Alfred Georg Hermann Henschke – Der Spion aus Crossen?

Den folgenden Artikel von Markus Pöhlmann übernehme ich mit Genehmigung des Autors und des Verlages ungekürzt. Als Verwandter möchte ich keine Meinung dazu schreiben, obwohl ich eine solche habe. Das heißt nicht, dass ich diesen Artikel falsch finde, im Gegenteil. Aber ich hoffe, mit ihm eine Diskussion auszulösen, die nicht nur Klabund dient, sondern eben auch die politische Situation einbezieht, in die Menschen geraten können und was diese dann daraus machen.

Einen kleinen Hinweis auf das letzte Kapitel und darin besonders die Beschreibung seines Aufenthaltes in Locarno Monti, also in der Villa Neugeboren, will ich aber dennoch einfügen.

Der Grenzgänger. Der Dichter Klabund als Propagandist und V-Mann im Ersten Weltkrieg

Zu den eindrücklichsten politischen Zeugnissen deutscher Schriftsteller im Ersten Weltkrieg zählt zweifellos der Offene Brief des Dichters Klabund an Wilhelm II. vom 3. Juni 1917. In der „Neuen Zürcher Zeitung“ rief der aufgrund eines Tuberkulose-Leidens in der neutralen Schweiz lebende Schriftsteller den deutschen Kaiser auf dem Höhepunkt des industrialisierten Massenkrieges mit pathetischen Worten zum Thronverzicht auf, um den Weg zu einem Friedensschluss frei zu machen: „Geben Sie auf den Glauben an ein Gottesgnadentum und wandeln Sie menschlich unter Menschen. Legen Sie ab den Purpur der Einzigkeit und hüllen Sie sich in den Mantel der Vielheit: der Bruderliebe.“

Es ist vor allem dieses Dokument, das den Dichter zu einer moralischen Instanz unter den Intellektuellen werden ließ. Wer sich heute mit Klabund befasst, findet ihn geadelt als „Pazifisten im 1. Weltkrieg“. Schon für ein im ersten Kriegsjahr entstande­nes Werk – von dem noch die Rede sein soll – konstatiert die jüngste Werkedition eine „prinzipielle Skepsis“ gegenüber dem Weltkrieg. Guido von Kaulla, sein Biograf, sieht die Gedichte von 1915 „eindeutig defensiv gegen den Krieg“ eingestellt. Der Brockhaus stellt fest, dass der Dichter seiner „stark erotisch – und pazifistisch-sozialistischen Themen wegen häufig angegriffen wurde.* Die Strahlkraft des pazifistischen Idealismus Klabunds geht so weit, dass ihn Walther Killy noch für die Nachkriegszeit als Ange­klagten in einem Prozess „wegen Vaterlandsverrat u. Majestätsbeleidigung“ sieht. Ein anderer Biograf resümiert: „Sein Leben verlief sprunghaft, doch ohne Geheimnisse. Er sorgte dafür, dass alles sichtbar wurde, die Lichter und die Schatten.“ Und bedürfte es noch weiterer Belege, so ließe sich sein Schulfreund und Dichterkollege Gottfried Benn ins Feld führen, der Klabund mit seiner Totenrede von 1928 ein Denkmal gesetzt hat: „Gegen eine Welt der Nützlichkeit und des Opportunismus habe der früh Verstorbene „nichts als seinen Glauben und sein Herz getragen.“

Klabund war zweifelsohne ein an seinem Körper und der vom Krieg zerrissenen Welt Leidender. Doch war er auch ein öffentlicher Mensch „ohne Geheimnisse“, ein pazifistischer Streiter gegen eine „Welt der Nützlichkeit und des Opportunismus“? Derart eindeutige Urteile fordern zur kritischen Prüfung heraus. Deshalb soll im Fol­genden versucht werden, zunächst einmal die sich in seinen literarischen Werken wider­spiegelnde Haltung zum Krieg differenzierter zu fassen. Anschließend wird, auf neuere Quellenfunde bauend, Klabunds politisches Handeln während des Krieges schärfer in den Blick genommen. Am Ende wird die Erkenntnis stehen, dass der Künstler literarisch wie politisch-moralisch sehr viel ambivalenter zu sehen ist, als dies bislang geschah.

