Brennende Erde

Drama in drei Akten
Für Carola Neher

Dieses Drama will ein Drama sein. Sonst nichts. Es spielt in einem heutigen legendären Russland. Es treibt keine äußere oder innere Politik und wird nicht von ihr getrieben. Es versucht, Menschen auf die Beine zu stellen, Herzen schlagen zu lassen, im Guten und im Bösen, sonst nichts.

Figuren: 

Marusja (17-18 Jahre) – Der Lappe To – Rjurik, Kommissar (30 Jahre) – Semion, Abt der Skopzen (80 Jahre) – Die 7 frommen Brüder – Afanasiew, Nikolajewitsch (16-17 Jahre) – Bunakow, Wassilij Stepanowitsch (50 Jahre) – Muratow, Professor (60 Jahre) – Türkin, Arzt (40 Jahre) – Erster Toter – Zweiter Toter – Jakowlew, ehemaliger zaristischer Gardeoffizier (45 Jahre) – Ein alter Soldat – Ein Blinder – Ein Lahmer – Soldaten.

Ort: Ein legendäres Russland. Zeit: Ein mythisches Heute.

Erster Akt.

(Hof eines kleinen, ärmlichen, ummauerten Skopzenklosters, das in tiefster Einsamkeit, von Sümpfen umgeben, am Rand der russischen Steppe liegt, hoch im Norden, dort, wo sich das europäische mit dem lappländischen Russland berührt. Bevor der Vorhang auf¬geht, ertönt eine melancholische Hirtenflöte. Es ist die Flöte des Lappen To. Der Vorhang geht auf. In der Mitte des Hofes hockt Marusja, eine Schüssel mit Haselnüssen vor sich, die sie mit einem primitiven Instrument: zwei gehöhlten Steinen, aufknackt. Sie ist 17 Jahre alt und in Felle gekleidet, wie ein Mädchen jener Breitengrade)
MARUSJA: (Sie summt vor sich hin) Gottes Mutter, Jungfrau Weiße Taube Du! Taube, wunderschöne, Aller Wunder schöne Aller Wunder schönste Sei gebenedeit!
(Der Lappe To steht plötzlich hinter ihr)
MARUSJA: Du hast mich aber erschreckt – wo kommst Du her, Lappe To? Die Tore sind doch alle verschlossen?
To: Hast Du meine Flöte nicht gehört? Sie hat nach Dir gerufen. Ich kroch über den Baum – den Weg der Eichkatze.
MARUSJA: Was willst Du? Warst Du auf der Jagd?
To: (schwenkt ein Fell) Was ist das?
MARUSJA: (entzückt) Ein Blaufuchs! Schenk‘ mir den Blaufuchs, To.
To: Ist seinen Preis wert, Herrin.
MARUSJA: Welchen?
To: In der Stadt bekomme ich mindestens 10 Tscherwonzen dafür.
MARUSJA: (geringschätzig) In der Stadt! Die in der Stadt wissen von keinem Ding den wirklichen Wert, habe ich mir von Vater Semion sagen lassen.
To: Du meinst – der Pelz ist noch mehr wert?
MARUSJA: Unsere Freundschaft, To.
To: (sich hin- und herwiegend) Freundschaft, Freundschaft zwischen Mann und Weib ist so ein eigen Ding. Ein wenig Liebe wäre er schon wert. Ein ganz ganz klein klein wenig wenig Liebe –
MARUSJA: Dieses ganz ganz klein klein wenig wenig Liebe sollst Du haben – Du würdest noch ein ganz ganz klein klein wenig wenig mehr mehr Liebe bekommen, wenn Du nicht immer so entsetzlich aus dem Maul stinken würdest –
To: Ihr wollt sagen, Herrin, ich dufte aus dem Mund nach Wodka, aber das ist ein angenehmer, selbst Gott wohlgefälliger Geruch, Gott will, daß wir der Güter seiner Erde teilhaftig und ihrer trunken werden, soweit sie trinkbar sind.
MARUSJA: Woher hast Du nur wieder den Wodka?
To: Geheimnis. Ein ganz geheimes Geheimnis! Ein Mann gab ihn mir, ein edler Mann, ein Edelmann gab ihn mir zum Lohne dafür, daß ich ihm den Weg zu seiner Liebsten zeigte.
MARUSJA: Wenn Du mein Freund bleiben willst, mußt Du das Wodkatrinken bleiben lassen. Wirf Dich mit dem Bauch am Quell nieder, trink‘ das süße gute Wasser und Du wirst Gottes frischesten Morgen trinken und seinen reinsten Atem haben.
To: Wasser berauscht nicht den Geist: aber Wodka berauscht ihn und läßt ihn mit feurigen Zungen reden (fällt vor ihr nieder). Meine feurige Zunge stammelt: Herrin, ich liebe Euch! Habt Mitleid mit dem armen Lappen To! Reibt Eure Nase an seiner Nase zum Zeichen Eures Einverständnisses zu seiner Liebe -und Ihr sollt den Blaufuchs haben –
MARUSJA: (entreißt ihm den Blaufuchs) Der Blaufuchs wird Dir von den frommen Brüdern entgolten werden. Geh‘ jetzt. Pack Dich. Den Baum, über den Du in den Hof kamst, werden die Brüder fällen, damit nicht noch mehr ungebetene Gäste uns unverhofft besuchen, wenn das Tor geschlossen ist.
To: Meine Flöte will Euch noch etwas sagen, Herrin, was ich mit Worten nicht ausdrücken kann –
MARUSJA: (öffnet das Tor, stößt den winselnden Lappen hinaus und schließt es wieder. Sie spielt mit dem Blaufuchs wie mit einer Puppe, und summt wieder) – Gottes Mutter, Jungfrau Weiße Taube Du! Taube, wunderschöne Aller Wunder schöne Aller Wunder schönste Sei gebenedeit!
STIMME VON AUSSEN: Heda! Aufgemacht!
MARUSJA: (hält inne, lauscht, wie ein Tier lauscht) Wer ist da?
STIMME VON AUSSEN: Gut Freund –
MARUSJA: Gut Freund?
STIMME: Bester Freund. Allerbester Freund.
(Marusja hat die Schüssel niedergestellt und läuft zur Mauer. An der Mauer, dicht beim Tor, führt eine kleine Steintreppe zur Höhe der Mauer. Marusja läuft sie hinauf und äugt jetzt von oben herab nach außen)
MARUSJA: Wer ist denn da?
STIMME: Ich.
MARUSJA: Ja, das sehe ich, daß Du da bist, aber wer bist Du denn?
STIMME: Rjurik.
MARUSJA: Rjurik?
RJURIK: Kommissar dieses Distriktes.
MARUSJA: Und was heißt das?
RJURIK: Der mächtigste Mann hier zu Land.
MARUSJA: Bei uns hört Deine Macht auf. Hier herrscht der hochehrwürdige Vater Semion.
RJURIK: Das weiß ich, daß hier der hochehrwürdige Vater Semion „herrscht“. Deshalb kam ich ja her.
MARUSJA: Wie hast Du den Weg zu uns gefunden? Den Weg durch die Sümpfe? Hier kommt nie ein Mensch her – höchstens mal ein Lappe
RJURIK: Ein Lappe hat mir den Weg verraten und mich geführt: Gegen einen Schnaps und Zigaretten.
MARUSJA: Das war der Lappe To. Alle Lappen sind schlecht.
RJURIK: Ihr seid auch nicht besser.
MARUSJA: Wieso?
RJURIK: Ihr handelt gegen das Gesetz.
MARUSJA: Wir?
RJURIK: Ja: Ihr. Wie kommst Du übrigens in das Männerkloster, he?
MARUSJA: Das weiß ich nicht, ich war schon immer da.
RJURIK: Schämst Du Dich nicht?
MARUSJA: Ich weiß nicht, was das ist: sich schämen.
RJURIK: Eine Frau und 8 Männer: das ist schamlos. Was tun sie mit Dir und Du mit ihnen?
MARUSJA: Ich führe den acht frommen Brüdern die Wirtschaft.
RJURIK: So! Nennt man das jetzt Wirtschaftführen. Ich nenne das Unzucht und Hurerei.
MARUSJA: Das sind Worte, die ich nicht verstehe
RJURIK: Willst Du mich jetzt endlich einlassen? Ist das eine Art, einen Beamten so vor dem Tor stehen zu lassen?
MARUSJA: Ich kann Dich nicht einlassen.
RJURIK: Du mußt.
MARUSJA: Nein, ich habe nicht die Erlaubnis dazu.
RJURIK: So, Du wagst es, mir offen Ungehorsam zu bieten?
MARUSJA: Ich habe keine Ursache, Dir zu gehorchen.
RJURIK: Wo sind die frommen Brüder?
MARUSJA: Nicht zu Hause.
RJURIK: Sieh da, der hübsche Vogel allein im Käfig.
MARUSJA: Die Brüder sind auf dem Feld und der hochehrwürdige Vater Semion ist in der Kapelle.
RJURIK: So hole ihn.
MARUSJA: Ich darf ihn im Gebet nicht stören.
RJURIK: Ich glaube, wenn ich an diesem Baum, an diesem dicken Ast mich tüchtig schwinge, so schwingt er mich hinüber, hinauf – eins, zwei, eins, zwei.
MARUSJA: (beobachtet ihn ängstlich)
RJURIK: (steht plötzlich auf der Mauer) Zu Dir.
MARUSJA: Gottesmutter – (läuft die Treppe hinab)
RJURIK: Laß die Gottesmutter aus dem Spiel, Menschenkind, (springt von der Mauer in den Hof) Da bin ich.
MARUSJA: Ja, da bist Du.
RJURIK: Wie gefalle ich Dir?
MARUSJA: Groß und stark bist Du.
RJURIK: Und Du zart und zierlich.
MARUSJA: Laß mich einmal Deine Arme anfassen.
RJURIK: Da!
MARUSJA: Ja, Du bist stark, Du hast stärkere, viel stärkere Arme, als die frommen Brüder. Die frommen Brüder sind mager und dürr, wie Wölfe im Winter.
RJURIK: Die Tugend sucht sich einen mageren Leib zum Wohnsitz. Ich habe noch nie einen fetten Heiligen gesehen.
MARUSJA: Glaubst Du, daß Du so stark bist, wie alle 7 frommen Brüder zusammen?
RJURIK: Das glaube ich wohl.
MARUSJA: Aber so stark, wie der hochehrwürdige Vater Semion bist Du doch nicht.
RJURIK: Das käme auf eine Probe an.
MARUSJA: Nein – der hochehrwürdige Vater Semion ist stärker als Du. Er hat eine andere Stärke. Er hat seine Macht von Gott dem Herrn im Himmel.
RJURIK: Ich habe meine Macht vom Herrn auf Erden. Ja: Da stehen sich zwei gleich¬wertige Kempen gegenüber, – aber um zu einem Ende zu gelangen: Wenn Dein altehrwürdiger Vater Semion sich jetzt nicht schleunigst zeigt, gehe ich in die Kapelle und schieße ihn am Altar seines Herrn, von dem er die Macht hat, über den Haufen.
MARUSJA: Was willst Du tun?
RJURIK: Ich werde ihn töten – und Dich dazu –
MARUSJA: Die Eichhörnchen, die Rentiere, die Füchse und Wölfe können sterben. Der Mensch schlägt sie tot und dann bewegen sie sich nicht mehr. Aber der Mensch – Schlägt denn ein Mensch den andern tot?
RJURIK: (gemütlich grinsend) Das will ich meinen.
MARUSJA: Du redest zwar die gleiche Sprache, wie wir – aber doch eine ganz andere Sprache.
RJURIK: Ich rede, wie mir der Schnabel gewachsen ist.
MARUSJA: Dir ist ein Schnabel gewachsen? Dann kannst Du wohl die Stimmen der Vögel nachmachen? Mach‘ mal den Frühlingsruf der Schnepfe nach, (macht ihn nach) Oder den Buchfink: Züzüzüjachzis … züzüzüjachzia. Kannst Du flöten, wie die Ammer am Bach? (flötet) Ich habe keinen Schnabel und kann die Vögel besser nachmachen als Du. Ich kann auch die Nachtigall nachmachen. Nachts schleiche ich mich manchmal aus dem Haus, im Sommer, wenn die Nächte blau sind. Dann flöte ich wie eine Nachtigall, und die Nachtigallen geben mir Antwort. Und so singen und sprechen wir miteinander. Ich singe der Nachtigall mein Lied und mein Leid, und die Nachtigall singt mir ihr Lied und ihr Leid.
