Klabunds Karussell

Schwänke von Klabund

Erschienen im Erich Reiß-Verlag Berlin 1914

O es fällt ein trüber Regen,
Und verweinte Winde wehn.
Nein, – ich will ins Bett mich legen
Und nach meinen Puppen sehn.

Spielend form ich aus den Kissen
Weiße, brennende Figuren,
Welche mir gehorchen müssen:
Kinder, junge Herrn und Huren.

Tapioka

Tapioka ging, die Hände in den Hosentaschen, durch das Leben, blieb mal stehen, besah sich dies und das, aber im ganzen kam doch nichts dabei heraus. Er fühlte keine Langeweile, aber auch keine Lust, keine Liebe, keinen Schmerz. Eines Tages, es mochte um Pfingsten sein, stieß er, indem er um eine Ecke bog, an einen Hutkarton, der von einem jener blassen Mädchen transpor­tiert wurde, die im beginnenden Frühling selbst Greise in entzückte Schwin­gungen versetzen. Er lüftete seinen Hut, plötzlich war man im Gespräch und Tapioka dachte, woran er noch nie gedacht, es einmal mit der Ehe zu versu­chen. Denn um sie zu seiner Geliebten zu machen, dazu war Tapioka zu faul. Er hätte sie erobern müssen. Tapioka heiratete das blasse Geschöpf. Er wun­derte sich, wie wenig ihn der neue Zustand berührte und begab sich wieder, die Hände in den Hosentaschen, auf seinen gewohnten Weg. Das ging so sieben Monate. Im siebenten Monat nach der Hochzeit erschien ein kleines, zweiein­halb Pfund schweres Wesen, welches man sofort ganz und gar in Watte packte, denn es brachte seine eigene Körperwärme nicht mal auf. Als Tapioka fragte, was das zu bedeuten habe, erwiderte der Arzt: ,Es ist Ihr Sohn.“ Zum ersten Mal in seinem Dasein begriff Tapioka, was es mit dem Leben überhaupt und insonderheit dem seinen auf sich habe. Sollte jenes zierliche Ding ein Tapioka werden wie er selbst? Als der Arzt hinaus war, drückte er dem Kinde die zarte Hirnschale ein, drehte den Gashahn auf und legte sich zu seiner kranken Frau ins Bett. Die Zeitungen wußten die Geschichte für ihre Leser zu einer “Erschütternden Ehetragödie“ herauszuputzen, obgleich wirklich nichts, rein garnichts dahintersteckt.

Der Dachziegel

„Mein Gott“, sagte Abraham Mesecheck und hatte damit nicht so unrecht, denn ein Dachziegel war ihm auf den Kopf gefallen. Er blieb alsbald tot. Man hinterbrachte den Vorfall schonend seiner Frau. Die sank in Weinkrämpfe und äußerte dunkle Worte, die sie zischend wie eine verstopfte Gartenspritze ruck­weise hervorstieß: „Die Müllern … natürlich … die Müllern … und es ist ein Skandal … dass man so etwas überhaupt duldet … eine Masseuse! …“ -Solange die Stadt bestand, (sie bestand 937 Jahre) war noch niemals jemandem ein Dachziegel auf den Kopf gefallen. Höchstens (im Mittelalter) ein Meteor oder (in neuerer Zeit) ein Aeroplan. Aber ein Dachziegel? Nein. – Die ganze Stadt wimmerte und wimmelte durcheinander vor Erregung wie ein Ameisen­haufen. Man sperrte den Ort des Unglücks polizeilich ab und Polizeisergeant Roball zog mit einem Stück Kreide einen zauberischen Kreis um den Ziegel­stein. Denn der allein lag wohlbehalten und behaglich, ein wenig mit Gehirnmasse beschmutzt, noch in der Schulgasse. Denn Abraham Mesecheck’s Irdi­sches hatte die Sanitätskolonne bereits entfernt. – Woher war der Dachziegel gekommen? war die große Frage. War ein Dach defekt? und welches? Gnade Gott dem Hausbesitzer! – Sämtliche Dächer in der Nähe des Tatortes wurden genauest untersucht, ob wo ein Ziegel fehle. Nichts fand man. Keinen Anhalt. „Das war die Vorsehung!** sagte; Stadtverordneter Oberlehrer Krausebeck. Denn er gehörte dem liberalen Wahlverein an und unterrichtete in Naturge­schichte. Die Vorsehung konnte der Magistrat als offizielle Behörde, die nur an den lieben Gott glaubt, nicht zugeben. Aber wer war es gewesen? Ein Dach­ziegel. Gut. Ein Dachziegel muss jedoch irgendwoher sein. Er entspringt und entfällt nicht dem Nichts. Zu der oben geäußerten Meinung der Frau Emilie Mesecheck, ehelichen Gattin des verewigten Abraham Mesecheck, konnte man sich nicht durchringen, da Fräulein Müller erstens gar nicht in der Schulgasse wohne, und zweitens zur fraglichen Zeit eine Kommission in Berlin gehabt habe.

Man war in der größten Verlegenheit. Denn man musste den Vorfall nach Berlin berichten: Kultusministerium, Abteilung C III 784, a.

Da meldete sich ein kleiner Gassenbube, dreckig, intelligent, eine Schmalz Stulle zwischen Hand und Mund. Er hatte als einziger Augenzeuge dem Vorfall aus fünf Schritt Entfernung beigewohnt und konnte die letzten Worte des Toten dem Bürgermeister, der ihn verhörte, und der Nachwelt übermitteln.

„Mein Gott“, hatte Abraham Mesecheck noch gerufen.

„Mein Gott?“

„Mein Gott!“

„Sonst nichts?“

„Sonst nichts!!“

Nun war ja alles klar: dass der liebe Gott persönlich den Dachziegel gewor­fen habe. Abraham Mesecheck hatte ihn (visionär) gesehen und erschreckt seinen Namen gerufen. Der liebe Gott hatte Mesecheck bestrafen wollen. Wahrscheinlich wegen Fräulein Müller. Das Konsistorium, durch Archidiakonus Kohn vertreten, schloss sich dieser Hypothese an, und verweigerte das geistliche Geleit bei der Bestattung Abraham Mesechecks.

Abraham Mesecheck musste außerhalb der Friedhofsmauer bei den Selbst­mördern und Verbrechern zur letzten Ruhe gebettet werden.

Die Heimkehr

Als Moritz Jeckel aus dem Zuchthaus entlassen war und zu seiner Frau kam, dachte er sich einen guten Tag zu machen und sagte: „Marie, zieh dich deine jute Bluse an.“

Sie stand am Waschtrog und scheuerte. Als sie ihn hörte, hob sie die rauhen roten Hände aus dem Wasser, trocknete sie am aufgekrempelten Rock und wandte ihm ihr verblühtes Gesicht zu, das noch immer ein wenig hübsch war.

„Fängste schon wieder los. Du bist woll varückt. Statt zu arbeeten, meenste, det ick et wieder tu, von wejen, allens hab ick für dich jetan, und nu …“

Er wurde krebsrot im Gesicht vor Wut und schlug mit seinem Knotenstock über das Waschfaß, dass es dröhnte. „Weib, ick sage dir, zieh dich deine Bluse an, mach mer nich wietend.“

Sie wagte keinen Widerspruch mehr und schlich in die Kammer. Du Luder, dachte sie, du Luder.

„Machta“ sagte sie zu einem dreizehnjährigen Kinde, das in einer Ecke über einem zerlesenen schmutzigen Buche hockte und an einer Pflaumenmus­schnitte lutschte, „Machta, paß uff die Kleene uff, ick jehe wech, Vata is jekommen “

Das Kind rührte sich nicht und leckte den linken Daumen ab. –

Sie zog sich vor einem kleinen zerbrochenen Spiegel um.

„Hörste nich, Vata is da. Willst’n nich juten Tag sagen?“

„Schon jut“ sagte das Kind. Es war ihm alles gleichgültig. Nun würde es wieder jeden Tag Prügel setzen.

Moritz Jeckel wusch sich im Troge die Hände, legte sein Bündel mit dem geringen Ersparnis seiner Zuchthausarbeit beiseite und pfiff vergnügt zwischen den Zähnen:

„Wo man singt, da laß dich ruhig nieda Böse Menschen hab’n keene Lieda“.

Das Weib trat aus der Kammer, in dunkelblauer grüngestreifter Bluse und schwarzem Capottehute.

„Wat“ sagte er und schlang seinen dicken muskulösen Arm um ihre Taille „ick bin doch keen böser Mensch nich, Marie?“ und gröhlend begann er wieder: „Wo man singt …“

Sie sah ihn furchtsam an: „Du hast woll schon eenen jeschnapst?“

„Vasteht sich“ grinste er „vasteht sich … Komm.“

Er zog sie mit sich fort. „Wir woll’n Pölemanns Karlen abholen.“

Pölemanns Karl besohlte grade einen wenig zierlichen Damenstiefel. Er strich sich seinen strohblonden mächtigen Schnurrbart, der zu seiner schmäch­tigen Gestalt kurios stand, zog sich seine schwarze Sonntagsjacke an und ging mit.

„Da biste ja wieda“ sagte er und musterte Moritz Jeckel von der Seite. „Da bin ick,“ sagte Moritz Jeckel, „da bin bin ick“.

Sie gingen in die Destillation von Petersen Gustav. Eine sogenannte Zigeu­nerkapelle, zwei phantastisch aufgeputzte geigende Mannsleute und ein Tam­burin schlagendes mageres Weibsstück vollführten eine abscheuliche Musik. Die verqualmte Luft stand undurchsichtig wie eine graue Mauer.

„Seid jegrüßt ihr Völkerscharen“, Petersen Gustav machte immer ausgezeichnete Witze, heute machte er einen ganz famosen, denn er freute sich, seinen besten Kunden wiedergefunden zu haben.

„Jawoll, zurück von der Wanderschaft!“ Moritz Jeckel schrie, denn die Kapelle spielte fortissimo.

Pölemanns Karl schlug eine dröhnende Lache an, die man seinem kleinen Körper kaum zutraute.

„Also drei Pullen,“ Petersen brachte sie schon. Moritz Jeckel stampfte zum Podium, griff dem hässlichen Weibsstück unters Kinn und gab ihr zehn Pfennig.

„Wie a pussiert,“ Petersen Gustav pruschte ordentlich. Er war nie nüchtern, aus Geschäftsrücksichten.

Maries Augen stierten und glänzten. Sie hatte die Flasche halb leer. Moritz Jeckel war schon bei einer zweiten. Pölemann Karl kniff zaghaft Maries rechten Schenkel und stellte noch ganz passable Fleischmengen fest.

Moritz Jeckel bemerkte es, als er die dritte Flasche kommen ließ. Er lachte, dass das Fortissimo der Musik kläglich darin unterging.

Nach der sechsten Flasche fühlte er nach seinem Gelde: es reichte nur noch für eine.

„Hoho,“ dachte er und glotzte Pölemann Karl an, dessen breite Hand zärtlich auf Maries hinterer Rundung ruhte.

Dann packte er ihn und schob ihn vor sich her hinter den Bretterverschlag.

„Schmeißt du ’ne Runde?“

„Nee,“ brummte Pölemann Karl, „ick hab ooch nich mehr so ville.“

„Aber wenn ick dir was versprechen tu, schmeißt du ’ne Runde?“

„Wat versprichste mir denn?“

Pölemann Karl rülpste.

„Wenn de mir fünf Rundn schmeißt, kannste“ –

„Wat kann ick’n dann?“

Pölemann Karl wurde neugierig.

„Kannste heut Nacht – du vastehst.“

„Höh?“

Pölemann Karl klang das sehr unwahrscheinlich.

„Also du schmeißt mir noch?“

„Meinswejen,“ sagte Karl. –

Moritz Jeckel soff noch vier Flaschen.

Aufgedunsen und bläulichrot lag er unter der Bank und gröhlte: „Böse Menschen – hab’n keene Lie–da . . . Lie–da . . . Lie–da.“

Pölemann Karl und Marie trappelten und torkelten Arm in Arm nach Hause. Marie fuchtelte mit der einen Hand begeistert in der Luft herum und schrie unaufhörlich: „Du juter Mann, du – juter Mann.“

Pölemann Karl blies auf der Mundharmonika, die Spitzen seines sonst stolz aufgewirbelten Schnurrbartes hingen feucht herab. Seine Augen waren zusammengekniffen und schienen oben und unten durch zwei scharfe rote Striche begrenzt.

Und er blies eine verzwickte Melodie auf seiner Mundharmonika, eine verzwickte Melodie:

„Dideldum, Di–del–dumm, di–del–dumm“ …

Der Garten der heiligen Veronika

(Herrn W(alter). H(einrich). gewidmet)

Es war eigentlich gar kein Garten.

Nur ein mäßig großes Stück unbebautes Feld, an den Rändern mit Brombeersträuchern bewachsen, wie sie die Bretagne zahllos hervorbringt. Graugrün und langweilig lag es immer da, nur im Sommer, wenn das Heidekraut erwachte, schimmerte es, eine einzige melancholisch violette Blüte.

In einer Ecke des „Gartens“ rekelte sich ein schmutzigweißes Häuschen, dass sich in der Mittagssonne stolzglühend, als erinnere es sich einer besseren Jugend, in den blauen Himmel reckte, der wie ein riesiger durchsichtiger Beryll über der Welt glänzte.

Dieses Häuschen bewohnte die heilige Veronika mit ihren beiden Söhnen.

Sie hieß Veronika: Maler, die in dem kleinen Dorfe an der bretonischen Küste nach Meeresstimmungen und Charakterköpfen fahndeten, oder Badegäste, die sich von St. Malo, Cote neuf auf Segelpartien und Strandwanderungen hierher verirrten, hatten sie die heilige Veronika und ihren kärglichen, unfruchtbaren Acker den Garten der heiligen Veronika getauft.

Sie war ein dickes, ziemlich unheiliges Weib, deren Brüste unter der blauen Bluse wie zwei halbgefüllte Mehlsäcke lagen. Schimpfen konnte sie wie eine ostpreußische Hökerin. Nur blumenreicher, bretonischer. „Du stinkende Qualle, du abgebrühter Hummer!“ benannte sie ihren Prosper. Aber vor Celestin nahm sie sich zusammen. Er hätte sie geschlagen.

Ihre beiden Söhne hießen Celestin und Prosper. Prosper, der achtzehnjährige, war ein frischer, munterer June, der den Scherz, die Mädchen, die Arbeit, und soweit es ein Bretone vermag, man darf nichts Übermenschliches von ihnen verlangen, die Reinlichkeit leibte. Celestin zählte einundzwanzig Jahre, starrte vor Schmutz, Ungeziefer und Idiotie, und zeichnete sich durch eine ebenso erstaunliche Körperkraft wie Faulheit aus. Er tat nie etwas. Allenfalls schnitzte er an kindlichem Spielzeug, Schwertern und Lanzen aus Holz herum. Selbst die stärksten Burschen und Männer banden ungern mit ihm an. Seine Bizeps entzückte Kenner und Sportfreunde der Athletik. Die Mädchen fürchteten ihn und er hatte trotz seines Drecks und seiner blöden Vernunft schon bei den meisten geschlafen.

Wie das ganze Dorf zog die Familie der heiligen Veronika ihren Lebens­unterhalt aus der Austernfischerei.

Jeden Morgen wateten Prosper und die heilige Veronika nach dem Rocher de Canale, mit Austernrechen und Tonnen ausgerüstet.

Ihre Erträgnisse lieferten sie schon seit Jahren an Herrn Materialwarenhändler Biberac, Paris, rue de Verrerie, der sie zum Teil frisch verkaufte, zum Teil marinierte.

Beim Transport der Tonnen nach dem nächsten Bahnhof, der einige Kilo­meter vom Dorfe entfernt lag, bedienten sie sich eines krumpeligen klapprigen Wagens, den ein Pferd zog. Dieses Pferd war der Stolz der Heiligen Familie, und selbst Celestin zeigte eine gewisse Anhänglichkeit an den lahmen Ein­hufer. Die übrigen im Dorfe leisteten sich nur Maultiere, dieses Pferd, Pierre genannt (es war aber eine Stute) hob die Familie der heiligen Veronika aus der Masse heraus und gab ihr ein nicht gewöhnliches Ansehen, das sie nicht mit einem respektablen wirklichen Heiligenschein vertauscht hätte. Ach, wenn dieses Pferd nur lahm gewesen wäre! Aber es war mit sämtlichen Krankheiten, Brust beulen, Dämpfigkeit, Star, Haarlosigkeit behaftet, die ein Pferd nur haben kann, doch gerade so, dass sie sich gegenseitig im Gleichgewicht hielten. Es wäre für Tierärzte lehrreich gewesen, zu wissen, vermöge welcher Diätik sich dieses Jammergestell aufrecht erhielt. Es versah seinen Dienst mit trägem Eifer und dachte, so alt es war. nicht daran, zu sterben. Die Hautfarbe Pierres glänzte speckig graugrün, von roten blutunterlaufenen Stellen durchzogen, die vom Blutfleckentyphus zurückgeblieben waren Seine riesig großen Ohren schwappten ihm wie Elefantenohren zur Seite. Ob es dadurch besser hörte, war zweifelhaft. Die Maler behaupteten, es höre überhaupt nicht. Dazu war sein ganzer Körper von einer erschreckenden Magerkeit, die alle Rippen einzeln hervorhob.

Das Vorhandensein des Schwanzes demonstrierte ein winziger Stummel, an den im Sommer, wenn die Fliegenplage zu arg wurde, ein Strohwisch gebun­den war, damit Pierre sich der Fliegen besser erwehre.

Auf diese Idee war Celestin gekommen. Er kam überhaupt manchmal auf Ideen, die ihn zu beschäftigen schienen Den lieben langen Tag lag er im Gar­ten, auf Heidekraut und Ackerkrume. Wenn es ihm zu heiß wurde, kroch er unter ein Brombeergesträuch. Gegen Abend beschäftigte er sich mit Mäuse­jagd. Er lag auf dem Bauch, lauerte und fing die Feldmäuse mit der bloßen Hand. Dann Biss er ihnen die Köpfe ab und warf sie weg.

Prosper ging abends zu Mehna, der Tochter des Schusters. Aber sie erhörte ihn nicht, obgleich sie ihn lieb hatte. Sie sagte, er müsse sie heiraten. Das ver­sprach er denn auch und redete mit seiner Mutter.

Auch Celestin hatte eine Gier nach dem Mädchen und verfolgte sie mit un­flätigen Redensarten. Sie beachtete ihn nicht.

Eines Morgens wunderte sich die heilige Veronika sehr, dass Celestin mit auf die Austernbank hinauswolle. Aber sie gab ihm nach und blieb zu Hause; drei waren beim Fischen nicht vonnöten.

„Das Scharrnetz“ sagte Celestin „wollen es mitnehmen, Bruder. Gehen heut in die Tiefe, was?“

Prosper war erstaunt und sagte: „Meinetwegen“.

Celestin grinste. –

Am Abend kehrte Celestin ohne Prosper zurück.

„Prosper ins Wasser gefallen, nicht schwimmen können, ich auch nicht, tot“ sagte er und stellte Rechen und Netze an ihren Platz. Fischer brachten später seine Leiche.

Die heilige Veronika ahnte den Vorgang, aber sie hatte Angst vor Celestin, dass er sie schlüge.

Celestin wrang das Wasser aus den dichten Haaren Prospers, wie man ein nasses Tuch auswringt.

Allnächtlich schlich er jetzt vor das Haus des Schusters. Mehna goss ihm einmal Wasser auf den Kopf. Er wagte ihr jedoch nichts zu tun. Sie war die einzige, deren Augen er fürchtete.

Eines Abends nach der Vesper, als die Bauern und Fischer schmauchend vor ihren Haustüren saßen, Frauen und Mädchen Netze flickten und die Kinder Räuber und Gendarmen spielten – wieherte etwas hilflos und heiser die Dorf­gasse entlang. Es war Pierre – und auf ihm hockte, sattellos und langstakig, dass seine Beine den Boden streiften: Celestin. Sein Haupt umwand turbanartig ein rotes Tuch. In der Rechten hielt er, eingelegt, als ginge es zum Turnier, eine spitze Holzlanze. Vor dem Hause des Schusters wandte er den Gaul und ließ ihn auf und ab promenieren und paradieren. Steif und stumm stand das ganze Dorf Spalier. Jeden kitzelte der Lachreiz Auge und Nase. Aber niemand wagte aus Angst vor Celestin zu lachen. Da erschien Mehna in der Tür, öffnete ihre großen Augen weit, dass sie das sonderbare Schauspiel recht aufnähme – und ein Lachen klang aus ihr, so hell, als schwinge die Aveglocke in ihrer Brust. Und wie dem ersten Anläuten tausend Glockenstimmen rings im Lande ant­worten: so rollte dieses Lachen, einmal im Fluss, die ganze Dorfstraße entlang und trieb den scheu gewordenen Pierre höhnisch vor sich her. Erst im Garten der heiligen Veronika machte er Halt und warf Celestin unwirsch und rach­süchtig ins Gras,

„Gut“ dachte er, „gut, wenn ich nicht haben, so doch ein anderer auch nicht haben“.

Die heilige Veronika, die ihn so jämmerlich am Boden liegen sah, verlor jeden Respekt vor ihm und schrie: „Du stinkende Qualle! Du abgebrühter Hummer! Du dreckiger Kakerlake, wo kommst du her?“

Und tagtäglich lag er wieder im Garten, wenn er nicht manchmal zum Rocher de Canale hinausmusste, die heilige Veronika allein schaffte es schlecht, – und griff nach den Mäusen. Er fing die Feldmäuse mit der bloßen Hand. Und wenn er sie gefangen, biss er ihnen die Köpfe ab und warf sie weg. „So geht es Brüderchen, so geht es“ grinste er.

Der Jockey

Das Rennen nahm ein sehr interessantes und völlig unerwartetes Ende. Nachdem Imperator bis hundert Meter vorm Ziel geführt hatte und der Sieg ihm sicher schien, setzte sich plötzlich Atalanta, die an vierter Stelle lief, von einer wütenden Kraft getrieben, vor und kam in leichtem, scheinbar mühelosem Galopp mit einer Pferdelänge vor Imperator durchs Ziel.

Es war eine ungeheure Aufregung, die Menge drängte an, die Reitknechte sprangen herbei – aber ehe man den Jockey Harsley, der Atalanta geritten hatte, vom Pferde heben konnte, scheute Atalanta, bäumte sich empor und warf den Jockey, der zu geschwächt war, um sich halten zu können, auf den Rasen. Er fiel so unglücklich, dass ein Holzpflock ihm in die Brust drang und er das Bewusstsein verlor. Man schrie nach dem Arzt, nach der Sanitätskolonne, die sofort zur Stelle war und ihn in die Klinik schleppte. Wochenlang rang der Jockey unter entsetzlichen Schmerzen mit dem Tode. Die Lunge wies schwere Verletzungen auf. Er spie Blut. Nacht für Nacht wachte ein Wärter an seinem Bett. Eine Schwester wurde mit ihm nicht fertig, da ihn im Fieber Wutanfälle wie wilde Hunde packten und aus den Kissen zerrten.

