Rund um mein Elternhaus

Erinnerungen von Rudolf Zeidler

Crossener Heimatgrüße September 1965/9

Dabei mache ich zunächst einen Sprung über die alte Roßstr. Etwa gegenüber vom Weinschank Jänisch nach der ehemaligen Schloss- uns späteren Schaedestr. Zu jenem schönen und historischen Hause. In dem die kgl. privilegierte Adler Apotheke unseres späteren verdienten Ehrenbürgers Dr. Alfred Henschke untergebracht war. Historisch war dieses Haus deshalb, weil in ihm unser großer Sohn Alfred Henschke-Klabund seine Jugendjahre ver­bracht hat.

Ob er auch in diesem Haus geboren ist. Möchte ich bezweifeln, weil sein aus Frankfurt an der Oder zugewanderter Vater an­fangs In der Dammstraße, und zwar im Hause des Fleischermei­sters Büttner, vormals Eisenhändler Jopke, seine Apotheke hatte. Klabund war fast ein Altersgenosse von mir – er 90er und ich 93er Jahr­gang, aber dennoch nur wenig mehr als zwei Jahre im Alter auseinan­der. Ich erinnere mich deutlich an ein Kindheitserlebnis, als ich in Henschkes es Wohnung an einem Ma­rionettentheater, deren Figuren ich zum Zeichen, dass sie sprachen, an dünnen Drähten von oben her beweg­te, während der junge Henschke mit geradezu dramaturgischem Können die Texte vorlas.

Das schöne Bürgerhaus der Adler-Apotheke wird mir unvergessen bleiben. Der breit ausladende über dem Eingang liegende und von dicht wucherndem wilden Wein beschattete Balkon gab den Blick nicht frei auf den Tisch, an dem die im Gegensatz zu ihrem Manne fast menschenscheue Gattin des Apothekers und Mutter Klabunds lesend saß. Sie ging wie ein scheues Reh durch die Straßen der Stadt, während ihr Mann sich mitten im pulsierenden Leben erst richtig wohlfühlte.

Ich erinnere mich noch deutlich daran, als ich mit dem aus Bayern stammenden Kunstmaler Richard Graef, verheiratet mit einer Tochter des Leipziger Stadtbaudirektors Hu­go Licht, vor dem Eckfenster der Adler-Apotheke stand, wobei mich Graef darauf aufmerksam machte, dass es doch höchste Zelt sei, den Charakterkopf des an seinem Steh­pulte arbeitenden weißhaarigen Dr. Henschke im Bilde festzuhalten. Ich griff den Gedanken sofort auf und bat den Künstler Graef, seinen Skizzenblock zur Hand zu nehmen, um eine Arbeit zu beginnen, die wohl leider nie vollendet worden Ist,

Unser volkstümlicher Landsmann Beigeordneter Dr. Henschke, der im 1. Weltkriege „nebenbei“ die Ge­schicke der Stadt leitete, war mit Ehrenämtern überhäuft. Ich will nur erwähnen, dass er Branddirektor der Freiwilligen Feuerwehr, Komman­deur der Schützengilde, Meister vom Stuhl der Loge „Zur festen Burg“ und vieles andere war.

Dieser kluge und vielseitige Mann besaß so viele Erfahrungen auf medi­zinischem Gebiet, dass er von unseren Bauern als „dar Dukter“ im Sinne eines Arztes angesehen wurde. Soweit er es vor seinem Gewissen als Apo­theker verantworten konnte, wusste er den Bauern auch ohne ärztliche Konsultation die rechte Medizin zu verabreichen oder zumindest Verhal­tungsmaßregeln zu erteilen, wenn diese die Ausgaben für den Arzt sparen wollten. Er konnte dabei, wo es ihm angebracht schien, den Bau­ern In der gleichen Sprache antwor­ten, wie sie ihn gefragt hatten. So hörte ich einmal zu, wie er einer Bauernfrau riet, wegen ihrer kran­ken „Ouhren“ doch besser „bei Hümmlern“ (Facharzt für Hals, Ha­sen und Ohren) zu gehen. Dr. Rumm­ler war ein Vertriebener des 1. Weltkrieges, er kam aus der Stadt Posen und fand, obwohl er ein guter Facharzt war, in dem kleinen Crossen anfangs nur ein sehr geringes Betätigungsleid, so dass er sich sogar zeitweilig als Operations-Assistenzarzt bei dem viel jüngeren Kollegen Dr. Eduard Martens, dem vortreff­lichen Chefarzt unseres Kreiskrankenhauses, betätigte.

Dr. Rummler war ein sehr humorvoller Mann, der auf seltsame Weise aus dem Leben scheiden musste. Auf einer Taxenfahrt nach Messow stieß er beim Überqueren eines Schlagloches derart hef­tig mit seinem Kopf an die Decke des Autos, dass er infolge einer Thrombose sofort verschied.

Doch noch einmal zurück zu Dr. Henschke. Wie er, unterstützt von seinen Provisoren Gerhard Maue und Erich Meissner, um nur einige bekannte Landsleute zu nennen, den Bauern gute Ratschläge und Medizin geben vermochte, so wurde „dar Dukter“ auch für das kranke Vieh viel zu Rate gezogen. In vielen Fällen wusste er auch hier immer die richtige Medizin zu verabreichen. Und welch köstlicher Humor zeichnete auch diesen prächtigen Menschen aus! Sein einziger Duzfreund in Crossen war mein Vater. Übrigens sein Nachbar in der damaligen Schloss-und späteren Schaedestraße war anfangs der Kürschner Meister Nickel, dessen Nachfolger der Schuhmachermeister August Böhme wurde. „Aujust“ muss wohl ein Schulfreund seines Nachbarn Dr. Henschke ge­wesen sein, denn er begrüßte ihn morgens betont laut und durchdrin­gend mit „Jut’n Morjen, Alfred!“ Es sprach für den Humor Dr. Henschkes, dass er mit nicht minder kräftiger Lautstärke mit „Guten Morgen, August“ den Gruß erwi­derte. Doch August Böhme war trotz seines mitunter recht losen Mund­werks ein guter Meister seines Handwerks, besonders in der Maßar­beit für die guten „Ausgehschuhe“ der Herren- und Damenwelt.