RJURIK: So, was haben denn die Nachtigallen für ein Leid?
MARUSJA: Das weiß ich nicht. Ich fühle es nur. Die Töne, die sie singen, fallen manchmal wie Tränen in die Dämmerung.
RJURIK: So, so. Die Nachtigallen weinen bei Euch am Sinsee. Das ist ja naturwissenschaftlich hochinteressant.
MARUSJA: Na – tur – Wissenschaft – lich: Was bedeutet das?
RJURIK: Du fragst wirklich etwas viel. Naturwissenschaft also, das ist die Wissenschaft von der Natur –
MARUSJA: Was ist denn das: Natur?
RJURIK: Himmelherrgott Sakrament – jetzt lebt dieses Mädchen mitten in der Natur und weiß nicht, was Natur ist. Natur, das ist das, was Dich umgibt: die Eichhörnchen, die Schnepfen, die Rentiere, die Nachtigallen. Das ist Natur. Aber auch der Sinsee, das Gebirge, die Steppen, das Moos: das ist auch Natur.
MARUSJA: Aber ich – da bin ich wohl auch Natur.
RJURIK: Nein, Du bist ein Mensch, ein ganz gewöhnlicher Mensch, zwar ein ungewöhnlich hübscher Mensch, aber ein Mensch, und ein Mensch ist nie Natur.
MARUSJA: Aber der Mensch, ist doch nichts anderes als ein Wolf oder ein Fuchs. Nur daß der Wolf auf vier Beinen geht und der Mensch auf zwei.
RJURIK: Du bringst einen wirklich in die Klemme mit Deinem verdammten Fragen. Meinetwegen ist der Mensch auch ein Tier. Vielleicht sogar das blutdürstig¬ste. Er ist der König der Raubtiere, der Mensch. Aber während die Wölfe und Bären nur töten, wenn sie Hunger haben, tötet der Mensch auch, wenn er keinen Hunger hat. Aus Prinzip und aus Prinzipien. Was meinst Du, wie viel Menschen ich schon umgebracht habe?
MARUSJA: (ungläubig lächelnd) Du hättest schon einen Menschen umgebracht? Nein, das glaube ich nicht. Du hast so gute Augen und eine so freundliche Stimme, ich glaube nicht, daß Du schon Menschen umgebracht hast.
RJURIK: Ob Du es glaubst oder nicht: Ich habe schon allerlei Menschen hinüberbefördert. Erst im glorreichen Krieg und dann in unserer glorreichen Revolution. Im Krieg, weil es der Hauptmann befahl, und in der Revolution, als ich selbst Hauptmann geworden, weil es das Gesetz so wollte.
MARUSJA: Ich verstehe nichts von dem, was Du sagst.
RJURIK: Ja, weißt Du denn nicht, daß wir eine Revolution gehabt haben? Früher herrschte der Zar und jetzt herrschen wir.
MARUSJA: Hier am Sinsee herrschen die frommen Brüder und als oberster unter ihnen der hochehrwürdige Vater Semion.
RJURIK: Mit diesem ehrwürdigen Vater Semion habe ich ein Wörtchen zu reden, ein Hühnchen zu rupfen. Und dieses Hühnchen bist sozusagen Du.
MARUSJA: Du willst mich rupfen? Vielleicht gar braten? Ich habe keine Angst vor Dir. Wenn Du meinst, daß ich ein Vogel bin, so habe ich auch Flügel – und kann davonfliegen.
RJURIK: Da würdest Du nicht weit kommen (schlägt auf seine Revolvertasche) Ich würde Dich aus der Luft zurückholen
MARUSJA: Wie meinst Du das? Was hast Du da?
RJURIK: Einen Revolver.
MARUSJA: Einen Revolver nennt man das? Dieses kleine eiserne Ding? Zeig‘ einmal her.
Rjurik: Nimm Dich in Acht. Er ist geladen.
MARUSJA: Was bedeutet das?
RJURIK: Es ist Zepter und Wahrzeichen des Menschen, des kultivierten Menschen sozusagen, denn es ist eine Erfindung des kultivierten Menschen. Es gehört zum menschlichen Fortschritt.
MARUSJA: Und was tut der … „kultivierte“ Mensch mit dem grauen Ding da?
RJURIK: Er tötet, tötet, tötet, tötet. Er kann mit diesem grauen Ding da auf 1000 Schritt und mehr einen andern Menschen oder ein Tier töten.
MARUSJA: Auf 1000 Schritt? Mit dem kleinen Ding da?
RJURIK: Auf 1000 Schritt. Mit dem kleinen Ding da (er deutet auf den Baum). Siehst Du das Eichhorn da auf dem Baum?
MARUSJA: Ja.
RJURIK: (drückt ab)
MARUSJA: Es fällt vom Baum – (erstaunt, traurig) Du hast das Eichhorn getötet – warum?
RJURIK: Ich wollte Dir nur die Macht des kleinen grauen Dings beweisen.
MARUSJA: Zeig‘ es noch einmal her.
RJURIK: Da-
MARUSJA: Wenn ich jetzt etwas töten will, wie muß ich es da machen?
RJURIK: Du legst den Revolver an – so – zielst – und drückst einfach los –
MARUSJA: Ich verstehe schon – (reißt ihm den Revolver aus der Hand, springt zurück und legt auf ihn an) So – was würdest Du jetzt dazu sagen, wenn ich Dich jetzt töten würde – wie Du das Eichhorn getötet hast?
RJURIK: (macht eine Bewegung) Mach‘ keinen Unsinn –
MARUSJA: Rühr‘ Dich nicht – sonst drück‘ ich los -. Du erzähltest vorhin, Du hättest schon viele Menschen getötet. Du prahltest damit. Kennst Du nicht das heilige Gebot: Mensch, Du sollst keinen Menschen töten?
RJURIK: Woher kennst Du das Gebot?
MARUSJA: Der hochehrwürdige Vater Semion hat es mich gelehrt.
RJURIK: Das sind veraltete Anschauungen, kannst Du Deinem ehrwürdigen Vater Semion mit einem schönen Gruß vom Kommissar Rjurik bestellen, falls ich selbst nicht mehr dazu kommen sollte, denn Du fackelst mir bedenklich mit dem Revolver herum. Es gibt keine Bibel, keinen Gott und demzufolge auch keine göttlichen Gebote mehr.
MARUSJA: Du lügst. Hier am Sinsee, bei den 7 frommen Brüdern, gibt es diese Gebote. Hier gelten sie. Denn hier gilt – Gott.
Rjurik: Du weißt nicht, was Natur ist, Du weißt nicht, was eine Revolution, was ein Revolver ist, und auf einmal willst Du wissen, was Gott ist.
MARUSJA: Hier, nimm Deinen Revolver zurück. Ich hätte Dich töten können, aber ich schenke Dir das Leben. Ich schenke Dir Dein Leben, Dein armseliges, denn es muß sehr arm sein, da Du nicht weißt, was Gott ist.
RJURIK: Jetzt könnte ich Dich töten, denn ich habe meinen Revolver wieder.
MARUSJA: Nein, das kannst Du nicht. Du kannst mich nicht töten, wie das Eichhorn da im Baum. Denn ich habe eine Seele und die ist unsterblich.
RJURIK: Wer hat Dir denn diesen Humbug eingeblasen?
MARUSJA: Der ehrwürdige Vater Semion.
RJURIK: Die Zeit der ehrwürdigen Väter ist vorbei. Jetzt kommt die Zeit der ehrwürdigen Söhne in Rußland.
MARUSJA: Rußland – was ist das?
RJURIK: Ruß – Land: Das ist das Land, auf dem Du stehst, auf dem Deine Füße gehen, von hier nach dort. Alles Land ringsum: 1000 Werst weit und noch mehr: ist Rußland: Unser Rußland, unser weites, breites, geliebtes, gehaßtes Rußland.
MARUSJA: Ich verstehe. Ich pflanze meine Bohnen auf dem Rußland. Meine Hunde laufen über das Rußland, das, was im Winter mit Schnee, im Frühling mit Blu¬men bedeckt ist und im Sommer so süß duftet: das ist Rußland.
RJURIK: Das ist Rußland, da hast Du recht. Du beschreibst es ja ungeheuer gefühlvoll. Das hast Du wohl von Deinen Skopzen gelernt?
MARUSJA: Skopzen?
RJURIK: Jetzt lebt das Mädchen mit Skopzen zusammen und weiß nicht, was Skopzen sind. Skopzen, das sind keine Männer und keine Weiber. Es sind Männer, die auf ihr Mannestum Verzicht geleistet haben. Sie haben sich entmannt. Verstehst Du?
MARUSJA: Nein.
RJURIK: Ja, weißt Du denn nicht, was ein Mann ist?
MARUSJA: Natürlich weiß ich, was ein Mann ist. Du bist ein Mann.
RJURIK: Und Deine heiligen Brüder, die Skopzen, sind keine Männer. Sie sehen nur so aus. Es ist eine Schande, ein Verbrechen, wenn Hämlinge, wie sie, ein junges, blühendes Weib, wie Dich, gefangen halten.
MARUSJA: (lacht hell auf) Sie halten mich gefangen? Das könnten sie wohl nicht. Ich bin freiwillig bei ihnen, weil ich sie liebe.
RJURIK: Du liebst sie? Ja, weißt Du denn überhaupt, was Liebe ist? Wie alt bist Du jetzt?
MARUSJA: Wie alt? Wie meinst Du das?
RJURIK: Wie lange bist Du auf der Welt?
MARUSJA: Ich bin immer auf der Welt. Solange ich mich entsinnen kann und noch länger bin ich auf der Welt.
RJURIK: (geht um sie herum, schätzend) Diese Figur – diese Waden, diese kleinen vollen Brüste – (greift nach ihnen)
MARUSJA: (schlägt ihm die Hand herunter und faucht ihn an) Willst Du das wohl lassen, Hundesohn.
RJURIK: Ah, sieh da – fluchen kann die kleine Wildkatze doch, so fromm sie ist – also 17 Jahre bist Du mindestens alt, und da willst Du mir weismachen, ich wäre der erste, der nach Deinen Brüsten greift.
MARUSJA: Versuche es nur noch einmal und Gottes Blitz wird Dich treffen.
Rjurik: Du solltest Gott nicht wegen solcher Lappalien bemühen. Er kümmert sich, weiß Gott, nicht darum. Aber ich kann nicht leugnen, daß es mich nach Dir gelüstet. Komm mit in das Haus des Genossen Rjurik und werde seine Ge¬nossin, seine Bettgenossin.
(In diesem Augenblick ist Semion, eine uralte würdige Erscheinung mit den 7 Brüdern aus dem Haus getreten. Sie gehen auf Rjurik zu, der sie obenhin begrüßt und verneigen sich tief. Marusja hält sich zurück, nachdem sie auf Semion zugelaufen ist und ihm die Hand geküßt hat)
SEMION: Ich begrüße den Fremdling mit dem Gruß Gottes (schlägt das Kreuz über Rjurik, der abwehrt). Sein Segen über ihn. Darf ich den Fremdling nach Namen und Absicht seines Besuches fragen? Es geschieht so selten, daß unsere bescheidene Siedlung den Anblick eines Gastes empfängt, daß mit der Seltenheit eines Besuches auch stets seine Dringlichkeit verknüpft erscheint.
RJURIK: Genosse Semion – Sie sehen, ich kenne Ihren Namen. Der meine ist Rjurik. Ich bin der neubestellte Kommissar dieses Distriktes und stehe in dieser meiner amtlichen Eigenschaft vor Ihnen. – Euer Drecknest, oder wie man das hier nennen will, hat bisher Wosdwishenje geheißen, das bedeutet Kreuzeserhöhung. Aber ich will Euch alle zum Kreuz erhöhen, wie Euren Herrn und Meister, Ihr sollt alle 8 am Kreuz hängen, ein Christus und 7 Schacher, wenn Ihr Eure Bude nicht sofort umtauft. Eure Klitsche heißt von jetzt ab: Proletarskoje. Verstanden?
