Marietta – Ein kleiner Liebesroman aus Schwabing

 Liebesroman hin oder her, auch die Geschichte der Marietta di Monaco gehört in die Sparte „Klamauk“ oder „Kabarett“. Und „Marietta“ ist ein wichtiger Bestandteil dieser Episode.

MARIETTA

Klein. Schmale, bizarre Person.

Toujours: En route pour le scandal Stemel. Das ist sie seit einem halben Jahrhundert: Den Tanz getanzt gleich Nietzsches Mistral: „Zwischen Heiligen und Huren, zwischen Gott und Welt!“

Immer ganz deutlich diese Fähigkeit zur Hingabe. An was auch immer. Hingabe. Par excellence. Hingabe an Himmel und Laster. Tant pis! Masqui! Was wollen Sie? Vielleicht ein mittelalterlicher Mensch? Aus der Zeit, als man noch „lebte“? Ihr Seinshimmel von zwei Dominanten gestirnt: Gott und Alkohol. Teils verschleiert, diese Sterne, gehen sie nun langsam in Reinschrift… Und ganz nebenbei:

Sie hat weder Arabeske noch Attitüde für die Wege ums Goldene
Kalb. Den Sologötzen moralisierender Bourgeois.
Sie liebt das Leben, und das Leben liebt sie wieder.
Ich habe sie unter Denkmalschutz gestellt.
Gewissermaßen.

Mauritius

Aus Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek

Am Freitag den 10. März 1893 wird in der Gebäranstalt an der Sonnenstraße in München Maria Kirndörfer als uneheliches Kind geboren und lernt ihre Mutter erst im Alter von drei Jahren kennen. Sie wächst bei Pflegeeltern auf, besucht eine Klosterschule der „Englischen Fräulein in Burghausen“ und bricht aus dieser „heilen“ oder „unheilen“ Welt nach der Schulzeit aus. Sie geht nach München, arbeitet als Kellnerin und wird Modell der Maler der Kunstakademie München. Eher zufällig wird sie 1913 für die Bühne entdeckt.

„Diese zierliche Kleine müsste einmal auf dem Podium stehen“ soll 1913 ein Unbekannter im „Simpl“ gesagt haben.

Wikipedia:

„… In der Folgezeit tritt sie als Vortragskünstlerin und Tänzerin im „Simpl“, „Schwabinger Brettl“, der „Katakombe“ und der „Seerose“ in München auf, aber auch in Berlin oder Paris.“

Und Wikipedia bezeichnet sie als „eine deutsche Kabarettistin, Lyrikerin, Diseuse, Tänzerin und Dichtermuse“. Da nennt sie sich allerdings nicht mehr Maria Kirndörfer … viel besser klingt Marietta di Monaco.

Im Winter 1912/13 lernt sie Klabund kennen. Guido von Kaulla schreibt:

„Damals war sie beim Fasching sein kleiner „Page Floriot“, und das erst im Korrekturabzug des „Heißen Herzens“ (1922) in der Überschrift aus „Marietta“ zu „Musette“ geänderte Gedicht ist eines jener Zeit: Wenn dein Mund / liegt an meiner Scham“, das endet: „So süßer Träume schwer. / Genug / Weiß ich dann von der Welt und will nichts wissen mehr.“

Schummelt Kurt Wafner nicht ein wenig, was die Liebschaften von Fredi angeht, wenn er schreibt?:

„ … Von den vielen Liebschaften des Poeten sind nur wenige bekannt. Eine von ihnen ist Marietta. Sie stand wie er auf dem Podium des Simpl und sang mehr oder weniger schlüpfrige Lieder. Sie hatte wohl Klabund so sehr entflammt, dass er ihr gleich zweimal ein Produkt seiner Poesie widmete: In „Marietta. Ein Liebesroman aus Schwabing“ nennt er sie „eine polnische Prinzessin, hübsch, aber schlampig.“

Seine beiden „Kumpel“ Carl Christian Decke („Bry“) und Hans Leibold studieren an anderen Universitäten,Aber Marietta – eben einundzwanzig geworden (1914) – ist gerade von einem langen Paris-Aufenthalt zurückgekommen“, schreibt Guido von Kaulla.

