Zeitschrift „Die Flöte“

Klabund – Die neue Prosa

Den schönsten deutschen Roman um 1900 schrieb Fried­rich Huch mit seinem „Pitt und Fox“. Biedermeierliche Zartheit und groteske Gotik blühen darin. Pitt ist der gute, der entmaterialisierte, Fox der schlechte, materialisierte Deutsche, wie ihn Heinrich Mann später in seinem Unter­tan Diederich Heßling so bitterböse abkonterfeit hat. Eine Abart des Impressionismus ist der Psychologismus, wie ihn etwa Thomas Mann (aus Lübeck, geboren 1875) in seinen ausgezeichneten Romanen und Novellen übt. Er analysiert mit medizinischer Gewissenhaftigkeit die Einzel­seele. Dem Studium der Massenseele gilt neuerdings sei­nes Bruders Heinrich Mann (aus Lübeck, geboren 1871) ernsteste Bemühung. Er ist der Dichter der Demokratie geworden in seinen Romanen: „Die kleine Stadt“, „Die Armen“, „Der Untertan“. – „Die kleine Stadt“, ein italienischer Kleinstadtroman, der schildert, wie eine fahrende Theatertruppe eine kleine Stadt revolutioniert, ist ein Mark­stein in der Geschichte des deutschen Romanes. Sein frü­herer Italienroman, besonders die prachtvolle Trilogie „Die Göttinnen“, zeigen ihn noch ganz als Apologetiker des Übermenschen, des Einzelmenschen, des Anarchisten, der Schönheit, der Kraft und der sinnlichsten Gewalt. Wer, der je der Herzogin von Assy begegnete, könnte sie ver­gessen? Denn sie war ihm Kind, Mutter und Geliebte. Gustav Meyrink (geb. 1868 in Wien) schüttet sein ganzes Wunderhorn ergötzlicher und boshafter Trivialitäten, ältestes und neuestes Gerumpel, über den deutschen Spie­ßer aus, der mit einem leeren Hirn aufdrapiert wie ein Pfingstochse in seinen Geschichten herumwandelt und „Muh“ und „Bäh“ sagt. Von Meyrinks großen Romanen, die allerlei kabbalistische und mystische Weltanschauung propagieren, ist der „Golem“ nennenswert. Peter Altenberg (1859-1918, aus Wien) gewinnt seine amüsante Weltan­schauung vom Cafe Fensterguckerl aus. Hermann Bahr (geb. 1863 in Linz) hat vom Naturalismus bis zum Ex­pressionismus und Katholizismus so ziemlich alle Klas­sen der Literaturschule absolviert und ist überall mit der Note 2-3 versetzt worden.

Über Hermann Hesses (geb. 1877 in Calw) Prosadichtungen könnte als Motto der Vers eines Volksliedes stehen, mit dem er selbst eines seiner Bücher betitelt: „Schön ist die Jugend.“ Seine rührendste Figur: Der arme und doch so reiche Landstreicher Knulp. Wilhelm Schäfer (geb. 1868 zu Ottran) schuf sich in seinen „Anekdoten“ eine eigene Novellenform in Anlehnung an mittelalterliche deutsche und italienische Meister. Sie gehören zu den besten Lei­stungen der Prosa der Gegenwart, die in Jakob Wasser­manns (geb. 1873 in Fürth) Romanen „Das Gänsemänn­chen“ und „Kaspar Hauser“ einen ihrer Meisterfand. Eine reiche Fülle lebendigster Gestalten, eine ganze große und kleine Welt wird aus der Tiefe ans Licht gehoben. Die Prosa der jüngsten Generation, mit Kasimir Edschmid (geb. 1890) und Alfred Dublin beginnend, vermag diesen Leistungen Gleichwertiges an die Seite zu setzen. Edschmids Novellen sind wie in einem Treibhaus gezüchtete Blumen: bizarr, geistreich, gekünstelt, voll wilder, aroma­tischer, zuweilen peinlicher Düfte. Alfred Döblin beschwört in den „Drei Sprüngen des Wang-lun“ einen edlen Rebel­len der Schwäche in der Landschaft eines erträumten Chi­na. Klabund (geb. 1891 in Crossen a. 0.) versuchte im „Moreau“ den Roman eines Soldaten, im „Mohamed“ den Roman eines Propheten, in „Bracke“ den gotischen Ro­man eines Eulenspiegels zu gestalten. Andreas Latzko’s (geb. 1876 in Budapest) „Menschen im Krieg“ und Leon­hard Frank’s (geb. 1882 in Würzburg) „Der Mensch ist gut“ haben ihr Bestes geleistet in der Revolutionierung der Geister, in welcher aber ein kritischer Geist wie Karl Kraus (geb. 1874 in Gitschin) seit Jahren schon viel tiefe­ren Anteil hatte mit seiner „Fackel“. Sie sind zeitgeschicht­lich von großer Bedeutung. Ihr dichterischer Wert ist weit geringer. Der Mensch ist nicht gut, sondern er will gut werden. Der Moment der Entwicklung ist das Entschei­dende. Schon Herzeloide erzog ihren Sohn Parsival in der Waldeseinsamkeit, damit er von dem Welt- und Kriegs­getümmel bewahrt sei. Aber alle Abgeschlossenheit half nichts. Ein jeder trägt ja den Feind in der eigenen Brust. Gegen ihn heißt’s kämpfen. Man muß sich selbst aufs Haupt schlagen. Gott und du: das sollen nur Synonyme sein. Epitheta ornantia des Einen. Du mußt den Heimweg finden: heim zu dir. Auf diesem Heimweg durch die Dun­kelheit stehen die Dichter an den Meilensteinen wie Fackelträger. Von Fackel zu Fackel tastest du dich vorwärts: zum Morgenrot, bis Gottes Herz einst über den Bergen aufgeht. Menschen- und Gottesauge werden ineinander er­trinken, und wird nur ein Licht und eine Liebe sein …

(aus: Die Flöte 2, 1919/20)

Zeitschrift „Die Flöte“ Untertitel: Dramaturgische Blätter des Herzoglich Sächsischen Hoftheaters Coburg-Gotha, Monatsschrift der Gesellschaft für Literatur und Musik in Coburg; ab Jg. 2 mit dem Untertitel: Monatsschrift für neue Dichtung Verlag/Ort: Rossteutscher, Coburg; ab Jg. 3: Grunow, Leipzig Erscheinungszeitraum: 1918-1922 Herausgeber: Carl Stang (Jg. 1-2); Julius Kühn (Jg. 1-2); Hanns Martin Elster (Jg. 3- 4) Erscheinungsverlauf: 1.1918/19 – 4.1921/22