SEMION: (verneigt sich höflich mit den Brüdern)
RJURIK: (gereizt) Warum widersprecht Ihr nicht, Ihr heiligen Strolche?
SEMION: Warum sollen wir in einem so unwesentlichen Punkt widersprechen, Kommissar. Taufen Sie unsern Ort, wie immer Sie es für gut befinden.
RJURIK: Und wenn ich Euch hängen lasse?
SEMION: So hat Gott gewollt, daß wir hängen.
RJURIK: Sie betrachten mich als einen Eindringling?
SEMION: Nicht ohne berechtigten Grund.
RJURIK: Es ist wahr, ich bin nicht durch das Tor gekommen, ich bin über die Mauer gestiegen. Ich habe nicht erst um Erlaubnis gefragt. Aber es sind außerordentliche Zeiten, und außerordentliche Zeiten heischen außerordentliche Maßnahmen.
SEMION: Das ist auch meine Meinung. Nur daß über die Art dieser Maßnahmen unsere Anschauungen auseinandergehen dürften.
RJURIK: Kein Zweifel. Sie sind ein Vorkämpfer des Christentums und plädieren für christliche Maßnahmen. Ich bin ein Vorkämpfer der Revolution und neige als solcher zu revolutionären Maßnahmen.
SEMION: Wovon Sie uns soeben, als Sie ungerufen über die Mauer stiegen, eine kleine Probe gaben.
RJURIK: Kurz und bündig: Zweck meines Besuches (auf Marusja deutend) ist dieses Mädchen da. – Ich bin hierher gekommen, die Mühsal und Gefährlichkeit des Weges durch die Sümpfe nicht scheuend, um Ihnen, Genosse Semion, Ihr unverantwortliches Benehmen vorzuhalten.
SEMION: Ich hätte mich unverantwortlich benommen? Ja, wem bin ich denn verantwortlich? Doch nur dem da droben.
RJURIK: Es mag sein, daß Sie privat für sich, dem Herrn der himmlischen Heerscha¬ren, wie Sie und Ihresgleichen recht militaristisch ihn zu nennen pflegen, verantwortlich sind. Hier auf der Erde sind Sie dem Herrn der irdischen Heer¬scharen verantwortlich. Dessen Bevollmächtigter steht in meiner Person vor Ihnen.
SEMION: Worüber also haben Sie sich zu beklagen?
RJURIK : Das ist ein Männerkloster?
SEMION: Gewiß-
RJURIK: Weshalb halten Sie dieses junge Weib widerrechtlich hier gefangen? Die Zeit der Sklaverei und Leibeigenschaft ist auf immer dahin.
SEMION: Marusja ist keine Leibeigene und keine Sklavin. Wir halten sie nicht wider das Recht gefangen. Sie ist freiwillig bei uns.
RJURIK : Freiwillig? Ein unmündiges Geschöpf hat keinen eigenen Willen. Da sie keinen eigenen Willen hat, muß der Staat, dem sie angehört, für sie wollen. Der Staat bin in diesem Falle ich.
SEMION: Was also Sie wollen, –
RJURIK: Das ist wohlgetan. Basta.
SEMION: Wir haben Marusja nicht geraubt, wie Sie anzunehmen scheinen. Wir haben Marusja eines Tages vor 17 Jahren in den Sümpfen des Sinsees gefunden. Ihre Mutter, die sie eben geboren hatte, lag halb verblutet in den letzten Zügen neben ihr. Die Mutter starb. Wir nahmen das Kind, das uns vom Himmel zu unserer Freude, zu unserem Trost geschenkt worden war, zu uns.
RJURIK :Der Vater?
SEMION: Wir kennen keinen anderen Vater, als den Vater im Himmel droben.
RJURIK: Das mag sich nun verhalten, wie immer es wolle –
SEMION: (sanft) Es verhält sich so, wie ich sagte –
RJURIK: Ich dulde jedenfalls die Anwesenheit des Mädchens hier im Kloster nicht mehr. 8 alte Männer und 1 blutjunges Weib.
SEMION: Ich sehe hier nur Menschen, die sich lieben – o, nicht auf die Art, die Sie mutmaßen – diese Menschen sind ein Leib und eine Seele, und wenn Sie ei¬nen von den anderen reißen, reißen Sie eine zuckende Wunde auf. – Aber wir, die wir hier vor Ihnen stehen, passen nicht in Ihren Menschen- und Staatsbegriff –
RJURIK: So werde ich Sie in diesen Begriff zwingen.
SEMION: Das wird Ihnen nicht gelingen. Wir sind vor ihm geflohen. Wir sind so weit nach Norden und Osten geflohen, als uns nur immer gelingen wollte. Denn im Westen ist ein übler Hauch aufgestiegen, der die Luft verpestet, Seuchen, seelische Seuchen machen sich auf und wandern wie Heuschreckenschwärme. Die apokalyptischen Reiter jagen von Westen nach Osten. Die Erde brennt. Im Westen begann’s. Nun greift das Feuer immer weiter um sich. Bald werden die Steppen und Tundren Rußlands brennen. Es gibt nur eine Hölle: die Erde. Seht, wie sie brennt, und hört das Geschrei der gemarterten Leiber und Seelen. O meine sieben Brüder: die sieben Engel mit den sieben Posaunen haben sich gerüstet, zu posaunen.
1. BRUDER: Und der erste Engel posaunte und es fiel Feuer mit Blut gemengt auf die Er¬de, und der dritte Teil der Bäume verbrannte und alles grüne Gras verbrannte.
2. BRUDER: Und der zweite Engel posaunte und es fiel ein großer Stern vom Himmel, der brannte wie eine Fackel. Und er fiel in die Quellen und Flüsse und viele Men¬schen starben, als sie von dem bitteren Wasser tranken, denn es war voller Gift geworden.
3. BRUDER: Und der dritte Engel posaunte, da fiel die Sonne vom Himmel, und es ward finster über der Erde. Es kam die Nacht der Nächte. Kein Mensch sah den andern Menschen mehr. Der Bruder erkannte den Bruder nicht mehr, der Freund nicht den Freund. Sondern, da es dunkel ward, wurden auch ihre Seelen dunkel und glänzte kein Strahl des Himmelslichts mehr in ihnen. Sondern, was einzig glänzte: das waren Stahl und Dolch, damit sie übereinander herfielen und sich zerfleischten: der Bruder den Bruder, der Freund den Freund.
MARUSJA: (ist langsam nach vorn getreten und es scheint wie eine fremde Stimme aus ihr zu sprechen) O Vater Semion! O Ihr meine Brüder! O Ihr alle! O Ihr Menschen, die Ihr mich hört. Alles hat seine Zeit und alles unter dem Himmel hat seine Stunde. Die Nacht der Nächte wird vergehen und das Morgenrot wird emporsteigen, wie ein Tänzer, und der rote Tänzer wird über die Erde tanzen, und er wird sich eine Flöte schnitzen vom ersten neusprossenden Weidenbaum. (In der Ferne ertönt wieder die Flöte des Lappen To) Über den verkohlten Steppen werden sich wieder die Frühlingswinde erheben. Gras wird wieder sprossen und die Rebhühner werden wieder in den Ackerfurchen sitzen, und die Lerche wird singend aus den Wolken stürzen. Korn wird wieder zum Himmel schießen und alle Menschen werden satt zu essen haben, und aus dem jungfräulichen Leibe einer jungen Frau wird der neue Heiland geboren werden, der wird regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit. (Semion und die 7 Brüder fallen nieder)
DIE 7 BRÜDER: Wir danken Dir Herr, wir danken Dir, Herr.
1. BRUDER: Für die Stunde der Erleuchtung.
2. BRUDER: Für die Worte des Trostes.
3. BRUDER: Für den Strahl Deiner Gnade.
SEMION: Du hast durch den Mund jener Jungfrau zu uns gesprochen und sie ist die heilige Jungfrau, die neue Gottesgebärerin, von der geschrieben steht: Sie ist mit der Sonne bekleidet, sie trägt den Mond im Haar und zwei goldene Sternenschuhe.
RJURIK: Diese Jungfrau, dieses Weib, ist ein ganz gewöhnliches Weibchen, ein Weibstück, ein Stück Weib, wie tausend andere, sie ist mit einem Fuchsfell bekleidet, in den Haaren trägt sie einen Holzkamm und an den Füßen ein Paar schäbige Sandalen. Ich habe Euer Heulen lange genug angehört, Steppenwölfe, und ich werde keineswegs mit den Wölfen, mit Euch heulen. Ich sehe, Ihr habet die Offenbarung Johannes mit Verständnis aufgenommen und gebet sie zweckentsprechend mit verteilten Rollen wieder von Euch. Aber Schluß jetzt mit der Komödie, Väterchen! Ich hatte in der Stadt von der Schönheit dieses verborgenen Edelsteines (auf Marusja deutend) so viel vernommen, daß ich beschloß, sie mir anzusehen. Ich war in den letzten 25 Jahren einmal in der Kirche und zwar am letzten Sonntag – durch einen Zufall Ich hatte einen Popen, der dort predigte, aufzuhängen, und so hörte ich hinter der Säule mir erst mal seine Predigt an. Alle Wetter, der ging nicht schlecht ins Zeug mit uns. Weltuntergang, Blitz und Donner. Aber ein kleines Hoffnungslicht steckte der brave Kuttenträger uns doch an. Er offenbarte sich als Prophet und schrie: Im Kloster am Sinsee bei den Skopzen ist schon die neue Maria erstanden, die uns den neuen Heiland gebären wird, die rein¬ste, süßeste, holdeste Frau der Welt. Hallo, dachte ich mir: Das wäre so ein Braten für Dich. Sonntagsbraten. Den ich mir jetzt selbst schießen werde! (hebt den Revolver und schießt auf Marusja, die sofort zusammenbricht. Die Brüder stürzen auf Marusja zu)
SEMION: (gegen Rjurik) Mörder!
RJURIK: (tritt unter die Brüder, sie mit gewaltigen Armstößen auseinander treibend, lachend) Es ist halb so schlimm. Habe sie nur am Ohr gestreift und in Ohnmacht geschossen. (Hebt sie auf seine Arme und wirft sie sich um den Hals, wie der Jäger in der Steppe ein Reh um seinen Hals wirft. Dann schreitet er mit ihr die Treppe am Tor hinauf und springt nach außen hinunter. Man hört ihn davon galoppieren)
DIE 7 BRÜDER: Wehe, Wehe, Wehe.
1. BRUDER: Uns ist geraubt die Lilie unserer Felder.
2. BRUDER: Der Stern unserer Hoffnung.
SEMION: Wir warten nach des Herrn Verheißung eines neuen Himmels und einer neuen Erde, in welchen Gerechtigkeit und Liebe wohnen und thronen. Ich sehe die Wolken sich teilen, die Sonne hervorbrechen. Die Jungfrau aller Jungfrauen wird wissen den Weg, wird finden den Weg – zurück zu uns, vorwärts mit uns. Amen.
(Die Hirtenflöte klingt wieder ein paar Töne auf und bricht jäh ab)