Und durch alle seine Fieberträume klang ein Wort, zuerst zaghaft, leise, liebkosend, dann flehender, fordernder: „Tilly“. Und schließlich fand man auch am Tage nur dies eine Wort auf seinen Lippen: „Tilly“. Man versuchte vorsichtig, ihn nach dem Sinn dieses Wortes auszuforschen, aber er erlangte ja nie volles Bewusstsein. „Vielleicht seine Braut“, sagte der Professor. Aber niemand wusste von einer Braut. „Eine Geliebte“, sagte der junge Assistenzarzt und machte ein pfiffig selbstverständliches Gesicht. Man hatte ihn nie wie die andern Jockeys mit Mädchen der Halbwelt oder Damen der Gesellschaft zusammen gesehen. Endlich riet man auf eine heimliche Geliebte. Aber hätte sie sich nicht längst nach ihm erkundigt? Hatte nicht der Unglücksfall, sentimental drapiert, in allen Zeitungen gestanden? Also eine Dame der höheren Kreise, die sich aus dem schützenden Dunkel ihrer Anonymität nicht hervorwagen darf?

Immer stürmischer, klagender, trostloser klang es von den Lippen des Kranken: „Tilly“. In einer größeren Zeitung erschien ein Feuilleton, betitelt „Tilly …“, und dann ein paar Punkte, aber es erfolgte nichts, Tilly machte sich nicht bemerkbar.

Eines Tages, als der Wärter ihm mit einer Trinkröhre das zweite Frühstück – Milch – einzuflößen suchte, sprang er, ehe man ihn halten konnte, aus dem Bette auf, schlug die Glasröhre zur Seite, dass die Milch über das Kopfkissen floss, und lehnte am Fenster. „Tilly“, flüsterte er und stierte hinaus. Unten auf der Straße hatte ein Pferd gewiehert.

Der Wärter meldete dem Professor den Vorfall. Und nun ward es allen klar: er sehnte sich nach einem Pferde namens Tilly. Das war nun bald im Stalle des Herrn v. W., des Brotherrn Harsleys, gefunden. Es war jene Atalanta, die der Jockey für sich Tilly getauft hatte. Und er hatte sie nur für sich so getauft, keiner sonst durfte sie so nennen.

„Wir wollen ihm die Freude gönnen“, sagte der Professor, „er hat sowieso höchstens noch eine Woche.“

Und an einem warmen Morgen fuhr man den kranken Jockey, in Decken gepackt, auf den Hof des Krankenhauses. Ein glasklarer, blauer Himmel wölbte sich über den Gebäuden und glitzerte hinter dem grünen Laub der Linden. Einige Rekonvaleszenten der dritten Abteilung gingen in ihren grauschmutzigen Anstaltskleidern stumm und beschaulich auf den strahlenden Kieswegen.

Plötzlich wurde das Tor am Portierhaus geöffnet und Atalanta von einem Diener hereingeführt. Sie tänzelte mit kleinen, koketten Schritten, schlug mit dem Schwanz und steckte den Kopf steif und gerade in die Sonne. Auf ihrem braunen, glatten Fell spiegelten blitzende Glanzlichter.

Der Jockey hatte die Lider geschlossen.

Als er Atalantas Gang hörte, riss er sie auf und hob freudig die Arme. Nun wieherte sie – ganz nahe bei ihm. Und stand still. Er konnte ihren Kopf greifen. Er zitterte und weinte. Der Wärter richtete ihn in den Kissen auf, da packte er mit beiden Händen ihren Kopf, zog ihn zu sich nieder und küsste ihr breites, heuduftendes Maul, um das in kaum sichtbaren weißen Wölkchen ihr Atem schnob.

„Tilly“, sagte er lächelnd und sank zurück, glückselig aufatmend.

Der Professor gab ein Zeichen: man solle das Tier wieder fortführen. Tilly sah ihn mit einem langen, glatten Blick an und wandte sich scharrend um. Ehe man zur Besinnung kam, schlug sie aus und traf den Jockey mitten auf die Stirn. Er war sofort tot.

„Ein ergreifender Tod“, sagte der alte Professor.

„… von seiner Geliebten ins Jenseits befördert zu werden“, sagte der junge Assistenzarzt und schrieb den Totenschein.

Das Mädel

„Sie sind ja rührend unverschämt“, sagte das Mädel – aber sie meinte es nicht ernst.

„Der Mond benimmt sich heute empörend auffällig“, stellte er mit einem melancholischen Blick auf den fahlen Nachthimmel fest. Äcker und Sträucher lagen weißbestaubt von Licht.

Es war eine Lichtstimmung wie an schwülen Sommertagen kurz vor Sonnenaufgang.

Das Mädchen lachte: wie Mädchen in Liebeserregung lachen, girrend, schluchzend.

Drinnen im Haus rief eine Stimme: „Anna.“

„Ich muss hinein“, sie bot ihm ihre Lippen zum Kusse, „schlafen Sie wohl, Herr Adjunkt.“

Schon war sie um die Ecke verschwunden.

Er wartete eine Minute, dann trat er vom Haupteingang, von der Dorfstraße her, ins Haus.

In der vorderen Gaststube schimpften, schnupften und soffen ein paar Fuhrknechte und Bauernsöhne ihren Kornfusel.

Er stieß mit dem Fuß die Tür zum Honoratiorenstübel auf. Es war leer. Er setzte sich an einen Tisch. Der Wirt kam und steckte eine Petroleumlampe an.

„Viel Ehre, der Herr Adjunkt, was darf ich geben?“

„Eine Halbe Rotwein.“

Er überlegte eine Weile, zögerte, griff schließlich nach dem Portemonnaie und legte ein Zwanzigmarkstück auf den grobgehobelten Holztisch.

Der Wirt brachte Wein, Glas und eine Serviette. Er deckte eine Ecke des Tisches.

„Herr Wirt!“ Der hatte schon gehen wollen und wandte sich um. „Das gehört Ihnen.“ Er zeigte auf das Goldstück.

„Soll ich wechseln?“ sagte dienstbeflissen der Wirt.

Der andere wehrte ab. „Es gehört Ihnen ganz und gar.“

Er horchte nach der vorderen Gaststube. Da lärmten und tobten sie, dass die Scheibe der Zwischentür klirrte.

„Wenn Ihr mich heute in die Kammer des Mädchens lässt!“ fügte er langsam hinzu. Dann trank er einen Schluck und sah den Wirt erwartungsvoll an. Die Augen des Wirtes liebkosten lüstern den gelben Glanz. „Es ist ja nicht meine Tochter“, flüsterte er unschlüssig.

„Soll ich noch eine Lampe anstecken?“ sagte der Adjunkt, „man kann vielleicht nicht richtig sehen?“

„Gut“, stieß der Wirt die Worte hastig hervor, als könne er sie nicht schnell genug loswerden, „wenn das Mädchen nichts dagegen hat, was geht es mich an?“

Im Vorderzimmer rief man den Wirt. Er holte sich das Goldstück, wie man eine Fliege fängt, verbeugte sich und sagte: „Wünsche wohl zu ruhen, Herr Adjunkt.“

„Anna“, sagte der Wirt am nächsten Morgen, „komm, gib mir die Hand.“ Sie stand am Fass und spülte Gläser, wischte sich die Hand am Kleide ab und gab sie ihm. Als sie sie zurückzog, sah sie, dass ein Fünfmarkstück in der hohlen Fläche lag.

„Was soll das?“ Verwundert blickte sie zum Wirt herüber.

Er grinste. „Der Herr Adjunkt hat sich mir erkenntlich gezeigt, da, die Hälfte ist für dich.“

Das Geldstück fiel klingend zu Boden. Zu gleicher Zeit flammte ihr Gesicht feuerrot und schneeweiß.

Am Abend fand man sie am Bettpfosten erhängt.

Blondhaar

Kein Weib im Dorfe hatte so reiches blondes Haar wie sie. Alle Frauen be­neideten sie darum, und die Stadtdamen, alte und junge, die auf ihren Spazier­gängen von der eine Stunde entfernten Stadt aufs Dorf hinauskamen, sahen sich bewundernd nach der Schönheit ihres Blondhaares um, das sie hoch, mächtig und golden auf dem Kopfe trug.

In der Stadt hieß sie allgemein Blondhaar. Viele wußten gar nicht, dass sie wirklich lebte, denn sie führte ein wundervoll verschleiertes Dasein als blonde gütige Fee in den Märchen, die die Phantasie der Ammen und Kinderfräulein den Buben und Mädchen von ihr erzählte.

Früher in der ersten Zeit ihrer Ehe saß sie wohl manchmal abends auf der Steinbank am Hause, löste sich das Haar und ließ es über ihre Finger rollen und sah mit ernsten Augen dem zärtlichen Spiel der Abendsonnenstrahlen zu, die mit müden Händen in die gelben Strähnen griffen. Aber dann kamen die Tage, Monate, Jahre der Sorge und des geheimen Grames, die ihre Augen bleichten, ihre weiche Haut gelb und rissig zeichneten, – nur den goldenen Glanz ihrer starken Haare tasteten sie nicht an.

Als der Bauer sie heiratete, wusste er, weshalb er sie heiratete. Weder er noch ein andrer im Dorfe dachte auch nur im entferntesten daran, ihr körperli­che Arbeit zuzutrauen. Er erwarb sie von ihrem Vater wie ein Schmuckstück, das man in seine gute Stube stellt, mit dem man Sonntags beim Kirchgang pa­radiert, an dem man aber auch nachts beim Kerzenschein seine besondere Freude hat.

Sie war zu ihm gegangen, weil sie ihn gern mochte und weil sie ein Kind von ihm wollte.

Als er ihr nach einem Jahr kein Kind gab, da weinte sie und weinte in ihr Haar hinein, dass die Tränen wie Quecksilberkugeln silbern über die blonde Haarflut sprangen.

Und wieder nach einem Jahr, da Biss sie sich auf die Lippen und sah ihren Mann mit bösen Blicken an, die er an ihr nicht kannte, dass er verlegen und unglücklich lachte.

Und dann wurde sie schweigsam und hochmütig und hatte keine Freundin mehr und küsste ihn nur noch gezwungen mit kalten Lippen. Und wandte sich schließlich angeekelt von ihm ab, als es nach Branntwein zu stinken begann, den Fusel immer mehr verfiel und mit anderen Weibern, Mägden und Dirnen in der Stadt, Kraft und Geld vergeudete. Und eines Tages ließ sie ihr Bett in eine leerstehende Giebelkammer tragen und diese für sich einrichten, denn sie hatte erfahren, dass ihm die Dirnen eine hässliche Krankheit und einen abscheulichen Ausschlag beigebracht hätten.

Da saß sie nun tagelang wie eine Matrone im Lehnstuhl am Fenster und sah in den sonnenlosen nördlichen Himmel – war doch kaum dreißig Jahre alt – und bekam ihren Mann wochenlang nicht zu Gesicht. Manchmal stampfte es die Treppe hinauf und klopfte vorsichtig dringend an ihre Tür. Sie hörte seine Lamentationen und Selbstbeschuldigungen angewidert an und schwieg, bis er brummelnd und torkelnd sie wieder verließ.

Dann kam der Gerichtsvollzieher, Ihr Mann war nicht zugegen, Der Gerichtsvollzieher behandelte sie mit einer herausfordernden Höflichkeit. Sie achtete nicht auf ihn. „Hungern kann ich nicht“, sagte sie leise. Ihr Vater war im ersten Jahre ihrer Ehe gestorben. Als der Gerichtsvollzieher gegangen war, nahm sie ein kleines weißes Pulver, dass sie sich längst schon heimlich besorgt hatte. Ihr Mann fand sie wie sonst im Lehnstuhl sitzen, der das Siegel des Gerichtsvollziehers trug. Da sie ihn sonderbar anstarrte, ging er auf sie los und hob beschwörend die Arme. Nun begriff er und trottete in den Krug, wo man ihm einen Schnaps kredietierte, und holte die Leichenfrau. Man bahrte sie unten in der ehemaligen guten Stube auf – auf zwei Stühlen, da der Tischler den Sarg nicht liefern wollte.

Als die Nacht kam, hielt er die Totenwache. Ohne eine besondere Empfindung – von einem instinktiven Pflichtgefühl geleitet. Er setzte sich auf die Ofenbank, stierte auf die Erde und qualmte schlechten Tabak, den er weiß Gott wo noch aufgetrieben hatte. Denn borgen wollte ihm keiner mehr, als das Dorf vom Gerichtvollzieher erfahren hatte.

Der Vollmond schien durchs Fenster und glitt glänzend um ihr gelbes Haar. Ihm fiel, als er sie ansah, ein Märchen aus seiner Kinderzeit ein. Und er machte sich dunkel klar, dass er dieses Bild schon einmal dämmrig in sich geahnt hatte.

Er schlief ein wenig, dann wachte er mit einem brennenden Gefühl in der Kehle auf. Der schlechte Tabak hatte sie ausgetrocknet, er hüstelte und verspürte einen rasenden Durst. Wasser stillt ihn nicht, dachte er, Wasser stillt ihn nicht – wo bekomme ich nur Schnaps her. Der Wirt pumpt nicht.

Er humpelte ein paarmal durch die Stube, sah auf die Dorfstraße, die im fahlen Mondlicht tief verschneit und setzte sich wieder auf die Ofenbank. Er rutschte ein paar Mal auf ihr hin und her und schlief wieder ein.

Als er aufwachte, war es draußen hell, es musste etwa vier, fünf Uhr sein, Hähne krähten, Hunde bellten und Wagen knirschten durch den feuchten Sand. Der Durst war jetzt unerträglich geworden, er fasste sich an die Kehle und stieß glucksende Laute aus. Die Begierde nach Alkohol übermannte ihn. Er sah auf die tote Frau, Da überrannte ihn blitzschnell ein Gedanke.

Ihr blondes Haar gleißte durch die bläuliche Dämmerung.

Er stürzte ans Fenster. Draußen war niemand zu sehen. Er blickte sich scheu um und zog sein Taschenmesser, einen sogenannten Paddenstecher. Und zit­ternd vor Geilheit und Angst schnitt er der Toten das Blondhaar vom Kopf. Ein schmutziges Stück Zeitungspapier, das am Boden lag, hob er auf und wickelte das Haar darin ein. Dann ging er leise, leise hinaus, hinten durch den Garten, kroch übern Zaun und lief nun keuchend die Landstraße nach der Stadt zu, bog aber bald rechts in den Wald, um nicht gesehen zu werden.

Als er in der Stadt ankam, wurden eben die Geschäfte geöffnet. Er ging in den erste« besten Friseurladen und kramte das Haar aus dem Zeitungspapier. „Sehn Se, Herr Barbier, sehn Se, befühlen Se – ’s is echt, ’s is echt“ Jean“ rief der Friseur und meinte damit seinen Gehilfen, der es auch rückhaltlos bewun­derte, aus Geschäftsprinzip aber manches auszusetzen hatte, z. B. dass es -leider – ein wenig rötlich schimmere – aber immerhin –

Der Barbier zahlte ihm zwölf Mark – weil er für blonde Haare eine Art krankhafter Vorliebe hege,

Der Bauer taumelte in die nächste Destille und soff vom allerschlechtesten Kornfusel, von dem man für zehn Pfennige einen Viertelliter erhält, sich einen entsetzlichen Rausch an.

Am nächsten Morgen wachte er in einem Gebüsch des Stadtparkes auf und trottete, unsicher auf den Füßen, wie ein Schlafwandler den Weg ins Dorf zu­rück.

Er fand sein Haus leer und wie selbstverständlich schwankte er nach dem Kirchhof. Er hörte menschliche Stimmen und sah, wie man vor einem offenen Grabe stand. Der Pfarrer sprach gerade ein paar tröstliche Worte, (man wusste nicht, dass sie sich das Leben genommen hatte) – der Bauer aber schwenkte bis dicht an die Grube und sah mit zitterndem Kopf und toten Augen hinab.

Plötzlich schluckte er tief auf und spie den ganzen Inhalt seines Magens hinunter in die Grube auf ihren Sarg.

Die Herzogin von Este

Eines Tages erhielt sein Vater die Nachricht, er habe sich mit der Herzogin von Este verlobt. Obgleich der Vater ein großes Vermögen besaß, stutzte er doch und ließ in der Hauptstadt Recherchen anstellen, wie es mit dem Erbschaftsstreit, den Ministerbekanntschaften und dem fürstlichen Oheim bestellt sei. Und die Behauptungen der schönen Herzogin erwiesen sich als durchaus zutreffend. Jeden Morgen fuhr sie am fürstlichen Palais vor, und der Portier stand schon, die blaue goldbetreßte Mütze in der Hand, bereit, den Wagenschlag zu öffnen und sie an die marmorne, mit roten Teppichen belegte Treppe zu geleiten. Wenn es aber regnete, hielt er einen großen schwarzen Schirm über sie, und die kleinen Lackschuhe trippelten so ängstlich und schnell über das feuchte Trottoir, dass er, ehemals Unteroffizier bei den Lübener Dragonern, kaum Schritt halten konnte.

Man lud die Herzogin ein, ihre künftigen Schwiegereltern zu besuchen. Ein ganzes Stockwerk wurde ihr zur Verfügung gestellt, und die Diener trugen alle karmoisinrote Livree, weil sie ihrem Verlobten einmal ihre schwärmerische Vorliebe für die Farbe verraten hatte. Im Treppenhause hing an dünnen silbernen Seilen ein silberner Kübel von der Decke herab, der war mit roten Nelken über und über gefüllt. Und Corner, der schwarze kluge Pudelhund, lief tagelang mit einer roten Nelke herum, die er in Ermangelung eines Knopfloches in der Schnauze trug.

Man fand Benehmen und Wesen der Herzogin entzückend, ihre Manieren untadelhaft, ihren Schneider genial. Das Schönste aber waren ihre schwarzen Augen, die in einer heiteren Schwermut zu schimmern schienen, als hätten sie einst einen Blick in das Grauen des Lebens getan und könnten von diesem schrecklichen Bilde nie ganz genesen.
Sie fuhr nach vier Wochen ohne ihren Bräutigam in die Hauptstadt zurück. Er hatte plötzlich nach Baden-Baden gemusst, einer Ehrenangelegenheit halber, als Beisitzer des Ehrengerichtes.
Sein Vater brachte sie zum Zuge. Verschiedene Male fiel ihm vor Aufregung das Monokel, das an einer roten seidenen Schnur befestigt war, aus dem Auge. Seine von gelbem Glacé umkleidete Hand hielt die ihre zum Abschied freundschaftlich lange umfasst. Zum Schluss neigten sich seine Lippen zum Handkuss. Corner, der schwarze kluge Pudelhund, stand, von einem Diener an der Leine geführt, schweifwedelnd dabei und hielt eine rote Nelke im Maul.
In Berlin wurde die Herzogin von Este von drei Herren an der Bahn empfangen. Zwei der Herren überreichten ihr verbindlich blöde lächelnd prächtige Sträuße roter Rosen und Nelken. Der dritte hatte nur rote Lippen und brandrotes Haar, und auf ihm richten ihre Augen am wohlgefälligsten. Da wurden die andern beiden eifersüchtig und telegraphierten an seinen Vater. Und nur dies eine Wort: „Schenkmamsell“.

Sein Vater schloss sich ins Arbeitszimmer ein. Nach einer Stunde begriff er, klingelte seinem Diener und fragte, ob die bestellte Sendung Austern schon eingetroffen sei.
Die Herzogin Este und ihr Verlobter waren indessen auf dem Wege nach Wien. Sie gedachte ihn, ihren Eltern vorzustellen. In Breslau hatte man Aufenthalt und betrat den Wartesaal. Zum Unglück lockerte sich der Schnürsenkel ihres linken Schuhes. Sie ging hinaus, die Hilfe der Toilettenfrau in Anspruch zu nehmen. Er sah unruhig auf die Uhr. Sie blieb schon eine Viertelstunde fort. Er erhob sich und ging auf den Bahnsteig.
Eben fuhr ein D-Zug in der Richtung Sagan— Guben—Berlin langsam aus der Halle.
Aus einem Coupé erster Klasse winkte eine kleine blasse Frauenhand. Da hörte er auch schon eine liebe vertraute Stimme und sah zwei Augen, die in heiterer Schwermut zu schimmern schienen:

„Lebe wohl, Egon, es war zu nett — aber du bist ein Schaf.“

In der Ferne flatterte aus einem Coupéfenster der ersten Klasse ein battistnes Taschentuch mit dem Wappen der Herzöge von Este.

Sein Vater machte ihm nicht den geringsten Vorwurf.

„In den Annalen der Venus“, sagte er, während ihm das Monokel aus dem Auge fiel, „steht sie unter den Herzoginnen verzeichnet. Was mich betrifft,“ und er hüstelte, „würde ich ihr den Rang und die Ehren einer Königin nicht vorenthalten.“
Insgeheim beauftragte er das Detektiv-Bureau „Greif“, Nachforschungen nach dem Verbleib der Schenkmamsell Lotti Maier anzustellen.

Ihm kam nämlich ein äußerst glücklicher Gedanke.

Der Schwächling

Der junge Rechtsanwalt strebte durch die Straßen der Stadt ins Freie, die Hände in den Manteltaschen, das Kinn in den Kragen gepresst, der allein zu verhindern schien, dass der nickende und schwankende Kopf nicht über die Brust in den Gassenschmutz rolle.

„Ich kann mich keinem Menschen mitteilen, ich kann mit niemandem reden – nur mit mir. Ich habe Freunde, – gut, – was bin ich ihnen? Was sind sie mir? Wir sprechen miteinander: öde endlose Reihen toter Worte, – selbst dazu bin ich oft nicht fähig, – und nennen es verstehen, wenn sie mich so sehen, wie sie wollen, dass ich bin. Und ich zeige mich ihnen, – ganz nach dem Wunsche eines Jeden. Mein Vater, meine Mutter, meine Bekannten: sie alle bilden sich engbestimmte Vorstellungen von mir: jeder eine andere. Und jedem scheine ich anders. Das Schlimmste ist: ich fühle es, fühle es, wie ich hier den witzelnden Kauseur, da den ängstlich-feinen Ästheten, hier den grobgemeinen Cyniker, da den Ehrlichkeitsprotz, da den verschmitzten Schnüffler spiele. Und spielen muss. Überrascht mich nicht manchmal eine gefährliche Angst, mein Ich über­haupt zu verlieren, da ich so wenig mit ihm bekannt zu sein die Ehre habe?