Die Kriegsdichtung

Den Kriegsausbruch erlebte der junge Dichter im Sommer 1914 in München, wo er in der Schwabinger Boheme Fuß gefasst hatte. Unter dem Eindruck der internationalen Krisensituation und des sich mit dem Kriegsausbruch Anfang August Bahn brechen­den nationalistischen Eifers reagierte er zunächst einmal höchst konformistisch, näm­lich mit einer Meldung als Freiwilliger zur Kavallerie. Dort wurde Klabund aber auf­grund seiner schlechten gesundheitlichen Konstitution zunächst zurückgestellt (und im Januar 1916 endgültig ausgemustert). Belege über eine kritische Position gegenüber der Rolle des Kaiserreichs am Ausbruch des Krieges oder gegenüber dem Krieg als Instrument der Politik sucht man vergebens. Ganz im Gegenteil: Als Reaktion auf die Ablehnung begann Klabund für den Fall einer späteren Einberufung mit privatem Reit- und Schießunterricht. Im Hinblick auf diese frühe Kriegsbegeisterung offenbart eine Einlassung Klabunds aus der unmittelbaren Nachkriegszeit dann auch Ehrlich­keit gegenüber der eigenen Biografie: „Der Krieg überfallt ihn und fasziniert ihn, wie eine Schlange einen Vogel fasziniert. Er meldet sich als Kriegsfreiwilliger, wird seiner Krankheit wegen abgewiesen. Er glaubt an ein „überfallenes Deutschland.“ 

Die Interpretation des Krieges als eines ästhetisch-künstlerisch faszinierenden Phä­nomens und das subjektive Empfinden, dass das Reich in einem Verteidigungskrieg stand, waren 1914 auch unter den Künstlern und Intellektuellen geradezu Topoi der Kriegslegitimation. Den Schriftstellerkollegen, die jetzt tatsächlich Soldaten geworden waren, fehlte im weiteren Verlauf meist die Zeit zur literarischen Reflexion; in vielen Fällen brachte auch die eigene Erfahrung des Krieges sehr bald ein Erschütterung ih­rer positiven Erwartungshaltung mit sich. Für Klabunds schriftstellerische Entwicklung aber war entscheidend, dass die Freistellung vom Militärdienst – die im Hinblick auf die gesellschaftliche Erwartung an die patriotische Haltung und auch die Geschlechterrolle zunächst einmal ein einschneidendes Erlebnis der Zurücksetzung bedeutete – ihm jetzt die Möglichkeit bot, sich als Dichter am literarischen Verteidigungskampf für ein „über­fallenes Deutschland“ zu beteiligen. Die Beweggründe für sein Engagement waren also ebenso zeitgemäß, wie sie kompensatorisch motiviert waren. Die hierbei zum Einsatz gebrachten künstlerischen Mittel waren es allerdings nur zum Teil.

Hierfür soll zunächst die Kriegslyrik untersucht werden, die sich in den Gedichtbänden „Soldatenlieder“ (1914), »Kleines Bilderbuch vom Krieg“ (1914) und „Dragoner und Husaren. Die Soldatenlieder von Klabund“ (1916) gesammelt findet. Dabei bestechen die „Soldatenlieder“ durch ihren konventionellen patriotischen Gehalt und die sich an der Gebrauchslyrik orientierende Form. So etwa die erste Strophe aus dem „Lied der Kriegsfreiwilligen“:

Brüder, laßt uns Arm in Arm
In den Kampf marschieren!
Schlägt der Trommler schon Alarm
Fremdesten Quartieren.
West- und östlich glüht der Brand,
Sternen¬schrift im Dunkeln
Läßt die Worte funkeln:
Freies deutsches Land!
Hebt die Hand empor
Kriegsfreiwillige vor !

Es finden sich auch humoristische Gedichte wie:

Wir Pioniere bauen schön die Brücken,
Damit Soldaten [sie] und Kanone drüberrücken.
Wir schleppen Balken viel und haben großen Schweiß.
Des Kaisers Dank ist unser Preis. – Valeri.

Gleichwohl wäre es irreführend, dieser Art von Humor eine ironisierende und damit den Krieg oder das Militär in Frage stellende Konnotation zuschreiben zu wollen. Vielmehr frönt der Dichter einem frivolen Landsknechtshumor, wobei der Krieg als naturgegebenes Gemeinschaftserlebnis präsentiert wird. In seiner scharf­sinnigen Apologie des Soldatenliedes nahm Klabund dieses gegen die philologische Kritik in Schutz und wies auf den propagandistischen Wert und den „inneren Geist des Deutschtums“ der Lieder hin.