(Vorhang)

Zweiter Akt

(Dachzimmer. Wohnung Rjuriks in der Stadt. Alles Mobiliar verwahrlost. Rissige Wände. Links die Gruppe der Männer, trinkend, rauchend, rechts auf dem Kanapee Marusja)
AFANASIEW: (singt)
Ich will singen
Ein altes Lied –
Es schallt das Lied
Von den Donschen
Saporoger
Grebenzker
Jaizker Kosaken.
RJURIK:
Sie sind helle Falken,
Rote Sonnen,
Silberne Säbel,
ALLE:
(einfallend)
Die Donschen
Saporoger
Grebenzker
Jaizker Kosaken.
BUNAKOW:
Sie blasen die Rohrpfeife,
Sie schlagen die Balalaika,
Sie schlagen ihre Weiber
ALLE:
(einfallend)
Die Donschen
Saporoger
Grebenzker
Jaizker Kosaken.
RJURIK:
Krischa Danilow heißt ihr Hetman,
Er ist trunken von Schnaps und Liebe.
Trunken von Liebe und Schnaps sind
ALLE:
(einfallend)
Die Donschen
Saporoger
Grebenzker
Jaizker Kosaken.
TÜRKIN:
Der schwarze Rabe hat geweissagt
Viel Schnapsvergießen Viel Blutvergießen
ALLE:
(einfallend)
Den Donschen
Saporoger
Grebenzker
Jaizker Kosaken.
AFANASIEW:
Sie nahmen Abschied von ihren Mädchen
Von Mohn und Pfau und Schwan.
Die Sträucher hingen voll Tau und Tränen beim Abschied
ALLE:
(einfallend)
Der Donschen
Saporoger
Grebenzker
Jaizker Kosaken.
MARUSJA:
Eine Wassernixe saß am Wege
Im Sonnenschein,
Kämmte ihr grünes Haar, sah vorüberreiten
ALLE:
(einfallend)
Die Donschen
Saporoger
Grebenzker
Jaizker Kosaken.
RJURIK:
Sie stampften, sie dampften
Vor Kampflust, sie brüllten,
Sie fochten lebensmutig, todesmutig
ALLE:
(einfallend)
Die Donschen
Saporoger
Grebenzker
Jaizker Kosaken.
BUNAKOW:
Die Flüsse schwollen purpurn an
Von keinem Regen
Sie schwollen an vom Blut der erschlagenen
ALLE:
(einfallend)
Donschen
Saporoger
Grebenzker
Jaizker Kosaken.
AFANASIEW:
Und als die Schlacht geschlagen war
Von jedem Stamm geblieben war nur einer
Schweigend ritten durch das blutige Morgenrot
BUNAKOW:
Ein Donscher
RJURIK: Saporoger
BUNAKOW: Grebenzker
AFANASIEW:
Jaizker Kosak.
RJURIK: Ach zum Teufel mit diesen sentimentalen Liedern. Tanze, Marusja!
MARUSJA: (in nationalrussischer Bauerntracht, tanzt, von Rjurik auf den Tisch gehoben, die Arme gekreuzt, in hohen schwarzen Stiefeln einen Solotanz. Die anderen, im Zimmer Anwesen¬den schlagen mit den Händen den Takt dazu und singen und feuern sie an, bis sie erschöpft innehält) Ach, die Lust – schmerzt. (Rjurik trägt sie auf ein schäbiges Kanapee)
BUNAKOW: Bravo, mein Täubchen.
MURATOW: In tausend Jahren wird von unserer ganzen Kultur nichts mehr übrig sein als die Erinnerung an einen abgebrochenen Tanz.
TÜRKIN: (nimmt Marusja beiseite) Auf ein Wort.
MARUSJA: Nun?
TÜRKIN: Auf drei Worte.
MARUSJA: Nun?
TÜRKIN: Ich – liebe – Sie.
MARUSJA: Gott will, daß wir einander lieben.
TÜRKIN: Sie hören an meinen Worten vorbei.
MARUSJA: Ich sehe durch sie hindurch.
TÜRKIN: Durch die Worte?
MARUSJA: Auch durch Dich.
TÜRKIN: Ich habe der Genossin immer wieder ins Gewissen geredet – schließlich hat jeder Mensch Pflichten gegen seine Mitmenschen, nicht nur Rechte, die Genossin hat gar keine so starke Konstitution. Also vermeiden Sie unnütze Aufregung.
MARUSJA: Ich rege und bewege mich immer. Im sich regen und sich bewegen besteht das Leben. Die Erde dreht sich um die Sonne und ich dreh‘ mich um mich selbst. Nur was tot ist, regt sich nicht mehr. Erinnerst Du Dich an das Eich¬horn am Sinsee, Rjurik? Erst regte es sich auf dem Baum – und dann regte es sich nicht mehr, denn dann hattest Du ihm mit dem Revolver eine Kugel in den Leib gejagt. Dann war es tot. Erinnerst Du Dich noch?
RJURIK: Ich erinnere mich. –
AFANASIEW: Gestern hat Genossin Marusja in der Kirche vom heiligen Wladimir vor dem Muttergottesbild getanzt.
RJURIK: So so.
AFANASIEW: Ja, und ich habe die Orgel dazu gespielt. Ich kann nämlich ein wenig Orgel spielen. Die Orgelpfeifen hatten allerdings von den revolutionären Kämpfen einige Kugeln sitzen. Es kamen nicht alle Töne rein heraus. Aber sie hat ge¬tanzt, wie ich noch nie habe jemand tanzen sehen.
BUNAKOW: Du mußt am Sonntag in die Vorstadt gehen, da kannst Du lernen, wie man tanzen muß. Die allerneuesten Modetänze. So z. B. (singt und tanzt) Lalalala.
TÜRKIN: Man kommt auch ohne Tanzen und Springen durchs Leben. Sehen Sie mich an – ich habe in meinem ganzen Leben nicht einen Schritt getanzt. Und es ist auch gegangen.
MARUSJA: Nikolaj, ich fühle mich in diesem Zimmer, in dieser Stadt, in dieser Welt so beengt. Ich atme so schwer.
AFANASIEW: Wassilij Stepanowitsch Bunakow, Du qualmst aber auch zu sehr mit Deinem Stumpen.
MARUSJA: O das ist es nicht –
RJURIK: Marusja!
MARUSJA: Ich bin nicht glücklich.
TÜRKIN: Nemo ante mortem beatus.
AFANASIEW: Sie trägt die Lilie der Unschuld und Reinheit.
TÜRKIN: Integra vitae scelerisque pura.
AFANASIEW: Sie spricht immer davon, daß sie Gottes Braut wäre.
BUNAKOW: Gottes Braut? Gott ist abgeschafft, also kann er auch keine Braut mehr haben. Soviel ich weiß, ist unsere verehrte Genossin die Braut oder vielmehr Frau unseres trefflichen Genossen Rjurik.
MURATOW: Philosophisch betrachtet kann ein Nichts nicht ein Etwas haben, so wenig wie ein Nichts etwas oder ein Etwas nichts sein kann.
RJURTK: 0 ich kenne viele Nichtse, die etwas sind.
MURATOW: (die Hand am Ohr) Wie meinten Sie?
TÜRKIN: Er scherzt, unser allseits geschätzter Genosse Rjurik scherzt, er erlaubt sich einen philosophischen Scherz.
MURATOW: Aber hypothetisch genommen: Wenn Gott nun doch existierte.
AFANASIEW: Würde ich an ihn glauben –
RJURTK: Wenn meine Großmutter vier Beine hätte und einen Schwanz und bellen könnte – wäre sie dann ein Hund?
TÜRKIN: Jetzt sind wir schon auf den Hund gekommen. Ich muß mich dieser spannenden philosophischen Diskussion leider entziehen, liebe Genossen. Ich habe . noch einige ärztliche Besuche. Einige kleine Fälle von Hungerödem und Typhus, eine Bauchfellentzündung, zwei Blutvergiftungen, ein paar Lungenspitzenkatarrhe und einige religiöse Wahnvorstellungen. Ich kenne in meinem näheren Bekanntenkreis wenigstens 5 Frauen, die sich für die heilige Cäcilie und mindestens 10 Männer und Jünglinge, die sich für den neuerstandenen Christus halten. (Zu Marusja) Kein ungekochtes Wasser und keine rohe Milch trinken! Auf Wiedersehn. (Türkin ab)
BUNAKOW: Genosse Rjurik, unser braver Dr. Türkin mag ja ein guter Mensch sein, aber er ist ein schlechter Heilgehilfe. Seine Patienten sterben ihm wie die Fliegen unter den Fingern. Sie sollten die Genossin Marusja lieber besprechen lassen. Von einem approbierten Schäfer. Oder einer Zigeunerin. Ich kenne eine Zauberformel, die gegen alle Krankheiten hilft: Nicht eins, nicht zwei, nicht drei, nicht vier, nicht Ochs, nicht Kalb, nicht Baum, nicht Tier, nicht fünf, nicht sechs, nicht sieben, nicht acht, nicht gut, nicht schlecht, nicht Tag, nicht Nacht.
MURATOW: (die Hand am Ohr) Wie meinten Sie? Ja, es wird schon Nacht.
MARUSJA: (richtet sich auf) Ich fühle mich schon wieder besser, seitdem der graue Zauberer das Zimmer verlassen hat. Wenn er ins Zimmer tritt, ist alles gleich grau in grau, und wenn draußen die hellste Sonne scheint.
BUNAKOW: Professor, hast Du Deine Lebensmittelration, Deinen Pajok schon geholt?
MURATOW: Das ist kein Pajok, das ist ein Pajockel, ein Pajockelchen, was wir Intellektuellen bekommen-
BUNAKOW: Pah, diese Intellektuellen und Intelligenzler sollten überhaupt kein Pajok bekommen. Sie sollen krepieren. Denn sie sind an allem Unheil in der Welt schuld.
MURATOW: Darf ich mir die Frage erlauben, inwiefern?
BUNAKOW: Ein dummer Mensch kann gar nicht so viel Unheil in der Welt anrichten, wie ein gescheiter. Denn ein dummer Mensch läßt die Welt, wie sie ist. Ein g-scheiter aber will sie immer anders, als sie ist. Er will sie verbessern. Wie an¬geblich Gott die Menschen nach seinem Bilde, will der Mensch die Erde wieder nach seinem Kopfe formen. Pfui Teufel, was ist da für ein Wasserkopf herausgekommen. Nicht die Gescheiten: die Dummen müßten die Welt regieren: die Dümmsten sogar. Wir brauchen keine Aristokratie, wir brauchen keine Demokratie, wir brauchen eine Idiotokratie. Das ist es.
MURATOW: Idiotokratie, ein kühnes Wort, hehe.
BUNAKOW: Die Genies haben die Menschheit in Grund und Boden ruiniert. Immer, wenn so ein Heros, so ein Held, so ein Zar Peter, so ein Napoleon, auftritt, müssen hunderttausend arme Teufel statt ins Brot ins Gras beißen. Weil angeblich irgend eine historische Idee verwirklicht werden soll. Pfui Teufel. Ein lebender Mensch ist mehr wert, als tausend Ideen. Lieber soll eine Idee krepieren, als ein Mensch.
MURATOW: Nun, nun: so kraß möchte ich das nicht ausgedrückt haben. Jede Idee, sogar die religiöse, braucht Menschenblut, um in fleischliche Erscheinung, in Realität zu treten. Jede Idee, auch geistigste, fordert Macht und Macht will den Kampf – und Kampf fordert Blut.