Als ich fünfzehn, sechzehn Jahre zählte – ich war kein hässlicher Bursche -verliebte ich mich in viele Mädchen, Schwestern oder Freundinnen meiner Freunde. Man übersah mich. Wenn sie kicherten und Backfischtorheiten trieben, sich atemlos und kreischend durch Stube oder Garten jagten, – stand ich abseits, – mit der Miene eines Leichenbitters. Aber es war meine eigene Las ehe, zu der ich bat. Ich versuchte mir einzureden, dass es alberne Gänse seien, die da vor mir in ihren weißen wehenden Kleidern lachten und flatterten und mit den Annen wie flügge Vögel schlugen. Gänse, deren albern schnatterndes Gebaren nicht einmal der Verachtung wert sei. Und ich setzte ein hochmütig-abweisendes Gesicht auf, aus dem die Weisung blickte: Ich verzeihe euch zwar, aber ihr seid dumm und unverständlich. Mit Ochsen und Eseln gebt ihr euch ab, – wie ich diese Ochsen beneidete, – was für geradezu unschlätigen frechen und kindischen Jungen schenkt ihr eure Gunst. Der hundertste Teil davon an mich verschwendet wäre mir Himmelsgnade gewesen.

Es kam wohl hin und wieder eine zu mir: aber ich vermochte nicht zu ihr zu sprechen, so lieblich sie sich neben mich setzte und als Trösterin kam. Gern hätte ich ihr die Marterqualen gestanden, die mir aufgebürdet waren.

Sie fand mich natürlich langweilig, – zu Scherzen habe ich kein Talent, -strich sich das Kleid zurecht, ging und erzählte ihren Genossinnen, ich sei ein sonderbarer und sicher ein bisschen verrückter Kauz.

Das Gefühl der Unbefangenheit hab ich nie gekannt – oder nur dann, wenn ich über einer ausgezeichneten Rolle mich selbst vergaß.

Ich rase vor Wollust nach Weib und Wirklichkeit. Drei Mädchen haben mich geliebt; sie müssen in all meiner tastenden und tappenden Unruhe ein Atom Festigkeit gegriffen haben, das sie selbst ihr vielleicht eingeblasen, und sich nun selbsttäuscherisch daran geklammert haben. Ich liebte keine und be­trog mich und sie, solange es anging. Seitdem habe ich mir Füße und Seele wundgelaufen und mir die Augen aus dem Kopfe gestiert nach einer Frau, die mich begreifen möchte, ohne dass ich zu ihr rede: ich weiß ja nichts von mir, als dass ich schwach bin und keines Willens zu mir fähig, so wütend ich nach Kraft und Sehnsucht schäume und lechze. Ja, ohne dass ich ihr in die Augen blickte. Nur meine Finger wollen ihren Kopf und Leib abtasten nach seinen Formen und Umrissen und seinem Geiste. Ich bin ja blind. Und seh‘ allein mit meinen Nerven.

Ich erinnere mich: als zum ersten Mal meine Geliebte mich nachts besuchte, überschrillten sich meine Nerven und, was ich an Herz besitze, tobte und über­schrie sich in lustgepeitschter Erwartung. Und schrie sich in einem Don Juan-Drama aus, das ich in verzückter Eile entwarf, zwei Stunden, ehe sie kam. Und als sie auf meinem Schöße hockte, kritzelte ich noch an dem verfluchten Ge­dicht, das wie eine Maschine in mir arbeitete und stampfte. Wir stiegen ins Bett: recht wie silberne Eheleute, sittsam und bescheiden: sie war in sich zu­rück gescheucht … und dem Weinen nahe. Sie ging nach Hause, wie sie ge­kommen war … Ich versagte … nicht aus körperlicher Bedingtheit … ich dachte es zuerst in dieser qualvollsten aller Nächte: die einen unerschütter­lichen Ekel vor meiner wilden Ohnmacht in mir weckte und mich hinaus auf den Bahnhof und in den ersten besten Zug stieß, der gerade fuhr. Das Schau« spiel wiederholte sich; des geringsten Vertrauens zu mir mangelte ich, sobald ich zu Heben glaubte. Nur Dirnen brachten es mir zeitweilig bei, indem ich mich ihnen gegenüber wie der potenteste Fleischergeselle erwies. –

Und jetzt hat man mir die Verteidigung eines Mädchens übertragen, das seinem ungetreuen Geliebten nachts das Messer in die Brust stieß. Das Weib, das ich bewundere – verteidigen, das Weib, in dem ich die Triebe anbetend verehre – verteidigen, rechtfertigen, entschuldigen – wo es mich ihre Tat hym­nisch zu preisen gelüstet. Sie ist zu schade für die Gerechtigkeit, diese Hure der Schwachen, – wie ich einer bin. – Wurde ich vielleicht darum Jurist und An­walt des Rechts, weil ich mich bei ihm … ein wenig geborgen fühlte? Gerech­tigkeit: Strohhalm der Schiffbrüchigen? Soll sie, die Mächtige, an der Gerech­tigkeit zugrunde gehen? Eher ich – an meinem verlodderten Geschick. Was liegt an mir: ich will sie retten. Sie wird einen neuen Liebsten finden und Kin­der gebären, die werden das Leben wie einen Stier bei den Hörnern packen. Ich bin ein Sonntagsjäger auf Hasen, – die ich beim Geflügelhändler kaufe …“

Der Rechtsanwalt wandte sich zur Stadt zurück. Von den gepflügten Feldern stieg ihm ein frischer Hauch in die Nase: die Erde atmete ruhig und klar, wie ein Kind im ersten Schlafe. Im Norden die Hügelkette zeichnete ihre feinen Linien wie die Silhouette eines nackten ruhenden Knabenkörpers in die leich­ten Abenddünste: unvollendet, herbe und weich zugleich, entzücken die lässig graziösen Unregelmäßigkeiten seines Gliederbaues.

Dem jungen Rechtsanwalt flimmerte der erotische Schimmer der Landschaft unangenehm schmerzlich ins Bewusstsein. Er bog nach der Brücke links ab und schritt zum Untersuchungsgefängnis. Der Kastellan grüßte. „Kann ich meine Klientin sprechen?“ Ein Diener, der nur aus einem fatal aufgedunsenen Gesicht und einem unförmig großen Schlüsselbund bestand, schlüpfte ihm klirrend durch die schlechtgelüfteten Gänge voran. „Nr. 7, ich warte draußen.“ Er ließ den Rechtsanwalt ein.

Zwielicht, in dem ein leise rosiger Hauch von Sonnenuntergang tändelte, füllte den mittelgroßen, wohl für zwei Häftlinge bestimmten, feuchtgrauen Raum, Der Rechtsanwalt blieb an der Tür stehen, unsicher schössen seine Blicke an ihr vorbei in die dunkle Wand, die ihm gleich einem Spiegel sein Zerrbild wiederzugeben schien. Er richtete sich etwas aus seiner gebückten Haltung auf. Dann nestelte er am schwarz-umränderten Kneifer, der ihm locker saß und herabzufallen drohte.

Mit lächerlicher Anstrengung überwand er sich zum Reden: „Ich habe Ihnen etwas … zu sagen.“

Sie wartete.

Er seufzte … Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Die dümmsten Phrasen vermag ich zu dreschen, juristische Redensarten wie einen Braten am Spieß über dem Feuer hin und her zu wenden, bis sie zur Unkenntlichkeit verräuchert sind- Sobald ich ans Seelische – und noch so vorsichtig – anschlage, ist mir die Zunge gebunden und der Mund verklebt..-

Da saß sie vor ihm auf der Pritsche, breithüftig und stark wie ein Geschöpf Rubens, rot und voll das Gesicht. Die ungebärdigen, blonden Haarwellen netz­ten ihr die Stirn. Ihre großen, mächtig-blauen Augen trafen in einem jähen Ruck mit den seinen zusammen: wie zwei Rossegespanne gegeneinander ren­nen und plötzlich aufbäumen. Er hielt ihre Blicke und begann in seinen Gedan­ken zu reden. Und jeder Gedanke schrieb sich in sein Gesicht wie in eine Tafel. Das Weib aber blickte zu ihm auf und las:

Ich liebe dich, du Wunder meiner Welt, die keine Wunder kennt denn dich. Herrin – in deren bellen Augen Ströme rauschen, von deren Quellen meine Seele nicht einmal gewusst Ich liebe dich. Wie liebe ich deine scharfen, platin­weißen Zähne. Dass sie auf meinen Lippen oder Wangen ruhten! Dass sie in Hals und Brust mir schmerzendsüße Furchen schlügen! Daraus wohl könnte mir ein neues Leben keimen.

Das Blut, womit du dich beflecktest, will ich von deinen Händen küssen. O deine starken Hände! O deine guten Hände! Wie zierlich und sicher zugleich sie das Messer packten! Auch jetzt seh ich ein Messer in deinen Händen leuchten. Stoß zu. Ich liebe dich um alle Qual, die deine Kraft mir bereitet. Wie willst du sie lindern? – Ich liebe dich. – Ich will dich retten. Nur so magst du auch mich retten. Vertrau dich mir an. Es ist das erste Mal, dass ich ernstlich will.“

Sie stand auf und unterbrach seine Rede. Und ihre Blicke erwiderten:

„Geh hinaus. Du bist mir gleichgültig. Wie schwächlich! Wie elend! Du täuschst dich. Deinem Wollen folgt nie ein Können. Soll ich dir so viel von meinen Säften geben, dass ich zugrunde gehe, während du dennoch nur dich fristen würdest? Ich will keine Rettung. Ich bin gerettet. Geh.“

Er schlich wie ein krummbeiniger geprügelter Teckel zur Tür und durch den von ein paar Ölrunzeln kümmerlich belichteten Gang zum Tor des Gebäudes hinaus.

Ober die Brücke ging wieder sein Weg.

Ober die Felder, unter kahlen Nuss- und Obstbäumen, immer am Fluss ent­lang. Näher drängten sich die Berge an das Wasser und ließen nur einen schmalen Steig frei. Den schritt er. hüpfend, singend und psalmierend.

Vor ihm schob sich ein kalkweißes, steiles Vorgebirge in den Strom hinein. Wie ein zusammengekauertes riesiges Weib, das sich auf seine Hände stützt und seine Arme in das volle Fleisch der massigen Brüste presst, lag es da.

Nach diesem Weibe ging seine Gier, und seine tödliche Sehnsucht meinte in ihr sich zu finden.

Abgründe

Sie zählte mindestens siebenundzwanzig Jahre. Aber man sah es ihr nicht an. Jeder junge Mann in der kleinen Stadt, der nur etwas auf sich zu halten wusste, hatte sie geliebt, oder musste sie geliebt haben. Referendar, Leutnant, Apothekergehilfe. Als Erwin Frauenhofer sie kennen lernte, trug sie rotblondes Haar.

Er sagte: „Ich werde den Staub ihrer Schuhe küssen, ich werde ihnen Sonette schreiben, wie sie der Jungfrau Maria heiliger gewidmet werden könnten.“

Sie lachte: „Das haben mir schon viele gesagt, wie banal!“

Er sagte: „Ich werde mich geißeln wie der Flagellant vor seiner Gottheit, ich werde alles tun, was sie von mir wünschen, ich werde sie lieben – aber nur auf ein halbes Jahr,“

Sie fragte: „Alles?“

Er bestätigte: „Alles!“

„Auf ein halbes Jahr?“

„Nur auf ein halbes Jahr!“

Wie komisch, dachte sie, aber warum soll ich es nicht annehmen?

Es hat noch nie länger als ein halbes Jahr gedauert.

Er litt wie Simson an starkem Haarwuchs.

„lassen sie sich einen Vollbart stehen“, verlangte sie.

Er tat es.

„Kommen sie am Sonntagmittag in roten Hosen, gelber Weste und hellblauem Frack zum Marktkonzert.“

Er erschien. Die Straßenjungen und Schlosserlehrlinge johlten. Die Gymnasiasten Lachten. Die Offiziere ließen die Eingläser fallen.

Die Bürger zuckten die Achseln. Amtsrichter Berndt telephonierte an die Landesirrenanstalt.

Da ließ sie es genug der dummen Forderungen sein und sie hatten sich sehr lieb.

Nach und nach lernte sie ihn wahrhaft leiben. Und sie liebte ihn, wie sie keinen je geliebt hatte. Doch wurmte es sie, dass sie von seiner Seele nichts wusste und, wie sie sich auch bemühte, in ihren tiefsten Schacht nicht zu steigen vermochte. Er war ihr fremd wie am ersten Tag. Und dennoch liebte sie ihn.

Es war der letzte Tag des Halbjahres, ein rauhreifer Wintertag. Sie gingen zusammen spazieren. Sie sah in der weißen Golfjacke, die die zarte Form ihrer Brüste verriet, und dem enganliegenden weißen Wollkleid wie eine nackte Nymphe aus-

Die graubereiften Bäume standen wie mächtige Straußenfedern. Sie gingen über die Kienberge. Der Strom in der Niederung führte Grundeis. Die Schollen lagen und schleifen nebeneinander wie Kinder an der Mutter Brust-

Sie hielten an der „Steilen Wand“, die gegen den Fluss senkrecht abfiel.

„Heute ist der letzte Tag“, eine törichte Wut krampfte ihr Herz zusammen, sie liebte ihn und verstand ihn nicht.

„Du wolltest in diesem Halbjahr alles für mich tun. Erinnerst du dich?“

„Ich erinnere mich.“ Er sagte es leise und unfroh.

Wie in meinem Starrkrampf befangen stand sie da, die Augen halb geschlossen, den Muff an ihre Lippen gedrückt-

„So springe diesen Abhang herab.“

Er trat nahe an die Kante, schweigend.

„Morgen wirst du mich nicht mehr lieben“…

Er hob die Arme. Sie zitterte, Wollte schreien und sah doch nichts.

„Im Gegenteil“, und er zog lächeln den Hut, rasch zurücktretend, –

„schon heute nicht mehr. Gestatten sie, dass ich sie zur Stadt zurück begleite?“

Ehe er es verhindern konnte, war sie in der Tiefe verschwunden. An einem kahlen Baumstrunk flatterte ein Fetzen ihres weißen Kleides.

„Wie komisch,“ – diesmal murmelte es Erwin Frauenhofer in seinen Bart, —

Am nächsten Morgen ließ er ihn sich abrasieren.

Der Sieger

Wohl nie gab es einen schöneren Knaben als Boris. Seine Augen waren blau, seine Haare silberschwarz. Über seine blassen, unendlich schlanken, un­endlich wehmütigen Hände fielen weiße Spitzenmanschetten. Wenn er in einer Pause am Mädchenschulhof vorbeischritt, bebten die Mädchen wie hilflose Tiere hinter dem Gitter, das sie von der Straße und von Boris trennte. Boris war so außerordentlich schön, sein Schöpfer hatte sich derartig in seinen Körper verschwendet, dass für die Seele nichts mehr übrig blieb. Boris war dumm, Tugend nur Fallen stellte und dem wahrhaft ethischen Dasein im Wege sehe. Er brachte es so weit, dass Boris ordentlich betrübt über seine Schönheit war und dachte: Sehr dumm.

Nikita dagegen war klug, sehr klug. Aber er war der hässlichste Mensch, den man je erlebt hatte. Selbst Leute, die sich des ästhetischen Unwertes der Dinge voll bewusst sind, wie Popen, Materialwarenhändler und Distriktsräte konnten nicht anders, als ihn verabscheuen. Sein Kopf war spitz wie eine Banane, seine Augen schielten, das eine nach links oben, das andere nach rechts unten, aus seinem verzerrten Munde troff beständig Speichel. Er hinkte und trug auf dem Rücken, wie eine Hökerfrau den Kartoffelkorb, einen Buckel.

Boris und Nikita waren die besten Freunde und gingen stets Arm in Arm über die Straßen.

Nikita suchte die Freundschaft Boris nur aus Berechnung und strebte ihn ganz in seinen Bann zu ziehen. Denn er hasste das Schöne aus dem Instinkt des Hässlichen heraus und suchte es zu vernichten. Und er umzog nach und nach den armen, dummen Boris mit allerlei törichten philosophischen Phrasen, wie, dass die Schönheit zu nichts nutze in der Welt, ja verächtlich sei, Indem sie der Tugend nur Fallen stellte und dem wahrhaft ethischen Dasein im Wege stehe. Er brachte es soweit, dass Boris ordentlich betrübt über seine Schönheit war und dachte: „Warum bin ich nicht so hässlich und weise wie Nikita?“ Schließlich begann er sogar seine Schönheit zu verfluchen und eines Tages seufzte er zu Nikita: „Ich erden mir das Leben nehmen, Ich bin zu schön für diese Welt.“ Der tückische Nikita hatte nur darauf gewartet. Nun war die Zeit seines Triumphes gekommen. „Mein armer, lieber, in die Irre geleiteter Freund Boris“, entgegnete teilnahmsvoll Nikita, „des bedarf es nun nicht. – Aber ich kann dir helfen, wenn du mir versprichst, auf fünf Minuten alles erdulden zu wollen, was ich dir antue.“ „Wenn dadurch mein Heil gerettet wird, will ich freudig das Schlimmste auf mich nehmen.“

Es war auf einem Spaziergang vor der Stadt. Nikita band Boris mit Stricken, die er aus seiner Tasche zog, an einen Weidenbaum. Dann spie er dem Wehrlosen dreimal ins Gesicht mit den Worten: „Dies deiner Schönheit! Dies deiner Keuschheit! Dies deinem Glück!“ brachte ein scharfes Rasiermesser aus seiner Tasche und schnitt Boris, mit einem Ruck jedes Mal, beide Ohren und die Nasenspitze ab. Darauf ritzte er ihm mit demselben Rasiermesser ein Kreuz in die Stirn und löste ihn wieder vom Baum.

„Wie fühlst du dich mein Bruder?“ Lauerte er und hielt Boris einen Taschenspiegle vor.

„Bedeutend besser!“ lächelte Boros irrsinnig, als er sich verstümmelt sah, „aber gib mir noch einmal das Messer, ich will das Werk vollenden.“ Er entriss Nikita das Messer, und schnitt ihm kühl und sicher den Hals durch. Dann hob er den gefallenen Spiegel auf und blickte noch einmal hinein. Und bleckte blödsinnig seine Zähne: „Jetzt bin ich wieder schön. Seit Nikita keinen Kopf mehr hat.“

Phyrne

Der junge Hans-Georg, der noch das Gymnasium besuchte, kam von der Geburtstagsfeier eines Freundes. Die Normaluhr am Halleschen Tor zeigte wenige Minuten nach elf. Er stieg in einen Automobilomnibus. Es war nur ein Platz frei – neben einer alten, geschminkten und gräulich geputzten Hure.

Hans-Georg bemerkte sie nicht. Er gähnte und war so müde. Es war auch zu nett gewesen. Und Bowle hatten sie getrunken: unheimlich viel! Ehe er sich versah, schlief er ein. Und langsam … langsam — sachte sank er nach rechts. Sein hübsches bartloses Gesicht lag auf der harten Schulter der alten Hure. Seine vom reichlich genossenen Weine dunkelgeröteten Lippen waren halb geöffnet, der warme Atem floss durch den dünnen Spitzenbesatz ihrer Bluse über ihr kaltes Fleisch.

Ein paar Fahrgäste lächelten. Auch die alte Hure lächelte aus ihren kleinen blauumränderten Augen, Ein Lächeln, das keiner verstand. Ihre spitze Nase zuckte ein paar Mal hin und her.

Sie störte den Knaben nicht und zärtlich, wie eine Mutter, tätschelte sie ihm ganz leise die Wangen, ängstlich dabei besorgt, dass er nicht aufwache. Vor­sichtig rückte sie ihren großen schwarzen Hut aufs rechte Ohr, dass er den Schläfer nicht belästige.

„Sie woll’n wohl jleich mitnehmen, Fräulein?“ sagte ein junger Mann mit schwarzem gedrehtem Schnurrbart und unangenehmem Parfüm, an dem man den Handlungsgehilfen roch, und lachte meckernd, als hätte er den besten Witz gemacht

„Wenn er sich man nich verfahrt“ meinte ein dicker Herr in kleinem steifen Hütchen und blinzelte zu der Hure.

Der Kommis meckerte noch lauter. Er war aufgeregt und stieß mit dem Ellenbogen an eine Soldatin der Heilsarmee, die neben ihm saß.

„Pardon, Jnädigste“ schnarrte er und amüsierte sich über sich selbst. Der dicke Herr griente. Der Kommis kam sich sehr geistreich vor.

Die Hure wurde plötzlich sehr ernst, ihr Körper begann zu zittern. Sie ver­mochte sich nicht zu wehren, Träne auf Träne rann über ihre steilknochigen Backen, die Pupillen verschwanden fast unter den oberen Lidern.

Hans-Georg erwachte. Er sah durch die Fenster. Der Wagen hielt an der Weidendammer Brücke. Schnell stieg er aus. Er war schon zu weit gefahren. Ein paar spöttische Bücke folgten ihm. Er sah sie nicht. –

Störrisch, die blutleeren Lippen aufeinandergebissen, saß die alte Hure da. Nicht lange mehr konnte sie an sich halten. Dann brach es in ihr los. Ein Weinkrampf packte sie. In langgezogenen tiefen Klagetönen heulte sie wie eine Sirene im Sturm. Ihre spitzen Fingernägel versuchten sich in das Lederpolster zu graben. Die Fahrgäste wurden unruhig. Verschiedene Stimmen riefen durcheinander. „Was is denn mit dem Mädchen?‘ „Unerhört“, „Schaffner“, „Nee, so ’ne Benehmigung“, eine sonntäglich aufgedonnerte Viktualien-händlerin schrie es der alten Hure mit unverhohlener Verachtung ins Gesicht. Eine Dame, die die Jupe culotte trug, ging hinaus auf die Plattform.

In wildem Rhythmus schlug die Hure mit ihren spitzhackigen Schuhen auf den Boden. Der Schaffner suchte sie zu beruhigen und schnautzte sie an.

Ein drohendes Gemurmel erhob sich unter den Passagieren. „Die is ja ver­rückt.** Der Herr, der vorhin „Unerhört** gerufen, brüllte: „Schutzmann“, und fand allgemeinen Beifall.

Der Schaffner verschloss sich der sittlichen Forderung nicht und winkte am Oranienburger Tor einem Polizisten, der sie in Empfang nahm.

Der Schaffner gab Auskunft: „Diese Frauensperson erregte durch ihren Klapps Öffentliche! Ärgernis.’*

„Schon jut“ freute sich der Schutzmann und brachte sie erst einmal zur nächsten Sanitätswache.

Der ordinierende Arzt, ein junger Kerl, der eben sein zweites Examen ge­macht, war mit der Diagnose schnell bereit: „Hysterisches Frauenzimmer, An­fall von Hysteromanie. Nicht zu verwundern bei dem Lebenswandel.“

Auszug ins Feld

Das ist ja ganz nett, dachte Peter Nikoloff, welcher vom Dorfe ausgehoben war, dass es nun gegen die verdammten moslemischen Schweinehunde geht. Aber wenn ich totgeschossen bin, kann ich nicht mehr leben. Und wenn ich nicht mehr lebe, kann ich nicht mehr lieben. Und ich habe mein Weib Marja sehr lieb. Denn wir sind erst ein Jahr verheiratet. Und in einem Jahr kriegt man die Ehe noch nicht satt.

Peter Nikoloff ging zu dem kleinen Leutnant Konstantin, den sie wegen seiner Freundlichkeit und Bereitwilligkeit auch gegen Untergebene im ganzen Regiment „Brüderchen“ nennen, und klagte ihm seinen Kummer.