Neben der humoristischen Verharmlosung lässt sich aber bereits in den „Soldatenliedern“ eine Tendenz zur Ästhetisierung der Gewalt des modernen Krieges nachweisen. So z. B. in „Der Flieger“:

Der Motor singt…
Den Hebel hoch! daß eine Bombe
In feiger Feinde Katakombe
Verheerend springt.“

Doch schon im „Kleinen Bilderbuch vom Krieg“ begannen sich Formen und Inhalte zu wandeln. So unterscheidet Ralf Georg Bogner die konventionellen „Sol­datenlieder“ von den nun „hochartifiziellen, stark expressionistisch geprägten Gedichte[n] mit ihrer Thematisierung von Gewalt, menschlichen Extremsituationen und Tod“. In dem Gedicht „Franktireur“ liest sich diese Wandlung wie folgt:

Weit steht der Himmel offen,
Und leuchtet Stern am Sterne.
Ich häng an einer Laterne.
Besoffen.

Ob eine derartige künstlerische Interpretation der massen­weisen Hinrichtung belgischer und französischer Zivilisten durch die deutsche Armee als „prinzipielle Skepsis gegenüber dem Ersten Weltkrieg“ zu werten ist, scheint mehr als fraglich. Der weitere Kriegsverlauf hat dann auch, urteilt man nach seiner literarischen Produktion, Klabunds Haltung zum Krieg nicht substanziell verändert. Noch im Sammelband „Dragoner und Husaren“ (1916) engagierte er sich im Dienste der antirussischen Propaganda, die – im Interesse der Akzeptanz dieser Propaganda im deutschen sozialdemokratischen Milieu – auf den Zaren als Despoten fokussierte. In „Akim Akimitsch “ werden die Opfer dieser Despotie in der Figur eines Bauern personifiziert, dem Klabund zuruft:

Akim Akimitsch,
Darfst nicht mehr säen und schaffen,
Väterchen ruft zu den Waffen,
Akim Akimitsch.

Akim Akimitsch,
Was hat der Krieg für einen Zweck?
Eure Stiefel sind papierner Dreck,
Akim Akimitsch.

Akim Akimitsch,
Eure Großfürsten paschen
Alle Kontribution in ihre Taschen,
Akim Akimitsch.

Akim Akimitsch,
Du wirst lesen lernen
In dunklen Büchern und hellen Sternen…
Akim Akimitsch…

Akim Akimitsch,
In der Revolution
Anno Sechs erwachtest du einmal schon…
Akim Akimitsch…

Akim Akimitsch,
An deinem Blut saugen die fetten Egel
Der Romanows. Nimm deinen Dreschflegel,
Akim Akimitsch – schlag sie tot!

Das lyrische Spiel des Daheimgebliebenen mit den Atavismen des Krieges findet schließlich seinen zweifelhaften Höhepunkt in dem Gedicht „Feind Welt“:

Pardon will ich nicht geben:
Kraft wächst mir tausend¬fach
Aus einer Wunde nach.
Mit Blut düng ich mein Leben!

Dazu kam im Kriegsjahr 1914 noch eine Reihe von patriotischen Theaterschwänken. Auch in seiner inhaltlich wie literarisch weit anspruchsvolleren Nachdichtung chinesischer Kriegslyrik „Dumpfe Trommeln und berauschender Gong“ finden wir Klabund 1915 als einen auf die Konjunktur des Themas vertrauenden Literaten. Selbst die Prosa zeigt ihn dem Thema Krieg in ganz unpazifistischer Manier verbun­den, namentlich 1916 bei seinem Roman „Moreau“. Bei der literaturgeschichtlichen Einordnung des Romans über den populären Troupier der französischen Revolutions­armee und späteren Gegenspieler Napoleons ist die Werkedition bemüht, den propa­gandistischen Gehalt des Textes zu relativieren: Der Roman vermochte demnach „kein identifikationsstiftendes soldatisches Idealbild als Beitrag zur „Kriegspropaganda zu leisten, eher ein antifranzösisches Zerrbild.“ Die Frage aber, ob nicht gerade das von Klabund geschaffene „antifranzösische Zerrbild“ im Ersten Weltkrieg propagandis­tischen Zielen dienen konnte, wird ausgeklammert Ein weiterer Beleg für Klabunds antifranzösische Einstellung findet sich noch im Oktober 1916 im „Berliner Tageblatt“, wo er, den französischen Chauvinismus geißelnd, von einer „verhängnisvollen Hin­neigung des deutschen Intellektuellen zu Frankreich“ spricht.

Während des deutschen Einmarsches in Belgien und Frankreich war es im Sommer 1914 in 5-6000 Fällen zu Tötungen von Zivilisten gekommen, denen die deut­schen Truppen die völkerrechtlich illegale Teilnahme am Kampf vorwarfen. In der großen Mehrzahl der Fälle kann heute davon ausgegangen werden, dass die Vorwürfe unbegründet waren. Die Figur des hinterhältigen, bei Klabund zusätzlich alkoholisierten Freischärlers war bereits 1914 ein Topos in der deutschen Kriegskarikatur gewesen.