BUNAKOW: Hier, Bluthund, Bluthündchen, sauf, damit Du Deinen Blutdurst stillst.
MURATOW: Hat nicht sogar das Christentum, diese Religion der Liebe, Blut gefordert? Hat nicht selbst Christus gesagt: Ich bin gekommen, das Schwert zu tragen.
BUNAKOW: Euer rostiges Ritterschwert aus den Zeiten Iwans des Schrecklichen wird er nicht gemeint haben. Außerdem entsinne ich mich, daß besagter Christus auch mal eine Bergpredigt gehalten hat und die lautete ungefähr so -(Marusja spricht leise verzückt:)
MARUSJA: Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen. Selig sind, die da hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.
BUNAKOW: Vom Pajok wird man satt, aber nicht von der Gerechtigkeit.
MARUSJA: Selig sind, die geistig arm sind, denn das Himmelreich ist ihr.
BUNAKOW: Auch Gott plädiert für eine Herrschaft der Dummen. Sagt ich’s nicht?
AFANASIEW: Still!
MARUSJA: Selig sind, die das Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.
AFANASIEW: (schluchzt auf)
MARUSJA: Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen -(Alle schweigen betreten)
AFANASIEW: (leise) Ich … habe … Gott … geschaut …
RJURIK: Marusja – wer hat Dich das gelehrt?
MARUSJA: (läßt die Arme sinken) Der ehrwürdige Vater Semion.
MURATOW: (sich vor Marusja verneigend) Ich wußte nicht, daß wir eine kleine Heilige hier im Hause haben. Ich muß sofort zum Popen gehen und ihm von ihr erzählen, (ab, ohne daß die Anderen von seinem Abgange Notiz nehmen)
BUNAKOW: Sie hat einen religiösen Klaps. Genosse Klempner muß ihr einen blechernen Heiligenschein machen.
AFANASIEW: Seien Sie still.
RJURIK: Das ist ein Leben hier!
MARUSJA: Das nennst Du ein Leben hier?
Rjurik: Ich bin noch ganz betäubt. Wenn man vom Sinsee aus der nordischen Eiswüste kommt, muß man sich erst fassen. Ein Dach über dem Kopf! Wieder ein richtiges Dach!
AFANASIEW: Ein Dach schon – aber wie sieht das Dach aus? Die Hälfte Ziegel ist herausgefallen. Wenn’s regnet, regnet es uns auf die Tartarenschädel, aber die Schädel sind solche Dickschädel, daß keiner von ihnen auf den Gedanken kommt, einmal auf das Dach zu klettern und das Dach zu flicken.
BUNAKOW: Wir haben wichtigere Dinge zu tun, als Dächer zu flicken: Die Durchdringung des Gedankens mit lebendiger Tat verlangt unsere ganze Kraft.
MARUSJA: Was Du redest, ist der reine Unsinn.
BUNAKOW: Was, Du wagst es, Wassilij Stepanowitsch Bunakow, in Ehren ergrautem Graukopf und glühendem Revolutionär, über den Mund zu fahren?
MARUSJA: Du hast gar keinen Mund, sondern ein ungewaschenes Maul wie ein Steppenhund. Wenn ich Rjurik wäre, würde ich Dich hinauswerfen, daß Du nie mehr wieder kämst.
RJURIK: Marusja, Meinungsfreiheit ist ja ganz schön, aber sie darf nicht zu weit gehen. Du warst eben sehr ungezogen. Bitte den Genossen Bunakow um Verzeihung.
MARUSJA: Nein.
RJURIK: (faßt sie um das Handgelenk) Wirst Du den Genossen Bunakow sofort um Verzeihung bitten?
MARUSJA: Nein.
RJURIK: (schlägt ihr mit der Faust ins Gesicht, die ton- und regungslos verharrt) Wir wollen doch mal sehen, wer hier der Herr ist.
MARUSJA: (leise) Du hättest lieber sehen sollen, wer hier die Frau ist.
RJURIK: (mit einem Anflug von Zärtlichkeit) Habe ich Dir weh getan?
MARUSJA: Ja.
RJURIK: Ein Weibstück darf mit dem Mundwerk nicht immer vorneweg sein.
MARUSJA: Und ein Mannsstück nicht mit den Händen. Bunakow hat mit den Händen nach mir gegrapscht, wie ein Bär nach dem Bienenstock.
RJURIK: Wann?
MARUSJA: Als Du nicht zu Hause warst, kam er die Treppe heraufgeschlichen, leise wie ein Schakal. Da habe ich ihn die Treppe heruntergeworfen – seitdem haßt er mich –
RJURIK: Was soll das heißen, Bunakow?
BUNAKOW: Ich habe mich nicht zu verantworten. Ich habe nichts Unrechtes getan, ver¬ehrter Genosse Rjurik. Wo steht geschrieben, daß ich einer Frau, einem Mädchen nicht ein höfliches Angebot unterbreiten dürfe? Wollte ich sie vergewaltigen? Nein, ich wollte sie nicht vergewaltigen, ich wollte sie zu etwas Lieblichem überreden. Denn die Liebe ist etwas Liebliches. Obwohl ich 53 Jahre alt bin, kein Jahr älter und kein Jahr jünger, wage ich das noch zu be¬haupten.
RJURIK: Gott sei Dank, daß die Kleine nur ein Zehntel von Deinem Geschwafel versteht.
MARUSJA: Er ist ein schlechter Mensch und mit schlechten Menschen will ich nichts zu tun haben.
RJURIK: Es wird sich empfehlen, Genosse Bunakow, wenn Du in meiner Abwesenheit meiner Wohnung nicht mehr die Ehre Deines rothaarigen Besuches erweist. Sonst könnte es geschehen, daß ich mit einer der von Dir auf meine Kosten ausgesoffenen Bierflaschen Dir Deinen 53jährigen Schädel einschlage. –
BUNAKOW: Aber Genosse Kommissar, wer wird denn keinen Spaß verstehen. Es war doch nur ein Spaß, ein Späßchen, das ich mir mit der Genossin Marusja erlaubte.
MARUSJA: Nimm meinen Namen nicht mehr in Deinen Mund. Mein Name, den mir Vater Semion gab, ist ein heiliger Name.
BUNAKOW: Heiliger Name – sie hat einen heiligen Namen – ja gibt es denn das auch: heilige Namen? – (er hat den ganzen Abend nebenbei immer getrunken und ist jetzt schon ziemlich betrunken) Ich heiße Wassilij Stepanowitsch Bunakow, und so gut, wie es die heiligen Stefan, Wladimir, Pawel gibt, so gut gibt es auch einen heiligen Wassilij. Hier steht der heilige Wassilij, in Ehren ergrauter ehemaliger Kunsttischler der kaiserlichen Hoftischlerei vor Euch. Senkt die Knie und fallet nieder in Anbetung.
AFANASIEW: Nimm ihm doch die Flasche weg, Rjurik. Er ist ja schon wieder stinkbesoffen.
BUNAKOW: Ich besoffen? O pfui, pfui, pfui. Trunken bin ich, trunken des heiligen Geistes. Im Anfang war das Wort. Das Wort war der Anfang. Nunmehr heißt es: Fortschreiten. Weitergehen! Nicht stehen bleiben! Wer stehen bleibt, wird er¬schossen! Es ist der heilige Geist des Geistes, der aus mir spricht, singt, tönt, zwitschert, bellt. Wau wau wau wau.
RJURIK: Man muß ihn die Treppe herunterschmeißen. Ich bin der Gastgeber. Tu Du’s, Nikolaj.
AFANASIEW: (packt ihn am Rockkragen) Komm, Genosse Kunsttischler. Du mußt jetzt gehen. Zu Hause wartet Deine Frau, sie wird Dich schön vermöbeln.
BUNAKOW: Darauf kommt es an: Daß Sinn und Sein, Wort und Werk, Tat und Traum unauflöslisch, unentkettbar eines sind. Ich bin trunken des guten Wodka. 0 wie süß ist es, ihn zu trinken. Ich trinke aus Freude und Leid. Wenn ich friere, wenn ich schwitze, bei Kälte, bei Hitze. Aus Liebeskummer, aus Liebes¬wonne. Wodka ist gut gegen die Geht. Wer Steine in der Blase hat, saufe Wodka. Wer süßen Atem haben will, saufe Wodka! Und verrichte ich nicht ein patriotisches staatsdienliches Werk, seitdem das Volk, wie früher der Zar, das Schnapsmonopol in seine Hände genommen hat? Ist das nicht ein Fortschritt. Wir schreiten fort.
RJURIK: Ja bitte, schreite fort. Schreite sofort fort. Fort. Hinaus.
BUNAKOW: Ich bitte um die Erlaubnis, von unserer kleinen Heiligen mich mit einem frommen Spruch verabschieden zu dürfen. Prediger Salomonis Kapitel 3, Vers 13: Denn ein jeglicher Mensch, der isset und trinket und hat guten Mut in seiner Arbeit, das ist eine Gabe Gottes … Darum, wer den 40%igen Staatsmonopolwodka säuft, erfüllt zugleich zu 40% Gottes unerforschlichen Willen, Amen, (ab)
MARUSJA: Auf Wiedersehen, Nikolaj. Vergiß nicht, wenn Du wiederkommst, daß Du mir etwas mitbringen wolltest von Deiner toten Schwester. (Afanasiew ab. Rjurik geht auf und ab)
RJURIK: Es ist verdammt kalt. Frierst Du nicht?
MARUSJA: Am Sinsee war es noch viel kälter. Dort habe ich nie gefroren. Hier friert es mich immer. Was für eine Stadt! Was für Menschen! Keine Gesichter: nur gekalkte Wände. Wenn man hier im Zimmer zu laut schreit, bröckelt Kalk von der Wand. Wenn man den Menschen zu laut die Wahrheit sagt, bröckeln ihre Gesichter ab.
RJURIK: Gefällt Dir die Stadt nicht? Eine Stadt! Sechsstöckige Häuser! Straßenba¬nen! Automobile! Menschen! Nach dieser furchtbaren Einsamkeit am Sinsee: Menschen! Nicht einer, zwei! Tausend, abertausende! Mich beglückt der Anblick der marschierenden Jungsturmbataillone. Menschen, Kämpfer, strahlend auf dem Marsch ins Paradies der Zukunft. Die Sonne selbst schwingt über ihren Häupten als rote Fahne. Oh und dann die Sitzungen im Kommissariat. Streng, nüchtern, sachlich wird hier am Aufbau einer neuen Welt gearbeitet.
MARUSJA: Die Welt der Wölfe, Füchse, Eichhörnchen, Nachtigallen, die Welt der Steppen und des Sinsees hat mir so, wie sie war, gefallen und so war sie recht.
RJURIK: Und Deine heiligen Brüder, die Skopzen? Natur schuf den Mann zum Mann, das Weib zum Weib. Den Kastraten schuf sie nicht. Den hat erst der Mensch geschaffen, der unsinnig Widersinnige.