.Ja, das ist nun mal nicht anders“ sagte Brüderchen, „wir müssen die Türken totschlagen“.

„Weshalb?“ fragte Peter Nikoloff.

„Weil es nicht anders geht!“ sagte Brüderchen.

Peter Nikoloff begriff das.

„Aber ich habe ein Weib!“

„Ich habe eine Braut“ sagte Brüderchen.

„Das ist nicht so schlimm,“ meinte Peter Nikoloff.

„O viel schlimmer!“ entgegnete Brüderchen.

„Wenn ich aber totgeschossen werde?“

Jlst dein Weib hübsch?‘ fragte Brüderchen.

„Sie ist schön.“ Peter Nikoloff war ordentlich stolz auf sich, dass er ein schönes Weib hatte, und es seinem Leutnant erzählen durfte.

„Wenn Du tot bist, wird sie einen andern heiraten,“ sagte Brüderchen.

Peter Nikoloff knirschte mit den Zähnen: „Ich habe einen Sohn!“

„Aber wenn du ein Kind hast“ lächelte Leutnant Brüderchen „dann beru­hige dich nur, dann bist Du besser daran als ich. Dann kannst Du ja gar nicht totgeschossen werden?“

Da nickte Peter Nikoloff ernsthaft und schwer, gab seinem Leutnant die Hand und ließ steh getrost in die Montur stecken.

Waldemar

„Waldemar“: wie eine Rakete schoss der Name immer mitten im Gespräch auf, um dann leise leuchtend zu verpuffen: „Waldemar, um Gotteswillen, ich darf ihn nicht verpassen“.

Peter suchte sie zu beruhigen, und das Gespräch lenkte sich auch bald wieder in angemessene Bahnen.

„Also in die Schauspielschule gehst?“

Er hielt ihren rechten Arm, der bis zum Ellenbogen bläulich gelb aus dem weiten Ärmel schimmerte, und bohrte seine Nägel vorsichtig in das auffallend weiche Fleisch. Wie Gelee fühlte es sich an.

».Menschenfresser“ dachte er in stolzer Bezugnahme auf sich selbst.

Sie bog sich ein wenig zurück und kokettierte mit dem hübschen Guitarre-spieier auf dem Podium.

Sie lachte.

„Mein Gott …“ Er tastete krampfhaft an ihrem Nacken herum. „Was hast du“?

Sie lachte. Plötzlich hielt sie inne und sah nach der Uhr.

„Waldemar …“

Es war erst halb zwei durch.

Sie reichte ihm ihre Hand.

„Da – du – hast du jemals eine kleinere Frauenhand gesehen? Die kleinste Handschuhnummer ist mir zu weit.“

Er küsste die Hand – vom an ihren Fingerspitzen, an den Nägeln, die wie rosiger Achat blass glänzten …

„Weissage mir aus der Hand, du …“

Er sah die kleinen Linien in ihrem Handteller sich schlängeln wie zierliche Eidechsen.

„Du bist klug, vorsichtig, sehr, sehr kühl … und ehrlich.“

Peter sagte beinahe das Gegenteil von dem, was er dachte. Nur ehrlich, – ja: ehrlich ist sie, von jener besonderen Ehrlichkeit der Frau, die, sie mag lügen, so viel sie will, immer die Wahrheit sagt.

„In der Neujahrsnacht werde ich ermordet“

Ihre schwarzen Augen, die am Tage blau sein mochten und mit Dämmerung und Licht ihre Farbe wechselten, schillerten und senkten sich plötzlich scharf und hellsilbern wie zwei Dolche in die seinen. Er fühlte einen leisen Schwin­del. Sie stechen in mein Gehirn … oder ist es der Grog? Er trank bereits das neunte Glas.

„Wer heutzutage hat noch die große Sensation, ermordet zu werden? Ich beglückwünsche Sie, mein Fräulein.“

Ein Herr am Nebentisch, es war zwei Uhr, man nahm es nicht mehr so genau, warf die Worte in die Unterhaltung. Er saß da, zusammengeknickt, schielend, mit dem Kopf eines Dachshundes und stierte auf ihren Gürtel

Mit seinen Gedanken nestelte er an ihrer Bluse. Das tot ihr wohl. Sie strei­chelte seine Stirn.

Peter war etwas piquiert. Aber plötzlich schob sie sich dicht an ihn heran, und er grub seine Lippen in ihr braunblondes Haar, hinter dem linken Ohr. Der Herr am Nebentisch grinste. „Jetzt hat sie’s hinter den Ohren.“ Sie lachte. Peter verstand es nicht Plötzlich wurde sie ernst „Waldemar – … kennst du ihn?“ Peter log.

„Wie sieht er aus?“

Sie schloss die Augen halb.

„Hellblonde, beinahe rötliche Haare.“

„Das stimmt … aber er hat ein Merkmal, wie es nur wenige Männer haben, … nun?**

„Er hat eine Narbe quer durch den Mund“ log Peter.

Sie hörte schon nicht mehr hin und blinzelte nach einem Nebentisch, wo drei Studenten saßen. Der eine seufzte und hielt sich immer die Hand aufs Herz.

Da musste sie lachen. Als sie aber wieder in Peters Augen sah, die sich weit öffneten und sie in ihre unschuldige Tiefe aufnahmen, da wurde ihr ein wenig unwohl bei dem Blick in die Tiefe.

„Wenn er nur diese Augen nicht hätte dachte sie, „eigentlich ist er furchtbar anständig …“

„Polizeistunde, meine Herren!“ – die Wirtin mit kleinen, liebenswürdig tückischen Augen, einer hübschen Figur und leise rötlich gefrorener Nase schlug in die Hände,

Sie half Peter in den Mantel.

Ich habe noch keinen Wintermantel, fiel ihm ein, deshalb bin ich auch so er­kältet. Aber wo bleibt das Geld? Er sah resigniert zur Seite.

„Du weißt“* sagte sie „ich bin mit dir nur unter der Bedingung mitgegangen, dass ich mich um drei von dir trennen darf. Ich muss auf Waldemar warten …“ Sie standen in der kühlen klaren Nachtluft, „A Droschken?“ schrie jemand. Sie gingen auf die andere Seite der Straße. „Er trägt einen grauen Ulster“, sagte sie.

„Ich will nicht, dass du heute noch mit einem Mann zusammen bist …“ der Grog ermutigte Peter.

Ihre Augen umflügelten ihn wie schwarze Krähen,

Ich gehe mit Waldemar nach Hause, Ich liebe ihn“…

Er knirschte mit den Zähnen und packte seinen Stock.

„Gib mir die Hand, am Sonntag treffen wir uns, … du bist mein Freund.“

Das letzte Wort, das sie liebkosend und verächtlich zugleich sprach, machte ihn stutzig. Er wusste nicht mehr, was er denken wollte. Auch hatte er Mühe, sich gerade zu halten. „Wenn ich dich nun küssen will“ .. er ließ ihre Hand nicht los.

Sonntag, Sonntag, jetzt geh – wenn Waldemar dich sähe … bitte“…

Peter ging, stand fünf Minuten an der Ecke, starrte verbohrt in eine Laterne und ging nach Hause.

Mit den Kleidern warf er sich aufs Bett. Es war vier Uhr geworden.

„Irmgard“, schrie er und heulte in die Kissen.

Erbost und in der Nachtjacke klopfte die Wirtin an seine Tür.

Ob er schon wieder so ein Weibsbild …

Es dauerte nicht lange, so hatte sie Waldemar gefunden. Er trug keinen grauen, sondern einen braunen Ulster, hatte keine Narbe quer durch die Lippen, aber auch keine rötlich-blonden Haare. Sondern einen Kahlkopf. Und zählte ungefähr vierzig, fünfundvierzig Jahre. Als er ihre Augen sah, ließ er zögernd etwas von einem Hundertmarkschein durchblicken.

Stilprobe

In der Redaktion vom „Täglichen Volkswohl“ in Potemsk erschein eines Tage ein schwächlicher junger Mann, welcher einen äußerst verschüchterten und blöden Eindruck machte. Er wurde in das Zimmer des Chefredakteurs geführt.

„Was wollen sie“? Schnatzte ihn der Gewaltige an.

„Eine Stelle als Redakteur bei ihrem sehr geschätzten Blatte, euer Gnaden, wenn ich bitten dürfte.“

Der gewaltige lächelte verächtlich, als er den ausgemergelten Körper und die furchtsamen Augen der Kleinen betrachtete, und lehnte sich bedeutsam im Lehnstuhl zurück.

„Ein Journalist muss sich in allen Fährnissen, die ihn reicher als jeden andern Sterblichen umblühn, mutig und tatvoll zu benehmen wissen. Sie scheinen mir“, er streifte mit einem leichten Blick seine klägliche Statur, „wenig geeignet dazu – Haben sie wenigstens eine Stilprobe mit?“

Da zog der schwächliche, junge Mann einen Revolver aus der Tasche und hielt ihn dem Chefredakteur vor die Stirn.

„Ausgezeichnet“, sagte der Gewaltige, ohne mit der Wimper zu zucken, „Sie sind mit hundert Rubel monatlich in der Abteilung für Innere Politik fest angestellt!“

Das Lächeln der Margarete Andoux

Für Fiete Wilhelm

Sie war die Urenkelin französischer Emigranten.

Margarete Andoux‘ Lächeln hing wie ein ewiger Frühlingshimmel über der kleinen Stadt. Was wäre die kleine Stadt ohne Margarete Andoux‘ Lächeln? Wer wüsste von ihr? Von ihrem polnisch zischenden Namen, ihren schmutzigen, gleichgültigen Straßen? Wie könnte ich eine Geschichte von ihr erzählen, wenn Margarete Andoux nicht wäre? Ihr Lächeln flatterte in die dunstigen Kontore, die schlecht belichteten Läden, die engen und trüben möblierten Zimmer. Durch die Fenster der Schulhäuser, wenn sie auch zur Hälfte geweißt waren, damit kein Unaufmerksamer seine Blicke auf die Gasse spazieren schicke, glitt dieses Lächeln wie Morgensonne in die kahlen Räume. Der Lehrer rückte unruhig und verlegen an seiner Doublébrille und zwinkerte mit den Augen, als ob ihm ein Insekt hineingeflogen wäre. Die halbwüchsigen Schüler aber, diese Bengel, die eben erst anfingen, sehen, hören und fühlen zu lernen, saßen steif und verdutzt da und trieben in ihren dummen Seelen andächtigen Unfug mit Margarete Andoux‘ Lächeln.

Schon der Name, wenn man ihn wie eine Delikatesse in den Mund nahm: Margarete Andoux. Die Zunge streichelte ihn und wollte ihn nicht loslassen und hielt ihn zurück, bis er sich endlich löste und in einem Durmoll – „doux“ – hinstarb, das in ein flehendes „du“ hinüberglitt.

Alle liebten sie Margarete Andoux. Der zwergige, aber großspurige Tuchfabrikant Kellermann, der das Geschäft von seinen Vätern geerbt hatte, nie aus der Kleinstadt herausgekommen war, aber in der Stadtverordnetenversammlung ein gewaltiges Maul führte, er schrumpfte samt seinem Maul in ein wahrhaftes Nichts zusammen, wenn er Margarete Andoux begegnete, und trug seinen Hut wie vor der Muttergottes mindestens zehn Minuten in den Händen, ehe er ihn wieder aufsetzte. Er liebte Margarete Andoux. Der geistvolle Oberlehrer Klingebiel, der den Doktor, viele Reisen und in einer achtjährigen Ehe sieben Kinder gemacht hatte: er liebte Margarete Andoux. Der Bäckerjunge, der die Semmeln zu Margarete Andoux‘ Tante brachte, bei der sie wohnte: er liebte sie. Der Tapezierer, der die Gardinen feststecken kam, der Ofensetzer, der Bürgermeister, der kleine, schüchterne Sekundaner Bregler, der täglich zum lieben Gott betete, er möge ihn so schön wie Schiller dichten lassen, der versoffene Stadtlump und verkommene Uhrmacher, genannt „der schöne Oskar“, der Student der Theologie Herr Böserle, der Apothekerlehrling – alle, alle liebten sie Margarete Andoux.

Die Frauen aber hassten Margarete Andoux und ihr Lächeln, das ihnen die Augen und Herzen ihrer Männer abspenstig machte. Am meisten aber war Margarete Andoux gehasst von Isabelle Kersten. Das war das zweitschönste Mädchen der Stadt und ihre beste Freundin. Damals hockte in der kleinen Stadt ein verbummelter Student der Jura, der wohl zwölf Semester auf seinem krummgebogenen Rücken schleppte. Nachdem sein Vater erst kürzlich fünftausend Mark Schulden schweren und schmerzenden Herzens für ihn bezahlt hatte – gab er ihm nun zum letzten Male Geld, dass er sich in der Ruhe der Ländlichkeit auf sein Examen vorbereite.

Adalbert Klinger trug kreuz und quer lange und kurze Schmisse von seiner Burschenschaftszeit her auf der linken Wange und auf der Stirn, die unnatürlich tiefrot, wie mit roter Tinte gezeichnete Striche, auf der blass gelben Haut lagen. Der Alkohol trieb sie auf. Adalbert Klinger soff. Aber seine ruhigen, braunen, halbzugekniffenen Augen und der sinnliche, etwas schiefe Mund übten eine verwirrende Wirkung auf die Frauen. Alle Frauen der kleinen Stadt liebten ihn, den die Männer wegen seiner schlaffen Unfähigkeit zur Arbeit verachteten. Des Hasses hielten sie ihn nicht einmal wert. Am meisten aber liebte ihn Isabelle Kersten.

Dieser Adalbert Klinger allein von allen Männern grüßte Margarete Andoux nicht. Er sah nicht einmal hin, wenn er ihr auf der Straße begegnete, den Mantelkragen aufgeklappt, den Oberkörper nach vorn gebeugt, die Zigarette im Mundwinkel.

Margarete Andoux wunderte sich. Sie nahm sonst Huldigungen lächelnd, selbstverständlich entgegen. Warum grüßte sie dieser… dieser Mensch nicht? Kannte er sie nicht? Er kannte doch alle Frauen der Stadt und grüßte sie. Und die Mädchen waren insgesamt in ihn verliebt – wie konnte er sich erfrechen, sie zu übersehen?

Sie sprach mit Isabelle Kersten, die im geheimen Triumph und Schadenfreude empfand.

„Er kennt dich wahrscheinlich nicht“, sagte Isabelle Kersten. „Ist er dir schon vorgestellt? Nein? Na also.“

Zum Promenadenkonzert, das die Stadtkapelle sonntags auf dem Marktplatze veranstaltete, spazierten Margarete Andoux und Isabelle Kersten weißviolett Arm in Arm.

Adalbert Klinger trottete des Weges.

„Paß auf“, sagte Isabelle Kersten. „Er kennt mich, er“ –

Isabelle Kersten erbleichte. Adalbert Klinger war vorbei und hatte nicht gegrüßt. Sie warf die Schuld auf ihre Freundin.

„Er leidet dich nicht“, meinte sie spöttisch.

Margarete Andoux zuckte die Achseln und schwieg nachdenklich. Was hatte er gegen sie? Und wie sie sich mühte und kämpfte, ihre Gedanken kamen nicht von ihm los. Sie litt, aber sie wusste sich nicht zu helfen. Sie fühlte einen Zwang in sich, Adalbert Klinger innen und außen zu betrachten. „Ich werde ihn zu Ende denken“, dachte sie.

Und sie lag die Nacht wach und grübelte.

Schatten flogen über sie hin, und in den Dingen war ein dunkles Summen und Singen. Wo habe ich diese eintönige Melodie schon gehört? Es ist nur ein Ton und doch eine Melodie. Und niemand kennt den Ton. Alle haben ihn in sich, und keiner kann ihn sagen oder singen.

Margarete Andoux wurde unruhig. Diesem Manne gegenüber, der sie nicht kannte und dem ihr Lächeln gleichgültig war, verlor sie ihre Sicherheit. Sie empfand schreckhaft, wie sie sich mit ihm beschäftigte und in ihn hineinsank.

Sie suchte nun, ihn auf der Straße zu treffen, lief im Regen an seiner Parterrewohnung ohne Schirm vorbei, dass er hinauskommen möge und ihr seine Begleitung anbiete. Sie erfuhr, wann er zum Dämmerschoppen ging, und lauerte ihm förmlich auf. Wenn er sich näherte, lächelte sie. Das Lächeln bat um Mitleid. Ohne sie anzusehen oder den Kopf zu wenden, schlenkerte er an ihr vorbei. Sie fieberte: was wollte er von ihr? Was schlug er sie, was trat er sie mit Füßen? – Und sie erniedrigte sich so weit, sich nach ihm umzublicken und auf der Gasse stehenzubleiben, bis seine grau schwankende Silhouette in einem Hause verschwand.

Eines Tages saß sie auf dem Balkon. Er bog unten um die Ecke. Sie ließ schnell einen Handschuh vor ihm auf das Pflaster fallen. Er hob ihn nicht auf. Sie biss in ihr Taschentuch vor wütender Enttäuschung und krampfte sich in Tränen. Was nutzte ihr schönes, reizendes Lächeln, wenn es alle Männer verführte, nur diesen einen nicht, den es so schmerzlich ersehnte. Um Gottes willen, ich liebe ihn doch nicht, unterbrach sie ihre Gedanken. Nein, nein, sie lachte, ich ärgere mich nur rasend, dass er mich nicht sehen will. Denn das eine weiß ich jetzt ganz genau: er will mich nicht sehen.

Und sie sann, wie sie ihn zwingen möchte, dass er sie ansähe. O wie sie ihn hasste!

Vor der Stadt, auf dem Oderdamme, begegneten sich Adalbert Klinger und Margarete Andoux. Es war Winter und Glatteis. Margarete Andoux stolperte und fiel. Adalbert Klinger schob seinen Kopf tiefer in den Mantel, pfiff leise durch die Zähne und stierte nach dem Strom, der Grundeis führte. Margarete Andoux musste sich selbst auf die Beine helfen.

Wie ich mich behandeln lasse, wie ich mich behandeln lassen muss, knirschte sie und weinte.

Eines Abends nach neun schellte es an der Wohnung des Studenten. Adalbert Klinger warf die „Contes drolatiques“, die er eben gelesen, aufs Bett, nahm einen hastigen Schluck aus seinem Humpen und öffnete.

„Bitte, treten Sie nur näher, Fräulein“, sagte er höflich, „Sie wünschen?“

Margarete Andoux stand vor ihm. Ihre Lippen zitterten, und ihre Hände griffen nach einem Halt in der dröhnenden Leere. „Darf ich Ihnen beim Ablegen behilflich sein?“ Er zog ihr das Jackett aus. Dann führte er sie zum Sofa und holte aus dem Glasschrank eine Flasche Sekt und zwei Gläser.

Margarete Andoux lächelte.

Drei Tage später betrank sich der Student der Jura im zwölften Semester Adalbert Klinger an seinem Stammtisch bis zur Besinnungslosigkeit. Er hatte seine Wette glänzend gewonnen. Die Flasche Sekt an jenem Abend hatte er schon auf sein Gewinnkonto vorweggenommen.

Auf dem Heimweg schlug er mit dem Schädel aufs Pflaster und blieb liegen. Er starb am nächsten Tage an Gehirnerschütterung.

Margarete Andoux ging in die Leichenhalle, wo er in einem weißen, reinlichen Hemd aufgebahrt lag. Seine Schmisse glänzten blass violett auf der wächsernen Haut.

Am oberen Hals, fast unsichtbar, zeichnete sich eine kleine, anscheinend frische, zackige Narbe ab, als hätte eine Ratte oder Katze sie hineingebissen.

Und Margarete Andoux lächelte.

Der Selbstmörder

Mein Freund Katarakt war blödsinnig geworden, egal weg blödsinnig. Sich wegen solch einer Person das Leben zu nehmen!

Ich setzte mich grade an den Schreibtisch, um einen erschütternden Bericht an die Abendpost zu verfassen und so den Begräbniskranz herauszuschinden, als mir einfiel: Selbstmörder sind wunderliche Leute, Vielleicht hat er sich gar nicht erschossen!

Sofort begab ich mich in Katarakt’s Wohnung. Er war nicht da. Aber auf dem Nachttisch lagen fünfundzwanzig unfrankierte Briefe: an die Eltern, an die Waschfrau, an die Verbindung» an das Statistische Amt: Abteilung Selbstmord usw. Obenan ein offener, mit Bleistift bekritzelter Zettel an mich:

„Lieber Freund! Vielleicht hast Du die Güte, mir diesen letzten Liebesdienst zu erweisen und die Briefe frankiert in den Kasten zu stecken. Auch betreffs der Zimmermiete (sie steht noch vom Januar her an) bist Du wohl so freund­lich, dich mit Frau Schlabzeck ins Einvernehmen zu setzen.

Ewig Dein Katarakt.

N.-B. Ich vermache Dir für das Begräbnis meinen Frack! Du musst ihn aber erst reinigen lassen. Am besten bei Spindler. Er bekommt noch 20 Mk, 30 Pfg. von mir.

Dein getreuer Obiger.“

Wenig erbaut von Katarakt’s letztem Willen ging ich zu Pia. Ich war gar nicht erstaunt, Katarakt auf dem Divan gestreckt und eine Ziga­rette rauchend vorzufinden.

„Mensch“, sagte ich, „Du lebst ja noch!“

Ja“, sagte Katarakt, „ich habe es mir anders überlegt: ich werde mich und sie erschießen!“

Da knarrte die Tür und Pia hüpfte herein.

Sie fiel über Katarakt her und lag schluchzend an seinem Halse: „Liebling, wie ich mich um dich gebangt habe!“ „Ungetreue! Liebst Du mich noch?“ „Otto!!!!! Du bist grausam!“ „So stirb mit mir!“

Düster umwölkte sich Katarakt’s Miene. Er zog den Revolver aus der Tasche. In froher, reporterhafter Erwartung stand ich daneben.

Ja“, lächelte Pia und weinte, „gewiss, wie Du willst, Liebling, aber gell, erst frühstücken wir noch? Ich habe einen schauderhaften Appetit!“

Katarakt seufzte, dann steckte er den Revolver wieder ein: „Was meinst Du, Pia, Kempinski?‘ und mit einer Handbewegung nach mir hin, „Max lädt uns dazu ein …“

Der braune Teufel von Adrianopel –Eine bulgarische Kriegsgeschichte

Also, Kinder, da soll mir keiner etwas vormachen: ich habe bei Lüle Burgas mitgeschlachtet und sieben moslemischen Schweinehunden und Antialkoholikern –Wasileff, schmeiß mir mal deinen Schnapsbehälter herüber – die Gedärme aus dem Leibe geholt, bin dann leicht verwundet vor Adrianopel gelegen, bis man sich bemüßigt fand, in meinen Oberschenkel ein Auge zu schießen, blaugrau, mausgrau mit einem schönen roten Streifen und einem eitergelben Rand. Weswegen sie mich denn hier ins Lazarett schleppten, weil ich nicht mehr gehen konnte, ein Haufe warmes Fleisch, sonst nichts. Jetzt fühle ich mich ja wieder wohl, kuhwohl – wenn nur dein Schnaps besser wäre, Wasileff –, aber, beim Barte meines Urahnen: ich möchte nicht noch einmal durchmachen, was ich durchgemacht habe. Wenn die Luft draußen vor Adrianopel auch ein wenig frischer, eigentlich verflucht frischer wehte als dieser dielte, kranke Lazarettstank hier: ich atme ihn wie Rosenodeur ein und fasse meine Eindrücke zusammen in den patriotischen Ruf: „Hoch Groß-Bul-garien!“ – aber lasst mich von jetzt ab damit zufrieden. Ich habe meine Schuldigkeit getan. Prost, Wasileff, auf dass Anita und das Vaterland wieder Kinder bekomme!

