivilfranzosen, trotzdem ist es zu einer Verschmelzung mit der Bürgerschaft nicht gekommen. Sie leben nebeneinander her, der sicherste Beweis, dass die Franzosen die Besetzung nicht werden durchhalten können. Das wird vielleicht noch einige Jahre gehen, mehr kaum. – Ich habe mal wieder eine Bitte an Dich, liebe Mutter: unter meinen Büchern befindet sich eine, mit Stahlstichen versehene, ältere griechische Mythologie, die mir nicht gehört und die immerfort bei mir reklamiert wird. Bitte schick sie doch Herrn Paul Nikolaus Steiner, Hebelstraße 9, Mannheim. – Von meinen Arbeiten kann ich Dir leider nichts berichten, weil ich faul wie die Sünde bin. Ich versuche mir vorzustellen, dass ich bald mal wieder einen Roman zu schreiben beabsichtigen werde. Und mich schaudert. Ich sah eben in den Buchhandlungen, dass der zweite Band vom Untergang des Abendlandes eben erschienen ist. Gottseidank ists nur ein Buch. Papier. Und Druckerschwärze. Auch das Abendland ist gottlob noch recht lebendig. Das merkt man an sich selbst. -Was macht der bairische Fremdennepp? Hoffentlich sind die Münchner hereingefallen. Die Preise, die ich nennen hörte, sind auch für valutastarke Ausländer eine starke Zumutung. Und der ganze Zuschnitt der bairischen Fremdenreklame hatte etwas Unreelles, Betrügerisches, Schleimig ‚Sentimentales dazu. – (Die Bayern sind, wie die Franzosen, schrecklich sentimental. Sie verwechseln Sentiment mit Sentimentalität. Ihre „Gemütlichkeit“ hat mit Gemüt wenig zu tun.) – Das sind so „seelische Abgründe“ zwischen Nord und Süd. Auch die Ausschlachtung des Fechenbach – Prozesses ist reichlich kindisch. Er hat wirklich nur einen Lokalerfolg errungen. Dass Deutschland alleinschuldig, behauptet kein vernünftiger Mensch, vor allem kein Deutscher, dass aber Deutschland ein vollgerüttelt Maß Schuld am Krieg hat wie die andern: das zu leugnen, ist Geschichtsfälschung, die die früheren Machthaber rein waschen will. Wo sitzen die größeren Fälscher? Wer hat z. B. die Emser Depesche gefälscht? (1870?) Seid umarmt von Eurem Fred

ohne Ortsangabe. Mai 1922

Liebe Mutter,

vielen Dank für Deinen Brief. Du wirst meinen, ich sei Euch, wenn auch nicht in Gedanken, so doch realiter untreu geworden, weil ich ja im Mai ja schon bei Euch sein wollte: aber es hat sich halt, nicht nur klimatisch, allerlei verschoben. Ich komme aber ganz bestimmt noch. Ende Mai fahre ich nach München, wo Harich mir wieder seine Wohnung zur Verfügung stellt, das ist doch sehr verlockend, und ich wills ausnutzen. Ich nehme mir für den Sommer manches vor: besonders Arbeiten an zwei größeren Prosaschriften, eine Berliner Angelegenheit und eine Studie aus dem deutschen 14. Jahr-hundert (Hansazeit), wozu ich schon viele hundert Notizen mir gemacht habe. Leider schwebt auch wieder eine Terminarbeit: bis 31. Juni eine Übersetzung – aus dem Ungarischen. (Mit einem Ungarn zusammen.) In München werdet Ihr ja allerlei Unterhaltsames und Bezauberndes gesehen haben. Der Berliner Winter war, was künstlerische Erlebnisse anbetrifft, trist. Das Theater stagniert. Mit den Menschen bin ich ganz gut ausgekommen. Meine Münchner Adresse ab 14 Tagen: Elsenheimerstr. 16/1. p. A. Harich.

Mein neuer Gedichtband soll Das heiße Herz heißen. Gefällt Dir der Titel? Seid umarmt von Eurem Fred

München, nach dem 24. Juni 1922

Liebe Mutter,

wohne wieder in Harichs Wohnung. Sehr weit draußen in trostloser Gegend. Ende der Landsbergerstraße. Hinterhäuser, spärlich Bäume, Fabrikschornsteine, arme Menschen, Ende der Großstadt, Ende der Welt. Aber es ist schon ein herrliches Gefühl, eine eigene Wohnung wieder zu haben. Deshalb bin ich gern hier. Gesundheitlich gehts sosolala. Vorm Winter muss ich noch mal was für mich tun. Ich wollte ja in den Schwarzwald, dann kam wieder allerlei dazwischen, und nun möchte ich vor allem erst einen neuen Roman von mir fertig machen (deutsches 15. Jahrhundert, Hansa‘ und Seeräuberzeit). Wann geht Ihr denn nach Berchtesgaden? Im August werd ich wohl hier heraus müssen. München ist schön wie immer. Die Münchner wer‘ den unerträglicher von Jahr zu Jahr. (Wohl unter dem Einfluss der Münchner Neuesten, die ich ohne Einschränkung das unsauberste, unanständigste Blatt nennen möchte, das in Deutschland erscheint. Der Völkische Beobachter ist eine reinliche Angelegenheit dagegen. Wer nur die Neuesten liest, muss verblödet und verhetzt werden.) Die Gewerbeschau ist sehr geschmackvoll. Dass die Polizei und der organisierte Nepp die Fremden vertreiben: nur gut so. Überall in Deutschland wird man anständig behandelt. Ich bin die letzten 7 Wochen in etwa 30 deutschen Städten gewesen: Norddeutschland, Süddeutschland, Rheinland: nirgends ist der Fremde so ausgesprochen Gegenstand der Ausbeutung wie hier. (Wiesbaden vielleicht abgesehen: das nur noch für Valutaherrschaften in Betracht kommt.) In Heidelberg, eine Fremdenstadt wie kaum eine, bezahlte ich für ein Hotelzimmer im Scheffelhaus mit Balkon (Wohn‘ und , Schlafzimmer) 40 Mark. Fabelhafter Wein 10-15 M. Mittagessen 35 M. Gleiche Qualität kostet in München das doppelte bis dreifache. Hier kann nur eine gesunde Pleite recht vieler Hotels etc. helfen. Dann wird sich ihr Verstand wieder lüften. Und diese Pleite ist vielleicht Bayern ganz allgemein auch im politischen Sinn zu wünschen. Die Universitätsfeier hier war ein Skandal (wie alles ein Skandal ist, was hier offiziell geschieht). Schwarzweißrote Fahnen, die uns seit dem Kapp Putsch ein Brechreiz geworden sind, überall. (In Parenthese: Ihr erinnert Euch, wie ich die Kerntruppe des Kapp‘ Putsches seinerzeit charakterisierte: die Ehrhardtbrigade: die Erzberger, Gareis, Rathenau Mörder: das sind alles Ehrhardtleute. Die Organisation C nur eine Fortsetzung des Kapp Putsches mit anderen Mitteln.) Ludendorff als Ehrengast der Universität! (Die Freiheit der Wissenschaft unter Ludendorff…)

Anbei ein Ausschnitt, der Euch vielleicht interessiert. Herzlich umarmt Euch Euer Fred

München, August 1922

Lieber Vater,

schönen Dank. Ich akzeptiere Deinen Vorschlag. Mitte August muss ich sowieso hier wieder heraus. Der Leixner liegt wohlbehütet in Berlin. Brauchst Du ihn dringend? Dann muss ich nach Berlin schreiben. – Die Preise in Norddeutschland sind zwar gesalzen (wie überall), aber kein Vergleich mit dem, was bis vor kurzem in Bayern gefordert wurde. Ich bin doch in circa 30 Städten die letzte Zeit gewesen. Das teuerste fand ich Wiesbaden und Magdeburg, wo ich 80 M. für ein Bett zahlte, sonst überall durchschnittlich 30-40 M. Pension im Scheffelhaus Heidelberg (das von Fremden, Engländern, flutet!) 120-140 incl. Zimmer! – Das schlimmste an Bayern (und den heutigen bayrischen Zuständen) finde ich ja weniger die Teuerung an sich als die Heuchelei, die tiefe Unwahrheit, auf der alles sich hier „wieder aufbaut“. In Berlin macht man weder sich noch den andern was vor. Der Berliner „Nepp“ ist ehrlich. – Hier macht man ungeheure Reklame, lockt die Fremden her, dann behandelt man sie – auf der Polizei, im Theater, im Hotel – gottesjämmerlich. Der Ruf „Meidet Bayern!“ war durchaus angebracht. Politisch: dieselbe Sache. Die Münch. Neuesten Nachrichten, ein revanchistisch reaktionäres Blatt, als Hüterin der Republik! Der Demokratie! Herr v. Kahr, der Typ eines macchiavellistischen Politikers. Ich fand die Menschen hier noch weit unerfreulicher als letztes Jahr. Ich habe gar keine Sympathie für den Menschen, der sich hier zu kristallisieren beginnt: geistig hochmütig, obwohl kein Geist da ist, „deutsch“ in jenem Sinne innerer Unwahrhaftigkeit, die jede Einheit von Idee und Sein vermissen lässt. Die Isolation, in die Bayern sich begibt, ist dieselbe, in die vor 14 Deutschland in der Welt gelangte. Sie kann ihm nur schlecht bekommen. Denn das außerbayrische Deutschland wird sich schwerlich um die „Ordnungszelle“ Bayern kristallisieren.