MARUSJA: Gott ist dem ehrwürdigen Vater Semion erschienen und hat ihm verkündet, daß sie in die Einsamkeit gehen sollen, fort von den Menschen, fort von ihren Begierden, um nicht in Versuchung zu fallen, und den himmlischen Leib de¬sto vollkommener zu gewinnen.
RJURIK: Der wahre Heilige ist der, der bei vollkommenstem Leibe widersteht.
MARUSJA: Ich will eine Heilige werden bei vollkommenem Leibe. Ich werde nie einem Mann gehören. Ich werde ewig eine Jungfrau bleiben.
RJURIK: (ärgerlich) Weißt Du, daß das ein Schimpfwort ist in unseren Tagen: Jung¬frau? Früher riefen die Gassenjungen den Mädchen, wenn sie sie beschimpfen wollten, Hure nach. Heute ist Hure eine zärtliche Liebkosung, aber Jungfrau, das ist ein ganz gemeines Schimpfwort. Willst Du Dich noch lange von mir Jungfrau schimpfen lassen?
MARUSJA: Noch lange. Immer. Ewig. Ich werde ewig eine Jungfrau bleiben, wie die Jungfrau Maria, (ganz leise) denn ich bin erkoren, den neuen Heiland zu gebä¬ren.
RJURIK: Marusja! Mädchen! Du redest irre! Komm‘ doch zu Dir! Komm‘ zu mir! Sieh, ich könnte Dich mit Gewalt nehmen und niemand würde Dich schützen-
MARUSJA: Doch. Der Geist Semions. Er fliegt nachts um mich wie eine Fledermaus. Ich höre sein sanftes Surren.
RJURIK: Warum zum Teufel habe ich Dich am Sinsee nicht gleich ins Moos geworfen. War‘ besser für Dich und mich gewesen. Aber ich habe mich von Dir beschwätzen lassen. Ich, der Kommissar Rjurik, läßt sich von einem halbwüchsigen, halbnärrischen Tartaren- oder Lappenmädchen übers Ohr hauen, übern Löffel barbieren: Es ist, um an der Wand hoch zu gehen. Aber jetzt will ich mit dem Kopf durch die Wand Und wenn die Wand dabei einstürzt. Und wenn die Wand uns unter sich begräbt, (macht sich zum Gehen fertig)
MARUSJA: Rjurik – Rjurik? – Willst Du mich verlassen?
RJURIK: Ich bin verlassen – von Gott, von aller Welt, von meinem Verstand. Er ist mir davongelaufen. Jetzt muß ich hinter ihm her und ihn wieder haben. Die Erde dreht sich doch um die Sonne, wie? Die Sonne geht im Osten auf, im Westen unter, wie? Im Frühling ist Frühling und im Herbst ist Herbst, wie? Ich bin ein Mann und Du bist ein Weib, wie? Du hast mich verhext, Hexe. Du hast mir Deinen Speichel ins Essen gemischt. Du hast den Apfel, den ich aß, wie Adam Evas Apfel aß, in Deiner Achselhöhle getragen. Nein, nein, -Du bist kein Mensch, Du bist ein Phantom, ein Spiegelbild, ein wüster Traum. Ein Dreck bist Du, damit Du’s weißt: ein Stück Dreck wie ich. Du gehörst zu mir, ein Dreck gehört zu Dreck. Ich will mein Recht. Habe ich Dich nicht vor dem Ehekommissar regelrecht und gesetzlich geheiratet, wie?
MARUSJA: Aber Du hast es doch nur getan, damit ich vor den anderen sicher wäre.
RJURIK: Vor denen bist Du auch sicher – aber nicht vor mir. Ich, Rjurik, bin Dein Tauber, mein Täubchen, vor Recht und Gesetz. Aber ich werde zum Geier werden, zum Raubvogel, der Dir Deine zarte, weiße Brust aufhackt.
MARUSJA: Rjurik, bin ich nicht Deine Schwester – und bist Du nicht mein Bruder, wie die frommen Brüder meine Brüder waren.
RJURIK: In die Hölle mit Deinen frommen Brüdern, den lauwarmen, damit sie endlich Hitze bekommen. Aber ich bin heiß, heiß, heiß von selbst. Ich brenne, wie die Erde brennt. Wie eine lebende Fackel brennt Rjurik. Seine Flamme schlägt bis untern Himmel und wird den kalten Mond noch zum Glühen bringen. Du Marusja, bist der kalte Mond. Du leuchtest, aber Du wärmst nicht. Du strahlst, aber Du glühst nicht. So glühe, glühe, glühe doch: und verbrenne mich, daß ich nur noch Asche bin.
MARUSJA: Du hast ja Schweiß auf der Stirn. Du fieberst ja, Rjurik. Lieber Rjurik, ich kann Dir ja nicht geben, wonach Dich verlangt. Ich sehe Dich leiden, Rjurik, und ich leide mit Dir. Aber wie dürfte ich Gott untreu werden? Weil so viele Menschen Gott untreu werden, darum sieht es so furchtbar auf der Erde aus Ich kann in Deiner Brust nicht Wurzel schlagen. Ich würde welken.
RJURIK: Ich kann so nicht weiter leben. Ich gehe jetzt zum Ehekommissar und hole mir mein Recht, (ab)
MARUSJA: (flehend) Rjurik! Liebster!
RJURIK: (von draußen) Der Teufel mag Dein Liebster sein, er wird von Dir, Engel, noch teuflischer werden.
MARUSJA: (läuft erst zur Tür, dann zum zerbrochenen Fenster, dann mit dem Licht, das in einer Bierflasche steckt, zur Wand, wo ein billiger Öldruck der Muttergottes hängt, ganz zerfetzt. Ein Messer, das durch die Brust der Madonna geht, nagelt ihn an der Wand fest) Mutter Gottes! Gottesmutter! Weiße Lilie! Brich nicht! Weiße Taube Du, Wunderschöne, aller Wunder schöne Taube: entflattere nicht! Sieh‘, ich bin ein armes Menschenkind, armes Gotteskind! Du hast einst Jesum geboren, jungfräuliche Mutter! Ich bin Deine Schwester, Maria. Ich, Marusja, bin Deine Schwester. O du Quelle des Lichtes, erleuchte meine Seele. Oh suche mein Herz heim, daß ich nach Gottes Willen den neuen Heiland gebäre. Oh Maria, Makellose, bitt‘ für uns, heilige Maria, bitt‘ für uns, geheimnisvolle Rose. Oh, Maria, bitt‘ für uns. Maria hilf! Maria hilf! Maria hilf! (Die Tür ist aufgegangen und Afanasiew tritt schüchtern ein, in der Hand eine Puppe)
AFANASIEW: (sie suchend) Marusja – Marusja -.
MARUSJA: (nach einer Pause) Oh wie lieb von Dir, Nikolaj! Ich danke Dir tausendmal! Die Puppe Deiner toten Schwester – oh wie schön sie ist – wie wunderschön -wie ein kleines Kind.
AFANASIEW: Am rechten Arm fehlt die Hand und auch das eine Bein ist weggebrochen.
MARUSJA: Ich habe die Puppe lieb, auch wenn sie ein gebrochenes Bein und keine rechte Hand mehr hat.
AFANASIEW: Auch wenn sie ein gebrochenes Herz hat?
MARUSJA: Auch dann. –
AFANASIEW: (senkt den Kopf)
MARUSJA: Du bist ein guter Mensch. Ich kenne Dich. Ich habe Dir oft in die Augen gesehen.
AFANASIEW: (verbirgt das Haupt in den Händen)
MARUSJA: Du weinst? Nikolaj, warum weinst Du? Warum weinst Du, Nikolaj?
AFANASIEW: Weil ich Sie liebe, Genossin Marusja.
MARUSJA: Du liebst mich? Ja das ist doch etwas Schönes, wenn ein Mensch den ande¬ren liebt. Da braucht man doch nicht zu weinen. Ich liebe Dich ja auch, Nikolaj.
AFANASIEW: Oh, Genossin Marusja, das ist eine andere Liebe, mit der ich Sie liebe. Ich liebe Sie, wie ein Mann ein Weib liebt.
MARUSJA: Was ist das für eine Liebe?
AFANASIEW: Ich habe ein Gedicht auf meine Liebe gemacht:
Wer nannte die Liebe Liebe?
Wer gab ihr diesen Sondernamen?
Da sie doch heißen müßte:
Tränenglück, Schmerzensfreude, Unseligkeit.
Ohne Wurzel treiben die Wasserlinsen auf dem Wasser
Hin und Her.
So treibe ich haltlos
Im Strome der Leidenschaft.
MARUSJA: Wenn Du mich so liebst, willst Du mir helfen –
AFANASIEW: Ich will alles tun, was Sie verlangen, Marusja.
MARUSJA: So komm, laß uns fliehen.
AFANASIEW: Flieh’n?
MARUSJA: “ Fliehen –
AFANASIEW: Fliehen, wovor?
MARUSJA: Vor Rjurik … vor der Welt … vor dieser Welt –
AFANASIEW: Wohin?
MARUSJA: Zum Rand der Welt – in die Steppe zu den Wölfen, Füchsen, Eichhörnchen, Nachtigallen, zu den frommen Brüdern, von wo ich kam. Dort, wo jedes Wesen das ist, was es scheint und scheint, was es ist. Dort, wo es keine Lüge gibt. Wo nicht das Schaf sich einen Wolfspelz und der Wolf sich einen Schafspelz umhängt. Wo der Fuchs Fuchs ist und der Wolf Wolf.
AFANASIEW: Sie haben mir erzählt, Marusja, vom Kloster am Sinsee. Es liegen hunderte von Meilen zwischen uns und ihm: Frost, Sumpf, Steppen, die streifenden Kolonnen der Weißgardisten.
MARUSJA: Hast Du Angst? Bist Du feige? Fürchtest Du die Luft? Die Sonne? Die Sterne? Die Wölfe? Die Menschen?
AFANASIEW: Können Sie reiten, Marusja?
MARUSJA: Auf ungesatteltem Pferde. Wir dürfen keine Zeit verlieren. – Nikolaj, mein kleiner Erzengel, komm! (Marusja nimmt die Puppe und nimmt Afanasiew bei der Hand. Sie bläst das Licht aus. Beide rechts ab. Ein paar Sekunden bleibt das Zimmer leer und dunkel. Dann Gepolter auf der Treppe. Rjurik reißt die Tür im Hintergrund auf)
RJURIK: Zum Teufel, es ist ja ganz finster. – Niemand hier, (zündet ein Streichholz an, dann mit dem Streichholz die Kerze in der Bierflasche) Marusja – Marusja. Es war doch alles halb so schlimm gemeint, Marusja. Ich war ja garnicht beim Kommissar. Ich habe doch nur Spaß gemacht. Sei mir nicht böse, Marusja, Marusja. (pfeift, macht den Vogelruf der Ammer nach, wie Marusja im ersten Akt, stürzt dann nach links ab. Verstört zurück, aber noch gehalten) Sie ist wohl nur ausgegangen. Sie geht manchmal mit dem Burschen Nikolaj Afanasiew spazieren, einem reizenden Jungen. Kopf hoch, Rjurik, Du bist doch ein Held. Um eines Weibes willen läßt man den Kopf nicht hängen – wenigstens den eigenen nicht. (Er zündet sich an der Kerze eine Zigarette an. Nach einer Pause) Marusja … kommt … nicht … wieder. Sie … kommt … nicht … wieder … (Fällt der Länge nach zu Boden)