Aber ich wollte euch noch die Geschichte erzählen, wie mein Oberschenkel plötzlich ein Loch bekam, ein schönes rundliches Loch. Als ich es damals zuerst bemerkte, fiel ich nicht etwa gleich um und um. O nein, meine Brüder, so leicht fällt ein Georgeff nicht, es sei denn, er wäre besoffen. Aber ich war damals alles andere als besoffen. Nüchtern war ich, verflucht nüchtern.

Also, als ich das kleine schwarze Loch sah, dachte ich zuerst, es wäre Spaß, und klebte eine Briefmarke drüber-eine Briefmarke mit dem Bildnis unseres erlauchten Zaren. Ich hatte sie mir für einen Brief an meine Liebste aufgespart – Wasileff, grinse nicht –, nun ergab sich jedoch eine bessere Verwendung dafür. Am Abend wollte ich das Loch, das schöne, kleine, schwarze Loch gerade dem Sanitätssoldaten zeigen, als ich auch schon dalag, einfach dalag. Blutvergiftung, versteht ihr, Blutvergiftung, und es wäre beinah verteufelt abgegangen. Aber der heilige Sebastian hat nicht gewollt, dass ich, ein Georgeff, so schmählich abkratze, und hat mich noch gehalten und Fürsprach eingelegt beim lieben Tode. Und so leb ich denn noch – jenem kleinen braunen Schwein zum Trotz.

Wer aber, meine Brüder, meint ihr wohl, war jenes kleine braune Schwein? Und von wem hab ich wohl den Schuss in den Oberschenkel spendiert erhalten, meine Brüder? War es ein Türke, ein regulärer türkischer Soldat, welcher, von seinem Standpunkt im Recht, meinen geliebten Oberschenkel sich als Schießscheibe erwählt hatte? War es ein lungernder Strolch, welcher mich im Besitze von Reichtümern vermutete und sich als deren Erbe betrachtete? War es ein freundnachbarschaftlicher Serbe, meine Brüder – im Vertrauen, meine Brüder, ich traue diesen serbischen Missgeburten alles zu und noch einiges außerdem. –Weit gefehlt, meine Brüder… ein Schwein war es, ein kleines braunes Schwein, ein Trüffelschwein sozusagen war es, welches mich in den Oberschenkel schoss. Mit meinem eigenen Gewehr. Jawohl. Und aus zehn Schritt Entfernung. Das nennt man Krieg. Und Kriegesruhm. Also, meine Brüder, um in der ordentlichen Beschreibung der Geschehnisse fortzufahren: es war ein Donnerstag, und ich stand abends auf Vorposten. Ihr mögt es glauben oder nicht, Donnerstag ist für mich immer so eine Art Unglückstag gewesen, und ich hatte schon eine Ahnung, wusste aber natürlich nichts Bestimmtes, insonderheit war mir das kleine braune Schwein noch nicht im entferntesten in den Sinn gekommen. Wunderbar sind die Wege des Schicksals, das man mit Recht den Gott der verzweifelten Menschen nennt.

Ich stand also auf Vorposten, patrouillierte vor der Erdhütte, in der unsere Korporalschaft kampierte, und es pfiff ein verflucht eisiger Wind, der nadelspitze Hagelkörner niederwehte, die sich bis zu einem veritablen Hagelsturm ausbildeten, der in der Dunkelheit – es war elf Uhr – auf mich niederprasselte, dass mir Hören und Sehen verging. Ich mache meine Ronde, entferne mich bis auf hundert, zweihundert Schritte von der Feldwacht – als ich plötzlich ein Wimmern durch den Sturm vernahm, das klägliche Wimmern einer… menschlichen Stimme? Oder war es die Stimme eines Tieres? Diese Ungewissheit machte mich verdammt nervös, und ich beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Pürschte mich also vorsichtig auf das Geräusch zu. Unaufhörlich dieser bald wimmernde, nun schnaufende, jetzt kreischende Laut… Ganz nah bin ich ihm jetzt.

„Wer da?“ brülle ich und spanne den Hahn.

Keine Antwort.

Immer nur das gleiche pfeifende Wimmern, wie wenn eine Lunge sich hinausstößt.

Jetzt bin ich dran und laß meine elektrische Taschenlampe spielen. Und was, meine Brüder, sah ich da? Angebunden mit Stricken an einen Baumstumpf? Eine Ziege? Einen Hammel? Nein, einen Menschen … ein Weib. Jawohl, ein Weib. Schön wie der liebe Gott, mit den Haaren eines Erzengels, aber mit den Augen des Teufels. Den sah ich leider zuerst nicht, weil mich das andere, trotz meiner elektrischen Taschenlampe, blendete. – Ein Weib, in diesem Sauwetter auf offenem Feld, festgebunden an einen Baum. Nur zwei Stunden – und sie erfriert.

Ich, sehr höflich und galant, wie es die Georgeffs von je an sich haben, verbeuge mich und frage freundlich: „Wer bist du, meine holde Taube, mein süßes Schwein?“ Ich erhalte keine Antwort, nur einen entsetzten Blick aus wundervollen Augen, so dass mich der letztgenannte Kosename fast reute. „Jungfrau“, fahre ich fort, „wer sind Sie?“ Und schneide sie mit dem Bajonett los.

Da wankte sie – konnte vor Kälte und Aufregung kaum stehen – an meine Brust, und nun sah ich, dass es eine Türkin war, eine leibhaftige Türkin, welche natürlich kein Wort unserer ehrenwerten bulgarischen Muttersprache verstand. Ich stützte sie also liebreich, sie erwärmte in meinen Armen merkwürdig schnell, wie ich verwundert konstatierte… und auf einmal kroch sie an mir herauf, aus ihrem kleinen Mund fuhr spitz ihre Zunge empor und küsste und leckte meinen Hals. Das war mir, der ich seit sechs Wochen kein Weib am Busen genährt hatte, nun keineswegs unangenehm. Und ich küsste sie, weil ich sehr groß bin, auf die Stirn. „Hoh“, flüsterte sie auf einmal, „hoh“ und zerrte mich am Mantel.

Sie zeigte ins Dunkel.

Sollte sie eine Verräterin sein? dachte ich und folgte vorsichtig. Nach zehn, zwölf Schritten standen wir – was glaubt ihr, meine Brüder, wovor? – vor einem Wagen, einem Wagen mit Verdeck, der da im Drecke steckte. Sie sprang katzengeschwind in den Wagen und unters Verdeck und winkte mir. Ich wie ein Panther hinterher. Lehne mein Gewehr an die eine Seitenwand des Wagens und will sie gerade an mich ziehen – als ich noch einmal wie zufällig ihren Augen begegne. Diese Augen aber stießen mich fast körperlich zurück. Denn ein unauslöschlicher Hass flammte aus ihnen, der mich plötzlich auf den Schlag ernüchterte und mir das Blut in den Adern wie dicke Milch gerinnen ließ.

Kaum hatte das kleine braune Schwein das bemerkt – die Weiber, meine Brüder, haben verdammt feine Instinkte –, als sie nach meinem Gewehr griff und auf mich zielte. Grinsend, höhnend. Ihr glaubt nun, meine Brüder, sie habe nach meinem Herzen oder nach meinem Kopfe gezielt. Weit gefehlt. Ihr kennt das kleine braune Schwein nicht. Nein, sie zielte auf meinen Unterleib, ihr wisst schon, wohin, und es ist allein dem heiligen Sebastian oder der Mutter Maria zu danken, dass sie vorbei und den Oberschenkel traf. Was ich hier des langen und breiter, auseinandersetze, meine Brüder, das ereignete sich in drei Sekunden. Ich sprang sofort zur Seite und suchte ihr seitwärts beizukommen. Zu spät. Der Schuss saß. Und ich Esel hatte ihn wohl verdient. Das kleine braune Schwein aber war im Dunkeln verschwunden. Gottseidank kriegte ich mein Gewehr noch zu packen, sonst war ich bei meinem Leutnant übel angefahren.

Wer aber glaubt ihr, meine Brüder, dass das kleine braune Schwein war? Man hat sie später gefangen und standrechtlich erschossen. Wisst ihr, weshalb? Dieses Wimmern in der Nacht vor dem Vorposten war ein Trick von ihr, auf das auch jeder Hammel hereinfiel.

Und dann, meine Brüder? Dann übte sie an jedem ihre Kunst des Hasses und der Vernichtung. Womit, meine Brüder? Mit dem Dolch? Mit dem Gewehr, wie bei mir Esel? O nein! Mit ihrem Leibe!! Einfach mit ihrem Leibe!!! Sie hat nicht weniger als fünfhundert der Unsern mit ihrer verfluchten, dreckigen, unheilbaren Seuche angesteckt. Vorsätzlich. Aus Rache. Das nenne ich Patriotismus, meine Brüder. Sie hat exakter gearbeitet als eine Haubitzenbatterie. Das kleine braune Schwein. Der braune Teufel von Adrianopel, wie wir sie dann nannten.

Prost, meine Brüder! Wasileff, dein Schnaps und meine Erzählung ist am Ende.

Aber die Liebe

„Das ist ein kecker Mensch.“

Irgendein freches Witzwort war zu ihr herübergeflogen. Ohne Willen dazu drehte sie sich um.

Da stand einer in Zylinder, Gehrock, grünem Schlips und umgekrempelten hellgrauen Hosen.

Als er ihren Blick fing, krempelten sich auch seine Augen vor Freude nach innen um, dass auf einen Moment das Weiße wie Zinkpasta aus den Höhlungen glotzte.

„Hübsches Mädel“, sagte er.

„Bengel!“ knirschte der Bräutigam.

Aber jener hatte es so nebenbei in die Luft gesprochen, dass man ihm nichts anhaben konnte.

„Männe“, beruhigte sie ihren Bräutigam, „Du bist ja böse!“

Plötzlich stieg ihr ein unangenehmes Gefühl in der Kehle auf.

Der Vergleich war ihr von ohngefähr eingefallen: Jener, mit dem Zylinder, dem Gehrock, dem grünen Schlips und den umgekrempelten Hosen – und ihr Bräutigam mit dem schlechtsitzenden, in der Provinz gemachten Kammgarnanzug und den Schaftstiefeln.

Aber an den Füßen jenes glänzten Lackschuhe: Sie stachen ihr boshaft in die Augen.

Und nun – erschrak sie.

Der Herr mit dem Zylinder, dem Gehrock, dem grünen Schlips, den umgekrempelten Hosen und den Lackschuhen war stehen geblieben.

Er kniff seine fetten Seehundaugen zusammen – und lachte – breit … herzhaft — schadenfroh.

Sie blickte ängstlich an sich herunter. Was … was war denn an Ihr?

Sie errötete dunkel.

Und sie sah auf ihren Bräutigam.

Spurig und klobig stapfte er in seinen Schaftstiefeln – und der von ihr gehäkelte braune Schlips hing ihm über den Kragen, am Halse.

Ihre zierlichen Stiefel knirschten ohnmächtig im Kies,

Jener Herr sagte wieder, so in die Luft hinein: „Hübsches Mädel“.

„Kerl“, stöhnte der Bräutigam, und seine Wut fuchtelte in eckigen Armbewegungen durch die Luft, wobei ihm die Röllchen aus dem Ärmel glitt.

Sie weinte.

„Aber Kind“ …

Re war vollständig ratlos.

Weswegen heult sie nun? Dachte er und wollte sie trösten.

Der Herr mit dem Zylinder, dem Gehrock, den grünen Schlips, den umgekrempelten Hosen und den Lackschuhen lachte wieder … breit … herzhaft … schadenfroh.

Sie weinte … unaufhörlich, in glucksenden, musikalischen Lauten, fast wie zum Vergnügen.

Am nächsten Morgen schickte sie ihm den Ring zurück.

Der kleine Lorbeer

Wenn der kleine bescheidene Lorbeer spazieren ging, mit trippelnden, vorsichtigen Schritten, die den Boden um Vergebung baten, dass sie ihn berührten, blieb er alle zehn Sekunden stehen, einem Frauenzimmer nachzustarren. Sie mochte hübsch oder hässlich, groß oder klein sein, wenn sie nur einen breiten Busen hatte. Er schämte sich und wurde rot, wenn er hinsah, aber er müsste doch hinsehen. Und starrte noch, wenn das Fräulein längst im Omnibus oder um die Straßenecke verschwunden war. Abends, in seinem möblierten Zimmerchen, das im vierten Stock lag, öffnete er sein Fenster, ließ den blauen, zitternde Schauer weckenden Nachthimmel herein und blickte ängstlich und ehrfürchtig zu den Sternen, ob sie ihm Helfer sein könnten in seiner Not. Und er betete zum lieben Gott und zeihte sich schmutziger Sünden und Gedanken. Aber ihm wurde nicht besser; das Gebet brachte ihm die Lockungen seines Herzens schmerzlich nah ins Gedächtnis, dass er schauderte vor seiner Verderbnis und sich doch nicht von ihr lösen konnte. Er schlug sich und wimmerte und bebte in seiner Entheiligung des Gebetes. Weiße, starkbrüstige Frauen schritten durch seine Träume und rankten und krallten sich an seine sittliche Kraft, dass er sie nicht losreißen konnte. Sie zehrten an ihr. Und wie Lianen schlangen sich ihre flammenden Arme um seine Gedanken, wenn er ihnen entfliehen wollte. Nächtelang lag er wach, mit rotem Gesicht und klopfenden Pulsen, oder hockte und sah nach dem gelben Fenstervorhang, an den die Gaslaternen von der Straße herauf flackernde Bilder warfen, die wie sichtbar gewordene Seufzer über das gelbe Tuch wehten. Seine Bitten zu Gott wurden von Tag zu Tag unaufrichtiger. Er bereute die Wollust seiner Gedanken ja gar nicht, er plapperte es sich nur vor, weil er das Verschwommene, Unsichere liebte und die Wahrheit fürchtete. Er hasste seine Gedanken, o ja!, aber er hasste sie nur, weil sie so schwächlich waren und nie zur Tat wurden.

Wie beneidete er seine Kollegen im Kontor, wenn sie Weibergeschichten erzählten. Fast jeder hatte ein „Verhältnis“, das er abends in den Konzertgarten oder zum Tanzsaal führte: Ladenmädchen, Telefonfräulein, Konfektionöse. Sie sprachen einen vollkommen ausgebildeten erotischen Jargon, der sich entsetzlich roh anhörte. Ihre Mädchen nannten sie „Bolzen, Spritzen“. Mit ihrem Mädchen ausgehen nannten sie «sich die Ziege vorbinden». Ein Mädchen verführen, hieß „umbiegen“, und wer das nicht wenigstens einmal fertiggekriegt hatte, galt ihnen als „Schlappschwanz“. Der arme Lorbeer war darum ihrer mitleidigen Verachtung anheimgefallen. Wie sehr er sich auch mühte, seine wahre Natur zu verbergen, sie fanden bald, wie es mit ihm stand, und höhnten ihn. Der Don Juan des Kontors, ein junger Mann mit Namen Ziegenbein, der künstlerisch gewundene Krawatten trug, deren Enden wie Fahnen über Weste und Rock flatterten, und den linken Fuß etwas nachzog, schlug dem kleinen Lorbeer vorn auf die Hühnerbrust und schnatterte: „Immer ran, mein lieber Lorbeer, immer ran an den Speck. Nur keine Bange nich. Es gibt immens viel Frauenzimmer – sehen Sie mich! Nich retten kann man sich vor ihnen. Immerhin“, er spuckte sich in die Hände und bestieg wieder seinen Bock, „manchmal ist es zum Kotzen. Sehen Sie mich, lieber Lorbeer. Um gewissermaßen ein Gleichnis zu gebrauchen, einen Vergleich! Wie die Bienenkönigin bin ich, rings um mich rum sind Bienen, und ich stecke drin, ganz tief. Da rauskommen heißt schwer.“ Und er begann langsam an einem kalligraphischen D zu malen, während das ganze Kontor zustimmend verehrungsvoll grinste, der kleine Lorbeer aber, weil er sich durchschaut sah, abwechselnd blass und rot wurde. Heimlich äugte er von nun an, so oft es ging, zu Herrn Ziegenbein hinüber, neugierig, geradezu gefoltert von der Qual der Erwartung, einmal herauszubekommen, weshalb Herr Ziegenbein so nachhaltig auf Frauen wirkte. Hübsch war er nicht – wenn man von seiner Krawatte absah, die er jeden Tag zu wechseln pflegte. Sonntag trug er eine weiße Krawatte, Montag eine blaue, Mittwoch eine grüne, die Farbe der Hoffnung, da es nun wieder auf Sonntag ging, und so weiter. Die Farbe jedes Tages bedeutete ihm ein Symbol. Hübsch war Herr Ziegenbein nicht, seine Nase wuchs sogar über das braune Stutzbärtchen hinaus bis auf die Lippen, Herr Ziegenbein humpelt sogar – und trotzdem…? Durch seine Klugheit? Der kleine Lorbeer zuckte verächtlich mit den Schultern. Klugheit, Bildung, da war er ihnen allen voraus. Wer von ihnen las Gedichte oder versuchte sich manchmal gar selbst in der Poesie? Oder ging ins Theater? Wenn er einem Mädchen durch Bildung hätte imponieren können! So viel war ihm klar, dass Bildung bei Mädchen nicht verfängt. Ja, er dachte deshalb geringschätzig von den Mädchen, dass sie geistige Anmut nicht zu würdigen verstünden – aber er ersehnte ihre Leiber doch und brannte nach ihnen. Er guckte heimlich schnell in seinen Taschenspiegel: schön… so schön wie Herr Ziegenbein war er längst, wenn seine Augen auch in einem Blau schimmerten, das allzu verwässert schien. Woran lag es also, dass er den Mädchen nicht gefiel? Er erinnerte sich, dass er noch gar nicht einmal die Probe aufs Exempel gemacht, dass er die Verachtung der Mädchen immer nur aus der Ferne gefühlt und aus ihren Blicken gelesen hatte. Konnte er sich nicht täuschen? Ein Stein rollte von seinem Herzen! Er wollte es wagen, er wollte einmal ein Mädchen ansprechen! – Des kleinen Lorbeer Verehrung des weiblichen Geschlechts war immer auf das Ganze gegangen. Eine einzelne bestimmte hatte er nie geliebt, wer ihm den Weg kreuzte und sich passabel genug ausnahm, der hatte ihm als «Weib» gegolten, als Weib schlechthin in diesem Augenblicke, bis der nächste Augenblick vielleicht schon die Ablösung brachte.

Am Abend nach Geschäftsschluss schlenderte der kleine Lorbeer durch die Straßen und sah Ladnerinnen, Fabrikarbeiterinnen und jenen andern, die ihm immer als die schönsten erschienen waren, frechschüchtern ins Gesicht. Hin und wieder fing er auch einen Blick, wie die Kinder Heuhüpfer auf der Wiese fangen, hastig zugreifend, aus Angst, er könne ihm sonst entspringen. Er konnte sich aber nicht entscheiden, einem Mädchen nachzulaufen, es waren so viele, und wenn er ein paar Schritte hinter einer Blonden herlief, kam jetzt eine Braune, die ihm bei weitem mehr gefiel. Da trippelte eine kleine Schwarze, zwei Freundinnen kichernd am Arm. Sie war eine übermütige Kröte und drehte ihm große runde Blicke und bog sich schmachtend nach ihm um. Er verstand ihre Zuvorkommenheit aber falsch: den Atem hielt er an vor verliebter Erschrockenheit, seine wasserblauen Augen öffneten sich weit und sahen aus wie zierliche blaue Teller aus Delfter Porzellan. Dann atmete er tief auf und besann sich: er musste ihr nach. Wo war sie aber? Ganz in der Ferne leuchtete ihre rote Bluse wie eine Mohnblume auf graugrüner Wiese. Er lief und lief, stieß Damen ungalant mit dem Ellenbogen zur Seite, trat einem vornehmen Herrn auf die Lackstiefel und hätte am liebsten geschrien: „Haltet den Dieb, haltet den Dieb!“ Denn, sagte er sich, sie hat mein Herz gestohlen, wie es in den Romanen immer heißt, meistens um die fünfzigste Seite herum, wenn die Liebeserklärung nahe ist. Als er sie endlich eingeholt hatte, waren ihre Freundinnen nicht mehr bei ihr, sie ging, lachend und ihre veilchenfarbene Tasche schlenkernd, in Begleitung eines jungen Mannes, augenscheinlich eines Studenten, der mit eckigen und abrupten Arm- und Handbewegungen überzeugend auf sie einredete.

Der arme kleine Lorbeer blieb mitten auf dem Trottoir stehen und stand mit zusammengekniffenen Augen und gekrampften Lippen, unbeweglich, wie unter einer unangenehm kalten Dusche.

„Abendpost“, „Abendpost›!“ schrie jemand dicht neben ihm. Und ein Schulknabe mit dickem, pfiffigem Gesicht pflanzte sich hart vor ihm auf und piepste: „Sie, Münneken, jehn Se man weiter, Sie stören den Verkehr.“

Ein paar Passanten lachten.

Der kleine Lorbeer ging weiter. Seine Niederlage schmerzte ihn. Er hatte keine Lust zu ferneren Abenteuern. Erbost betrat er eine Stehbierhalle, trank einige Gläser Bier und begab sich auf den Heimweg. Seine vorher so lebhafte Begierde hatte einem leeren, toten Gefühl Platz gemacht, in dem Zorn, Hoffnung, Resignation und Müdigkeit um den Vorrang stritten. Es wollte keines zum Siege gelangen, seine Gedanken wallten in ein sumpfiges Chaos, das ihn anekelte.

Diese Nacht schloss er das Fenster und sah nicht nach den Sternen.

Am nächsten Tag plagten ihn Kopfschmerzen. Er machte einen so blassen, grämlichen Eindruck, dass man im Kontor anzügliche Bemerkungen vom Stapel ließ und der Don Juan, Herr Ziegenbein, eine Behauptung aufstellte, die ihm das Blut vor Scham in den Kopf trieb – weil sie leider der Wahrheit ermangelte. Da wurde es ihm wieder klar, dass er es seiner Ehre schuldig sei, endlich ein Mädchen zu gewinnen. Und am Abend machte er sich wieder auf den Weg, diesmal von tollkühnem Wagemut besessen. Heute traute er nicht jedem verwegenen Mädchenblick, und so kam er überhaupt zu keinem Entschluss und lief schon eine Stunde durch die Straßen, als er am Gitter einer Villa der Vorstadt ein Mädchen sah, dessen stahlblauer Blick wie ein Blitz zischend in seine wasserblauen Augen fuhr. Strohgelbe Haare flochten sich wie ein Erntekranz um ihren Kopf, und unter dem Blau ihrer Augen schimmerte ein leichter rosa Glanz – wie oben in der schwarzblauen Nordsee in heißen, klaren Sommernächten ein rosa Ton liegt, den das Meer vom Tage, von der Sonne zurückbehielt.