Grüß Mutter. Anbei 2 Autogramme für sie: Paul Hindemith ist der Komponist der modernsten Oper (in Frankfurt und Stuttgart gespielt), Franz Dornseiff, Professor in Basel, der bedeutendste gegenwärtige Altphilologe (Pindarforscher). Immer Euer Fred

München, 1. August 1922

Liebe Mutter,

bitte besorgt mir doch das Zimmer in Schellenberg. Ich komme dann sofort.

Dr. Harich kommt morgen. Ich fahre noch ein paar Tage nach Tegernsee zu Freunden. Meine Adresse bleibt. Schreibt mir Eure Schellenberger. Ich möchte am 13. oder spätestens 14. bei Euch eintreffen. Die Romankorrekturen und allerlei Arbeit, bei der Du helfen kannst, wenn Du magst, bringe ich mit. Das neue Gedichtbuch ist schon ausgedruckt, vielleicht hab ich auch schon ein Exemplar. Wenn Du Dir Bücher zum Lesen mitbringen willst, rate ich Dir zu Döblin, Wallenstein, Bertram, Nietzsche, Schaeffer, Helianth, Ulitz, Ararat. Da hast Du 4 Wochen genug. Habt Ihr eine Zeitung (B.T.) [Berliner Tageblatt] bestellt? Ich freue mich sehr auf Euch. Euer Fred

Carossa’s neues Buch ist sehr schön. Ich sende es Dir.

Bücher zum Lesen mitbringen…: Alfred Döblin, Wallenstein. Berlin: S. Fischer, 1920; Ernst Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Berlin: Georg Bondi, 1920; Albrecht Schaeffer, Helianth. Leipzig: Insel, 1920; Arnold Ulitz, Ararat. Roman. München: Langen, 1920

München, 29. August 1922], Krumbacherstr. 7/111.

Liebe Eltern,

gell, Ihr seid nicht böse, dass ich bisher nicht kam? Zweierlei kam dazwischen: zuerst, dass ich in eine neue große Arbeit mich grade vertieft hatte und seitdem jeden Tag auf der Bibliothek bin und altrussische Bücher schmökere. Zum zweiten: dass ich vor 3/4 Jahren schon mein ganzes bisschen Geld in Papieren und Devisen angelegt habe und grade im Augenblick höllisch aufpassen muss. Ihr habt wohl auch in Schellenberg davon läuten hören, dass für die deutsche Wirtschaft die kritischste Zeit angebrochen ist. In den letzten 14 Tagen sind alle Preise durchschnittlich um 100-300% gestiegen. Schuhe, damals noch 800, nicht mehr unter 2400, Kaffee damals 120, nicht mehr unter 400, Anzug jetzt 20 000, Kostüm jetzt 25 000-40 000 usw. Der Marksturz ging viel rapider als seinerzeit in Osterreich der Kronensturz. Von morgen Mittwoch hängt alles ab: entweder der Dollar steigt auf 3000 – oder sinkt auf 1000 und darunter. Das Wahrscheinlichere ist wohl, nach Poincare’s ganzer Politik, das Erstere. Ich habe jedenfalls meine Lire und Kronen nicht verkauft. – Wenn Ihr über München kommt, drahtet mir doch! Wir wollen doch dann zusammen sein. Wir können dann ins Theater gehn, ich besorge Euch Plätze. – Beiliegend für Mutter ein Autogramm des Dichters Carl Zuckmayer, von dem das Berliner Staatstheater im vergangenen Jahr den Kreuzweg aufführte. – Ich hätte Erholung sehr nötig. Hoffentlich, das hab ich mir vorgenommen, kann ich noch 14 Tage nach Passau. Immer Euer Fredi ,

Mutter hat sich wohl über das Gedichtbuch so entsetzt, dass es ihr die Sprache verschlug? Ich kann nicht mehr säuseln, wenn es rings stürmt.

Berlin S. W., Halleschestr. 21/1. r., 30. Oktober 1922

Liebe Eltern,

da bin ich wieder in Berlin, in meiner Fuchs‘ und Drachenhöhle. Die Woche in München war eine verlorene Woche, vertane und verspielte Zeit. Ich hätte nicht fahren sollen. Ich habe Menschen weh getan, ohne es zu wollen und ohne doch anders zu können. Ich ging »unter Herbststernen«. (Das neue Buch Hamsuns, ich will versuchen, es Dir zu schicken.) Berlin ist aufregend wie immer. Hundert Briefe erwarteten mich. Die Teuerung ist katastrophal. Alles doppelt so teuer wie in München, dreimal wie in Passau. (Mit Ausnahme von Kleidern und Schuhen: die haben den‘ selben Preis.) Kaffee: eine Tasse 60 M., Kuchen 45 M., Essen 200-400 M. Das Pfund Kaffee 1300. Butter 600-700. Brötchen 12. Nur gut, dass ich Kronen (und Schweizer Franken, die Schweizer Nationalzeitung bringt was) verdiene. – Zu Reiß gehe ich gleich heute. Will nach den Büchern sehen. Inliegende Drucksachen etc. bekam ich. Ich beantworte sie nicht.

Es sind 2 Postanweisungen und 1 Wertbrief an Euch nachgegangen, sendet sie dann bald retour.

Alles Gute, ich habe mein Zentner Kohlen gekauft, ich sehe der Kälte einigermaßen gefasst entgegen. Es umarmt Euch Euer Fred

Heyder hat Dir wohl den neuen, sehr schönen Kalender schon geschickt?

Berlin, 18. Dezember 1922

Liebe Mutter,

Eure Weihnachtswünsche erwidere ich auf das Herzlichste. Es wird dies Jahr für viele ein trübes Fest werden. Ich bin dieser Tage durch den Norden und Nordosten Berlins gestrolcht. Wohin man sieht: Verfall, Verwesung, Zusammenbruch. Die Häuser sehen aus, als ob sie alle vorm Einfallen wären. Die Menschen auch. Freilich: im Westen, in der Tauentzienstraße, ist Glanz und Pracht. Die Schaufenster üppig dekoriert. Und die Zahlen oft sechsstellig. Ein bescheidenes Essen kostet schon 700-1000 M. Es soll ja nun (angeblich) besser werden. Milliardenkredit oder so etwas. Ich bin noch skeptisch. (Meine paar Dollar habe ich immer noch.) – Der Roman ist erschienen. Zu spät, um noch für den Weihnachtstisch recht in Betracht zu kommen. Wie alles, mit Ausnahme bei den Luxusgeschäften, so stockt auch der Verkauf in den Buchhandlungen. Die Preise sind zu schnell geklettert. Die Verleger sind in einer Krise. Sie haben nicht mehr genug Betriebskapital. Ein Bogen (16 S.) Satz kostet jetzt 40 000. Eine Auflage, gebunden, eines Romans kommt den Verleger auf ungefähr 3 Millionen! Sei froh, dass Dein kleines Gedichtbuch heraus ist. Heut könnt man es nicht mehr riskieren. – Berlin ist immer wieder interessant und erregend. Ich denke an eine Fortsetzung des Spuk: Gespenster … In Potsdam war ich neulich, kaufte ein paar Porzellanfiguren. Für ein paar hundert Mark. Und bin ganz stolz auf den Kauf. – Alles Gute, auch im neuen Jahr, immer Euer Fred