(Vorhang)

Dritter Akt

(Rotgardistenlager. Zelte. Links Hügel. Rechts im Hintergrund der Sinsee, und die Silhou¬ette des Skopzenklosters. Es ist noch ganz früh am Morgen. Wind über der Ebene. Beim Aufgehen des Vorhanges sieht man nur die zwei Toten im fahlen Mondlicht aufeinander zugehen)
ERSTER TOTER: Wie heißt Du?
ZWEITER TOTER: Namenlos – Du?
ERSTER TOTER: Irgendwer.
ZWEITER TOTER: Dein Vater?
ERSTER TOTER: Niemand.
ZWEITER TOTER: Deine Mutter?
ERSTER TOTER: Ein Weib.
ZWEITER TOTER: Genosse.
ERSTER TOTER: Bruder.
ZWEITER TOTER: Rotgardist?
ERSTER TOTER: Weißgardist!
ZWEITER TOTER: Getrennt marschiert.
ERSTER TOTER: Vereint gestorben.
(lachen hölzern)
ZWEITER TOTER: Erkenne Dich wieder. – Dank Dir, daß Du mir das Bajonett in die Rippen stießest.
ERSTER TOTER: Erkenne Dich wieder. – Dank Dir, daß Du mir eine Kugel ins Hirn jagtest.
ERSTER TOTER: Hassest den Tod?
ZWEITER TOTER: Das Leben.
ERSTER TOTER: Möchtest zurück?
ZWEITER TOTER: Nicht ums Verrecken. Bin froh, daß ich keinen Hunger mehr habe. Es war immer ein fatales Gefühl zwischen den Rippen.
ERSTER TOTER: Bin froh, daß ich nicht mehr denken muß. Mein Kopf ist leer wie ein«
Trommel. Wind und Mond diskutieren hinter meinen Augenhöhlen. Der Mond brennt wie eine Kerze in meinem Schädel. Der Wind will sie auspusten. Konversation!
ZWEITER TOTER: So ein leichter, luftiger Schädel: eine Annehmlichkeit. Er schwebt auf einem wie ein Kinderballon. Das Gehirn hat uns hernieder in den Dreck gezogen. Seit wir es verloren haben, sind wir erst so recht glücklich. Tot sein heißt nicht mehr denken brauchen.
ERSTER TOTER: Was war Dein Beruf?
ZWEITER TOTER: Flieger. Von oben machte sich die Erde nicht besser, als von hier unten. Eine ausgekochte Lazarettpflaume. Dörrobst.
ERSTER TOTER: Aber Du warst der Sonne näher.
ZWEITER TOTER: Und den Wolken.
ERSTER TOTER: Umfaßtest Millionen mit einem Blick.
ZWEITER TOTER: Liebend – gramvoll gepeinigt. Ich sah Millionen zuckende Herzen, von einem Polypen umkrallt.
ERSTER TOTER: Es wird Frühling – toter Bruder riechst Du’s?
ZWEITER TOTER: Veilchen.
ERSTER TOTER: Und Blut – die Frühlingsoffensive der Weißen gegen die Roten beginnt wieder.
ZWEITER TOTER: Weiß gegen Rot, Rot gegen Weiß; Mensch gegen Mensch. Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Sie spüren es nicht – nur wir Toten -. Sie kennen nur noch eine Jahreszeit: die des Hasses. Immer ist die Sonne von Granaten¬nebel umdunkelt. Immer ist die Erde aufgerissen von Schützengräben – immer atmen sie Gas und Pulverrauch statt Thymian und Linde.
ZWEITER TOTER: Still.
ERSTER TOTER: Was ist?
ZWEITER TOTER: Der Mond steht schon hoch. Die Morgenröte steigt herauf. Bald kräht der erste Hahn, wir müssen schlafen gehen.
ERSTER TOTER: Das Leben erwacht, um zu Sterben – (salutieren hölzern, beide ab. Morgenröte. In der Ferne Ruf und Gegenruf sich begegnender Posten. Vogelgezwitscher. Ein alter Soldat tritt auf, mit einem Pelz, den er ausbürstet. Er hört auf die Vogelstimmen und macht sie nach)
ALTER: Das Leben erwacht, um zu sterben – (Von rechts treten auf der Lahme und der Blinde, singend)
DER LAHME UND DER BUNDE: Freut Euch des Lebens, Freut Euch des Sterbens, Sterben heißt Leben, Und Leben heißt –
ALTER: Guten Morgen, Einbein, Guten Morgen, Blinder.
LAHMER: Na, Alterchen, hörst Du noch immer auf den Ruf der Vögel?
ALTER: Geht doch ins Grab, wo Ihr längst hingehört. Stinkt ja schon. Verpestet uns die gute Morgenluft.
LAHMER: Ich hoffe, Dich bald von meiner Gegenwart zu befreien. Unser Lazarett soll dieser Tage nach Archangelsk abtransportiert werden.
ALTER: (lachend) Glaubst Du’s? Die nächste Eisenbahn ist 150 km von hier. Wie kommt Ihr dahin, he?
LAHMER: Du bist ein Schwarzseher! Unser Herz ist so voll Hoffnung, wie unser Pelz voller Läuse, wie diese Weide voller Kätzchen. Komm, Blinder, wir wollen tanzen. Väterchen, Großväterchen, Urgroßväterchen.
Wo hast Du Deine Mundharmonika? Spiel uns zum Tanz auf.
(Alter setzt sich hin und spielt)
ALTER: Gern, Ihr Narren. (Blinder und Lahmer tanzen)
LAHMER: Mehr Schwung, mehr Schwung (brüllt)
BLINDER: Hopsasa, hopsasa – Wozu ist denn das Leben da?
LAHMER: (stampft mit dem Holzbein auf) Rhythmus, Rhythmus – ich war früher Holzhacker – da kriegt man Rhythmus in die Glieder – Holzhacken … das ist Musik.
BLINDER: Ich hab‘ es viel lieber, wenn man leiser tanzt, (tanzt für sich allein) n tata, n ta-ta-
(stößt an den Alten) Hoppla. –
ALTER: Du solltest Dich mal sehen, wie Du so herumhopst.
BLINDER: Sag mal, was siehst Du heute?
ALTER: Ich sehe Bäume, Menschen – einen Blinden, einen Lahmen, einen alten Narren. Ich sehe die Steppe, den Himmel —
BLINDER: Ich meine, – ist heute ein schöner Tag … ?
Ich rieche die Sonne bis hieher … sie muß ganz Gold sein — Gib mir doch
etwas Sonne in die Hand … daß ich die Hand in der Sonne habe.
Weißt Du, – weil ich blind bin, – sehe ich mit den Händen, liebe Sonne, —
liebe Sonne
(geht in die Sonne hinein, Lahmer humpelt hinter ihm her)
LAHMER: Komm, Bruder. (Beide ab)
RJURIK: (aus dem Zelt) Guten Morgen, Alter!
ALTER: Guten Morgen, Genosse Kommandant! – Wie geht’s?
RJURIK: Schlecht! – Schlechte Zeiten, schlechte Träume … ich war einsam, allein auch im Traum. Unendlich einsam und allein – kein Mensch mehr auf der Welt – nur ich – die Erde verwüstet – keine Städte – Dörfer – Wälder -Obstbäume – Kathedralen mehr – nur Granatlöcher und Schützengräben -tausende von Schützengräben – einen hinter dem andern – immer dichter, immer dichter – wie Ringe eines Mondkraters – kein Soldat mehr in ihnen -nur leere Uniformen mit Stöcken und Gewehren wie Vogelscheuchen aufge¬putzt. Die Artillerie: nur alte Ofenröhren, auf Bauernkarren gelegt. Die Kanoniere, spaßige Gespenster mit schlotternden Ärmeln im Winde wehend. Kein Spatz fürchtete sich mehr vor ihnen. In ihren Helmen, die kopflos waren, nisteten die Meisen. Ich schritt von der Front in die Etappe, von der Etappe dachte ich in die Heimat zu gelangen, ich kam an eine neue Front, dann in eine neue Etappe. Überall diese entsetzlichen Vogelscheuchen. Und ich – unendlich einsam und allein: der einzige Mensch -. (Schweigen) Glaubst Du, daß die Weißgardisten dieselben Menschen sind wie wir?
ALTER: Wie wir –
RJURIK: Mit Knochen, Sehnsucht und Geschwüren, Lächeln und Darmkatarrh – wie wir.
ALTER: Wie wir –
RJURIK: Sie stehen bis übers Knie im Dreck.
ALTER: Wie wir.
RJURIK: Sie haben Läuse im Pelz und Flöhe im Hirn.
ALTER: Wie wir.
RJURIK: Sie haben Angst –
ALTER: Wovor?
RJURIK: Angst vor der Ewigkeit –
ALTER: Wie wir.
RJURIK: Sie kämpfen.
ALTER: Wie wir.
RJURIK: Wofür?
ALTER: Für die weiße Fahne.
RJURIK: Wir für die rote: weiß, das ist das Leichentuch über der Vergangenheit – rot brennt das Morgenrot der Zukunft!
ALTER: Wir sind am Ende.
RJURIK: Unseres Zieles?
ALTER: Unserer Kräfte.
RJURIK: Bist Du schon so alt?
ALTER: Wie die Nachtigall im Fluge Flog die Jugend mir vorbei.
Mein Gedächtnis hat in letzter Zeit gelitten – ich gerate zuweilen durcheinander und verwechsele mich mit mir. Manchmal in einsamen Nächten, wenn ein Schuß tönt, wenn der Gebärschrei einer Frau die Dunkelheit zerreißt: weine ich über mich, über mein Vaterland, über die Welt. Möchte heim, wie ein alter Troikagaul in den Stall, zu meinen Büchern. Wieder einmal ein Buch lesen – und wenn’s die Bibel war‘
RJURIK: Humbug – alles Geschriebene und Gedruckte ist Humbug. Das einzig Wahre: Fressen, saufen, huren, töten.
JAKOWLEW: (der kurz vorher schon aufgetreten ist und zugehört hat) Bravo, Genosse Kommandant! Fressen – saufen und lieben!
RJURIK: Was ist Liebe? Ein Spaß zu Zwein, bei dem jeder allein ist. Weshalb glaubt Ihr, habe ich mich gerade hierher an diese gottverdammte Sinseefront gemeldet? Weshalb hocke ich hier im Dreck? Fresse kalten Brathering und verschimmeltes Brot und saufe Kohlsuppe und Abspülwasser, Tee genannt -lasse den lieben Gott auf mich regnen und schneien, spiele im Sommer den Molch und im Winter den Schneemann?
JAKOWLEW: Steckt eine Kanaille, ein Weibstück dahinter?
RJURIK: Eine Kanaille, ein Stück Weib. Eine Hure. Braunes Haar mit roten Kupfer¬lichtern darüber. Zwei schlanke Beine wie Säulen. Ein strahlendes Auge vom Sirius gerissen. Ein Feigenmund. Habe sie geliebt, wie ich die Mutter Gottes im Himmel lieben würde, wenn ich an sie glaubte. Habe sie angebetet wie ei¬ne Heilige – auf Händen getragen -. Da in der Skopzenburg habe ich sie einst aufgestöbert.
JAKOWLEW: (lacht) Da? Immer das Gleiche. War auch einmal in hiesiger Gegend – vor 17 Jahren – als ich noch dem Zaren diente. Damals war ich noch ein pikfeiner Bursche, tres elegant und immer hinter den Weibern her. Hatte damals im Manöver pikantes Erlebnis. Eine Nacht gehörte sie mir – war reizend, amüsant, so im Schilf am Sinsee. Habe das Mädchen später nie wieder gesehen. Vielleicht läuft jetzt gar so ein Sprößling von mir hier in der Gegend herum. War‘ nicht so ohne, seinem Söhnchen oder Töchterchen zu begegnen. Die Weiber sind an allem schuld. Daß wir auf der Welt sind – daß wir so sind, wie wir sind, – daß wir da sind, wo wir sind.
RJURIK: Soll doch den Lappen, der mich dann zu ihr führte, Blitz und Schwefel treffen. Ich, der bärenstarke Kommandant Rjurik, der sie mit seinen Tatzen hätte erdrücken können, ich habe mir von ihr einen Ring durch die Nase ziehen lassen. Ich habe vor ihr getanzt, wie ein Bär auf dem Jahrmarkt. Die Popen und die Bauern, die sieben frommen Brüder und die dummen Lappen hielten sie für eine – – Heilige. War aber nur eine Scheinheilige.
SOLDAT: (kommt) Genosse Kommandant, melde gehorsamst, daß eine Kompagnie der Weißen das Kloster der Skopzen besetzt hält.
RJURIK: Befehl an die Batterie: Einschuß auf den Turm – das Kloster ist umzulegen -.
(Ordonnanz ab. Alter ab. Dumpfe Kanonade Das Kloster geht in Flammen auf. Rjurik und Jakowlew beobachten die Beschießung durch ihre Gläser)
RJURIK: Nun ist ihr Oberheiliger, der ehrwürdige Vater Semion, in die Luft geflogen zu seinen himmlischen Heerscharen. Glückliche Himmelfahrt! Genosse Jakowlew: Ich revidiere jetzt Vorposten. Das Kommando geht an Sie über, (ab)
(Rotgardisten beginnen ein Lied zu singen, das Jakowlew, der allein auf der Szene bleibt, mitsummt)
Es waren einmal zwölf Räuber.
Eine verwegene Schar:
Es waren einmal zwölf Räuber.
Stark wie die Adler, klug wie die Täuber.
An ihrer Spitze stand,
Berühmt im ganzen Land,
Der Hauptmann Kudijar.

Zwölf Räuber waren’s.
Sie schlugen tot den Tartar.
Gold und Edelstein bahren’s,
Den Don hinunter fahren’s.
Vorn in des Schiffes Bug.
Ein Segel ihrem Flug,
Stand Hauptmann Kudijar.

Und als sie nach Kiew kamen,
Ein schönes Mädchen war.
Zwölf Räuber das Mädchen nahmen
In des Dreiteufels Namen.
Sie war ’ne Hur
Und liebte nur
Den Hauptmann Kudijar.