Betrachtet man das literarische Schaffen Klabunds aus den Kriegsjahren 1914 bis 1916, so lässt sich als Zwischenergebnis formulieren, dass die Masse seiner literarischen Produktion tatsächlich als dezidiert kriegsbejahende Gelegenheitslyrik zu definieren ist, die sich in den Dienst der deutschen Propaganda stellte und Beispiele von aus­gesprochener Hasslyrik aufweist. Vor dem Hintergrund der im Folgenden zu schil­dernden politischen Verstrickungen Klabunds gewinnt die Frage nach der Einordnung dieser Kriegslyrik an zusätzlicher Brisanz.

Nachrichtendienstliche Tätigkeit

Die Abwendung Klabunds von der aktiven Kriegspropaganda ergab sich in der Folge seines Umzugs in die Schweiz, wo er sich Linderung für sein Lungenleiden erhoffte. Im Februar 1916 war er in ein Sanatorium in Davos gezogen, wo er auch seine aus Passau stammende spätere Frau Brunhilde („Irene“) Heberle kennen lernte. Diese hat wohl seinen Gesinnungswandel angeregt bzw. gefördert. Dem Aufenthalt in Davos schloss sich ein Umzug nach Zürich an, einem damaligen Zentrum der pazifistischen und sozialistischen Exilliteratur.

Auch wenn Klabund nicht als Exilant nach Zürich ge­kommen war, nahm er doch regen Anteil am dortigen literarischen und politischen Leben. In den von Rene Schickele herausgegebenen „Weißen Blättern“ sollte er 1918 mit der „Bußpredigt* seine radikale Wandlung zum Pazifisten publizieren. In dieselbe Zeit fiel auch der erwähnte Offene Brief an Kaiser Wilhelm II. in der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 3. Juli 1917. Dieser stellte ein bemerkenswertes publizistisches Dokument dar. Gekleidet in servile höfische Rhetorik und Bezug nehmend auf das Friedensan­gebot der Mittelmächte von Weihnachten 1916 sowie Wilhelms „Osterbotschaft“ vom 7. April 1917 bat Klabund den deutschen Kaiser im Interesse eines Friedensschlusses ab­zudanken. Politisch war diese Forderung der Abdankung als Vorbedingung für einen Friedensschluss insofern interessant, als sie bis dahin selbst von der gegnerischen Al­lianz noch gar nicht erhoben worden war. Im Zentrum der Klabundschen Argumen­tation stand also weniger die Friedensfrage, sondern die Verfassungsfrage. Durch die freiwillige Abdankung würde sich in Deutschland eine Art zweites „Augusterlebnis“ einstellen, unter dessen Eindruck das Wahlrecht modernisiert, die Verfassung demo­kratisiert, das Heer auf das Vaterland vereidigt und eine dem Volke verantwortliche Regierung den Frieden herbeiführen würde. Wilhelm bliebe hierbei die angenehme Aufgabe, für seine freiwillige Entsagung die Dankbarkeit des Volkes entgegenzuneh­men: „Dann werden Sie das Volkskönigtum der Hohenzollern auf Felsen gründen“, endet der Brief, „während es jetzt nur mehr ein Wolkengebilde ist, das, wenn Sie die Zeit nicht erkennen, wie bald im steigenden Sturm verflogen sein wird.“ In Deutschland erregte der Offene Brief verständlicherweise einiges Aufsehen und machte die Zen­surbehörden und die Politische Polizei auf den bis dahin patriotischen Kriegslyriker aufmerksam. Anlässlich eines Besuchs in Passau im Juli/August bei der Familie seiner Braut Brunhilde Heberle wurde Klabund festgenommen – kurz darauf aber wieder ohne Anklage freigelassen. Wie kam das?

Erklärung liefern hier bislang unbekannte Quellenbestände im Bayerischen Kriegsarchiv in München. Aus diesen erschließt sich, dass die überraschende Freilassung des Dichters auf Veranlassung des militärischen Nachrichtendienstes erfolgte, für den der kürzlich erst zum Radikalpazifisten konvertierte Klabund nämlich als Vertrau­ensmann tätig war. Das Schlüsseldokument bildet dabei ein Schreiben des Leiters der Kriegsnachrichtenstelle Lindau, Graf Berchem, an das Stellvertretende Generalkom­mando des I. bayerischen Armeekorps in München vom 3. April 1918. Darin räumte der Leiter der Lindauer Residentur der für Nachrichtendienst, Spionageabwehr, Presse und Propaganda zuständigen Generalstabsabteilung Illb ein, dass Klabund für Illb als V-Mann tätig sei und „fortlaufend befriedigend im militärischen Nachrichtendienst in der Schweiz“ arbeite. Im Hinblick auf den zu seiner Verhaftung führenden Offenen Brief ist Klabunds Aussage gegenüber seinem Führungsoffizier bemerkenswert: Von diesem deshalb zur Rede gestellt, gab der V-Mann an, der Artikel sei nicht von ihm verfasst, sondern ihm von unbekannter Seite „untergeschoben“ worden.