Und weiter:

„… Jetzt also sind Marietta und Alfred Henschke, der sie rücksichtsvoll stets nur mit geschlossenen Lippen küßt, beieinander: „Du und ich und dies und das / Unter Buchen auf dem Moose – / Eine kleine weiße Rose / Nahmst du aus dem Wasserglas.“

Im Kabarett „Zum roten Strich“ im Lokal „Bunter Vogel“ treten beide gemeinsam auf. Guido von Kaulla:

„… führt sogar zu einer Kolle­genschaft auf dem Podium: Fredi zeichnet sich durch prächtig einen balkanischen Prinzen charakterisierende Stegreifverse bei einem Puppenspiel aus. Diese Arbeit bringt ihn auch wieder intensiver an Kabarettdinge heran. Im Juni entsteht in unzäh­ligen Sitzungen mit dem Kapellmeister und Komponisten Dr. Ralph Benatzky in dessen Gräfelfinger Wohnung in gemein­samer Arbeit die Versposse „Der rote Fadem – ohne Musik“ -! Und Benatzky komponiert eine Reihe von Fredis deutschen und französischen Chansons.“

Aus Wikipedia:

„… 1916 gehört Marietta zur Gründungsgruppe des „Cabaret Voltaire“ in Zürich, das als Wiege des Dadaismus gilt. Am 31. Mai 1916 führt sie dort zusammen mit Hans Arp, Hugo Ball, Emmy Hennings, Marcel Janco und Tristan Tzara das aufsehenerregende dadaistische Werk „Simultan Krippenspiel“ von Hugo Ball auf. Auch Hugo Ball als einer der wichtigsten Vertreter der in Fortführung des Expressionismus entwickelten avantgardistischen Kunst- und Literaturbewegung des Dadaismus bewegte sich wie Marietta zuvor in der Schwabinger Künstlerkolonie rund ums Simpl, wo bereits 1914 und damit das erste Mal in der Literaturgeschichte in einem von ihm und Klabund gemeinsam verfassten, von Marietta di Monaco vorgetragenen Gedicht der Begriff ‚Dada‘ auftaucht.“

Vollends zur Dichtermuse und damit auch berühmt wird Marietta durch ihre engen Freundschaften mit Dichtern wie Joachim Ringelnatz, Frank Wedekind, Fred Endrikat und eben Klabund, deren Werke sie auf der Bühne rezitiert.

Das mit dem Malermodell ist schon angeklungen – 1916 malte in Zürich einer der bekanntesten Maler der „Neuen Sachlichkeit“, Christian Schad, ein Porträt von Marietta in Öl auf Leinwand das heute in der Christian Schad Stiftung in Aschaffenburg zu sehen ist.

„Marietta. Ein kleiner Liebesroman“ erscheint 1920 im Verlag Steegmann in Hannover und die Presse titelt danach über sie als „Muse Schwabylons“ bis zur „Königin der Schwabinger Bohème“ – sie ist berühmt.

Die Nazis kommen an die Macht, eine Weile schaut sie kritisch zu, 1936 emigriert Marietta nach Frankreich, nach drei Jahren aber kehrt sie nach Deutschland zurück.

Im Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek unter:

https://www.literaturportal-bayern.de/autorinnen-autoren?task=lpbauthor.default&pnd=106706950

Fand ich zu ihrer Biographie die folgenden Zeilen (Auszüge):

„… In München entwickelt sich Marietta di Monaco in kurzer Zeit zu einer jungen abenteuerlustigen Bohemiènne. In der legendären Kabarettkneipe Simplicissimus von Kathi Kobus in der Türkenstraße 57, wagt sie sich 1913 erstmals auf die Bühne und wird begeistert aufgenommen. Marietta di Monacos eigenwilliger Vortragsstil findet großen Beifall. Im „Simpl“ trifft sich alles, was in Münchner Bohème-Kreisen Rang und Namen hat, darunter Frank Wedekind, Joachim Ringelnatz, Erich Mühsam, Klabund, Emmy Hennings, Hugo Ball. Marietta die Monaco ist bald mit vielen von ihnen eng befreundet. Sie wird die Muse und Geliebte des Dichters Klabund, der ihr den Künstlernamen Marietta gibt und 1914 den Roman „Marietta. Ein Liebesroman aus Schwabing“ für sie verfasst, der 1920 erscheint.