Berlin, 10. Januar 1923

Liebe Mutter,

herzlichen Dank für Deinen Brief. Ich glaube nicht, dass der Spuk für einen Erfolg sehr prädestiniert ist. Die Leute lieben doch mehr gemütliche Dinge, wo es schnackerlfidel zugeht, „damit wir die grauen Sorgen des Alltags vergessen“, die einem ja jetzt bald über den Kopf wachsen werden. Denn die Teuerung marschiert schneller als der Dollar (der doch zwei Monate ziemlich konstant war: aber in den zwei Monaten sind die Preise gaurisankarhoch geklettert). Ich ginge ja gern irgendwohin zum Wintersport. Die Preise aber, die man verlangt, sind 5-10 000!! pro Tag, Zimmer und Pension. So viel verdiene ich nicht. Das Markenbrot kostet hier jetzt 570 M. Und ein bescheidenes Mittagsessen 1000 M. Und alle Leute reden, wie im dritten Kriegsjahr, nur von Preisen, Essen, Kohlen etc. Man wird recht missvergnügt bei dem Trubel. Und in einem neuen Buch, das ich eben beendet habe, habe ich meinen ganzen Sadismus und Menschenhass ausgerast. Es ist also grade kein freundliches Idyll geworden. Die Zeit der sanften Bücher ist wohl vorbei. Ich glaube, ich werde so etwas wie den Franziskus nicht mehr zu Stande bringen. Man wird bösartig. Und um nicht böse zu werden, muss man das Böse abreagieren: es tun oder schreiben. – Seid beide umarmt von Eurem Fred

Berlin, nach dem 26. Februar 1923

Lieber Vater,

ich bitte Dich, mir möglichst umgehend ein genaues Verzeichnis Deiner Japansammlung zu senden. Ich habe jetzt mehrere Interessenten dafür (einen holländischen Sammler z.B.). Ich glaube immer noch, dass man es gut losschlagen könnte. Kannst Du die Sammlung, mit diesem Verzeichnis, nicht jemand Zuverlässigem mitgeben, der nach Berlin fährt? Das wäre das allerbeste. Der internationale Markt ist ja für diese Sachen sehr »fest« gestimmt. – Ich hoffe, dass es Euch gut geht. Der Dollarsturz hat hier alle Leute in Aufregung versetzt. Die Preise sind leider bisher gar nicht gefallen: es zeigt sich auch hier dieselbe Entwicklung wie in Osterreich. Sollte der Dollar sich einigermaßen so halten (was ich leider nicht glaube), so könnte man wieder nach Italien gehen. Die Preise sind momentan über den Auslandspreisen. Es wäre drüben also eher billiger als hier. (Jedenfalls hier in Berlin.) Ich habe eine neue große Über‘ Setzungsarbeit übernommen. Der Spuk war ein Reinfall. Er ist zu einer sehr ungünstigen Zeit erschienen. Kein Mensch kauft jetzt belletristisch. Dass trotzdem noch gedruckt wird, wundert mich. Von mir ist allerlei in Vorbereitung. Zwei Luxusdrucke chinesischer Lyrik (Inselverlag und Reiß) sind grade erschienen. Das ist etwas, was immer noch geht. Obgleich ein Exemplar, glaube ich, 80 000 M. kostet.

Grüße die Mutter schön, Soffeis sind grade in Berlin, immer Dein Fred

Enzklösterle, Schwarzwald, Hotel Waldhorn, 21. März 1923

Liebe Mutter,

wenn es Euch recht ist, so komme ich Charmittwoch (vielleicht auch früher, behaltet Post bitte da!), mit dem Schnellzug von Nürnberg, ich glaube, gegen halb fünf kommt er dort an. Ich bleibe dann über Ostern. – Hier scheint endlich die Sonne, aber es ist immer noch empfindlich kalt. In einigen Tagen bin ich mit einer sehr unangenehmen Arbeit fertig: einer Revision, Überarbeitung und Durchstilisierung der Soltau’schen Übertragung des Dekameron an Hand der italienischen Ausgabe. Ich hatte mir das einfacher vorgestellt, aber ich arbeite schon seit 4 Wochen 6-7 Stunden täglich daran. – Mein neuer Roman soll demnächst in Satz gehen, angeblich Mai erscheinen, aber ich glaube, es wird Weihnachten. Sonst weiß ich noch nicht, was ich dieses Jahr publiziere. Es liegt genug da. Aber die Verhältnisse sind nicht günstig. – Was machen Deine Balladen? Herzlichen Gruß, auch an Vater, Dein Klabund

etwa April 1923

Lieber Vater,

Ihr werdet ja inzwischen meine Karte erhalten haben. Soweit ich mich entsinne, habe ich Euch schon früher die Ankunft der Japaner einmal bestätigt. Ich bin immerfort für sie tätig. Ich sprach auch mit manchen Sachverständigen über sie. Ein Japaner bezeichnete mir 17 Blätter als erstklassig. (Übrigens den Matahei nicht darunter!) Auch das eine schöne Utamaro (Mutter und Kind) ist beschnitten. Einer übrigens (dessen Meinung ich für mich behielt), hegte leise Zweifel an der Echtheit des großen Sharaku. (Der graue Hintergrund ist nicht der übliche Mikadruck.) Andere erhoben ihn in höchste Himmel. Im allgemeinen handelt es sich immer um dieselben 20-30 Blätter. Würdet Ihr sie einem Vertrauenswerten mit nach Amerika geben? – Ich habe auch außerdem viel zu tun: Korrekturen zu Pjotr, Boccaccio, Goethe. – Die Reichsbank hat, wie ich seinerzeit sagte, die Stützungsaktion nicht fortsetzen können. Sie hat an einem Tage die ganze Dollarschatzanleihe verpulvert. Eine größere Inanspruchnahme des Goldschatzes würde ich für Wahnsinn halten. Der endgültige Zusammenbruch der Mark wäre damit nur um höchstens einige Monate aufgehalten. Ich glaube, dass wir munter auf einen Dollarkurs von 100 000 marschieren. (Also über Osterreich hinaus.) – Anbei ein Autogramm für Mutter. Herzlichen Gruß Euch beiden Euer Fred

Berlin, 3. Juli 1923

Lieber Vater,

in aller Eile möchte ich Dir heute mitteilen, dass sich (nach meinem Gefühl) zwei ernsthafte Reflektanten für die Bilder eingestellt haben. (Im ganzen haben die Schnitte wenigstens dreißig Leuten vorgelegen. Du darfst überzeugt sein, dass ich alles getan habe, was in meinen Kräften steht.) Abzüglich Luxussteuer und Provision (10 %) kämen für Dich 4000 (viertausend) Schweizer Francs in Betracht, zahlbar in Devisen (Dollar). Wärst Du damit einverstanden? Es wäre mir lieb, Du erklärtest Dich umgehend (telegrafisch) dazu. Die übrigen Angebote sind weit tiefer. Wert sind nach meiner Meinung die Schnitte 10 000 Francs: aber bekommen wird man den Wert nicht, hier in Deutschland sicher nicht. (Es ist ein deutscher Sammler, der auf sie spitzt.) Die Ausländer (Japaner) wollten auch nicht mehr geben. Vielleicht kann ich noch 4500 herausholen: das wäre das Äußerste. Da die Goldmark schlechter steht als der Franc, so wäre die Differenz zwischen Deiner Forderung von 5000 Goldmark und 4000 Francs nicht groß. (Die Goldmark ist heute 27 500 Papiermark, der Franc 29 000. D.h. Du verlangtest 137 Millionen und erhieltest 116.) Ich meine, mit 4000 Francs könnte sich die Bank abgefunden erklären. Sie wird doch ein Einsehen haben. – Hoffentlich habe ich Dir nun nicht zu viel versprochen, Skepsis ist ja heute immer vonnöten, aber der Reflektant, der eben bei mir war, machte einen ernsthaften Eindruck. Er will sich bis morgen die Sache endgültig überlegen. Er reflektiert nur auf die 30 besten und alle Schwarzweißdrucke. Den Rest bitte ich Dich, mir zu schenken, damit ich ein Anden‘ ken an diese Affäre habe. – Herzlich umarmt Euch Euer Fred

Guben, auf der Durchreise nach Crossen/Oder, 19. September 1923

Lieber Vater,

mein Bruder hat, wie ich eben höre, Dir einen Brief über eine kapitale Torheit, die er gemacht (scheinbar in einer Art Dämmerzustand), geschrieben. Die Sache sieht sich nicht so bös an, wie ich anfangs dachte. Der Hauptkäufer hat sich bereit erklärt, die Blätter zurückzugeben, da sie ja ohne meine Ermächtigung verkauft worden sind.