Der kleine Lorbeer kreiste wie eine Fledermaus verlegen um sie herum, wurde rot, würgte an einer Anknüpfung; plötzlich trat er mit einem Ruck auf sie zu.

„Gestatten … statten Sie, mein Fräulein, warten Sie … auf … auf jemand?“

Sie sagte langsam und langweilig, ohne ihn anzusehen: „Auf Sie nich.“

Der kleine Lorbeer stand fünf Minuten neben ihr, mit dem Gefühl einer unrühmlich verlorenen Schlacht. Er wollte sie irgendwie gut machen. Aber er fand keine Worte. Er ging in die Stehbierhalle und begab sich auf den Heimweg. Drei Tage dachte er überhaupt nicht an Weiber und arbeitete im Kontor mit einem Eifer, als ob er sich eine Gehaltsaufbesserung verdienen wolle.

Am vierten Tag stellten sich seine verliebten Gedanken wieder ein. Und er nahm sie nicht ungnädig auf, brachten sie ihm auch Unruhe genug. Er hielt sie vorerst in Schranken. Sie benahmen sich so gesittet, dass er sogar die Tochter des Portiers, ohne sie zu entkleiden, aus nur kindlichem Wohlgefallen betrachten konnte.

Am 23. Juli aber – er ist der wichtigste Tag im Leben des kleinen Lorbeer und verdient namhaft gemacht zu werden – drohte der kleine Lorbeer den ganzen Tag in Liebessehnsucht zu verschmelzen. Heimlich betete er im Kontor zum lieben Gott, er möge ihm doch seine einzige Bitte erfüllen.

Diesen Abend – es war ein warmer Sommerabend, an dem keine Bank unbesetzt ist von Liebespärchen und selbst die Schutzleute paarweise durch den Park patrouillieren – ging er nach Geschäftsschluss noch einmal nach Hause, band sich einen neuen, rotseidenen Schlips um und spritzte sich Parfüm „Königin der Nacht“ auf den Rock. Seinen Spazierstock ließ er fröhlich zwischen seinen Fingern tänzeln. Heute wandte sich sein Blick vorzugsweise jenen Frauen zu, die so apart gekleidet sind und einen so exklusiven Eindruck machen, auch eine exklusive Stellung in der Gesellschaft einnehmen. Man lädt sie zwar gern durch die Hintertür zum Souper, treibt sie aber vom Vorderaufgang, „Nur für Herrschaften“, mit Peitschen hinweg.

Der kleine Lorbeer wusste, dass es eine Liebe für Geld gebe. Er hatte oft genug geschwankt, ob er sie nicht einmal probieren solle. Aber so reizend ihn diese Frauen dünkten – die viel schöner als Ladnerinnen, Mamsells und Stubenmädchen aussahen –, er hatte ein Prinzip, und das sagte ihm, diese Liebe um Geld sei unmoralisch, ja gemein. Denn jeder könne die Frau besitzen, die er vielleicht grade begehrte, wenn er nur Geld habe. Heute, wie er sich wieder mit diesem Problem zu schaffen machte, zeigte es ihm überraschend neue Seiten. Wie, konnten diese Mädchen nicht auch – lieben? Würden sie nicht manchen, dem sie mit seltsamen Blicken winkten, vielleicht wirklich lieben – ohne Geld –, wenn sie ihn, sein gutes Herz, seinen Charakter näher kennenlernten? Wenn nun er…? Der kleine Lorbeer suchte in den Augen der schön geputzten Damen nach Verständnis … nach Liebe; würde er sie nicht bei einer – bei einer wenigstens finden?

Da streifte ihn eine schlanke Schöne. Ihre Augen waren klein und braun, ihre gutgeformten Brüste hoben sich unter der weißen Bluse deutlich ab. Sie trug kein Korsett. Dem kleinen Lorbeer wurde schwindlig. Diese, diese … war es. Er lief hinter ihr, dann neben ihr und zog seinen Hut. Sie lachte, als sie den Kleinen sah. Dann bogen sie in eine Nebenstraße ein, dann in ein Haus. Es ging vier Treppen hoch. Vier Treppen, wie bei mir, dachte der kleine Lorbeer. Sie schloss auf, ließ ihn herein und klinkte die Tür wieder zu. „Leg ab“, sagte sie und machte die Nadeln vom Hut los, den sie sorgfältig auf einen Stuhl legte.

„Wie gefällt er dir?“ sie zeigte auf den Hut.

Der kleine Lorbeer hatte bisher kein Wort gesagt, sie nur immer wieder verwundert, beklommen und sehr verliebt angesehen. Wenn sie ihn doch lieben möchte … lieben … ohne Geld. Denn das ist ja keine Liebe … mit Geld.

„Sag“, und sie rieb ihre Brüste an seinen Oberarm, „du gibst mir etwas?“

Er erschrak.

Er fiel vor ihr nieder, sein Kopf lag zwischen ihren Knien: er stöhnte, und die Worte kamen wie Bröckel und Klötze, die sich vom Felsen seines Leides lösten, unbeholfen, von verhaltenen Tränen durchströmt, aus seinem Munde: „Du, lieb mich, hab mich lieb… warum willst du Geld? Dann ist es keine Liebe… Dann ist es Sünde… Mich hat noch niemals eine Frau geliebt… warum wollen Sie Geld? Warum lieben Sie mich nicht?“

Das Mädchen sah auf ihn herab mit frommen Blicken, wie die Madonna auf einen Büßer, der ihr sein Herz beichtet.

Sie zupfte zärtlich an seinen Haaren: „Kind, du bezahlst mich doch nicht… ich hab dich wirklich lieb … sieh … du schenkst mir nur etwas – freiwillig… ganz freiwillig.“

Der kleine Lorbeer verstand langsam, dann jubelte er auf: das war Liebe! –

Im Kontor trug er nun ein selbstgefälliges Wesen zur Schau. Nebenbei ließ er durchblicken, dass er eine Geliebte habe, eine Geliebte.

Dreimal wöchentlich besuchte er seine „Geliebte“, indem er ihr jedes Mal ein kleines Geldgeschenk mitbrachte.

Übrigens stand sein Fenster des Nachts wieder auf. Der blaue Nachthimmel kam herein und brachte die Sterne mit, die, einst Zeugen seiner Not, nun Zeugen seines Glückes wurden.

Nach knapp einem halben Jahr lud der arme kleine Lorbeer zur Hochzeit.

Balaschew

Man bleibe mir mit den amerikanischen Millionären vom Leibe.

Die russischen Millionäre: das ist das wahre. Zum Beispiel: Balaschew.

Balaschew war ein großer Philosoph.

Er tat immer gerade das Gegenteil von dem, was man von ihm erwartete.

Konnte eigentlich das in schwerer Schuldennot befindliche „Säuglingsheim“ (und mit Recht) vermuten, er, der vielfache Millionär, werde sich seiner mit einer kleinen Summe annehmen, so gab er keinen roten Heller. So flehentlich, unter Berufung auf allerlei Ethik, man ihn auch bar. Hingegen überraschte er eines Tages den „Verband überzeugter Antialkoholiker“, dessen ausgesprochener Gegner er war (das beweist sein nicht gewöhnlicher Konsum an Wodka), mit einer Summe von 10000 Rubeln zur Begründung einer „Balaschewstiftung“, deren Zinsen dazu verwandt werden sollten, erprobten Verbandsmitgliedern (sie mussten dem Verband mindestens 15 Jahre angehört haben), an ihrem Namenstage eine Dedikation von fünfzig Flaschen Karlsbader Brunnen zu überreichen.

Balaschew konnte krähen wie ein Hahn und bellen wie ein Hund.

Um diese seine Fertigkeit nicht nutzlos brach liegen zu lassen, kaufte er an einer der Hauptstraßen Moskaus ein Haus, ließ es niederreißen und baute eine geräumige und komfortable Hundehütte an seiner Statt. Einmal in der Woche, und zwar am Donnerstag, kroch er hinein und bellte die Vorübergehenden laut und missgünstig an.

Er nannte das: Diogenes spielen.

Er besaß eine Katze, alt, struppig und von abschreckender Hässlichkeit. Er ließ sie in allen Stellungen, von hinten, von vorn, von oben und unten photographieren und sandte die Photographien an alle Zeitschriften des In- und Auslandes, einschließlich der Honkong-Times und der Woche, welch letztere sie denn auch (nach seinem Tod) brachte.

Er abonnierte auf sämtliche Zeitungen per Streifband. Sah aber nur nach, ob auf der Banderole „Sr. Hochwohlgeboren“ stand. Fehlte diese Formel, so bestellte er die Zeitung sofort ab. Fand er sie klar und deutlich vor, so abonnierte er hundert Exemplare.

Eines Tages mussten ihm seine Füße abgenommen werden. Er ließ sie ehrenvoll bestatten und errichtete ihnen ein rötliches Marmordenkmal mit der Inschrift: „Hier ruhen die Füße Balaschews. Wanderer eile vorüber, wenn du nicht einen Tritt haben willst.“

Balaschew starb vor etwa vier Wochen. Er wurde im Armensarge begraben und ohne geistliche Hilfe. Seinem Sarge folgte eine Kapelle, die unermüdlich bis zum Friedhofe dieselbe Melodie spielen mußte: „Schöne Minka, ich muss scheiden.“

So sehen wir, dass Balaschew, in einer für Millionäre seltenen Weise durchaus der Pflege geistiger Güter zugewandt, insonderheit der stoischen Philosophie leidenschaftlich ergeben war.

Er stand übrigens mit Tolstoi im Briefwechsel, was unsere hohe Meinung von ihm nur noch verstärkt.

 

(Veröffentlicht unter dem bürgerlichen Namen Klabunds, Alfred Henschke, in März, 7. Jg. (1913), Heft 11 (15. März 1913), S. 414)

Der Liebende 

Der Primaner Arnold Bubenreuther stelzte lässig und blasiert durch die schmutzigen einstöckigen Vorstadtgassen, Wie fad dieser Sonnabendnachmittag! Und Geld habe ich auch keins mehr. Wo geh ich nur heut Abend hin? Zur Lizzi? Die wird nicht mehr anschreiben wollen, Verdenken kann ichs nicht. Hab zu viel bei ihr stehen. Sie ist wirklich nobel, die Lizzi, aber sonst taugt sie nichts. Wie wärs mit Nelly? Der ewigen Witwe, der kleinen schwarzen Person? Ich habe eigentlich genug Trost an sie verschwendet. Außerdem: Sie ist ja jetzt hinter dem dämlichen reichen Bäckermeister her.

Aber die Claire, das ist die einzig würdige. Ich war mindestens einen Monat nicht bei ihr. Aus der ließe sich durch ernste, anhaltende Bemühungen etwas machen.

Er seufzte.

Leider gehörte Geld dazu. Sie hat Talent, sie hat Genie zur großen Kokotte.

Er zeichnete zärtlich in Gedanken die widerstreitenden Linien und verwegenen Rundungen ihres einzigartigen Körpers nach, den er, als er sie zum letzten Mal gesehen, für schwanger gehalten hatte. Was sie abstritt.

Bedauerlicherweise lässt sie einem Pfuscher von Schneider arbeiten, Habe ich ihr das noch nicht gesagt? Dieses matte blau, das er ihr aufgehalst, ist geradezu unmöglich; Bei einer stilisierten höheren Tochter mag es hingehen, das Schemenhafte, Unwirkliche dieser Farbe. Ihr Kleid muss ebenso lebendige und leuchtende Falten Werfen, wie sie selbst. Dass ich doch ihr Lehrmeister sein dürfte! Das wäre ein Ziel, eine leidenschaftliche Aufgabe meines Ich. Der Erfolg sollte mein alleiniger Lohn sein … statt dessen zwingt mich die Schule, ein best Teil meines Lebens mich mit größenwahnwitzigen Schuhputzern der so genannten Humanitas- das sind die Lehrer – und den hölzernen Gefühlen der Antigone, Wallenstein, Uhland, Erlkönig. Lafontaine und ihrer Papiermache Weisheit herumzuschlagen.

Diese Dichter bieten einen grässlichen, ungemein komischen Anblick. Wie kann man sich selbst nur in derart blutschänderischer Weise prostituieren. Wenn sie noch Maß halten könnten, die geilen Liebhaber der Kunst. Aber sie zapfen beständig an ihren feinsten seelischen Kräften, bis sie lebensimpotent werden, und die Dame Leben, die vergewaltigt sein will, sich höhnisch von ihnen abwendet. Andere ziehen es vor, sich kastrieren zu lassen und mit piepsenden Stimmen von der Anmut der Eunuchen zu singen. Gibt es etwas Niedrigeres, Schwächeres als die Selbstverleugnung des Künstlers? Ehe der Hahn zum dritten Mal kräht, wirst du mich verleugnet haben, Petre. Nue eine „Kunstrichtung“ lasse ich gelten: Die Karikatur, die Satire, die Selbst- und damit All-Ironie. Jedes Objektivieren ist unsinnig. Was aus dem Aushängeboden der idealen Kunst lügnerisch prangt: Läuterung, die Ironie darf es in ihrem Schilde führen: Sie läutet in der Verzerrung, Die ideale Kunst Verzerrt in ihrer Läuterung. Wenn ich und voll bewusst sein werde, will ich eine Komödie schreiben, nur eine einzige, die soll, wie es sich gebührt, den lieben Gott zum Teufel und Beelzebub zum Erzengel machen, und die verkrümmte und verbogene Welt soll in hohlen Spiegel ihr echtes Antlitz sehen, so dass sie vor wieherndem Lachen platzen wird. –

Otto Schulz, Schulkamerad Arnold Bubenreuther, stotterte des Weges, Sein Gang stotterte ebenso verlegen wie seine Sprache.

Die Hosen schlenkerten unbeholfen um zwei steife Holzstöcke. Otto Schulz hatte über seine Glieder keine Übersicht. Er wusste nie, wo er Augen, Arme und Hände lasen sollte. Auch in seinem Kopf schienen Großhirn und Kleinhirn ein wenig durcheinander geraten zu sein. Gefühl und Vernunft, Energie und Schlaffheit sprudelten um- und übereinander. Bald wollte er Forschungsreisender, bald Religionsstifter, bald Regierungsassessor werden. Er war totunglücklich, als er angesprochen wurde. Arnold hielt ihn an:

„Mensch, wo kommen sie denn her?“ – Arnold siezte seine Klassengenossen prinzipiell, – „Sie haben sich ja schön dreckig gemacht. Sie sind wohl im Poetentempel nach seltenen Algen geschwommen?“

Otto Schulz stierte ihn verständnislos an: Dann stieß er pfeifend und atemlos mit erschrockenen Augen die Worte heraus:

„Lassen sie mich, Bubenreuther , … ich habe Eile, … ich muss zur Polizei, o denken sie“ … „was darf ich denken?“

Bubenreuther fixierte den unglaublich geschmacklosen türkischen Schlips des Otto Schulz. Den hat ihm sicher seine Schwester, das unglückliche Mädchen, zum Geburtstag geschenkt, dachte er.

„Oben am Teich hinter den Schießständen“ … der Faden verhedderte sich.

„Fassen sie sich, lieber Schulz“, ermahnte Bubenreuther ihn zärtlich ironisch.

„Liegt eine Kindsleiche im Schilf?“

Otto Schulz war am Ende seiner Konzentrationsfähigkeit. Das Bild, dass er am Teich gesehen hatte, grinste ihm grausig in die Seele, dass er sich fürchtete.

„Dann müssen sie freilich schleunigst zur Polizei“, sagte Bubenreuther langsam, und ich will sie nicht aufhalten. Adieu.“

Otto Schulze hoppelte wie ein angeschossener Hase hopsend und keuchend weiter.

Arnold Bubenreuther setzte seine Weg bedächtig fort.

Die Landstraße begann. Links zeigte sich das letzte Haus, eine vierstöckige Mietskaserne, von einem unangenehm roten Anstrich, geputzt wie ein aufdringliches Frauenzimmer: Hobelgeräusche, Kinderspielen und Frauenstimmen klangen um das Haus. Am Brunnen lehnte in einer verwaschenen blauen Kattunbluse eine hübsche feste Dienstmagd, die Arnold Bubenreuther lächelnd neugierige Blicke nachschickte.

Arnold Bubenreuther bog recht nach den Schießständen ab.

In zehn Minuten hatte er den Teich erreicht. Suchend schritt er an seinem Rande. Aus einer zwei Schritt vom Ufer entfernten Schilfgruppe lugte ein weißliches Etwas. Nach kurzer Überlegung und nachdem er sich einmal umgesehen, stampfte er mit den Schuhen ins Wasser, bückte sich nach dem weißen Fleck und hielt eine Knabenleiche, die Leiche eines Neugeborenen in den Händen.

Am Ufer setzte er sich und legte das Tote vor sich ins Gras. Den Kopf in die Hände gestützt, fraß er den Anblick in sich hinein. – „Es ist gut, dass deine Mutter sich zertreten, Wurm, du hättest doch nie gehen gelernt und hättest immer kriechen müssen. Deine Mutter kennst du, aber die Auswahl unter deinen Vätern wäre dir wohl schwer geworden.

Ein Kind, dass ohne Vater auf die Welt kommt, lebt überhaupt nicht.

Die Einfachheit und Einfalt deines Todes berauscht mich.“

Und das Kind lag, wie ein Heiligenschein, das geheimnisvolle Schweigen seines Rätsels, Die Händchen hielt es ganz dicht an das Kinn gepresst.

Arnold Bubenreuther blickte auf die Händchen.

„Wer bist du?“ fragte er „Wer ist dein Vater und deine Mutter? Wer bist du?“

Das Kind schwieg.

Arnold Bubenreuther lachte wütend.

„Du bist verstockt, mein Lieber, du bist eigensinnig. Warum so still? Man wird dich einen Ganzen spinnen lassen, wegen Eigenbrötelei. Was ist mit dir, he?“

Und diesmal antwortete das Kind.

„es ist nicht wahr,“ schrie Arnold entsetzt, „sag es noch einmal, es ist nicht wahr.“

Und das Kind antwortete.

„Es kann ja nicht sein,“ – Arnold Bubenreuther stöhnte. Sein heißer Atem wehte wie Wüstenwind.

„Es kann ja nicht sein.“

Und dann weinte er, Träne auf Träne tropfte in leisem Fall auf die Stirn des Kindes.

„ich weine Mairegen. Mairegen macht groß. Lässt dich wachsen! Du sollst wachsen!
Nie wirst du wachsen, Zwerg, du toter Riese …

Was hätte aus dir werden können, du mit so tiefer Lebensbrunst Gezeugter. Als sie dich tötete, hat deine Mutter sich selbst getötet. Du warst ja unsere Erfüllung, unser Ende. Wurde sie wahnsinnig in ihrer Mutterliebe und ihrem Mutterschmerz? Claire, – warum dachtest du nicht an mich? Du … Hure.

… Ich hätte keine Alimente gezahlt? Gestohlen hätte ich … gemordet hätte ich meinen Vater … um meines Sohnes willen.“

Es dämmerte allmählich. Der Nebel breitete weiße Watte über das Gelände. Am glasklaren Himmel hing das gelbe Horn des Mondes wie ein frisch aus der Pfanne gezogener Aniskuchen.

Arnold Bubenreuther sprang auf und begriff. Die Polizei konnte jeden Augenblick das ein. Sie würden die Leiche ins Schauhaus bringen und schließlich, wenn der Mord geklärt, irgendwo im Sande verscharren.

„Mein Sohn, mein Sohn – und tot.“

Grimmig-zärtlich streichelte er den feinen Kopfflaum.

Dann brüllte er plötzlich in mächtiger Raserei, dass ihm der Schaum auf die blassen Lippen trat, Sie … Sie … Sie“ …

Er beruhigte sich, hob behutsam den kleinen Körper und bettete ihn unter seinem Mantel warm an seine Brust.

„Du Blut, Du meine Blut, sang es in ihm, wie Du aus diesem Kinde und mir hin und wieder strömst. Ich werde dir einen Altar bauen, Du meine toter Überwinder. Du toter Gott. Da du mein Sohn warst, wärst du ein Gott geworden. Ich werde dir ein göttliches, loderndes Leichenbegräbnis herrichten und deine Asche, woher du kamst, in den Südwind streuen.“

Ruhig uns selbstsicher schritt er durch die Straßen der Stadt,

Er begegnete den Polizisten.

Stassi

Ich hatte vor dem Schlafengehen ein heißes Fußbad gegen meine kalten Füße genommen, diese dann noch, wie es Mutter Jenschen geraten, in eine wollene Decke gewickelt und um meinen Hals gegen die Erkältung einen tüchtig feuchten Umschlag geschlungen, worauf ich ins Bett Stieg und das Licht auspustete – da passierte etwas Absonderliches. Ich fühlte, wie ich so lag, unter meiner Bauchwand etwas kriechen und sich schieben, etwas lebendiges, – wie ein junges Krokodil. Es patschte über meine Leber, ganz langsam, titscht, tatscht, Tatscht, titscht. Da fuhr meine Hand unter die Decke und hielt das Unwesen gefasst, dass die Bauchwand wie eine Kunstreiterin im Zirkus den mit Papier ausgefüllten Reifen durchsprungen hatte. Es fühlte sich wabblig und feucht an wie ein Frosch. Nur war es warm und nicht kalt, wie sich das aus der Körpertemperatur versteht. Als ich fester zugreifen wollte, entglitt es und ich fand es auch nicht, als ich ein Streichholz anzündete. Ich habe solch kurioses Gefühl nur noch einmal gehabt, als Madame Fichon mich später heiratete und ich genötigt war, in ihren Busen zu greifen, Woher die nasswarme Kröte unter meinem Hemd in der oben beschriebenen Nacht rührte, ist mir allmählich klar geworden: Ich hatte am Abend zu viel von dem in unserer Gegend Mohnstriezel benannten Gerichte gegessen, dass meine erste Frau, Gott hab sie selig, vortrefflich zu bereiten verstand.

Madame Fichon war nur ein Berufsname. In Wahrheit hieß sie Emilie Fischer. Sie war Hurenmutter. Du lieber Gott! Als ob ich ihr daraus einen Strick drehen wollte! Im Gegenteil. Das Leben schubst uns hin und her. Man stößt sich bald hier, bald da die Nase oder das Cerebrum, man stolpert und fällt in den Gassendreck, und ohne sich wenigstens die Stiefle zu beschmutzen, ist noch keiner über die Straße gegangen. Von Stubenhockern aber wollen wir nichts wissen. Ihre Tugend ist blass und stinkt nach dem Ofen. –

Madame Fichon war eine gute Hurenmutter. Sie nahm nicht wie andere ihres Gewerbes ihren armen Kindern das Brot vom Munde, sondern sorgte für anständiges, nahrhaftes Essen, hielt auf Reinlichkeit und Ordnung, ja ermunterte ihr leichtsinniges Volk zur Sparsamkeit, so dass die Weiber sehr an ihr hingen.