Schon aus der Kenntnis um die Organisation und die Arbeitsweise von Illb lassen sich nun Rückschlüsse auf Klabunds wahrscheinliche und mögliche Verwendung zie­hen. Dafür ist zunächst die Arbeit der erwähnten Kriegsnachrichtenstelle Lindau zu untersuchen. Die Kriegsnachrichtenstellen waren im Laufe des Krieges entlang den deutschen Grenzen als Residenturen der Militärspionage mit regionalen Zuständig­keiten errichtet worden. So wurde von Lindau aus die Spionage gegen Italien orga­nisiert, und zwar über die Schweiz. Die amtliche Geschichte des deutschen Nach­richtendienstes im Ersten Weltkrieg beschrieb die Aufgabe der Kriegsnachrichtenstelle Lindau wie folgt: „Den Kern der Organisation bildeten zahlreiche Vertrauensleu­te, die, in verschiedenen Schweizer Städten sitzend, als vorgeschobene Posten durch Entsendung von Erkundern oder Ausnutzung von aus den Feindländern kommenden Neutralen Nachrichtenmaterial in großer Menge einbrachten.“

Aufgrund ihrer Neutralitätspolitik und der geostrategischen Lage kam der Schweiz für die Nachrichtendienste aller Seiten eine eminente Rolle zu. Die Spionage gegen das neutrale Land selbst war zwar offiziell nicht Aufgabe der Lindauer Stelle, trotz­dem kann es als gesichert gelten, dass die Kriegsnachrichtenstelle im Laufe ihrer Arbeit auch nachrichtendienstliche Erkenntnisse über die Schweiz gewann. Dass Klabund selbst militärische Spionage betrieben hat, scheint aufgrund seiner diesbezüglich un­zureichenden Qualifikation unwahrscheinlich. Wahrscheinlich aber ist, dass er Mit­teilungen zur politischen Entwicklung und zur öffentlichen Meinung in der Schweiz machte. Gesichert ist, dass Klabund als Kurier zwischen Agenten in der Schweiz und der Lindauer Kriegsnachrichtenstelle fungierte. So saß die wichtigste Lindauer Quelle – der bislang nicht identifizierte Agent „V. 32″ – in Locarno, wo auch Klabund längere Zeit Aufenthalt genommen hatte. Ein wichtiger Treffpunkt dürfte allerdings auch Davos gewesen sein, hatten doch die kriegsteilnehmenden Staaten in großer Zahl in­valide Kriegsgefangene aus humanitären Gründen in die Internierung in der Schweiz entlassen. So waren die Hotels und Sanatorien im Raum Davos von einer großen Zahl Internierter belegt, und Kontakte Klabunds mit den Internierten sind erwiesen.

Als noch brisanter wäre jedoch eine nachrichtendienstliche Tätigkeit Klabunds in der Zürcher Emigrantenszene zu bewerten. Hierfür verfügte der seit dem Offenen Brief als Pazifist und Monarchiegegner bekannte Schriftsteiler in der Tat über eine geeignete Legende und auch über die erforderlichen Kontakte. Dabei muss sich eine Spitzeltätigkeit nicht nur auf die pazifistischen Literatenzirkel beschränkt haben. Galt doch das besondere Augenmerk des deutschen Nachrichtendienstes den in der Schweiz leben­den russischen Bolschewiki, namentlich Lenin, der im April 1917 mithilfe deutscher Stellen von Zürich über das Reichsgebiet nach Petrograd transportiert wurde.

Die Bereitschaft zur nachrichtendienstlichen Tätigkeit Klabunds lässt sich nur durch ein Motivbündel erklären: Ein Rolle kann der als Ehrverlust wahrgenommene Ausschluss vom Militärdienst gespielt haben; durch die Arbeit für Illb eröffnete sich für den, wie wir gesehen haben, durchaus patriotisch gesinnten Klabund die Mög­lichkeit, eine Art Ersatzdienst am Vaterland zu leisten. Der für die Zeit in Locarno nachweisbare Hang zum Glücksspiel lässt ein weiteres klassisches, wenngleich ökono­misch begründetes Motiv für eine nachrichtendienstliche Verpflichtung als möglich erscheinen. Entscheidend aber war sicher, dass Klabund aufgrund seiner Krankheit darauf angewiesen war, regelmäßig in die Schweiz reisen zu können. Die Erteilung eines Visums wurde so für ihn zu einem überlebenswichtigen Privileg, das ihn erpress­bar machte.