Sharaku, Utamaro, Harunobu, Koryusai etc. werden also wohl zu uns zurückkehren. Ein Engländer hat für mindere Blätter noch 100 Dollar gegeben. Ich hoffe, auch diese Blätter zurückzubekommen. Seine Adresse weiß ich. Sollte das wider Erwarten nicht klappen, stehen Dir die 100 Dollar zur Verfügung, womit die Blätter zum mindesten nicht unterbezahlt sein werden. Ich war einige Tage in großer Aufregung wegen all dieser Affären. Aber ich glaube, der Himmel blaut wieder, es wird alles wieder gut. Es umarmt Euch Euer Fred

Crossen/Oder, 29. September 1923

abends im Bett

Liebe Mutter,

ich will den letzten billigen Portotag benutzen, um Euch noch einen Gruß zu senden. Ich weiß ja nun nicht, wie sich die politische Lage in Bayern entwickeln wird und ob ich überhaupt durch Bayern fahren kann. Ich gehe gar nicht leichten Herzens nach Davos, vielmehr mit einem starken, inneren Widerstreben, und ich gehe auch nur Rüedi’s wegen, denn die Sensationen von Davos hab ich ja früher genug ausgekostet … Ich muss mich auch äußerst einschränken, summa summarum werden mir etwa 1000 Francs zur Verfügung stehen. Damit hoffe ich drei Monate zu reichen. In eine Pension wie Stolzenfels werde ich kaum gehen können, das kostet 10 Francs den Tag. Ich werde mir wohl ein Zimmer nehmen müssen. Obwohl ja manches dagegen spricht. Vor allem: dass ich keine rechte Pflege haben werde. Aber das Dilemma zwischen dem, was ich haben müsste, und dem, was ich haben kann, ist auf jeden Fall da. Meine Stimme, die in München noch notdürftig funktionierte, ist jetzt ziemlich weg. Ihr habt das alles mit Irene ja schon einmal durchgemacht. Es wird uns allen wunderlich genug vorkommen, das Spiel noch einmal zu beginnen, das traurige Spiel. Und vielleicht, wer weiß, wird es eben so trist enden. Nur dass ich wohl ein viel zu zähes Unkraut bin, das man nicht so leicht ausrodet wie eine zarte Blume.

Ich fahre Donnerstag nach Berlin und hoffe, die Hauptblätter (Utamaro 161,158, 160,159, Koryusai 65, 38, Sharaku 71, 368 Harunobu 43) wieder in unsern Besitz zu bringen. Ich habe über die Rückgabebedingungen lange verhandeln müssen: vor allem, weil ich das Geld ja erst herbeischaffen musste. Der Brief anbei unterrichtet Euch. Hebt ihn bis zur Beendigung der Transaktion auf.

Es fehlen dann noch 9 Blätter, die ich aber ebenfalls schon reklamiert habe. Es scheint, dass die politischen Verhältnisse Griffith, der Korrespondent des New‘ York Herald wohl auch im Ruhrgebiet ist (ich las heute so etwas), noch nicht haben antworten lassen. Griffith hat 100 Dollar gezahlt, die, wenn nichts aus der Rückgabe werden sollte, Euch in Franken zur Verfügung stehen – wobei ich allerdings schon jetzt Euch dringend abraten würde, die paar hundert Franken (etwa 550) der Churer Bank in den Rachen zu werfen. Lasst sie lieber als Notgroschen für Euch liegen. Ich verstehe ja immer wieder nicht, wie die Bank Euch so pressen kann. Ihr habt doch alles versucht. Sie muss doch wissen, wie arm wir Deutschen geworden sind. Ich will ja gern mit dem Direktor sprechen in Chur (soweit ich noch sprechen kann): aber er muss doch einsehen, dass, wo nichts ist, ein Churer Bankdirektor selbst sein Recht verloren hat und dass nicht böser Wille Euch am Zahlen hindert, sondern Unvermögen. – Die Preise rücken ja mit Macht auf den Goldpreis zu. Vielleicht könnt Ihr in einigen Jahren die 6000 Francs wirklich zurückzahlen. Jetzt in der Übergangszeit kann man Bestimmtes überhaupt nicht sagen. – ‚

Die Münchener müssen wieder ihren politischen Karneval haben. Kahr ist der Eisner von heute und Hitler der Levien – mit anderen Vorzeichen. Hoffentlich bleibts bei dem Maskentreiben und wird nicht scharf geschossen. Ludendorff wird, um Kraus zu zitieren, wieder mit einer blauen Brille davonkommen wie weiland nach Schweden. Es sind alles wieder einmal „fremdstämmige“ Ausländer oder Ungläubige: Kahr, der Protestant, Hitler, der Österreicher, Ludendorff und Roßbach: die Preußen. (Ehrhardt ist wohl auch da.) – Herzlichen Gruß Euer Fred

Berlin, 26. Oktober 1923

Liebe Mutter,

es scheint, dass Ihr einen ausführlichen Brief von mir nicht erhalten habt, ebenso wenig eine Karte. Aber es soll ja in Bayern wieder Zensur sein, ich wundere mich über jarnischt mehr … – wie der Berliner sagt. Die Japaner sind bis auf 7 Blätter wieder in meiner Hand, die fraglichen 7 hat ein Engländer mit nach London genommen; er wollte sie dieser Tage, sobald er wieder nach Berlin kommt, mitbringen. Er ist bisher noch nicht eingetroffen. Es ist Griffith, einer der bekanntesten amerikanischen Journalisten. Sobald ich ihn gesprochen habe und über die restlichen Blätter verfüge, stelle ich Euch die ganze Sammlung wieder zur Verfügung. Sollten die restlichen 7 Blätter nicht mehr aufzutreiben sein (was ich aber nicht glaube), so erhaltet Ihr – wie schon einmal gesagt – 100 Dollar in Dollarschatzanweisungen. – Ich habe meine Reise noch verschoben, da ich an einem Drama für Elisabeth Bergner arbeite. Ich würde gern mehr schreiben, Euch auf der Reise auch besuchen — aber Bayern ist ja „feindliches“ Ausland geworden, wer weiß, was man mit mir anstellen würde … Seid umarmt von Eurem Fred

Davos-Dorf, Villa Stolzenfels, 20. November 1923

Liebe Mutter,

ich bin seit zehn Tagen in Davos. Bin sofort zu Dr. Rüedi gegangen, der mir gleich am zweiten Tag den Kehlkopf ausgebrannt hat. Ich werde mich dieser peinlichen Prozedur noch öfter unterziehen müssen. (Ihr kennt das ja alles von Irene her.) Sprechen kann ich vorläufig gar nicht. – Mein Pjotr erscheint dieser Tage. Ihr steht auf der Liste, nehmt ihn freundlich auf. – Über Deutschland, speziell Bayern sich zu unterhalten, ist zwecklos. Es gibt schon wieder, wie einst im Kriegsmai, die Zensur. Sogar die schwar­zen Striche tauchen schon wieder auf. Die Zeiten werden immer herrlicher. Eines bleibt sich immer gleich: die Dummheit der Menschen und die ekelhaften Lügen, die sie einander vormachen. – Ich habe die Absicht, bis Frühjahr hier zu bleiben und dann nach Osterreich zu gehen. – Die Japanmappe liegt bei Heyder. Mit Griffith versuche ich immer wieder in Beziehung zu kommen. Die 100 Dollar stehen Euch jedenfalls jederzeit zur Verfügung. Herzlichen Gruß Euer Fred

Zehlendorf, 31. Dezember 1923, geschrieben in Davos

PROST NEUJAHR, liebe Eltern! Alles Gute!