(…) Marietta di Monaco wird eine Berühmtheit. Mit ihrer unverwechselbaren rauchig-rauhen Stimme trägt sie auf der Bühne Gedichte von Tucholsky, Mühsam und Ringelnatz vor, legendär ist auch ihre selbst verfasste Ganghofer-Parodie. Mit ihrem Repertoire reist sie nach Rom, Südfrankreich und Paris. In Zürich, wo sich während des Ersten Weltkrieges zahlreiche Exilanten versammeln, tritt sie 1916 in Hugo Balls Cabaret Voltaire in der Spiegelgasse 14 auf. Marietta di Monaco ist häufig unterwegs: Zürich, Basel, Paris, Berlin, Locarno, Ascona, Sanary sind die Stationen, die in ihrem Buch „Ich kam – ich geh. Reisebilder, Erinnerungen, Porträts“ (1962) beschreibt.

Bis ins hohe Alter steht sie auf der Bühne des Kabaretts Katakombe, in der Schwabinger Laterne oder im Lohengrin, wo sie regelmäßig den „Revoluzzer“ von Erich Mühsam vorträgt. 1962 wird sie mit dem Schwabinger Kunstpreis geehrt. Zu ihrem 80. Geburtstag gratuliert Oberbürgermeister Georg Kronawitter der „Königin der Bohème“ und überreicht einen Geschenkkorb. Marietta di Monaco stirbt am 19. Januar 1981 in einem Altenheim in Schwabing.“

Biographie und Ehrungen 

Aus Wikipedia:

„… An ihrem 65. Geburtstag ehrt der Schriftsteller Peter Paul Althaus Marietta mit einer Rede.

1962 veröffentlicht Marietta di Monaco, die zuvor bereits als Lyrikerin und für das Kabarett schriftstellerisch tätig war, (das Buch) „Reisebilder, Erinnerungen, Porträts“ unter dem auf ein Gedicht ihres frühverstorbenen Freundes Klabund anspielenden Titel „Ich kam – ich geh“.

Erst 1964 – 51 Jahre nach ihrem Debüt – wird ihre einmalige Vortragskunst im Rahmen einer Reihe mit privaten Document-Aufnahmen „Schwabinger Kleinkunst-Kostbarkeiten“ erstmals für eine Schallplatte aufgezeichnet. Marietta spricht hierfür Texte von Wilhelm Busch und ihren einstmaligen Weggefährten Endrikat und Ringelnatz.“

Und sie selber schreibt: 

Eine Autobiographie

Manchmal weine ich keine Tränen.
Ich berausche mich täglich.
Gerne mache ich sündige Spiele.
Ich bin ein Knäuel von Sinnlichkeit.
Mein Kopf wird herumgeworfen.
Meine guten Gefühle werden von brutalen Händen erdrückt.
Ich schiele.
Ich rezitiere lyrische Anthologie.
Nachts tanze und schreie ich durch die Straßen.
Mein Mund ist ein Strich.
Meine Augen sind manchmal groß und leuchtend.
Mein Nacken ist ausrasiert.
Ich habe schlanke Beine.
Jeder Briefträger ist mein Vater.
In meinen Haaren beseitigt man den Schweiß der Hände –
Aber in der Sonne sind sie fließendes Gold.
Ich bin Marietta.

München, Frühling 1913 

Die erstmals im „Süddeutschen Verlag – München“ erschienenen „Reisebilder – Erinnerungen – Portraits“ von Marietta die Monaco aus dem Jahre 1912 veröffentlichte der Allitera Verlag 2002, (ISB 978-3-93587-744-2).

Informationen über das Buch und den Verlag unter: www.allitera.de

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages füge ich das Kapitel über Klabund ein – ein sehr unterhaltsames Kapitel!

Marietta di Monaco 

Ich kam – ich geh – Reisebilder – Erinnerungen – Portraits 

(Zürich 1916)

Klabund 

Es war in München und Frühling.
Die Zeit rechnete mit dem Jahre 1914.
Für Theater, Literatur und Kunstgeschichte dozierte Professor Dr. Arthur Kutscher an der Universität.