Schon in der letzten Zeit meiner ersten Ehe besuchte ich öfters das Haus. Meine Frau kränkelte, schrumpfte frühzeitig zusammen und es war – wie man zu sagen pflegt – nichts vorhanden. Ich aber, der Bürstenbindermeister Gustav Albert Hellermann, war noch ein gesunder kräftiger Mann. Zum Teufel, der Mann will das Weib, und meine Frau war kein Weib mehr- Sehen sie jetzt noch meine Muskeln! Ich war Mitglied des Turnvereins „Vater Jahn“, des Radfahrvereins „Sachte weg“, des Ruderclubs „Triton“, und wenn sie mich einmal besuchen, zeige ich ihnen die Menge Becher und Ehrenzeichen und Medaillen, die ich auf Gau- und Bundesfesten gewonnen habe. Die Riesenwelle machte ich ihnen siebzehn Mal und in der Tausend-Kilometer- Tourenfahrt des deutschen Radfahrbundes siegte ich.

Und dabei eine kranke Frau! Die zu ertragen, kam mich hart an. So wurde ich sozusagen Quartalsliebhaber und Gast in Madame Fichons Haus. Bei der fand sich eines Tages ein Mädchen ein, dessen Papiere auf Klara Staß Lautete. Sie selbst nannte sich Stassi; diesen Kosenamen hatte sie wahrscheinlich aus ihrem Familiennamen abgeleitet. Denn ich weiß nicht, ob es einen Mädchennamen Stassi gibt. Sie war hübsch, blond, aufgeweckt und sehr nett, so dass sie mir außerordentlich gefiel, und ich beschloss, sie aus ihrem immerhin kläglichen Berufe zu befreien. Ich sprach darüber mit Madame Fichon und bot ihr eine Abfindungssumme an. Sie ging auf meinen Vorschlag ein. Stassi nahm ich als Dienstmädchen in mein Haus. Sie schien mur zu schade als Magd, aber anders konnte ich ihr vorläufig nicht helfen. Sie führte sich gut und selbst meiner Frau zur Zufriedenheit. Diese wusste natürlich von dem Sinn und Zusammenhang der ganzen Angelegenheit nichts. Den Namen „Stassi“ fand sie zwar abenteuerlich, aber sie ließ es bei diesem äußerlichen Bedenken bewenden.

Ich hatte es mir zugeschworen, mein Haus rein zu halten. Der Teufel mischte sich ins Spiel. Einen Monat dauerte der Schwur. Dann verliebte ich mich unendlich in Stassi, und sie wurde natürlich mein Schatz- Außerdem hatte sie inzwischen einen Bräutigam gefunden, einen Monteur an der Messingwarenfabrik, dem sie „treu“ blieb. Mir hatte sie sich aus Dankbarkeit ergeben. Öffentlich hielt sie auf ihre jungfräuliche Ehre, und sie gewährte mir Freiheiten, die sie ihrem Monteur unbedenklich verweigerte.

Eine Abends war ich mit ihr in der Bodenkammer, die der Mädchenstube gegenüber lag. Ich hatte meiner Frau gesagt, dass ich auf den Boden ginge, und konnte dies umso eher, als sie, zerbrechlich und klapprig, wie sie war, schwer Treppen stieg, und ich ihr durch diese halbe Wahrheit jedes Misstrauen benahm.

Plötzlich rüttelte jemand an unsrer Tür, ich fragte leise, was los sei; Stassi packte meinen Arm und blickte mich entsetzt an.

Die Stimme meiner Frau kreischt: „Gustav, Gustav, um Gottes Willen, Feuer, Feuer!“

Ich springe auf. Stassi hat mich los gelassen und ist in die äußerste Ecke geflüchtet.

Draußen schreit meine Frau: Gustav, Gustav, die Treppe wird gleich brennen“, und sie fällt in ein klägliches Wimmern: „Gustav, Gustav, was hast du bloß … Feuer, Feuer.“ Und ich höre, wie sie mit verzweifelter Anstrengung an der Klinke zerrt.

Ich presse die Zähne zusammen: „Stassi, du musst mit.“

Das Klirren der Klinke und die Wehrufe meiner Frau übertönen mein Flüstern.

„Deine Frau Sieht mich,“ raunt sie. „Das ist jetzt alles einerlei,“ gebe ich zurück, „hier geht es um Tod und Leben. Komm.“

„Nein“

„Du musst.“

„Nein.“

„Ja“

„Nein“.

Ich bin mit meiner Kraft am Ende. „Die Treppe brennt, Gustav, Gustav“ …

„ich komme“, brüllte ich und drehte den Schlüssel um. Ohne mich umzublicken, stürzte ich die Treppe hinunter, meine Frau, die ohnmächtig zusammengebrochen war, auf den Armen. Es war höchste Zeit. Die Flammen versengten mir die Haare.

Unten auf der Straße kam ich zur Besinnung und blickte zum Giebel hinauf. An materielle Verluste dachte ich nicht. Nur an Stassi.

„Es ist noch ein Mensch oben,“ meine Stimme schnappte vor Erregung über, „stellt die Leiter an.“

Ich hatte kaum ausgesprochen, als ich einen kurzen Schrei und dumpfen Fall neben mir vernahm. Stassi war hinüber ins Mädchenzimmer gelaufen und nun auf das Pflaster herabgesprungen. Sie lasen sie auf und fuhren sie ins Krankenhaus. Sie hatte sich das Rückgrat gebrochen, erwachte aber noch einmal zur Besinnung und rief nach dem Monteur. Der stürzte schweisig von der Arbeit herbei. Er liebte sie wirklich und soll sogar geheult haben. Und nun –

Stellen sie sich vor, sie brachte ihn dazu, dass er sich auf ihrem Sterbebette mit ihr trauen ließ! Der arme Dummkopf! Ein Opfer ihrer öffentlichen Ehre. Sie wollte anständig und bürgerlich aus dem Leben scheiden. Und ihr Ableben zu einer gewissen Reklame ihrer öffentlichen Jungfräulichkeit benutzen. Diesen Meisterstreich hatte ich ihr nicht zugetraut. Ich bewunderte sie, dass sie das, dass man Ehre nennt, so schön zu inszenieren verstand.

Denn was bedeutet den meisten Leuten die Ehre anders, als einen Rock, den man anzieht, wenn man auf die Straße geht – wenn man aber zu Hause ist oder untereinander, hängt man ihn gerne an den Haken. Und unmoralisch ist immer nur, wenn es jemand sieht. Deshalb brauche auch ich, Gustav Albert Hellermann, Bürstenbindermeister, mich meiner verliebten Sünden nicht zu schämen. Denn es weiß niemand davon als Madam Fichon. Und die hab ich gehreiratet und bin mit ihr an einen Ort gezogen, wo niemand sie und ihren heimlichen Beruf kennt. Hier heißt sie einfach Emilie und ist mein treues Eheweib. Und wenn sie mir einmal die Ehre erweisen sollten, mich aufzusuchen, wird sie ihnen herrliche Fleischklopse in holländischer Tunke vorsetzen. Denn sie führt eine ausgezeichnete, wenn auch bürgerliche Küche.

Der Dritte

Sie stand draußen am Gartengitter, die Arme in die Hüfte gestemmt, die Brust unter der weißen Bluse sehnsüchtig gestrafft.

Die Straße war grau, leer, stumm.

Aber irgendwer wandelte in ihr auf und ab.

Ich lauschte seinen unhörbaren Schritten.

Ein paar tote Blätter tanzten durch den trüben Schein einer Gaslaterne zu Boden.

Ich trat näher.

Ihr Haar flimmerte weißlichblond, vom Meerwind gebleicht, ihre blauwässrigen Augen trennte je ein dicker roter Strich von der Wange, Es sah aus, als hätte sie ihre untern Augenlider geschminkt.

Ich hatte solche Frauen in Friesland gekannt.

Ich lüftete den Hut ein wenig und fragte freundlich:

„ist ihre Herrin zu Hause?“

Sie sah über meine Schulter.

Stand jemand hinter mir?

Ich wandte mich um.

Gleichgültig sprach sie über mich hin, sie könnte es jedem andern auch gesagt habe:

„ich wohne allein … im dritten Stock.“

„Ihre Heimat ist Bremen!“ sagte ich sehr bestimmt.

Sie lachte – über meine Schulter weg – zu dem andern.

„Braunschweig“, lachte sie „Braunschweig … ja“ … Bestätigte sie.

Aber dieses Jahr war zugleich eine lüsterne Frage an den andern.

Es zitterte aus ihrem Munde, geschöpft aus dem Brunnen der Erinnerung und rollte in den Strom der Zukunft..

Das Spiel ihrer Hände ließ die Gartenpfosten klirren.

Ich streichelte ihre Tändelschürze.

„Komm!“ sagte ich

Komm!“ flüsterte sie und seufzte.

Es war ein Dritter unter uns.

Er wehrte sich gegen mich.

Wir tappten über die Hintertreppe – eine Wendeltreppe.

Sie klinkte auf.

Und zündete ein Stearinlicht an.

Das Rouleau war schon heruntergelassen.

Ich betrachtete das Zimmer, das übliche Zimmer der Zofe, der Spiegelschrank, die goldlackierten Stühle, die Postkarten an den Wänden und die rieseigen Photographien im Rahmen.

Und über dem Bett ein Heiligenbild.

Und um alles herum und aus allem heraus ein widerlich lodernder Duft aus von Seife, Mundwasser und schlecht gelüfteten Mädchenober- und unterkleider.

Sie setzte sich aufs Bett und begann gleichmütig ihre Schuhe aufzuknöpfen.

Jetzt hielt ich den Moment für gekommen: Der Dritte war immer noch in ihr, zwischen uns. Ich musste ihn töten.

Und ich zog aus der Tasche den Dolch, den hellen Dolch mit seinem verführerisch schlanken Stahlleib.

Sie sah das Messer aufblitzen.

Ihre Augen weiteten sich wollüstig entsetzt, um schwach, widerstandslos zusammenzufallen.

Sanft setzte ich die Spitze des Messers auf ihren weißen Hals und griff mit der andern Hand an ihre Brust.

Ganz leise, dass ihr der Dolch einen Zentimeter vielleicht in den Hals sank und ein feiner Blutbach hervorrieselte, beugte sie sich vor und küßte meine Faust, die sich um den Dolchgriff ballte.

Da warf ich das Messer in den Winkel und löschte das Licht.

Er war tot – der Dritte.

Das Gedicht

Christoforus Ehrensam erhielt mit der Morgenpost aus Genf in fremdländischer Sprache einen Brief, der ihn nachdenklich stimmte. Er begab sich sofort zu seinem Rechtsanwalt.

„Es ist ganz unmöglich!“ und er nannte ihm allerlei hygienische Gründe.

Der Rechtsanwalt lächelte – Gott diese Laien! – und rückte an seinem Kneifer, „Aber sie haben doch mit der Dame sozusagen zu tun gehabt?“

Christoforus Ehrensam wurde nervös. „Ja doch, ja aaaber“

Der Rechtsanwalt lächelte.

Christoforus fauchte: „Ich kann es beschwören!:

„ich rate ihnen, das Kind anzuerkennen, auf die Entfernung kriegen wir doch keinen Vater.“

Christoforus Stöhnte: „mein, ich lasse es auf die Verhandlung ankommen.“
Er ging.

Christoforus Ehrensam hatte die harmlose Angewohnheit, in entlegenen Zeitschriften, die niemand las, Gedichte zu veröffentlichen. Aber der Staatsanwalt, welcher die Akte Ehrensam contra Bibi zu bearbeiten hatte, las sie. Und er entsetzte sich. „Eine Hebamme, sie ist eine Hebamme! Ich habe nie gehört, dass man Hebammen lieben kann!“ Denn er hatte folgendes Gedicht, von Christoforus Ehrensam unterzeichnet, in der „Allgemeinen Lyrischen Auktion“ gefunden:

Ich liebte sie zu Geneve …

O! Wenn ich jetzt im Traum sie seh!

Sie war die jüngste Eleve

Sage-femme maternite!-

Bekennen sie sich als Vater?“ fragte der Staatsanwalt.

„Aber es ist doch ganz unmöglich!“

Christoforus Ehrensam brüllte.

„Wieso?“ meinte der Rechtsanwalt der Gegenpartei sanftmütig „wenn sie doch so entzückende Gedichte machen können wie“ … und er sagte sie aus dem Kopfe her, alle Gedichte, die er von Christoforus Ehrensam hatte auftreiben können, und noch einige dazu.

Christoforus Ehrensams Gesicht verklärte sich.

„Ja dann!“ stammelte er.

Die Erfindung

„Gott sei Dank“ sagte Kasimir Przk „jetzt beginnt eine neue Zeit. Kein anständiger Mensch konnte heutzutage mehr einen anderen umbringen, ohne ins Zuchthaus oder aufs Schafott geschleppt zu werden. Zu viel weichliche Kultur, zu wenig redliche Tierheit. Aber das wird jetzt anders.“

„Wieso?“ fragte ich.

„Ich habe eine entzückende Erfindung gemacht. Sie sieht aus wie ein harmloser Füllfederhalter. Aber mit diesem Füllfederhalter gedenke ich mich ins goldne Buch der Menschheit zu schreiben.“

„Er ist unfair“ sagte ich. „in dieser mechanischen Zeit noch mehr zu ihrer Mechanisierung beizutragen. Und außerdem plebejisch. Jeder zweite Mann, den du auf der Straße triffst, ist ein Erfinder. Wenn es doch eine Erfindung gäbe, die die Erfinder aus der Welt schaffte!“

„oder wenigstens die Erfinder“ bemerkte Kasimir Przk, „und das vermag mein Füllfederhalter aufs beste. Denk dir ein kleines, röhrenhaftes Instrument, mit einem winzigen Druckknopf versehen. In deine Manteltasche lässt du dir ein Loch nähen, so groß, dass die Röhre ein wenig hervorsieht. Dem Uneingeweihten fällt sie überhaupt nicht auf. Ein Passant streift an dir vorbei. >Du drückst auf den Knopf – und er fällt tot, wie vom Schlage gerührt, zu Boden. Du darfst es beliebig oft wiederholen, ohne dass man dich entdecken könnte. Es wird ein sehr unterhaltsamer Sport werden, wenn man fähig ist, nach dem Frühstück und nach dem Mittagessen, zur Beförderung seiner Verdauung ein paar Menschen umzubringen.

Die geschossen wirken vollkommen rauch- und klanglos. Und es ist mal was anderes. Ich bin der erste Über- und Herrenmensch der neuen Zeit!“ setzte Kasimir Przk hinzu.

Wir zahlten unseren Kaffee und wollten gehen. Ich bewunderte Kasimir Przk’s neuen Gehpelz, den er sich vom Kellner vornehm um die Schulter legen ließ.

Wir waren kaum im Freien, als ein fremder Herr aus dem Cafe uns nachstürzte. „Mein Herr“ schreie er uns an, „Sie haben meinen Gehpelz gestohlen!“

„Wieso?“ fragte Kasimir Przk, aber schon lag der fremde Herr, wie vom Blitz gerührt, tot am Boden.

„Wieso man sich darüber nur so aufregen kann, dass man gleich einen Schlag bekommt, ist mir unfasslich“, sagte Kasimir Przk, während wir weiterschritten, und sah mich dabei seltsam von der Seite an. –

Mir wurde ordentlich unheimlich zu Mute. Aber schon fiel ich, schwapp, tot aufs Pflaster.

Das Kind

Als Tatjana das erste Mal bei mir war, setzte sie sich auf den Kochofen.

Ich verwies ihr dieses ungebildete >Benehmen, und so bleib als einzige Sitzgelegenheit mein Schoß.

Ich kann nichts dafür, dass sie ein Kind bekam.

Es war sehr kalt im Atelier, und wir mussten zusammenrücken, um uns zu wärmen.

Hoher Gerichtshof! Man schiebt mir den unvermuteten Tod meines unehelichen Kindes in meine, leider zerrissenen, Schuhe.

Unehelich! Was ist das für ein Wort! Alle Kinder sind unehelich, denn in einer anständigen Ehe kommen überhaupt keine Kinder vor. Die ganze Kinderei ist nur ein Werk des Satans. Aber dieses nur nebenbei.

Kurz und gut: Als ihr eines schönen Tages versehentlich und ohne Hebamme das Kind aus dem Leibe fiel, da erschrak ich nicht wenig über das kleine Mistvieh, dass da zum Vorschein kam. Es war ein dreckiger, mit Blut und Schleim verpichter Fleischklumpen, Der mit Brechreiz verursachte, obgleich ich nichts als Magensäure im Magen hatte. So also, sagte ich mir, hast du einmal in deiner Jugend Frühlingsblüte ausgesehen. Eine holde Blüte, Und wie sie duftet. Was sind frisch geborene Katzen, Steppenhunde, selbst Krokodile, Nashörner und Regenwürmer für appetitliche Wesen gegen den (so genannten) Herrn der Schöpfung, wenn er in den Windeln liegt. Dies ist nur ein euphemistischer und etwas mystischer Vergleich, denn von Windeln war bei uns damals keine Rede. Ich hätte das schmutzige Tierchen höchstens in den kalten Fußboden wickeln können.

Da Tatjana in Ohnmacht lag, nahm ich das Kind und hielt es unter die Wasserleitung, um es zu reinigen.

Hoher Gerichtshof! Ich bin allemal für Reinlichkeit gewesen und in einer Zeit, wo andere Buben und Mädels sich ihre Rotznasen in die Hände entleeren, benötigte ich schon ein veritables Taschentuch, auf den die Schlacht von Plewna abgebildet war in unseren drei Landesfarben: Blau-weiß-rot. Oder rot-weiß-blau. Ich verwechsele immer die Reihenfolge. Bedauerlicherweise. Denn wir können stolz auf unsere Fahne sein. Bei jedem Pogrom trägt man sie uns voran. Gott schütze Russland! Gott schütze den Zaren! Aber dies nur nebenbei.

Die kalte Wasserkur schlug dem Kinde nicht an. Es blieb dreckig. Es schrie und verhedderte sich immer mehr in seine schlangenhaft gekrümmtem Glieder, die man, hol mich Gott, anatomisch nicht auseinander definieren konnte. Und es ist nicht unmöglich, dass ich es, anstatt an den Händen, wie man so Babys hält, an den Füßen unter den Wasserguss hielt.

Da alles nichts half, packte mich die Verzweiflung. Ich holte unsere Benzinflasche, nahm einen Wolllappen, befeuchtete ihn intensiv mit Benzin und versuchte den Dreck von dem kleinen Vieh zu reiben. Hoher Gerichtshof! Was ist das beste Mittel gegen Flecken in Kleidern und Hosen? Seien es Lehm-, seien es Tinten., seien es Speiseflecken (woran bei uns kein Überfluss war) ? Benzin! Nue Benzin! Ein altes ehrliches Hausmittel, dessen Allgemeinwert ich schon in den Kinderschuhen in mich gesogen hatte. Nebenbei gesagt, soll es auch gut gegen Läuse sein. Oder verwechsle ich es mit Petroleum? Ich weiß es nicht genau.

Also; Nachdem ich das Kind eine halbe Stunde tüchtig mit Benzin abgeschrubbt hatte, röchelte es, seufzte und verscheid zusehends.

Was sollte ich tun? Was, fragte ich, hätte ein hoher Gerichtshof in solcher Lage getan? Ärzte verabscheue ich. Sie sind die diplomierten Helfer des Sensenmannes. Und ein Gesundbeter war in unserem Viertel nicht ansässig. (Worüber übrigens eine Petition an die erlauchte Duma in Vorbereitung und auf dem Wege ist. Sollte man es für möglich meinen, dass die Zivilisation im Herzen der Welt, in Petersburg, so schmählich schneckenhafte Fortschritte macht? Dies nur nebenbei.)

Tatjana lag noch immer in ihrer Ohnmacht, beziehungsweise in ihrem Blute.

Ich nahm also das tote Kind, band es an einen Schnur, kletterte vom Atelierfenster aufs Dach und ließ es in den ersten besten Schornstein hinab.

Dort wurde es vierzehn Tage später bei der monatlichen Kaminreinigung als kleiner Mohr gut konserviert ans Licht gezogen. Die Sonne, in diesem Falle der Schornsteinfeger, brachte es an den Tag. Es erweckte, schwarz berußt, einen allgemein sympathischen Eindruck, und es tat mir in der Seele weh, (falls der Mensch eine Seele hat, was noch zu beweisen bleibt) dass es tot war.

Hoher Gerichtshof!

Tatjana bemerkte von alledem nichts, nicht einmal, dass sie gebar. Ich erzählte ihr, nachdem sie aus der Ohnmacht erwacht war, dass der Teufel in ihr gehaust habe und auf meine Beschwörungen mit Knall, Pech- und Schwefelgestank aus ihrem Leibe gefahren sei, Was sie mir bereitwillig glaubte.

Hoher Gerichtshof! Dies die Tatsachen! Dies mein Geständnis, wie es der Wahrheit entspricht. Sollte ein hoher Gerichtshof zu einem freisprechenden Urteil gelangen, wie ich zu hoffen wage, so bitte ich um Rückgabe der Kinderleiche. Wir wollen sie dem Panoptikum verkaufen. Wir haben Hunger.

Abenteuer

Konrad war so betrunken, dass er jeder weiblichen Gestalt, die sich in den nächtlichen Straßen zeigte, nachschoss, sie überholte, unter einer Laterne stehenblieb, um sie zu betrachten, und entsetzt zurückfuhr. Nun verfolgte er einen Backfisch, der von einer Gesellschaft kam und vom Dienstmädchen nach Hause begleitet wurde. Sie erwiderte seine Blicke kühl und neugierig. Aber plötzlich fehlte ihm der Mut, sie anzusprechen. Er konnte sich nicht aufraffen und bog mechanisch in eine Nebenstraße ein. Er war ein paar Schritte gegangen, als er hinter einem Parterrefenster einen roten Vorhang leuchten sah. Also musste Licht dahinter sein.

Das ist etwas, dachte er, er wusste selbst nicht, warum, und klopfte mit dem Spazierstock leise an das Fenster. Einmal, zweimal. Mein Gott, dachte Esther, sollte es ein Freund von Kurt sein? Sie warf sich ein Tuch um die nackten Schultern und spähte durch die Vorhangspalte. Sie sah nur einen undeutlichen Schatten. Sie öffnete das Fenster ein
wenig:
„Wer ist da?“

„Ich will herein“, sagte Konrad, „mach auf!“

Sie stieß das Fenster zurück und beugte sich leise hinaus. Da blickte sie in sein heißes, erregtes Gesicht, seine gierig gespannten Augen und hörte seine Stimme vibrieren. Er ließ den Stock fallen und hob beide Arme wie ein Adorant:

„Du …“

Es betörte sie: die dämmerig-lüsterne Straße, der wilde Liebhaber und die ganze prickelnde Situation: jeden Augenblick konnte Kurt hereintreten und sie ertappen. Er saß zwar drüben im Arbeitszimmer und schrieb an einer Abhandlung, er konnte noch stundenlang schreiben – er saß oft bis zum Morgengrauen über seinen Manuskripten –, aber er konnte ebenso gut jeden Augenblick die Tür öffnen.