Ich war heute wieder bei Rüedi, einige tiefe Töne bekomm ich schon heraus. Er ist als Arzt und Mensch gleich prachtvoll. Hoffentlich kann ich, wenn ich zu Euch komme, ich denke im Herbst, schon wieder richtig brüllen, schrein und singen. – Hier ist ein etwa zehntägiger Schneefall gewesen, dessen sich die so genannten ältesten Leute nicht erinnern. Man konnte tagelang nicht ausgehn. Der Schnee liegt 2 m hoch! – An die Kantonalbank hab ich mit Order vom 31. XII. den Gegenwert von 100 Dollar (schweren Herzens: für Euch empfunden) in Schweizer Franken überwiesen auf Konto Justizrat H. Passau. Quittung, sobald da, geht Euch zu. Die Rentenmark notierte heute in Davos 1,27 Frcs., also über Friedensparität, ein gutes Zeichen, aber mein Misstrauen bleibt trotzdem. (500 Rentenmark wären also etwa 614 Francs.) – Diese Karte schreibe ich auf dem Liegestuhl. Es ist ganz milde, die Luft. – Ich weiß nicht, ob das derselbe Griffith ist: aber in was für abenteuerliche Menschen man so gerät, märchenhaft. Herzlich umarmt Euch Euer Fred

Zehlendorf, 27. Januar 1924, geschrieben in Davos

Liebe Eltern,

ich habe meine Stimme wieder! Und bin, abgesehen von der ewigen Geldmisere, sehr vergnügt. – Die Bank hat Euch inzwischen wohl die Quittung übersandt. Ich würde Euch raten, die jährlichen Zinsen zu zahlen. Das wenigstens könnt Ihr jetzt gewiss leicht, dann wäre meine Einzahlung die erste Zinszahlung sozusagen. – Griffith wollte mir 5 von den fehlenden 9 Blättern noch besorgen. Wir wollen die Hoffnung nicht ganz aufgeben. – Ich scheine mit meinem Rentenmarkpessimismus Unrecht zu behalten. Gott sei Dank! Herzlichen Gruß Euer Fred

Davos, 4. März 1924

Liebe Mutter,

Dank für Deinen Brief. Ich freue mich, dass es mit Deutschland wirtschaftlich vorwärts geht. Jeder von uns ist ja erheblich daran interessiert. Gottseidank, dass die in jedem Betracht scheußliche Inflationszeit vorbei ist: Hoffentlich auf immer. Wie sehr sich alles gewandelt hat, seh ich ja aus meinen Honoraren am Berliner Tageblatt. Im November 23 betrug das Honorar in Schweizerfranken für einen Aufsatz – 1 (einen) Franken, jetzt immerhin 40 (vierzig) Franken. In dem Betracht haben sich ja leider die 100 Dol­lar von Griffith sehr entwertet – sie waren einmal effektiv mindestens das zehn- bis zwanzigfache wert. Ich bedaure immer noch sehr, dass die Lumperei meines Bruders die Japaner zerrissen hat, aber wenn man ihn jetzt noch weiter haftbar machen wollte, würde er nur, um die alte Sache zu decken, eine neue fragwürdige Tat begehen. Ich möchte das nicht anregen. Ich hoffe immer noch, dass Griffith, dem ich heute nochmals schreibe, die 5 versprochenen Schnitte mir zur Verfügung stellt. (Er ist nicht der Ver­brecher G., sondern englischer Korrespondent.) – Gesundheitlich gehts mir recht gut. Die Sprache ist ja wieder da. Nur Halsschmerzen hab ich immer noch. – Was Eure Graubünder Schuld betrifft, würde ich doch einfach sie als Darlehen betrachten und von jetzt ab regelmäßig Zinsen zahlen, was Euch ja nicht mehr schwer fallen kann. Oder eine erhebliche Herabsetzung verlangen bei einer Abzahlung. – Von den beiden Sha-raku’s ist übrigens der eine, das große Porträt, zweifellos falsch. Ich habe mich davon überzeugt. – Gearbeitet habe ich die letzte Zeit nicht. Ich war faul wie die Sünde. Herzlichen Gruß

Euer Fred

Montreux, poste restante, 4. Juni 1924

Liebste Mutter,

, ich muss nach Deutschland fahren, um meine Verlagsverhältnisse zu ordnen. Ich bin mit Reiß definitiv auseinander. Mein neustes Buch, Lesebuch betitelt, erscheint bei unserem Verleger Heyder. Du sollst daran mithelfen, sieh doch unter meinen bei Euch lagernden Manuskripten nach, ob sich gute kleine Prosa darunter findet. Ich will meine gesamte kleine Prosa sammeln. – Du hast neue Balladen geschrieben? Schick sie mir: nach München, Herzogstr. 42/in. p. A. Then, wo ich wohnen werde. Sehen wir uns in München. Ich verhandle auch mit Meyer und Jessen wegen Übernahme einer leitenden Stellung. Herzlichen Gruß in Eile Euer Fred

Hast Du meinen Artikel Mascha im Berliner Tageblatt gelesen? Ich habe mich mit Mascha angefreundet.

– Vielleicht borgst Du Roda Roda das Karussell gegen heiligen Schwur der Rückgabe. (Er wohnt Elisabethstr. 14. Schreib erst an ihn. Es handelt sich um ein Sammelwerk Welthumor?)

Lugano, Cafe Brasserie de la Ville (Hotel de Ville), 8. Juni 1924

Liebe Mutter,

Dank für Deinen Brief. Ich bin z. Z. Lugano poste restante erreichbar. Ich war in Italien, von Freunden eingeladen, Genua, Mailand, fahre in ein paar Tagen wieder nach Mailand, um die Sensation der Scala, die Oper Nero von Boito anzusehen. (Anzusehen: die Hauptsache soll die phantastische Ausstattung sein.) – Das Wetter war 14 Tage schön; jetzt regnets wieder und ist kalt und unfreundlich. – Ich war in Locarno. Ich dachte, das Grab verwildert zu finden, es war aber nicht so. Es scheint, dass man sich (wer, weiß ich nicht) des Grabes angenommen hat. Wenn Ihr wollt, will ich mich einer Platte wegen erkundigen, obwohl es in der jetzigen Form (der Epheu umrahmt die Inschrift, das Grab selbst ist mit einem gewissen Gras gefüllt) keinen hässlichen Eindruck macht. Blumen würde ich nicht anpflanzen. Sie verwelken, wenn nicht täglich gepflegt, im Tessiner Klima zu schnell. – Vater sende ich zu seinem sechzigsten Geburtstag die herzlichsten Wünsche noch nachträglich. Was soll man ihm wünschen, was er nicht in sich hat? Einen prächtigen Charakter, eine prächtige Frau und die Erinnerung an einen der schönsten und besten Menschen, der aus seinem Blute kam: was will er mehr? – Die Umwelt freilich ist trister denn je. Ich bin zuweilen sehr, sehr deprimiert und pessimistischer denn je. Um Sternheim zu zitieren: „ich finde Europa zum Kotzen …“ Sobald ich genug Geld habe (ich lebe die ganzen letzten Monate eigentlich vom Straßenbettel, d. h. von Freunden. Mit Reiß bin ich ganz auseinander. Er hat sich zu niederträchtig benommen: nach 14 Jahren Zusammenarbeit ein besonders starkes

Stück …) – will ich in den Orient. Ich spiele auch mit dem Gedanken einer Weltreise. Vorläufig ist schon in Konstantinopel für mich gemietet, ich kann jeden Tag hin und scheue nur noch, bayrischkahrsch gesprochen, „den Absprung“. – Ich habe eine Menge kleiner Sachen geschrieben: Berl. Tageblatt, Frankfurter, Jugend, Simpliz., Merkur, Neue Rundschau, Dame werden sie bringen. Alles Gute, seid umarmt von Eurem Fred

Grüßt Frau Kahn-Gehrke!