Zwölf Räuber weh’n im Winde,
Der Mond scheint hell und klar.
Betet für ihre Sünde!
Am höchsten in der Linde
Hängt schon verwest,
Im Schädel ein Krähennest,
Der Hauptmann Kudijar.
(Soldaten eskortieren Afanasiew und Marusja: Marusja steckt in Mannskleidern. Kosackenmütze. Patronengürtel umgehängt. Gewehr. Afanasiew trägt u.a. die Puppe)
ROTGARDIST: Genosse Hauptmann: Diese beiden Burschen haben wir in der Nähe des Klosters aufgegabelt. Gehören, wie es scheint, zu den Weißen. Wurden mit der Waffe in der Hand getroffen.
MARUSJA: Dieses Gewehr hat noch keinen Schuß abgegeben. Und es wird auch nie einen abgeben.
JAKOWLEW: Du trägst das Gewehr wohl zum Spaß.
AFANASIEW: Er ist unschuldig. Ich allein bin an allem schuld. Haben Sie die Gnade, mich anzuhören.
JAKOWLEW: Schweig. Wer mit der Waffe in der Hand getroffen wird, wird aufgehängt. (Zu Marusja) Du gefällst mir. Bist ja noch ein halbes Kind, ein ganzes Kind. Such‘ Dir einen Baum hier in der Gegend, an dem Du gerne hängen möchtest
AFANASIEW: (schluchzt)
MARUSJA: Weine nicht, Nikolaj. Hier steht ein Baum, den ich als Kind schon lieben lernte. Ich saß in seinen Ästen und der Regenpfeifer brütete in meiner Hand. Hängt mich an diese Weide hier.
AFANASIEW: Ich bitte nur um diese Gnade: Hängt mich neben ihn, daß unsere toten Leiber sich im Wind berühren.
JAKOWLEW: Ist wohl Dein Beischläfer?
MARUSJA: Ja, er hat die kalten Nächte bei mir geschlafen und hat mich mit seinem Leib gewärmt.
JAKOWLEW: Er wird wohl noch etwas anderes getan haben.
MARUSJA: Ich verstehe Dich nicht.
JAKOWLEW: Stell‘ Dich hier nicht dumm. Die sogenannte Freundschaft zwischen Soldat und Soldat, die zusammenschlafen, kennen wir. Übrigens verbitte ich mir, daß Du mich duzest. Ich bin ehemaliger kaiserlicher Gardeoffizier.
AFANASIEW: Heute nacht hörte ich eine Nachtigall singen. Als ich lauschte, woher der Ruf der Nachtigall zu mir kam, sah ich nur eins: die schwarze Nacht, darin der Mond wie der silberne Säbel eines Henkers hing, bereit, uns zu töten.
MARUSJA: Ich gehe hinter mir her, wie mein eigener Schatten und werde mich niemals finden.
JAKOWLEW: Das Standgericht wird zusammentreten, um über Euch Verräter zu befinden. (Rjurik tritt auf)
JAKOWLEW: (erstattet Meldung) Genosse Kommandant, melde die Einbringung zweier Weißgardisten, Spione offenbar.
RJURIK: (tritt auf sie zu, sie heben beide den Kopf, sie weichen voreinander zurück)
JAKOWLEW: Sie kennen die zwei?
RJURIK: Ich kenne sie.
MARUSJA: Rjurik – ich bitte Dich um Vergebung, beim Herzen der Madonna bitte ich Dich um Vergebung. Um Gnade bitte ich Dich, um Gnade für Nikolaj.
RJURIK: Nikolaj: Ich habe Dich in meinem Haus wie einen Sohn gehalten: Warum hast Du mich verraten? Habe ich Dir nicht nur Gutes erwiesen?
AFANASIEW: Genosse Rjurik – ich tat, was ich tun mußte. Ich liebe Marusja.
MARUSJA: Er ist unschuldig. Ich habe ihn verführt, daß er mit mir floh – ich wollte zu den frommen Brüdern zurück, – zurück in die Steppe, die mich geboren, zu den Eichhörnchen, Wölfen, Füchsen, zum purpurnen Mond, zum silbernen Sinsee. Ich wollte zurück zur Erde – zu Gott – zu mir.
RJURIK: Durchgegangen bist Du, um mit dem da zu huren –
AFANASIEW: (fährt auf)
RJURIK: (reißt Marusja die Jacke auf, zu Jakowlew) Dieser Bursche ist ein Weib, eine Hure! (Jakowlew und die Rotgardisten fahren erstaunt zurück)
MARUSJA: Rjurik – Du hast mich einmal geliebt.
RJURIK: (zu den Rotgardisten, auf Nikolaj weisend) Führt den da ab.
(Marusja, Nikolaj stürzen sich in die Arme, um von den Soldaten auseinandergerissen zu werden)
MARUSJA: Mein guter, guter Nikolaj.
AFANASIEW: Ich kenne eines, das flüchtiger noch, als der Flug der Wildgans, als fernes Wetterleuchten, als rote Blätter im Herbstwind: mein Leben.
(Er wird von den Soldaten abgeführt. Marusja und Rjurik bleiben allein auf der Bühne)
MARUSJA: Was werden sie über ihn beschließen? Den Tod -? über ihn – und mich … (zurückweichend) Willst Du mich töten? Das ist doch gar nicht möglich. Ich habe gar nichts getan. – Ich habe Angst, ich habe auf einmal Angst – und ich habe doch noch nie Angst gehabt.
RJURIK: Warum hast Du Angst? Du bist doch unsterblich, wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht.
MARUSJA: Du hast recht – ich bin feige. Und ich darf nicht feige sein. Christus ist am Kreuz gestorben. Wie dürfte ich vor einer Kugel oder einem Strick zittern. Ich bitte Dich um eine Gnade: kreuzige mich! Laß‘ mich kreuzigen, wie einst Christus gekreuzigt wurde. Denn er war Gottes Sohn und ich bin Gottes Tochter.
RJURIK: Nun: Gott wird seine Tochter nicht im Stich lassen.
(Jakowlew und eine Anzahl Soldaten zurück)
RJURIK: Den Burschen, der den Strick verdient hätte, begnadige ich – zur Kugel. Und das Mädchen da – schenke ich Euch nach Kriegsrecht. Ihr könnt mit ihr machen, was Ihr wollt. (Eisiges Schweigen)
MARUSJA: Ihr seid keine schlechten Menschen – ich vergebe Euch allen – wie Gott mir vergeben möge. – Ich habe Euch gefürchtet – ich fürchte Euch nicht mehr -ich habe mich in der Dunkelheit vor Gespenstern gefürchtet – jetzt fürchte ich mich nicht mehr – es ist heller Tag – Ihr seid ja Menschen. – Ihr seid nur in die Irre gegangen, habt Euch nur verlaufen. Ich würde Euch gern auf den rechten Weg führen – aber ich bin zu schwach, ich bin nur eine Ahnung dessen, der kommen wird im Sausen des Windes, im Beben der Erde. Ihr seid so einsam. Jeder von Euch ist ganz allein. Jeder von Euch läuft in einem feurigen Ring. Du bist so einsam, Rjurik, darum tötest Du. Du tötest. Ich sterbe. Hat jeder sein Schicksal. Ein Jegliches hat seine Zeit und alles unter dem Himmel hat seine Stunde: Geboren werden und sterben, lachen und klagen, singen und seufzen. Seligkeit und Qual. Es hat die Liebe ihre Zeit und der Haß hat seine Zeit. Was geschieht, das ist zuvor geschehen, und was gesche-hen wird, das ist auch zuvor geschehen. Ihr meine Brüder, ihr meine Mörder, ich opfere mich, damit Gottes Gebot erfüllt werde. Ich schenke mich Euch allen – Dir und Dir und Dir und Dir – Euch schenkt sich Gottes Tochter -nehmt von meinem Leib und esset alle davon –
(mit den Soldaten ab, die fast ehrfürchtig folgen. Rjurik bleibt auf der Bühne. Man hört die Flöte des Lappen To erklingen. Sie kommt näher. Der Lappe To betritt die Szene)
RJURIK: Was willst Du?
To: Habt Ihr nicht ein wenig Wodka für mich? Ein paar Zigaretten? Kennt Ihr mich nicht mehr? Kennt Ihr den Lappen To nicht mehr? Habe ich Euch nicht immer gut bedient? Habe ich Euch damals nicht einen guten Weg gezeigt?
RJURIK: Du hast mir einen schlechten Weg gezeigt – aber zeig‘ mir heute einen Weg durch den Sumpf – und sei’s der schwerste und lebensgefährlichste.
To: Herr, die Weißen lauern auf Euch. In den Sümpfen hocken sie, wie Rebhühner in den Ackerfurchen. Sie haben ein Kopfgeld auf Euch ausgesetzt. Sie haben mir zehn Flaschen Wodka und 1000 Zigaretten versprochen, wenn ich Euch ihnen verrate, hehe. Was machen die frommen Brüder? Ihr glaubt, sie getötet zu haben, aber sie hoppeln noch immer wie weiße Kaninchen über die Steppe. Was macht Marusja, unser liebes Täubchen? Habt Ihr sie bekom¬men? Hundert Soldaten lieben sie jetzt. Als Letzter wird sie der Lappe To lieben, der sie immer schon geliebt hat. Alle Welt bekommt sie – nur Ihr bekommt sie nicht, hehe. (schnell ab)
RJURIK: Daß Dich der Geier!
(Von links tritt Marusja auf, mit allen Zeichen des Wahnsinns. Sie ist wieder in Frauenkleidung gekleidet: in schnell zusammengerafften Lumpen. Die Haare hängen ihr in die Stirn. Auf den Armen trägt sie wie ein Kind die ihr von Afanasiew geschenkte Puppe)
MARUSJA: Sie haben mir Frauenkleider angezogen … sie waren so höflich … so zärtlich … so liebevoll … meine hundert Liebhaber. O … hundert Liebhaber hatte ich … aber nur ein Kind habe ich geboren. (Die Puppe herzend) Mein kleines Jesulein … mein kleiner Heiland der Welt … Ich habe einen neuen Gott geboren … O, was für einen schönen, kleinen Gott … Du bist ja blind … kleiner Gott. Sei froh, so kannst Du die Qualen der Welt nicht sehen … Du bist ja taub, kleiner Gott … Sei froh, so kannst Du die Schmerzensschreie der Menschen nicht hören … Du bist ja stumm … Sei froh, so kannst Du Dein eigenes Elend nicht in die Lüfte stöhnen … Du hast die rechte Hand verloren – sei froh, so kannst Du mit der Hand nicht schlagen – Du hast die Beine gebrochen – sei froh, so brauchst Du nicht über die Erde zu gehen – Du weinst tränenlos … Du jubelst freudelos. Kleiner Gott … Du lebst ja nicht … sei froh, daß Du nicht lebst … So brauchst Du nicht zu sterben. (Bricht zusammen)
(Rjurik hat sich über Marusja geworfen)
RJURIK: Gott, mein Gott – Teufel, mein Teufel. – Was ich tat, war Untat, – mein Werk war Teufelswerk – ich habe die heilige Jungfrau geschändet – ich habe die geheimnisvolle Rose gebrochen, die Pforte des Himmels eingestoßen, den Turm Gottes gestürzt. (Soldat kommt gelaufen)
SOLDAT: Genosse Hauptmann – melde gehorsamst – es steigen in der Steppe überall graue Wolken auf-
2. SOLDAT: Die Wolken steigen lautlos aus dem Boden wie grauer Nebel.
3. SOLDAT: Wir sind von den Wolken schon ganz umhüllt –
SOLDATEN: (kommen gelaufen) Feuer! Feuer! Feuer! Die Steppe brennt! Die Erde brennt! Rings um uns brennt die Erde! Wir sind verloren! Die Weißen haben die Steppe angezündet.
RJURIK: Die Erde brennt. Wie eine lebende Fackel brennt Rjurik. Seine Flamme schlägt bis untern Himmel. Du, Satan, hast die Erde angezündet, hast Rjurik angezündet. Du hast uns die Erde zur Hölle gemacht. – Steh‘ mir zum Kampf, damit ich Dich zerschmettere. – Achtung – das Regiment hört beim Marsch in die Hölle auf meinen Befehl! Senkt das Bajonett! Vorwärts! Marsch!
(Stürzt mit den Soldaten rechts ab. Die Leiche Marusja’s bleibt im Widerschein des Steppenbrandes eine Weile allein auf der Bühne. Dann läßt der Brand nach. Das Rot verlöscht langsam und geht in ein immer strahlenderes Blau über)
(Von links treten auf Semion und die 7 frommen Brüder)
SEMION: (an der Leiche Marusja’s) Marusja – Du Gottesgebärerin – Gott ist in Deinem Leibe gestorben – ehe Du ihn gebären konntest. (Niederknieend, ihr über die Stirn streichend) Du Jungfrau aller Jungfrauen. Du leiser Duft der weißen Rose. Du Gotteskind, geh‘ ein ins ewige Morgenrot, (erhebt sich) Die Erde brennt – die Steppe brennt – schon hat das Feuer auf den Sumpf übergegriffen – schon hüpft es wie Elmslichter auf dem Sinsee. Der ganze See ist flüssiges Blei. Wir kamen von Westen, vor dem Feuer flüchtend und zogen nach Osten – wir kamen von Osten und ziehen nach Norden, immer weiter nach Norden, in den Schnee, in den ewigen Schnee, in die Eis-, in die Polarwüste. Der Schnee wird das Feuer ersticken. An den blauen Eisblöcken wird die Flamme vergeblich lecken. Am Nordpol werden wir unser Kloster errichten; aus Eisblöcken werden wir unsere Kapelle erbauen. Um Dich aber, Marusja, Jungfrau süßeste, wird ein Eisblock gefrieren und immer wird Dein heiliges Lächeln durch die Eiswand leuchten.
Du warst des Himmels Süßigkeit, Du warst des Himmels Innigkeit, Du Makellose, Du Lilienrose.
(Die anderen Brüder fallen singend im Stil der Liturgie ein, während sie den Leichnam Marusjas auf die Schultern heben:)
Dir singen Lob die Cherubin, Dir singen Preis die Seraphin, Salve, salve, regina.
(Ab)

(Vorhang)