Viele originelle Persönlichkeiten entpuppten sich unter seiner geistigen Führung.

Alfred Henschke befand sich unter den Seminaristen. Er stammte aus Crossen an der Oder. Erste Gedichte schrieb er auf Telegrammformulare. Er schickte sie an die Zeitschrift „Pan“. Alfred Kerr ermunterte den jungen Dichter. Theodor Etzel war Herausgeber der „Lese“. Er saß mit Henschke im Simplicissimus. Marietta rezitierte dort und wurde vorgestellt. Der junge Mann hätte Gedichte zum Abschreiben auf der Schreibmaschine.

Ob Marietta das machen wolle, denn für ein solides, perfektes Tippfräulein wären die Texte zu frei.

Das wollte sie, denn sie war auf Bechers Veranlassung Privat­sekretärin im Verlag Bachmayr.

Tags darauf sollte sie die Gedichte abholen: Kaulbachstraße 68, im Gartenhaus parterre. Das tat sie.

„Die Gedichte sind von Klabund“, sagte der junge Mann und las ihr einige vor. — Ob sie ihr gefielen?

„Ich verreise für drei Wochen. Wenn Sie fertig sind, liefern Sie
die Manuskripte in der Ungererstraße ab, auf Nummer 5 im
dritten Stock bei Doktor Groth.
Dort werden sie dann von Klabund abgeholt.“
Der junge Mann verließ mit Marietta das Haus.
Die Sonne schien.

Sie erreichten die Höhe der Veterinärstraße und gingen dem Gesicht der Universität entgegen.

An der Fontäne sagte Marietta: „Glaube, Hoffnung und liebe nennen die Münchner diese drei Bauten. Glaube wird das Georgianum mit den jungen Theologiestudenten genannt, als Hoff­nung bezeichnet man die Universität — und das Mädcheninstitut an der rechten Ecke nennt man „Die Liebe“.“ Dort stand eine Blumenfrau. Der junge Mann kaufte einen Nelkenstrauß. „Ich glaube schon sehr stark, daß Sie selber der Klabund sind“, sagte Marietta. „Warum meinen Sie das?“ „Sie sehen ganz so aus.“

„Nein, der Klabund bin ich nicht. Ich heiße Alfred Henschke. Der Klabund wohnt am Ammersee. Ich werde ihn dort besuchen.“ Beim Siegestor verabschiedete sich der junge Mann und über­reichte Marietta seinen Nelkenstrauß.

Der Verleger Franziskus Seraphus Bachmayr war auf dem Inter­nationalen Verlegerkongreß in Budapest. Johannes R. Becher saß als Lektor im Verlag. Marietta kam und setzte sich mit den Gedichten ins Neben­zimmer.

Becher erschien. „Was tust du hier?“ „Gedichte abschreiben — von Klabund.“ Das war Becher nicht recht.

Tags darauf ließ er den Schlüssel nicht bei der Nachbarin. Marietta ging in den Hof.

Das kleinste Fenster der Verlagswohnung stand offen. Ein alter Schneebesen fand sich in der Nähe.

Auf ihn gestützt, erkletterte sie den Mauerabsatz zum Hoch­parterre.

Von hier aus erreichte sie den Fensterrahmen, um sich mit den Händen festzuhalten.

So schwang sie sich in die Höhe und — es gelang: der zierliche Körper preßte sich durch das schmale Fensterchen.

Sie war im Verlag.

Marietta setzte sich an die Schreibmaschine. Becher kam und brachte Dorka mit.

Mit ihr schloß er sich mehrere Tage und Nächte ein, erlebte ein Liebesdrama und schrieb seine erste Novelle: „Das Verhältnis“. „Die neue Kunst“ nannte sich die feudale Zeitschrift, die es druckte.

Marietta machte in der Eile nicht nur Tippfehler, sondern ver­wehte in ihrer Phantasie auch den Sinn mancher Textzeilen. Immerhin: Das Manuskript wurde fertig: „Morgenrot! — Kla­bund! — Die Tage dämmern!“ Marietta lieferte es ab.