München, 14. August 1924

Liebe Mutter,

Dank für Deine Wachaukarte, es muss zu herrlich dort sein. Ich fahre nächste Woche länger nach Berlin. Wohne im Hotel Adlon, Unter den Linden. Ich habe viel geschäftlich zu erledigen und hoffe, dass es endlich klappt, denn ich möchte im September wie der in Lugano sein. Ob und was im Winter von mir erscheint, ist noch unbestimmt. Ich habe viele kleine Geschichten und Gedichte geschrieben. Ich muss auch sehn, wie es mit Reiß wird. – Wie geht denn Euer Laden? Ich habe über den zögernden Eingang der Zahlungen zu klagen und sitze alle Monate mal auf dem Trocknen, kein angenehmer Sitzplatz. Wenn Ihr den Simpl. lest, Bauz, das bin auch ich. Frohe Ferien, alles Liebe Euer Fred

Frankfurt/Main, Exzelsiorhotel, Anfang Januar 1925

Liebste Mutter,

unter meinen Büchern müssen sich, violett gebunden, zwei Bände Puppenspiele befinden. Erinnerst Du Dich? Dann schick sie mir doch bitte per Adresse: Fritz Heyder Berlin – Zehlendorf, Königstr. 1. – Der Kreidekreis war hier in Frankfurt der größte Theatererfolg seit vielen Jahren. Unzählige Vorhänge. Hannover, Hamburg, Prag melden ebenfalls größten Erfolg. Köln und Wien scheinen die Aufführung verschoben zu haben.

Herzlichen Gruß Euch beiden Euer Fred

Breslau, Heiligegeiststr. 20, vor dem 3. Mai 1925

Liebe Eltern,

einen herzlichen Gruß sende ich Euch. Den Kreidekreiser ist inzwischen von 40 Bühnen angenommen – werdet Ihr hoffentlich in München oder Wien mal sehen. Inzwischen hab ich ein neues Stück geschrieben: unter freier Benutzung eines mittelalterlichen Puppenspiels: eine neue Tragikomödie von Dr. Faust, die im Herbst in Hamburg und Hannover zur Uraufführung kommt. Augenblicklich arbeite ich an einer Übersetzung des Dramas Aiglon von Rostand, das jetzt in Paris schon die 2000. Aufführung hatte. – Seinerzeit eine Paraderolle der Bernhardt. An einem Shakespearefilm (Sommernachtstraum) hab ich mitgearbeitet. So hab ich allerlei zu tun gehabt. Gesundheitlich gehts mir mal so, mal so. Das Breslauer Klima und die Stadt selbst ist mir höchlich verhasst. Aber was soll man tun? Schicksal. Fatum. Ananke. Herzlich grüßt Euch Euer Fred

Breslau, 3, Mai 1925

Lieber Vater,

Dank für Deine Zeilen. In Wien hat das Volkstheater, in München das Schauspielhaus den Kreidekreis für Beginn nächster Spielzeit akzeptiert. Schade, dass Ihr die Frankfurter Aufführung nicht gesehen habt. Sie war allerersten Ranges und kann kaum besser gemacht werden: regiemäßig. – Ich bin unversehens vorläufig mal ins Drama gerutscht. Das Lessingtheater Berlin wird Oktober meine Nachdichtung des Rostand“ sehen Aiglon, des berühmten französischen Napoleondramas, spielen. Hamburg und Hannover den Christoph Wagner, den München wegen des (Euch gesandten) 4. Aktes – Furcht vor klerikalen Einsprüchen — Päpstin Jutta etc. – abgelehnt hat. – Herzliche Grüße an Mutter und Dich Euer Fred

Frl. Neher liegt noch immer im Sanatorium, noch immer schwer krank, zum zweiten Mal operiert, aber hoffentlich wohl jetzt außer Lebensgefahr.

Breslau, Heiligegeiststr. 20, 6. Mai 1925

Liebe Mutter,

vielen Dank für Deine Karte. Ich würde Euch auch gern einmal wiedersehn und hoffentlich kann es bald geschehen. Ich habe ein sehr aufregendes und aufgeregtes Jahr hinter mir. Zu guter oder böser Letzt lag der Mensch, um den es sich handelt, an einer schweren Blutvergiftung auch noch zum Sterben danieder, und da hab ich in meiner Herzensangst ein Gelöbnis getan, wenn er wieder gesund würde, würde ich ihn, d. h. sie heiraten. Frl. Neher ist jetzt auf dem Wege der Gesundung. Ich lege Dir, damit Du sie kennen lernst, einige Bilder bei. Sie ist ein ungewöhnlich charmantes und liebenswürdiges Mädchen, auch eine höchst begabte Schauspielerin (sie hat jetzt 50 mal die heilige Johanna hier gespielt, auch die Hauptrolle in Hannibal, die Miß, und wird auch die Haitang spielen). Die Bedenken, die ich gegen eine Ehe hatte – und die ja auch heute nicht zerstreut sind – liegen erst einmal im Äußeren, Äußerlichen: eine Schauspielerin ist an die Stadt ihres Engagements gebunden, und das kann eine fürchterliche Stadt sein, die ihr weniger ausmachen wird, da sie ja ihre künstlerische Arbeit hat. Mir aber fällt z. B. eine Stadt wie Breslau ganz beträchtlich auf die Nerven. Ich bin jetzt 6 Monate hier und ich kann manchmal kaum mehr atmen. An sich hasse ich schon einen längeren Stadtaufenthalt – und dann noch dazu hier! Eine Stadt, die riesenhaft gewachsen ist seit dem Krieg, (größer als München), ohne jeden musischen Glanz, ohne jede, auch die geringste, landschaftliche Schönheit. Dazu ein scheußliches Klima: wenig diskutable Menschen: das ist Breslau. Andre Bedenken liegen in den beiden künstlerischen Berufen. (Keiner kann den seinen aufgeben.) Und schließlich auch in der „Berufshysterie“ der Schauspielerin. -So geh ich denn bei aller Liebe und Zuneigung mit gemischten Gefühlen in diese Ehe. Aber es gibt ja Wunder. Ein Wunder hat ihr das Leben gerettet. Vielleicht wird ein Wunder auch unsre Ehe retten. Tausend Grüße, auch an Vater, immer Euer Fred

Breslau, Heiligegeiststr. 20, Quisisana, 16. Mai 1925

Liebste Mutter,

ich mache eben Deinen Brief auf und lese den ersten Satz: „Nun bekommst Du noch eine Mutter …“Nein, liebe Mutter, ich bekomme ganz gewiss keine weitere Mutter: zwei so liebe Mütter wie Du und meine Mutter gibts auch nicht mehr auf der Welt, wo soll die dritte herkommen? Ich kenne sie gar nicht; sie gehört zu jenen bösen Müttern des Volksmärchens, ich habe Gutes von ihr kaum gehört. Und so ist meine Braut eigentlich eine Waise. (Ihr Vater ist tot.) Sie ist noch immer sehr krank. Die Lebensgefahr ist zwar jetzt beseitigt, aber es geht schrecklich langsam aufwärts. Die Wunde ist noch immer offen. Ich werde ihr Euren lieben Gruß bestellen. Ich umarme Euch als Euer dankbarer und Euch liebender Fred

Breslau, Sanatorium Friederici, Parkstr. 2, 8. Juli 1925

Liebste Mutter,

ich danke Dir für Deinen lieben Brief. Es sind heute drei Wochen, dass ich die Blutung hatte, es geht mir aber schon wieder besser, und ich hoffe, in 8 Tagen mit meiner Frau – wir haben uns gestern hier im Sanatorium verheiratet – nach Davos zu fahren. Wie alles nun wird, das wollen wir der Zukunft überlassen. Wir sind leider im Augenblick recht erholungsbedürftige und kranke Menschen. Du hast Recht, mich haben die letzten Monate seelisch ungeheuer mitgenommen: ich habe doch zweieinhalb Monate am Krankenbett eines lieben Menschen gesessen, früh und nachmittag, 8 Stunden, und bin zur Arbeit, die ich vertraglich abliefern musste, den Aiglon, immer erst nachts gekommen. Ich habe in einem Monat fünfzehn mal die Sonne am Schreibtisch aufgehen sehen. Dazu die ständige Sorge um einen ständig in Lebensgefahr schwebenden Menschen – es war zu viel für mich. Und so war der ganze Zusammenbruch viel mehr seelischer als körperlicher Natur. –

Es wird Euch interessieren, dass ich grade die Nachricht bekam, dass das Burgtheater meine Aiglonnachdichtung zur Aufführung angenommen hat, so dass Ihr hoffentlich sowohl Kreidekreis wie Aiglon in Wien sehen könnt. Oder wollt Ihr dann nach Berlin kommen? Beides wird im Oktober in Berlin herauskommen: in fabelhafter Besetzung: Regie des Kreidekreises: Reinhardt! Aiglon im Lessingtheater! – Leider habe ich schwere Schererein mit Kiepenheuer: Geldgeschichten, die mir auch manchen Tag vergällen. Es umarmt Euch Euer Fred Herzlichen Gruß von Carla

Breslau, Höfchenstr. 87/111., 9. September 1925

Liebste Mutter,

ich hatte Dir – noch von Breslau aus – im August einen langen Brief geschrieben: Warum hast Du nie auf ihn geantwortet?