Ob Klabund als Agent in der Emigrantenszene arbeitete, dafür gibt es allerdings bislang keinerlei quellenmäßige Belege. Seine Vertrauenswürdigkeit war in der Szene selbst nicht ungeteilt. So kritisierte sein Dichterkollege Ludwig Rubiner ihn noch nach dem Wilhelm-Brief als einen „Geistesmetzger vom August 1914″ und politischen „Konjunkturbuben“. Auch die Tagebuchaufzeichnungen von Harry Graf von Kessler, der zum damaligen Zeitpunkt an der Berner Gesandtschaft die Kulturpropaganda koordinierte, belegen, dass der demonstrativ zur Schau gestellte Pazifismus Klabunds nicht bei allen Emigranten auf Anerkennung stieg. So äußerte sich Paul Cassirer im Gespräch mit Kessler Anfang Juni 1918, dass er Klabund zu der Sorte von Leuten zähle, „deren Pazifismus darin bestehe, dass sie ihre Person in den Vordergrund stellten und die Welt zum Zeugen anriefen, wie unbequem der Krieg für sie sei“ – was wiederum Kessler zu dem Urteil veranlasste, dass auch er Klabunds „persönliche Bequemlichkeits-Opposition (für) verächtlich und lächerlich“ halte.

Klabunds Tätigkeit für Illb muss daher nicht zwingend nur im engeren Bereich der Spionage bzw. der Unterwanderung von Dissidentenkreisen gesucht werden. Sei­ne persönliche Qualifikation lag natürlich vor allem in der Publizistik. Als partei­politisch nicht festgelegter Linksintellektueller und bekennender Pazifist eignete er sich für Illb auch zur Einflussnahme auf die öffentliche Meinung in Deutschland und der Schweiz. Äußerte er sich auch kritisch zur Regierung und zum monarchischen System, so blieb er doch der „deutschen Sache“ weiterhin eng verbunden. Anläss­lich des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen zwischen dem Reich und den USA nach der Erklärung des uneingeschränkten U-Bootkrieges schrieb er noch am 5. Februar 1917:

In dieser Stunde, die uns steinern bettet
Deutschland, sink ich in deinen Schoß.
Die Liebe, die uns schwärmend kettet,
ist grenzenlos. […] Das böseste von deinen Kindern,
O Deutschland weiß:
Sie wollen dich zerstückeln und vermindern
Um deiner Freiheit Preis.

Gleichwohl galt er nach seinem Offenen Brief in nationalen und Sicherheitskreisen in Deutschland als Defätist. So wurde er im September 1917 anlässlich eines Besuchs in Passau persönlich angegangen, wie sich aus der Denunziation des Chefredakteurs der „Passauer Zeitung“ erschließt. Dieser „meldete“ dem Stellvertretenden Generalkom­mando in München seine Begegnung mit dem Schriftsteller, nachdem er kurz zuvor im Rahmen einer regionalen Presseeinweisung der Behörde über Klabunds Wilhelm-Brief instruiert worden war:

„Am Sonntag hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, Herrn Klabund hier begrüßen zu müssen. Er ist militärfrei, anscheinend aber gesund genug, in Deutschland mili­tärische Schreiberdienste zu tun. Er protzt mit seinem Wohlbefinden! Ob er sich die goldenen Armbänder und Ringe, die er auffallend zu tragen beliebt, in der Schweiz erschrieben hat, während seine Stammesgenossen das Gold zur Reichsbank bringen, weiß ich ebenso wenig, als ob die manikürten [sie] Finger nicht besser in Deutschland als in der Schweiz beaufsichtigt werden könnten. Daß die Münchner bzw. Passauer Begleiterinnen [sie] des Herrn Klabund noch behaupten, es geschähe ihm bei uns nur nichts, sondern .die Polizei und Behörden kriechen vor ihm‘ macht den Fall Klabund […] noch wunderlicher! Ja, der deutsche Michel! Von hier aus geht Herr Klabund für kurze Zeit in seinen Münchner Anbeterkreis.“

1918 wuchs der politische Druck weiter. Die Anklage wegen Majestätsbeleidigung war im Vorjahr nur durch die Intervention von Illb verhindert worden, was sei­ne Abhängigkeit von dem Dienst fraglos verstärkte. Gegenüber den bayerischen Militärbehörden hatte sich der Nachrichtendienst zudem erfolgreich für die Erteilung eines Visums stark gemacht – ein für einen regimekritischen Schriftsteller höchst ungewöhnliches Privileg. Gleichzeitig unterlag seine Korrespondenz von und nach Deutschland der Zensur. Und im Mai 1918 erschienen in der bayerischen Presse von den Militärbehörden lancierte Hetzartikel gegen die „Drückeberger in der Schweiz“. Verantwortlich hierfür zeichnete pikanterweise der damals im Stellvertretenden Generalkommando des I. bayerischen Armeekorps für die Überwachung der Literasturszene zuständige Assessor Carl Schmitt.