Becher sagte dann in einem späteren Gedicht an Marietta:

… „Die der Schwindsuchtsdichter leise streifte …
… Und Engel schütten dir den Schoß voll roter Marmeln“ …

Drei Wochen waren vergangen. Marietta kam ins Cafe Stefanie.

Nahe rechts beim Eingang saßen Hugo Ball, Hans Harbeck und

Alfred Henschke.

Die Begrüßung war heiter.

„Darf ich dir Klabund vorstellen?“ fragte Hugo Ball. „Den kenne ich schon seit drei Wochen.“ Man lachte hellauf.

Woher wohl das Pseudonym käme — wollte der Philologe Dr. Hans Harbeck wissen.

„Bei uns haben die Kinder einen Klabautermann — und Dichter hält man sowieso für Vagabunden. Aus der Anfangs- und End­silbe beider Wörter habe ich meinen Namen gebildet“, sagte Klabund.

Man unterhielt sich über Anagramme: Jakob Davidsohn hatte durch Umstellung seiner Namensbuchstaben das Pseudonym „Jakob van Hoddis“ gefunden.

Von der Bezeichnung „Decamerone“ meinte Klabund: sie sei entstanden aus „Cento novelle de amore“. C ist gleich Hundert, von novelle sind nur der Anfangs- und Endbuchstabe genommen, und de amore steht vollständig da. Man braucht nur zwei Buch­staben umzustellen.

Hugo Ball, Marietta und Klabund trafen sich häufig. Sie machten Scherzgedichte zu dreien, welche man als Vorläufer des Dadais­mus bezeichnen könnte. Kaum waren sie allein im Cafe Stefanie oder auch nach dem Abendessen im Garten der Max-Emanuel-Brauerei, holten sie ihre Bleistifte hervor, um gemeinsame Verse aufs Papier zu fechten. Dazu erfanden sie ein Pseudonym und sagten, es wären Gedichte von „Klarinetta Klaball“. Eines dieser Gedichte lautete:

„Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an!
Und halt ihn fest mit deinem ganzen Herzen,
Denn wer ihn nicht mehr halten kann,
Der kann ihn auch verschmerzen.
Verschmerzen kann er ihn jedoch
Bei Pommern und in Pasing.
Man fing ihn ein bei Biberoch
Bei Velhagen und Klasing.“

Der erste Gedichtband Klabunds war bei Erich Reiss im Druck erschienen.

In der Torggelstube am Münchner Platzl befand sich die histo­rische Kegelbahn von Max Halbe.

Wenn auch nicht gerade von allen Anwesenden gekegelt wurde, so waren doch die meisten namhaften Autoren dieser Zeit ein­mal dort zu Gast gewesen.

So fügte es sich, daß auch der junge Dichter Klabund dort ein­geführt wurde, der sich als Kutscherseminarist Alfred Henschke vorstellen ließ.

Nach der Kegelbahn wurden literarische Neuerscheinungen besprochen.

Diesmal hatte Klabund seiner freien Texte wegen Aufsehen erregt.

Er wurde an diesem Abend zum Gesprächsmittelpunkt:

Klabund bemerkte eines Abends:

„Das Geld allein, die Reichen haben“s,
Indem er ein Cafe durcheilte,
Sich an Absinth und Weibern geilte“ …

Max Halbe, Alfred Henschke und einige andere Herren befanden sich bereits in der Ludwigstraße auf dem Nachhauseweg. Trotzdem auch Frank Wedekind als Intimus von Max Halbe gelten konnte, wollte der Verfasser der »Jugend« doch nicht eine allzu freie Sprache anerkennen und griff den jungen Lyriker wiederholt an.

Einige Male wagte der Student Henschke, Einwände zu machen. Das aber empörte Max Halbe, und schließlich sagte er wütend: „Schweigen Sie, junger Mann, Sie sind ja noch ein ganz grüner Junge!“

Henschke schwieg wirklich.