Ich bin seit einigen Tagen wieder in Breslau, habe eine ganz nette Wohnung gefunden, drei Zimmer. Carla spielt jetzt den Kreidekreis: die Haitang: mein Gott, wie schlecht war die Münchener Aufführung! Die Wiener wird sicher interessant, denn Martin ist ein sehr origineller Regisseur. Auch die hiesige wird sehr gut. Hoffentlich kommt dann bald die Berliner. – Seid umarmt von Eurem Fredi

Nachtrag: Liebe Mutter,

ich habe auch sonst Bericht aus Wien bekommen und höre übereinstimmend von Leuten, die etwas verstehen, dass Martin den Kreidekreis in Grund und Boden „regiert“ hat. Er ist ein sehr begabter, aber sehr eitler Regisseur, und im Fall Kreidekreis von Tairoffwahnvorstellungen ganz närrisch gemacht worden, wie’s scheint. Das Drama ist ein Märchen und muss als solches gespielt werden: zart, leicht, wolkig, schwebend, auch die grotesken Partien nicht zu schwer genommen. Die Frankfurter Aufführung als ganze z.B. war eine Idealaufführung. Sehr gut, unter meiner Überwachung, auch die Breslauer Aufführung mit Carla als Haitang. Hier – und überall wo das Stück sinngemäß gespielt wurde, ist es ein sehr großer Erfolg geworden, und man rechnet mit monatelang ausverkauften Häusern. – Ich bin froh, nicht in Wien gewesen zu sein, ich hätte mich sonst sicher halbtot geärgert. Komisch, dass grade Wien und München so scheußliche und in der Regie verfehlte Vorstellungen boten. – Jetzt probt Reinhardt, und ich bin neugierig, was da wird. Die Aufführung ist zwischen 5. und 15. Oktober. Könnt Ihr nicht nach Berlin kommen? – Tausend Dank für Deinen Bericht. Ich habe Dir aber vom Sanatorium aus doch einen viele Seiten langen Brief geschickt mit viel Inhalt. – Ich schicke die Kritiken und Bilder von hier, die ich mir zurückerbitte. Herzlich umarmt Euch Euer Fred

Davos-Dorf, Villa Stolzenfels, 30. Dezember 1925

Liebste Eltern,

ein gesegnetes neues Jahr wünsche ich Euch! Wie Ihr seht, bin ich mal wieder in dem alten Davos. Es ist das gleiche geblieben, – aber es hat sich auch manches geändert. Von den Davosern, die Du, liebe Mutter, kanntest, ist der Bildhauer Modrow gestorben. Er hat mir noch kurz vor seinem Tod geschrieben. Er ist sehenden Auges gestorben. Die Aufzeichnungen seiner Tagesbücher begleiten sein langsames Erlöschen. Es ist ergreifend, sie zu lesen. Ich habe einen kleinen Aufsatz über ihn geschrieben und hoffe, dass er im Berl. Tageblatt erscheint. Inzwischen ist auch ein neues Gedichtbuch erschienen, d. h. es ist ein Auswahlband meiner sämtlichen x Gedichtbücher. Ich schicke ihn Euch zu oder hat ihn der Verlag Spaeth schon geschickt? Seid herzlichst umarmt von Euerem Fred

Berlin, Passauerstr. 18/111., 6. Juni 1926

Liebe Mutter,

weißt Du irgendwelche Quellenliteratur über den Bauernkrieg, hast Du gar welche? Ich habe die Absicht, (schon längst), einen Roman daraus zu schreiben und in den Mittelpunkt eine Frau zu stellen, die sogenannte „schwarze Hofmännin“. Weißt Du was von ihr? Hochinteressante Frau! –

Anbei für Autogrammsammlung: Goetz (Verfasser des Gneisenau) Seid umarmt, beide Euer Fredi

Wien, 19. Juni 1926

Lieber Vater,

, am 26. Juni bin ich leider nicht mehr hier. Ich muss in Angelegenheiten der Revue im Galopp nach Berlin zurück, da sie in den nächsten vierzehn Tagen fertig werden muss. – Ihr liebt Wien ja sehr. Ich habe noch einen zwiespältigen Eindruck, und weiß noch nicht, ob es mir gefallen soll oder nicht. Die Leute sind teils unverschämt liebenswürdig (Journalisten), teils unverschämt frech (Chauffeure und Kellner). Theater wird ganz schlecht gespielt, schlechter als die durchschnittliche deutsche Provinz. Überragend nur das Theater in der Josefstadt, wo ich Euch rate, Die Gefangene anzusehn mit Helene Thimig und Ernst Deutsch in den Hauptrollen. Das ist allerbestes Theater. Interviewt bin ich alle Augenblick worden. Der Wiener interessiert sich schein-bar mehr für den Menschen als für das Werk. Diese Sucht nach Indiskretionen, der Mangel an Sachlichkeit, das langsame Tempo, das sind alles mir nicht sympathische Züge im Bild des Wieners. Aber wenn man eine Weile hier ist, dann schläft man viel-leicht auch ein und passt sich der romantischen Schlamperei an.

Seid herzlichst gegrüßt und umarmt von Euerem Fred

Ohne Ortsangabe, 7. Dezember 1926

Liebe Mutter,

tausend Dank für Deinen Brief. Ach, ich bin gar nicht so gesellschaftswütig, meine Frau auch nicht, da und dorthin geht sie wohl aus Gründen der »Repräsentation«, was ein Schauspieler ja in gewissen Grenzen nötig hat, aber im allgemeinen schminken wir uns das alles ab. Ein Schauspieler, der ernsthaft arbeitet, und sie arbeitet fanatisch an ihren Rollen, hat ja dazu auch gar keine Zeit. Es ist eigentlich ein schrecklicher Beruf, ein schrecklich schöner, Probe von 11-4, Essen, Schlafen, 7 Uhr im Theater, 8 Spielen, ‚/212 abgeschminkt, Essen, 1 Schlafen. Ich glaube, nur die Bergleute haben’s ähnlich angestrengt. Ich jedenfalls bin dagegen faul, oberfaul. Ich tue überhaupt nichts mehr. -Nach Wien »übersiedeln« wollen wir nicht. Meine Frau hat zwar einen Antrag, ganz ans Burgtheater zu gehen, aber sie traut diesem verkalkten Etablissement nicht ganz, und will nur als Gast ein paar Monate hin. Sie ist eine derart moderne, aggressive, irritierende Schauspielerin, dass ich mir in der Tat nicht ganz klar bin, wie das Wiener Publikum und die Wiener Kritik auf sie reagieren werden. Die schwärmen doch so für geistige Mehlspeis, Schmarrn und Gugelhupf. – Seid beide umarmt von Eurem Fred

Liest Du viel? Ich wenig. Eine merkwürdige, interessante auch anfechtbare Anthologie: Borchardt, Ewiger Vorrat deutscher Poesie.