In der Schweiz arbeitete Klabund inzwischen an einem Aufruf zur Gründung eines „Bundes der deutschen Geistigen in der Schweiz“, der wohl durch die Anwürfe in der deutschen Presse motiviert war. Der Plan, der im Vorjahr schon einmal aufgrund des allgemeinen Misstrauens der Exilanten untereinander gescheitert war, wurde von Kessler, der sich davon eine stärkere Anbindung der Exilantenszene, aber nicht zu­letzt auch eine Stärkung der friedenswilligen Kräfte in Deutschland erwartete, unter­stützt. Klabunds Unternehmen war also so wenig oppositionell angelegt, dass ihm der offizielle Vertreter der deutschen Kulturpropaganda in der Schweiz positiv gegen­überstand. Wie sehr Klabund nun in der Endphase des Krieges wieder auf eine gouvernementale Linie einschwenkte, zeigt auch der im Vergleich zum Wilhelm-Brief kaum bekannte und ebenfalls in der NZZ publizierte „Appell an Wilson“ vom 23. Oktober 1918.

Anfang des Monats hatte sich die deutsche Regierung an den US-Präsidenten mit einem Gesuch um Waffenstillstand auf der Basis von Wilsons Vierzehn Punkten gewandt Im Verlauf des folgenden Notenwechsels wurde jedoch klar, dass sich für Washington inzwischen die Geschäftsgrundlage verändert hatte und dass schärfere Friedensbedingungen, einschließlich der Forderung nach der Abschaffung der Mon­archie in Deutschland, zu erwarten waren. Klabund forderte in seinem Appell nun Gerechtigkeit gegen das deutsche Volk und den Verzicht auf extreme Bedingungen, die der „Ententeimperialismus“, „blinder Chauvinismus und taube Rachsucht“ und die „Clemencisten“ forderten, die eine „Exekution“ des deutschen Volkes in Szene zu set­zen gedachten. Durch eine derartige Politik würde das Deutsche Reich in die Hände der Revolutionäre getrieben werden.

Klabunds Führungsoffizier dürfte mit dem politischen und publizistischen Agie­ren seines Agenten in der Schweiz zufrieden gewesen sein. Der Schriftsteller machte

sich daran, die Exilantenszene zu organisieren, wobei sich hier, glaubt man der Ein­schätzung Kesslers, eine Annäherung an die Gesandtschaft anbahnte. Und in der Friedensfrage vertrat Klabund in einer international renommierten Zeitung des neutralen Auslands eine Position, die bis in die Details, etwa den moralischen Appell an den Gerechtigkeitssinn Wilsons und die Drohung mit dem Gespenst der sozialistischen Revolution, deckungsgleich mit der offiziellen deutschen Propagandalinie war.

Das Ende des Krieges fiel für Klabund zusammen mit einer persönlichen Tragödie: Am 30. Oktober starb seine Frau bei der Geburt des ersten Kindes. Das Kind selbst sollte der Mutter wenige Monate später folgen. Während der Wirren der Münchner Räterepublik wurde Klabund Anfang April 1919 bei einem Aufenthalt in Passau festge­nommen, weil die Polizei vermutete, er wolle mit dem dort inhaftierten Erich Mühsam Kontakt aufnehmen. Angesichts des Hasses, der seitens der Weißen Sicherheitsorgane Intellektuellen entgegengebracht wurde, die als rätenahe „Literaten“ verrufen waren, geriet er kurzfristig in eine gefährliche Lage, aus der er jedoch aufgrund der raschen Intervention von Verwandten entkam. Bis zu seinem Tod sollte Klabund eine aner­kannte, wenngleich künstlerisch wie politisch nur schwer einzuordnende Persönlich­keit der Weimarer Republik bleiben.