Als man sich aber später beim Siegestor verabschiedete, sagte er zu Max Halbe: „Entschuldigen Sie, bitte, Herr Doktor, wenn ich Sie durch meine Einwände erzürnt habe; ich wagte nur mitzu­reden, weil ich nämlich selber Klabund bin.“

Im „Bunten Vogel“ spielte man einen Abend lang Kabarett. Ernst Moritz Engert hatte das Plakat gemalt. „Der rote Strich.“ Emmy Hennings sang Lieder von Aristide Bruant, in der Über­setzung von Ferdinand Hardekopf:

… Die Krankheit schien mir’s gar nicht wert,
Doch ist’s die wahre.
Jetzt haben sie mich eingesperrt
In Saint Lazare..

Schweigend saßen Klabund und Marietta im Zuschauerraum. Marietta war 1913 in Paris gewesen.

Viele ihrer starken Eindrücke hatte sie Klabund mitgeteilt auf den gemeinsamen nächtlichen Heimwegen durch die Pappelallee der Leopoldstraße. Mancher Nelkenstrauß war inzwischen verwelkt. Heute standen auf dem Tisch weiße Rosen. Klabund notierte ein Gedicht:

Marietta 

„Kabarett zum roten Strich,
Leise flog der bunte Vogel
Über Busch und über Kogel
Unabänderlich.

Du und ich — und dies und das
Unter Blumen auf dem Moose
Eine kleine weiße Rose
Nahmst du aus dem Wasserglas.

Einmal fand ich deinen Schenkel,
Kleine Rose milder Gier,
Große Mutter warst du mir,
Und ich war dir wie ein Enkel.
Dreizehn Jahre alt und jung,
Als wie wenn ich sterben müßte,
Nebel und Erinnerung,
Fiel ich zwischen deine Brüste.“

Später fanden sich die Verse in einem Gedichtband von Klabund: „Die Himmelsleiter.“

Der Sommer kam — und mit ihm die Hundstage. Der heiße August brachte den Krieg.

Die gewissenhaften Jungen aus dem Cafe Stefanie schwiegen oder schwankten zwischen vaterländischer Heldenromantik und Dostojewskischem Christentum.

Klabund dichtete ein Lustspiel: „Kleines Kaliber“, welches in den Münchner Kammerspielen aufgeführt wurde. Von drei Akten spielte der erste in England, der zweite in Frankreich und der dritte in Rußland.

In Erinnerung sind mir noch Verse aus einem Lied im dritten Akt:

 Väterchen braucht die Kosaken zu Attacken,
Schabernacken.
Hei! Wir woll’n dem Feind es gönnen,
Wie Kosaken fiedeln können.
Tie — ie-i — ie.

Väterchen braucht seine Reiter als Begleiter
Und so weiter.
Seiner Generäle Huren,
Welche in Karossen fuhren.
Fie — ie-i — ie.

Anschließend an die Erstaufführung wurde im „Bunten Vogel“ heftig über das Lustspiel debattiert, und jeder der anwesenden Kutscherseminaristen bemühte sich, irgend etwas Interessantes an dem Stück zu finden. Marietta aber schwieg. Plötzlich sagte Klabund: „Marietta hat ja überhaupt noch nichts gesprochen. Was sagt denn Marietta zu dem Stück?“ — Und Marietta antwortete: „Was soll ich sagen? — Klabund! — Du sagst es ja selber: Kleines Kaliber!“ Man staunte, lachte, und manche meinten: Das wäre die beste Kritik des Abends.

Noch aber war die Begeisterung nicht zu Ende. Klabund meldete sich als Kriegsfreiwilliger; aber der Stabsarzt schickte ihn nach Hause; denn Klabund hatte damals schon Kehlkopf tuberkulöse.

Das Cabaret Voltaire entstand im Mai 1915 in der Meierei des Holländerstübli in Zürich.

Diesmal entpuppte sich Klabund als Hausdichter:

Zuweilen in der Meierei,
Da trifft man Menschen eins und zwei,
Der Tische Decken sind kariert
Und auch die Reden, die man führt.

Die Lampen glotzen grün und rot,
Ein alter Herr frißt Butterbrot,
Ein junger kitzelt seine Magd,
Die ihren Sonntagsausgang wagt.