Thomas Mann, Unordnung und frühes Leidreizend.

anfechtbare Anthologie: Ewiger Vorrat. Deutsche Poesie. Hg. Rudolf Borchardt. München: Verlag der Bremer Presse, 1926 Thomas Mann, Unordnung und frühes Leid. Novelle. Berlin: S. Fischer, 1926

Wien, 2. April 1927

Liebste Mutter,

herzlichen Gruß aus Wien! (Parkhotel Schönbrunn.) Wien präsentiert sich nicht freund‘ lieh. Sturm, Regen, April. – In den nächsten Wochen erscheinen 2 neue Bücher von mir, die Du sofort erhältst – die Romane der Leidenschaft und Die Harfenjule. – Ich bin sehr müde, abgespannt, erschöpft. Beifolgende Karte für Deine Autographensammlung ist von Arco, dem großen Radioingenieur. – Hast Du nicht in Davos Hans Adler gekannt? Er hat einen bezaubernden, österreichischen Roman geschrieben Das Städtchen (Verlag Ed. Strache Wien). Ich finde ihn jedenfalls (abgesehen vom Titel) prachtvoll. Seid beide umarmt von Eurem Fred

Wien, nach dem 22. April 1927

Liebe Mutter,

ich freue mich, dass es dem lieben Vater schon besser geht, hoffentlich hält diese Besserung an. Ich weiß nicht, welche Indikation für Vaters Leiden an der jugoslawischen Küste gegeben ist, aber ich höre so viel von dem wunderbaren Klima, der herrlichen Landschaft und der außerordentlichen Billigkeit etwa der Insel Rab oder von Dubrownik, Cirkrenice etc. –

Meine Frau hat einen starken Erfolg hier gehabt, beim Publikum und in der Presse (Tageblatt, Journal, Morgen (Polgar), Allgemeine etc. – mit Ausnahme der Stunde, was allerdings einen ganz privaten Hintergrund hat. In Wien ist ja alles so schrecklich privat und persönlich und unsachlich. Liebst, gilt ja als absolut korrupter Bursche. Wenn auch nicht durch Geld, so doch erotisch – bestechlich. Wenigstens hat man mir das sofort erzählt).

Ich selber war ja von vornherein von der Eignung fürs Burgtheater nicht ganz überzeugt. Sie ist doch eine zu moderne Schauspielerin. Und in Cleopatra schaut es aus, wie wenn wirklich eine Katze mit einer Ratte (Cäsar) und einer Anzahl Mäusen spielt. Sie spielt so herrlich aggressiv, so gar nicht gemüt­lich, den üblichen Wiener »Charme« hat sie gar nicht. Ende August gastiert sie auch in Mün­chen. Hoffentlich könnt Ihr sie dann mal sehen. – Herzlichen Gruß Euch beiden Euer Fred

München, Herzogstr. 42/111.1., 14. Mai 1927

Liebste Mutter,

Dein mich tief erschütternder Brief hat mich erst heute in München erreicht. Ich bin Freitag von Wien abgefahren. Ich nehme den innigsten Anteil an dem fürchterlichen Schicksalsschlag, der Dich betroffen, und an dem bittren Leid, das, schon einmal erduldet, nun wieder über Dich kommt. Aber wenn Du zusammenzubrechen drohst, -so denke in Deinem Schmerz auch an Dein Glück: Denke, wie glücklich Du all die Jahre gewesen bist, in der Ehe mit dem auch von mir so sehr geliebten und verehrten Vater, einem der prächtigsten und besten Menschen, die die Erde hervorgebracht hat. Wie wenig Menschen war eine solche Ehe beschieden: ein solcher Gatte – und eine solche Tochter. Irenens Bild steigt schmerzlich-süß vor mir auf und ich küsse ihr im Schattenreich die zarte Geisterhand. Wie wir uns in diesem Leben, auf dieser Erde begegnet sind, so werden wir uns in einem andern Leben, auf einem andern Stern wie­der begegnen, denn solche Anmut, solche Güte, solche Liebe kann nicht vergehen. Sei umarmt und innigst geküsst von Deinem Dich liebenden Fred.

Kann ich Dir in irgendwelchen materiellen Dingen etc. behilflich sein, so bitte ich Dich, es mir rückhaltlos mitzuteilen. Ich bleibe etwa 4 Wochen in München, wo ich eine Arbeit zu erledigen habe. Wo wird der liebe Vater zur Ruh bestattet werden? In Karlsbad? Und fährst Du dann nach Passau zurück? Bedarfst Du meines Rates, soll ich nach Passau herüberkommen? Bitte schreib mir bald.

Davos-Dorf, Villa Stolzenfels, 2. Januar 1928

Liebste Mutter,

ich habe mich außerordentlich über Deinen Brief gefreut. Es freut mich auch, dass Du in die Nähe Münchens ziehst, denn auf diese Weise werden wir uns bestimmt mehr­mals des Jahres sehen können. Wenn auch München nicht den rapiden und interes­santen Aufschwung Berlins genommen hat, das ja immer mehr zum Herzen Europas wird, so ist doch die alte, kulturgesättigte Stadt, so sind doch die Theater, Museen, Ausstellungen immerhin bedeutend genug, um Dir vielfache Anregung geben zu können. Und von Dachau ist es ja nur ein Katzensprung hinüber. Ich liebe Dachau auch landschaftlich sehr. In welcher Gegend Dachaus liegt denn der Rennweg? Nur im Hochsommer gibt es in manchen Jahren viele Schnaken. Aber dagegen muss man sich in der Wohnung mit Moskitofenstern etc. schützen.

Wenn ich auch nicht oft schreibe, so seid Ihr drei: Du, Irene, Vater Max, mir doch immer gegenwärtig. Irene war mein ganzes Glück, und ich denke oft an sie, an Locarno, die Sommerabende von Monti Trinitä. Es kommt im Leben eines jeden Menschen die Zeit, wo er nicht mehr nach vorn, sondern nach rückwärts lebt. Da werden die Erinnerungen fast stärker als die Gegenwart. Manchmal denke ich, ich bin von dieser Zeit nicht mehr allzu weit entfernt.

Samstag findet in München die Premiere von XYZ statt, dem Stück, in dem meine Frau am Wiener Burgtheater die Hauptrolle gespielt. Die Münchner Besetzung reicht nicht entfernt an die Wiener heran. Ich habe auch das Gefühl, die eine Hauptrolle sei mit Rühmann falsch besetzt: denn das Stück muss komisch wirken durch die Dialoge, Charaktere, Situationen. Aber es darf nicht auf komisch gespielt werden. Dann wird es zur Posse. Und das fürchte ich fast von Rühmann (der sonst ein trefflicher Schau-Spieler ist, aber eben ein Komiker).

Willst Du Dir das Stück ansehen? Es liegen zur Premiere 2 Karten auf meinen Namen für Dich an der Abendkasse. Wenn Du sie nicht benutzest, telefoniere die Direktion an!

Umarmung, Kuss, Dein Fred

Berlin, 28. April 1928

Liebe Mutter,

ich sende Dir heute 4 Exemplare der Oper. Bitte schick Du die Exemplare an den Anbruch zum Preisausschreiben. – An den Verlag Schott hab ich geschrieben und geschickt.

In Eile tausend Grüße Dein Fred

Davos-Dorf, Villa Stolzenfels, 23. Juli 1928

Liebe Mutter,

, ja, bitte schick mir die Zeitungsausschnitte vom Gefängnistagebuch. Ich verspreche Dir, sie Dir zurückzuschicken. – Ich bin nach Davos gegangen, weil die Hitzewelle, die über Europa gekommen war, ja in Italien besonders stark sich auswirkte. Hier oben ist es natürlich kühl dagegen. Ich will etwa eine Woche bleiben. Dann will ich noch ein paar Wochen nach München und hoffe bestimmt, Dich um die Zeit in Dachau zu finden. – Das russische Lustspiel, das ich Euch damals ein wenig vorlas, ist vom Berliner Staatstheater angenommen. – Grüße Hingsamers und sei selbst herzlich gegrüßt von Deinem Fred

Davos, 27. Juli 1928

Liebste Mutter,

vielen Dank für das „Tagebuch“. Sobald ichs benutzt hab, bekommst Du’s zurück. Ich will die Geschichte eines Mörders schreiben, der 18 Jahr im Zuchthaus sitzt. – Ich liege im Bett, ich bekam plötzlich wieder Fieber, über 380, wie leider so oft die letzte Zeit. Ich liege so ungern im Bett, d. h. gezwungen, freiwillig sehr gern. – Im September erscheint ein Roman von mir, den ich Dir sofort dann schicke. – Ja, das Amperbad muss herrlich sein. Die schönsten Freuden des Lebens sind die einfachsten. – Wir waren ungefähr zwei Monate in Brioni. Es hat mir wieder außerordentlich gefallen. Einer der angenehmsten Orte zum Leben. Leider sehr teuer. Meine Frau ist schon wieder in Berlin. Die Proben zur neuen Saison beginnen im August. – Alles Liebe, Gute, Gruß an Hingsamers, Umarmung Deines Fred