Aus Briefen von Klabund

Von Guido von Kaulla – 14. August 1953

Zum heutigen 25. Todestag Klabunds stellt uns sein Nachlassverwalter folgenden ‚Beitrag mit unveröffentlichten Briefzitaten des Dichters zur Ver­fügung.

„Die Bekanntschaft mit den chinesischen Dichtern, durch den Marquis ihm vermittelt, wird nach Berlin sein zweites starkes Erlebnis, und der formale und gei­stige Einfluß macht sich bemerkbar“, schreibt der Dich­ter in seiner kleinen (noch unveröffentlichten) Selbst­biographie. Vorangegangen war eine Märznacht des Jahres 1915, in der Klabund und Bruno Frank in des­sen kleinem Hause am Starnberger See zusammen­saßen und sich gegenseitig die schönsten Dinge aus der Weltliteratur vorlasen. Am nächsten Morgen ging Kla­bund in die Bayerische Staatsbibliothek und ließ sich die gesamte Literatur über die chinesische Lyrik geben, darunter auch die Übersetzungen des Marquis d’Hervey St. Denis. Einen Monat darauf haben sich zwei Schulhefte (später in Fredy Kaufmanns Besitz) mit der Vielzahl der Nachdichtungen gefüllt, von denen nur zwei nicht veröffentlicht wurden.

Jede von ihnen fußt auf bestimmten Vorlagen – zum Unterschied von den völlig „unoriginalen“ Liedern der „Geisha O-sen“ (die mit Nachdichtung nicht das ge­ringste zu tun haben) und den „lyrischen Porträts“ des Villon, Khayyam und Hafis, die nur eingestreut die Übertragung „echter“ Verse enthalten. (Im „Kreidekreis“ wurden dann Gedichte aus seiner ersten Studentenzeit untergebracht.)

Als er dem Inselverlag am 6. April 1915 verschie­dene Zyklen — als die am leichtesten unterzubrin­gende Form – anbietet, schreibt er (sich vom Insel­autor Bethge distanzierend) unter anderem: „…Es handelt sich bei meinen Nachdichtungen um Nachdichtungen in Keimen – eine Behandlungsweise, die für das Verständnis des Chinesischen in den Gedichten wesentlich erscheint: die chinesische Lyrik als die Lyrik katexochen reimt sich immer. Ich stehe methodisch auf einem absolut anderen Standpunkt als zum Beispiel Bethge. Schon daß der Reim fehlt, gibt ihr das An­sehen von Gedichten aus irgendeinem östlichen Latein. Darum sind sie zu glatt, zu unbeweglich, zu jambisch. Die chinesischen Bilder, Klänge, Assoziationen sind sehr unruhig, oft skurril. Daß sie es äußerlich auf den ersten Blick nicht immer scheinen: liegt einfach daran, daß das Chinesische nur einsilbige Worte kennt und ihr gleiches Nebeneinander eintönig scheint. Aber nur scheint. Schon wer Chinesen sprechen hört, muß das Stakkato in ihrer Sprache erhorchen … Die chinesischen Gedichte sind unerhört komprimiert. Es scheint mir nicht gut, ein solches chinesisches Gedicht von 12 Zeilen wie ,Der Trinker im Frühling‘ auf 24 Zei­len (Bethge, Chinesische Flöte Seite 228) auseinanderzuzerren, ihm die Gedrängtheit seiner Bilder zu neh­men und aus einem melancholischen Lied einen anakreontischen Singsang zu machen …“

Daraus resultiert dann die Anmerkung (im Nachwort zur Chinesischen Kriegslyrik): „…Die vorlie­genden chinesischen Gedichte sind durchaus keine Über­setzungen. Sondern Nachdichtungen. Aus dem Geist heraus. Intuition. Wiederaufbau. (Manche Säulen des kleinen Tempels mußten versetzt oder umgestellt wer­den) …“ Ein Kapitel der Angriffe beginnt, das Kla­bund – als ihm auch Richard Wilhelm als leuchtendes Beispiel vorgehalten wird – zu folgender Briefstelle veranlasst: „… Richard Wilhelm hat sich durch seine Übersetzung der Schriften zur Religion des alten China die größten Verdienste erworben. Sie ist von starker Einfühlungs- und Ausdruckskraft und macht uns die klassische Kultur der Chinesen erstaunlich lebendig und gegenwärtig. Von seiner angekündigten Übersetzung chinesischer Gedichte versprach ich mir sehr viel… Richard Wilhelm hat etwas versucht, was er niemals hätte versuchen dürfen. Er, der Philosoph, der Wissen­schaftler, wagte sich daran, die chinesischen Gedichte in deutsche Gedichte umzugießen. Hätte er uns doch eine bildreiche und blutvolle Prosaübersetzung gegeben, wie die französische des Marquis! Bisher unbekannte Schätze chinesischer Lyrik wären unser Eigen geworden. So aber hat er seine dichterisdien Fähigkeiten weit überschätzt. Als zweiter Bodenstedt etabliert er sich, als Mirza Gschaftlhuber, als Kitsch-Tai-Pe. Aus der östlichen Jasminlaube ist eine westlich-allzuwestliche „Gartenlaube“ geworden … Dieser Baumbach signiert als Wang Gia oder Lin Pu. Wilhelm, der so ausgezeichnet Chinesisch versteht, kann kein Deutsch wenn es darauf ankommt, Verse zu gestalten …“

Und wenn Klabund sich, lebhaft widersprochen, da­hin äußerte, daß ein Nachdichter aussprechen dürfe, was der Dichter habe sagen wollen, so betrachte man etwa eine Strophe au* „Wanderer In der Herberge“ bei Forke und bei Klabund. Der eine: „Ich schau zum Mond auf, / der droben blinkt. / Der Heimath den­kend / das Haupt mir sinkt.“ Der andere: „Hebe das Haupt — / blick in den strahlenden Mond, / senke das Haupt — / denk an mein Wanderziel.“ Da nach chinesischer Auffassung der Übergang in das Reich der Geister am Ende der Erdenreise nur durch ein Begräb­nis in der Heimat erfolgen kann, so dürfte in diesem Sinn das Wortzeichen „Dorf-alt“ = „Heimat“ bei Litaipe nicht nur Bild, sondern zugleich auch Sinnbild sein — und dessen Zeichnung dient Klabund in allen seinen Nachdichtungen.

Wenn heute chinesische Lyrik zitiert wird, so ist es meist – auch wo sein Name nicht genannt wird – Klabund, den man zitiert, so wie ja auch Shakespeare in den Schlegel-Tieck-Baudissinschen Fassungen zitiert wird. Kurioserweise wäre beinahe der Name „Alfred Henschke“ damit verbunden worden, denn der Dichter hatte kurz zuvor noch keineswegs die Absicht, mit sei­nem zweiten Pseudonym hervorzutreten, wurde viel­mehr erst durch äußere Umstände veranlasst, auf seinen Vatersnamen, mit dem er literarisch immerhin schon Fuß gefasst hatte, zu verzichten. Seit genau vierzig Jahren ist also „Klabund“ als nom de guerre vorhan­den. Je mehr sich aber der Weihrauch vor den vielen Übertragungen und Nachdichtungen chinesischer Lyrik durch deutsche und ausländische Dichter und Sinologen verzieht, desto freier wird der Blick für die Leistung, mit der 1915 ein Vierundzwanzigjähriger als Ausnahme die Regel bestätigte, die bei Nachdichtungen besagt, daß gemeinhin die treuen nicht schön und die schönen nicht treu seien.