Die Emmy singt, Marietta spricht,
Zuweilen ist es ein Gedicht.
Ball spielt den Typerarymarsch
Und kratzt sich den Poetenarsch.
Ein deutscher Dichter singt Französisch,
Rumänisch klingt an Siamesisch.
Es blüht die Kunst. Hallelujahl
’s war auch schon mal ein Schweizer da.

Klabund kam wiederholt nach Davos.

Dort fand er Irene.

In Locarno starb seine Jungvermählte am Kindbettfieber.

Sie nahm den Klabundschen Sprößling mit ins Jenseits.

An der südlichen Friedhofsmauer von Ascona warf man ihr einen Grabhügel auf, ihr, durch die Klabund mit seinen „Liedern an Irene“ den Lorbeer der Unsterblichkeit errang.

Bei Schwanecke in der Rankestraße von Berlin zeigte Marietta ihren neuen Reisepaß dem Dichter Klabund. „Mit so vielen leeren Seiten im Paß könnte man auf eine Welt­reise gehen. — Schau, Klabund, wie viele Visas hier Platz haben!“ Die Pforte nach Frankreich war den Deutschen nach dem ersten Weltkrieg noch verschlossen.

„So möchte ich in die Südschweiz und reise zu meinem dreißigsten Geburtstag nach Zürich.“

„Ich komme nach. — Auf Wiedersehn, Marietta!“ „Leb wohl, Klabund!“

Zehn Monate verbrachte Marietta in Ascona. Anfang Dezember kam ein italienisches Visum in ihren Reisepaß. Kurz vor der Grenze von Chiasso legte sie diesen zurecht, dachte an Klabund und ließ die leeren Seiten fächerartig am Daumen der rechten Hand vorübergleiten.

Da wirbelte durch die Luft ein großer, weißer Schmetterling: Ein Zettelchen war’s. — Woher kam es? — Durchs Fenster? — Es fiel ihr in den Schoß. — Sie nahm es auf — und las:

Ich kam — ich geh.
Wo — hin — wo — her?
Ich fall – ich steh.
Viel — leicht — viel — schwer.

Ich steh — ich fall,
Ich werde sein. Ich bin ein All,
Doch auch all-ein.
Für Marietta auf die Reise:

Klabund mußte es beim Abschied heimlich zwischen die leeren Seiten des Passes gelegt haben. Über die italienische Riviera, von Ospedaletti bei San Remo über Rom, München und Berlin kam Marietta Ende Oktober 1925 nach Südfrankreich und befand sich im Jahre 1928 in Cassis. Oft wanderte sie mit einem kriegsverletzten schottländischen Künstler durch die Pinienwälder hinüber nach Laciotta. Dort begegneten ihr eines Abends zwei deutsche Maler in einer Bar und berichteten über Klabunds Heimgang in die ewigen Ge­filde, nach Vollendung seines 37. Lebensjahres. Sie überreichten ihr eine Schweizer Illustrierte, die zum Nachruf ein bis dahin unveröffentlichtes Gedicht mit dem Autogramm des Dichters abdruckte:

Solang wir noch im Licht sind,
Wir werfen Schatten weit.
Erst wenn wir einmal nicht sind.
Sind wir vom Joch befreit.

Solang wir auf der Welt sind,
Es wechselt Nacht und Schein,
Erst wenn wir ganz erhellt sind,
Wird ewig Sonne sein.

Die Freundschaft zwischen Marietta und Klabund dauerte bis zu Klabunds Tod, Guido von Kaulla schreibt:

„…Führt der Zufall später Marietta und Fredi immer wieder einmal zusammen, schätzen sie sich als noble Gefährten. Sei es auch nur, daß er ihr im Fasching 1915 – erstmals waren in Europa Pässe notwendig geworden! – den Paß für ihre Zürich­reise stiftet – oder sei es, daß er ihr im Nachkriegsberlin heim­lich die Verse des „Armen Kaspar“ bei der Visum-Seite in den Paß legt, so daß Marietta sie auf ihrer Italienreise an der Grenze beim Aufblättern als Gruß vorfinden muß.“

Am 19. Januar 1981 stirbt Marietta di Monaco in einem Altenheim in München. Sie ist im alten Teil des Münchener Waldfriedhofs im Grab Nr. 222-3-171 beerdigt.