Fazit 

Im September 1917 hatte sich Klabund in einem Brief an einen Münchner Journalisten den Vorwürfen zu seiner Kriegslyrik gestellt:

„Diese Gedichte sind vor drei Jahren am Beginn eines scheußlichen Krieges geschrieben worden – als noch niemand wusste, wohin er lief, und als jeder über seine Ziele getäuscht war. Ich habe meine Meinung vom Kriege stark geändert meine 1915 geschriebene chinesische Kriegslyrik, mehr schon der Marketenderwagen, später der (Mo)reau zeigen den Weg, der zum absoluten Pazifismus führt, auf dessen Boden ich jetzt stehe.“

Was sich auf den ersten Blick als ein Eingeständnis in das eigene Irren präsentiert, wirft gleichwohl Fragen auf: Wäre seine Kriegslyrik denn weniger kritisch zu bewerten, wenn der Krieg eine andere Wendung genommen hätte oder die Ziele wahrhaftigere gewesen wären? Können die hier angeführten Werke tatsächlich als literarische Belege für seine politische Wandlung gelten? Und: Wie verträgt sich sein Bekenntnis zum „absoluten Pazifismus“ mit seiner Tätigkeit für den Militärnachrichtendienst?

Tatsächlich trat Klabund nicht nur im Sommer 1914, sondern für eine bemerkenswert lange Zeitspanne des Weltkrieges, nämlich vom Kriegsbeginn 1914 bis Mitte 1916, als ein von der verlegerischen Konjunktur beflügelter Produzent kriegsbejahender und propagandistischer Lyrik hervor, worunter einzelne Beispiele für ausgeprägte Hasslyrik auszumachen sind. Ohne Mühe lassen sich die von Jan Philipp Reemtsma für Heinrich von Kleist festgestellten „Wonnen des Unterkomplexen“ auch für Klabund attestieren.“ Der Einwurf, diese Kriegslyrik sei wegen ihrer minderen Qualität als Gebrauchsliteratur von geringerer Relevanz für das Gesamtwerk des Dichters, kann allenfalls im literaturgeschichtlichen Binnendiskurs Geltung beanspruchen. Klabund selbst hat mit dem offenen Bekenntnis zu seinem Gesinnungswandel schon während des Krieges eine dezidiert offensive Strategie verfolgt, die in der späteren wissenschaft­lichen Apologie nur allzu ungeprüft übernommen wurde. Bei einer historisch-bio­grafischen Betrachtung der Person und der Einordnung in das Thema „Literatur und Propaganda“ im Ersten Weltkrieg kann dies angesichts der schieren Textmenge, der Dauer des propagandistischen Engagements sowie aufgrund der teilweise scharfen Tendenz der Texte nicht unberücksichtigt bleiben. Die Frage, ob sich Klabund der Kriegspropaganda nur aus ökonomischem Interesse verschrieben hatte oder ob er aus Überzeugung handelte, blieb in der literaturhistorischen Forschung bislang weitge­hend unberücksichtigt.

Klabund trat, und das ist als zweites Ergebnis festzuhalten, seit Ende 1916 öffentlich als ein zum Pazifisten geläuterter Publizist auf, war aber gleichzeitig als Verbindungs­mann für den militärischen Geheimdienst tätig. In diesem Zusammenhang leugnete er seinem Führungsoffizier gegenüber die Autorschaft für das bis heute zentrale Dokument seines pazifistischen Bekenntnisses, den Offenen Brief an Kaiser Wilhelm. Bei­de Ergebnisse stehen im scharfen Gegensatz zu den einführend zitierten (literatur-) historischen und politisch-moralischen Bewertungen der Persönlichkeit Klabunds. Sie werfen Fragen nach dem Verhältnis von Künstler und Staatsmacht auf, die bis in die jüngste Vergangenheit diskutiert werden. Dabei ist zunächst einmal zu konstatieren, dass eine gegen die damaligen Kriegsgegner gerichtete nachrichtendienstliche Tätigkeit Klabunds an sich noch nicht als verwerflich zu verurteilen ist. Man mag die Politik und Kriegführung des Kaiserreichs im Weltkrieg heute zu Recht als unklug und falsch verwerfen; als ein in seiner Zeit abnormes „Unrechtsregime“ taugt das Kaiserreich allerdings kaum. Somit wird sich auch das nachrichtendienstliche Engagement seiner Bürger schwerlich kriminalisieren lassen.

Anders gestaltet sich aber die Frage nach der moralischen Position des bekennen­den Pazifisten, der den Bund mit der bewaffneten Macht, und noch dazu mit deren konspirativen Institutionen, eingeht. Für einen Schriftsteller stellt sich hier die Frage nach dem Verrat am Leser und nach der Wahrhaftigkeit seiner literarischen Leistung.

Erschienen im http://metropol-verlag.de/archive/pp/zfg/zfg.htm