Sie schlich zur Tür und horchte in den Korridor. Dann verriegelte sie vorsichtig, tappte über den Teppich zum Fenster und sagte:

„Du musst durchs Fenster steigen.“

Mit einem Schwung war Konrad im Zimmer. Und als er die schöne Frau erblickte, die im Nachtkittel, mit einer spitzen Haarfrisur, schwarzen, schmalen Augen und einer blassgelben, weichen Stirn vor ihm stand wie ein Bild aus einem japanischen Holzschnitt – da wurde er nüchtern von seiner Trunkenheit und rasend vor Liebe. Ächzend presste er
seinen Kopf an ihre Brust.

„Still, Liebster“, sie küsste sein Haar, machte sich zärtlich von ihm los und trippelte lauschend zur Tür. Dann griff sie rechts an die Wand und knipste das elektrische Licht aus.

Konrad ging denselben Weg durchs Fenster, den er gekommen war, eine blaue Seidenschleife vom Halsbesatz ihres Nachtkittels in der Faust.

„Was ist denn das?“ sagte Kurt, während er sich das Oberhemd auszog, „da fehlt ja an deinem Halskragen die blaue Schleife?“

„Ja“, sagte Esther gleichgültig und tastete an den Hals, dass ihre Fingerspitzen mit den Brüsten spielten, „die Wäscherin ist zu nachlässig.

Da hat sie wieder die Schleife vergessen …“

Das Muttermal

Immer, wenn ich mit dir nach Hause fahre, langweile ich mich so,“ gähnte er und streckte sich in die rotbrauen Lederpolster des elektrischen Automobils, „weshalb tue ich es dann?“

Die dünnen blaugläsernen Äste der gefärbten Reiherfeder ihres dunklen Hutes kitzelten ihm leise die Stirn. Sie lachte und gluckste wie eine Henne, die ihre Eiergeburt glücklich überstanden.

In Kupee lag graue Finsternis: Straßenlaternen, Wolken, Wachsholzverkäuferinnen flogen in grellem Wechsel wie bunte Fledermäuse an die regennassen Scheiben.

Er wühlte mit seinen Händen gedankenverloren in den Manteltaschen. Die Linke fand ein verfallenes Omnibusbillet, sie knitterte es unbewusst zu einem Kügelchen. Die gelbe Farbe des Papiers und die schwarzen blassen Buchstaben traten ihm ins Gedächtnis.

„Weil du mich liebst!“

Er fühlte eine fremde Hand irgendwo an seinem Körper.

Sein Hals sank in den Mantelkragen – der weiße Kragenschoner rieb sich an seinen hellroten Lippen.

Wie egal mir das alles ist – dachte er, ich mag sie kaum, sie mag hinfallen, wo sie will: Nur weil ich grade Geld habe. Als ob ich immer betrunken bin, nur so, dass ich keinen Willen und kein rechtes Wissen habe.

Und laut sagte er:

„Deine Brüste stehen wie zwei Pyramiden, steil und fest, ich sah und fühlte solche Brüste nie. Spitz sind sie und fest und tragen zwei rote Kuppen – rund und leuchtend gleich den Bronzekuppeln auf Kirchtürmen, wenn die Abendsonne purpurne Küsse an sie verschwendet.“

Verschwendet … das Wort haftete ihm. „Ich gebe ihr zu viel. Wie soll das enden?“

„und ist das nicht Liebe. …Liebling?“

Sie flüsterte, versteckt, geheimnisvoll, als wäre noch ein Dritter unter ihnen, der es nicht hören dürfte.

Der Wagen hielt mit einem Ruck.

„Vielleicht!“ seufzte er.

„Gib dem Chauffeur ein Trinkgeld, Liebling.“

Leichtfüßig hüpfte sie voran und unter das schützende Haustor. Auf den rechten rosa Seidenstrumpf, am schwarz-samtnen Halbschuh unten, war nichtsdestoweniger ein Regentropfen von der Dachrinne getropft und zeichnete einen gelbgrauen Kreis.

Er sah ihn, als er ihr langsam folgte-

„Das Muttermal“ sann er für sich, „ich werde sie dort küssen.

Es ist etwas Neues“ …

Revolution

(Für Guiseppe Cassi)

Ihr mögt mirs glauben oder nicht, Väterchen: Ich bin in meiner Jugend weit in der Welt herumgekommen. Ich war acht Tage in Paris und habe irgendwo an den äußeren Boulevards gewohnt — aber es gab jeden Tag zum Dinner und zum Souper, Kaninchenfleisch mit und ohne Knoblauch … Ich bitte euch, Väterchen, davon kriegt der Teufel Dysenterie, wenn er nicht mit Wodka nachspült … und wo hat man Wodkaspülung in Paris? Nicht mal Wasserspülung.

Darauf beehrte ich London mit meiner Gegenwart. Aber ich hielt es ebenfalls nicht länger als acht Tage aus. Diese alkoholfreien Getränke! Selbst den Whisky verdünnen sie noch mit Soda, und so was will die Welt erobern! Tschort poderi Anglin for ever, ever … Und dann die Prosa des Essens (wenn anders man die Spirituosen als seine Poesien bezeichnet), ich meine die Steaks, die Rump- und Beefsteaks, so ausgekocht, fade und schlecht stilisiert wie englischer Six-Pence-Magazin-Roman. Der heilige Laurentius möge mich davor bewahren, lieber will ich meinen Magen vor Hunger flöten lassen, als ihn mit diesen verschiedenen Sorten Leder besohlen. Und über all diese Steaks immer dieselbe Sauce. Es ist schon wahr, was ein weiser Mann über dieses merkwürdige Inselvolk gesagt hat: Hundert Sekten … und nur eine Sauce.

Ich will euch ein Kunststück zeigen, Väterchen … ich lege diese Kopeke auf den nackten Ellenbogen und … fff … fort ist sie … Väterchen, was tut euch diese Kopeke? Ihr seid jung, reich, habt einen Onkel, der Distriktkommissar, einen unehelichen Bruder, der Polizist ist; Was wollt ihr mehr? Mir ist diese Kopeke ein kleiner Schüssen zum Paradiese … ich kaufe mir Schnaps dafür … Ein russischer Bürger verrichtet eine gute patriotische Tat, wenn er Schnaps säuft … Entrichtet er nicht pflichtgemäß auf diese Weise dem Staat seine Steuern? Hat nicht der Staat das Schnapsmonopol? Ist nicht ein Betrunkener in allen anderen Ländern eine lächerliche oder widerliche, in Russland hingegen eine erbauliche, der Regierung wohlgefällige Erscheinung? Lebt nicht das jetzige russische System nur von der Ständigen Besoffenheit melancholischer Dummköpfe? Wie? Ihr findet mein Urteil etwas hart, Väterchen … und der Gendarm drüben in der Ecke rollt auch schon seine thranigen Walfischaugen … er möchte uns belauschen, dieser verfilzte Träger der Staatshoheit und des Gummiknüppels … sprechen wir etwas leiser …

Väterchen, ich muss euch noch eine Geschichte erzählen, in der auch der Alkohol eine übrigens (sonderbare) Rolle spielt…

Es war zur Zeit der letzten Revolution, … Winter 1905 oder 1906, … ich weiß nicht mehr das genaue Datum, — ich habe für Jahreszahlen ein schlechtes Gedächtnis, … ich lebte damals in Lodz. ,,, schlug mich kläglich als Setzer einer Demokratischen Zeitung durch, … natürlich wurde sie bald kassiert und unterdrückt, … und wir armen Teufel waren brot- und existenzlos. Na, es gab damals genug des Sonderbaren und Verruchten zu sehen, … langweilig wurde es einem bei den ewigen Feiertagen nicht … Wenn man sich zu seinem Morgenspaziergang rüstete, stolperte man schon auf der Treppe über diverse Leichen … und wenn man sich nicht sehr vorsah, bekam man plötzlich statt der warmen Morgensuppe kaltes Blei in den Magen.

Kosaken galoppierten durch die Straßen und trieben, wenn drei Leute zusammenstanden, die verbotene Versammlung mit Lanzenstichen auseinander. Abends durfte man kein Licht in den Zimmern nach der Straße zu brennen lassen, denn die Kosaken machten sich ein Vergnügen daraus, nach jedem erleuchteten Fenster zu schießen.

Es war ein überaus kalter Winter, und ich weiß nicht aus welchem überströmenden Gefühl von perverser Menschenliebe das Stadtgouvernement in einzelnen Nebenstraßen eiserne Öfen hatte aufstellen lassen, damit sich die Leute, die später totgeschossen wurden, Vorher noch einmal die Hände wärmen sollten.

An einen solchen Ofen traf ich sie zum ersten Mal.

Vollständig besoffen war sie und hielt ein halb erstarrtes (wahrscheinlich ebenfalls besoffenes Kind) von höchstens drei Monaten, in dreckige schottische Tücher gewickelt, über die Heizung-

Sie hatte hellblaue, rotunterlaufene Augen und eine wilde, fuchsrote Haarperücke, die ich, wenn ich Sicherheitskommissar gewesen wäre, konfisziert hätte, denn sie wirkte aufreizender und revolutionärer als hundert unorthographische Manifeste.

Als sie ekstatisch davontaumelte, folgte ich ihr heimlich und viele folgten ihr.

Auf dem verlassenen Hofe eines Handelshauses bleib sie stehen, und als sich genug Volk um sie versammelt hatte, hielt sie mit einer großen Geste, bei der sie beinahe ihr Kind verloren hätte, zu einer flammenden, begeistert begeisterten, rasenden Rede aus.

Von dieser Rede, von diesem rothaarigen besoffenen Weibe, das niemand kannte, nahm die Revolution in Lodz ihren eigentlichen Anfang.

Wir rissen das Straßenpflaster auf.

Wir stahlen Gewehre und Munition.

Wir bauten aus Möbelwagen, Droschken, toten Soldaten, toten Pferden, toten Bürgern – Barrikaden.

Das rothaarige Weib, der Engel Gottes, war unser Anführer, — immer das Kind auf dem Arme, immer schwankend, immer besoffen.

… Eines Nachmittages wurden gegen die Haupt-Barrikaden in der L…Straße, die sich am längsten gehalten hatten, Maschinengewehre aufgefahren. Ein Regiment Kosaken, ein Regiment Infanterie hielt man im Hintergrund zur Attacke bereit.

Hinter den Barrikaden lief befeuernd. Beratend, beflügelnd das rothaarige Weib mit ihrem Kinde von einem zum andern.

Der Kommandant der Soldaten erhob gerade den Säbel, zum Zeichen, dass die Kanonade Beginnen solle, … da geschah das Wunderliche, das Wunderbare, das einzige wahre Wunder, dass ich in meinem Leben erlebt und mit eigenen Augen gesehen habe.

Dem Oberst bleib der Säbel samt seinem Arm wie erfroren in der Luft hängen, den Maschinengewehren blieben die Kugeln im Maule stecken, die Kanoniere, die Kosaken, die Infanterie, die Pferde, keines kann und niemand rührte sich …

Auf der Spitze der Barrikade stand, lächelnd, an der nackten Brust ihr Kind, das durstig an ihr sog, die roten Haare im Winde flatternd: Das Weib, das rothaarige, besoffene Weib …

Wo war jetzt ihre Besoffenheit? Wo ihr schwankender Stand und Gang? Wo das Wüste und Schwere ihres Wesens?

Rein und selig, lächelnd, flehendlächelnd stand die junge Mutter auf der Balustrade … und streckte den Henkern, die gekommen waren, sie und ihresgleichen niederzumetzeln, … ihr Kind entgegen.

Niemand wagte zu schießen. Zu sprechen. Zu atmen. … und mit eins begannen aus den Kirchen rings die Aveglocken zu läuten.

Da ging unglücklicherweise versehentlich in den Reihen der Unseren ein Revolver los.

Der Schuss war das Signal, das den himmlischen Spuk mit einem Knall auffliegen ließ´- Wie Schleier fiel es von allen Augen. Der Säbel des Kommandanten fuchtelte. Schwapp hatten wir die erste Salve. Sie fegte das rothaarige Weib samt ihrem Kinde zu allen Teufeln … Oder sollten wir nicht besser sagen zu allen Engeln?

Sie war ein Engel, Väterchen, in ihrer ewigen Besoffenheit ein Symbol Russlands. Ein heißes Herz. Das zuckend in Wodka schwimmt …

Ich habe sie noch gut gekannt, Väterchen. Ich glaube, sie hieß Emeljanowa. Vielleicht habe ich sie sogar geliebt.

Novelle

Du magst anstellen, was du willst, ich werde doch nie etwas Vernünftiges, „ sagte Elias. „Gib mir fünftausend Mark und du bist mich los für immer.“

Der Vater kratzte sich hinter die Ohren und meinte im Stille, der Sohn habe nicht so unrecht. Hier trieb er törichte Streiche, untergrub die soziale Stellung seines Vaters durch Hundezucht und aeronautische Konstruktionen, die sich jedoch auf Pappmodelle beschränkten, und rief durch seinen modisch kahl geschorenen Schädel den Widerspruch aller denkenden Menschen hervor, die vor Mode und Originalität wie der Truthahn vor bunten Tüchern scheute.

„Wenn du mir schwörst, dich nie wieder blicken zu lassen,“ sagte der Vater bedächtig.

Elias schwur und erhielt die fünftausend Mark.

Elias fuhr nach Berlin und mietete sich am Oranienburger Tor ein.

Er wollte ein Dichter werden, und da er die Kenntnis der Frauen für das Wichtigste hielt, ging er am Abend aus, traf eine nette Dame und zahlte fünf Mark Modellgeld. Er behauptete, erst kürzlich nach Berlin gekommen zu sein und früher den Jungfernstieg in Hamburg bestrichen zu haben. Nach dem Wort „Jungfernstieg“ schnalzte sie mit der Zunge.

Es gefiel Elias sehr gut.

Am nächsten Morgen saß er vor einem Bogen weißen Papieres und kaute am Federhalter.

„Zum Donnerwetter, das muss doch eine Novelle geben“, dachte er.

Aber es kam nichts.

Er tröstete sich, dass er noch nicht genug Studien unternommen habe und zahlte weiter Modellgeld.

Ringe legten sich um seine Augen, deren Weißes sich leise schwefelgelb tönte. Seine blassen Wangen fielen ein. Er bekam den Tatterich, die Weiber hatten ihm außerdem das verfluchte Zimmerrauchen angewöhnt.

Nach einem halben Jahr besaß er nur noch drei Mark sechzig, sowie drei Zehnerbriefmarken und von den ersehnten Novellen noch keine Spur.

An einem schönen Donnerstage – es war Wochenmarkt und deshalb viel in den Geschäften zu tun – beglückte er urplötzlich seine märkische Heimat mit seiner Gegenwart.

Der Vater bekreuzigte sich und ließ vor Schreck einen Bismarckhering fallen. Er war Gottseidank schon eingewickelt und eine behäbige Bauersfreu versenkte ihn unbekümmert in ihrer Kiepe. Stück’n Groschen, Drei fünfunddreißig.

Seine Mutter aber schloss ihn tränenjubelnd in ihre dürren Arme. Denselben Morgen noch – es war Wochenmarkt und deshalb viel zu tun – trat Elias als Lehrling in die Materialwarenhandlung seine Vaters.

Ich glaube, er ist jetzt Kompagnon.

Und wenn er nicht verheiratet ist, lebt er noch heut

Professor Runkel

So wie es klingelte, riss Professor Runkel die Tür auf und stand mit einem Ruck in der Klasse.

„Asseyez-vous.“

Die Stuhlklappen polterten donnernd nieder. – Dann atemlose Stille. „Primus.“ – Der schoss erschreckt in die Höhe. „Wie kann es noch heißen?“» Professor Runkel rollte die Augen, dass man nur das Weiße sah. Der kleine Jude auf der letzten Bank begann zu kichern, leise, verstohlen. Zur größeren Vorsicht kroch er hinter den breiten Rücken seines dicken Vordermannes.

„Assoiyez-vous“, stotterte der Primus und machte seinen berühmten devoten Augenaufschlag.

Arnold Bubenreuther, als er ihn ansah, schüttelte sich vor Ekel. – Runkel stülpte seinen schwarzen Schlapphut mit der riesigen Krempe auf den Kleiderhalter und zog seinen grünen Lodenmantel aus. Unter dem Lodenmantel kam noch ein schwarzer, halbwollener Sommerpaletot zum Vorschein.

Die Klasse hielt sich mucksstill.

Arnold Bubenreuther blickte zum Fenster hinaus. Er sah nichts als ein Stück heißblauen Sommerhimmels, in dem die verkrüppelte und verstäubte Krone eines Kastanienbaumes hing.

Runkel entledigte sich des zweiten Mantels und stürmte auf das Katheder. Den Kopf mit der buschigen Mähne nach hinten gestreckt, saß er da und zerrte an den beiden Enden seines braunen Vollbartes.

„Wer hat das Fenster aufgelassen?“ schrie er plötzlich.

„Ich werde den Betreffenden gleich zum Fenster raushalten. Zum Teufel, Sie wissen, seit mich in dem verfluchten Kriege die verfluchte Kanonenkugel in den verfluchten Schenkel getroffen, kann ich keinen Zug vertragen. – Sie, schließen Sie das Fenster.“

Irgendeiner schob den Riegel zu. Die Klasse duckte sich murrend. Nun konnte man wieder eine geschlagene Stunde in dieser muffigen Luft hocken, nur weil es diesem Kerl da oben so gefiel.

Runkel schlug das Klassenbuch auf. Als ob er nicht genau sehe, brachte er die rechte Hand vors Auge und drehte mit der andern das Buch herum.

„Ordnungsschüler“, brüllte er.

Der kleine, schüchterne Penschke ging mit unsicheren Schritten vors Katheder.

„Was haben Sie denn für eine Sauschrift? Da soll es doch gleich Bauernjungen oder Holzklöppel regnen! Das geht doch über die grasenden Mitternachtsnächte mit ultravioletten Schatten! Verflucht, wer kann das lesen? Ist das Siamesisch? Arabisch? So herum? Wie herum?“

Der kleine Penschke war dem Weinen nahe.

Bubenreuther scharrte mit den Stiefeln.

„Bubenreuther“, Runkel schnellte wie der Teufel des Kinderspielzeugs aus der Kiste, die das Katheder darstellte, empor. „Sie denken wohl, ich sehe Sie nicht? Ich werde Sie an der Busenkrause nehmen und mit drei Stunden Arrest zum Tempel rausschmeißen. Darauf können Sie Gift, darauf können Sie Blausäure nehmen. – Penschke, setzen Sie sich, Bubenreuther, die Lektüre, lesen Sie, wir sind Seite …?“

„Zweiundsechzig, Herr Professor“, klang es unisono.

„Was, Fessor, Fessor? Das ist ja teuflisch! Nennen Sie mich meinetwegen Herr Gelehrter, meinetwegen Heinrich, aber nicht dies gottverdammte Professor. – Bubenreuther, Sie Schacher, lesen Sie.“

Bubenreuther las: “Nous avions perdu Gross-Goerschen; mais cette fois, entre Klein-Goerschen et Rahna, l’affaire allait encore devenir plus terrible…”

Runkel fauchte und Biss auf die Unterlippe, dass sein Bart wie eine borstige Wand dastand: „Kein Franzose sagt avions, es heißt a-wü-ong, die zweite Silbe kurz: a-wüong. Lesen Sie weiter.“

Bubenreuther las und übersetzte leidlich. Runkel klopfte ihm auf die Schulter: „Da soll der Teufel dem Eosinschwein das Licht halten: der fürnehme Baron von Bubenreuther hat mal präpariert. – Fahren Sie fort, Schulz.“

Schulz konnte vor Angst kaum das Buch in den zittrigen Händen halten. Er trug eine Brille, war blass, dumm und sehr fleißig. Runkel ärgerte ihn mit Vorliebe, gab ihm aber nachher bei der Zensur, weil er ihm nie Widerstand entgegensetzte, immer „genügend“.

„Schulz“, schrie er ihn an, „Sie sind wohl vom Affen frisiert. Ich habe mit Ihnen erst noch was zu besprechen – von gestern, ein Hühnchen mit Ihnen zu rupfen, um nicht zu sagen einen Hahn. Habe ich Ihnen nicht verboten, mich zu grüßen, wenn Sie mit Ihren Eltern auf der Straße gehen? Weshalb haben Sie mich gegrüßt? Damit die Leute mich anglotzen und sagen: „Da läuft wieder der tolle Runkel“, he, was?“

Die Klasse verbiss sich mit Mühe das Lachen. Aber lachen durfte niemand. Wer herausplatzte, flog unweigerlich in Arrest.

Draußen klopfte es leise.

Runkel fuhr herum: „Das ist doch, um mit der Jungfrau zur Decke zu fahren: wer stört den Unterricht? Es ist sowieso bald voll, und man kommt zu nichts. Primus, sehen Sie nach.“

Der Primus öffnete die Tür und ließ den Schuldiener ein, welcher Runkel ein Heft und einen Bleistift überreichte.

„Es ist von wegen Hitzeferien“, sagte er und plinkte zu den Jungens herüber.

Mit einem Schlage spielte um alle verdrossenen, müden Gesichter ein seliges Lächeln.

„Gott sei Dank.“ Bubenreuther atmete es leise vor sich hin.

„Mein lieber Bubenreuther“, Runkel war heute gnädiger Laune, „mäßigen Sie sich. Hitzeferien? Es ist zum Wahnsinnigwerden, Hitzeferien bei dieser Kälte. Ich friere immer – immer. Sehen Sie meine beiden Paletots. Einen Pelz könnte ich vertragen.“

Der Schuldiener klingelte. Es war also heute die letzte Stunde.

„Präparieren vierundsechzig und fünfundsechzig. Unsern Ausgang segne Gott. Penschke wird die Aufgaben erst ins Klassenbuch schreiben. Amen …“

Runkel tobte durch die Straßen, den Schlapphut in die Stirn gedrückt.

„Wieder einmal erlöst von den verdammten Bengels – sie wissen es nicht, was für eine Mühe es mir macht, der zu sein, der ich bin… Du lieber Gott, du lieber Gott… wenn ich sie nicht piesacke, piesacken sie mich – wie kann ich sie sonst meiner Überlegenheit versichern, ich muss sie unter die Knute nehmen, sonst glauben sie’s nicht. Und ich bin ihnen überlegen … wenn ich’s diesem Bubenreuther nur geben könnte. Er hat ein impertinentes Gesicht.“

Bubenreuther ging mit zwei kleineren Schülern an ihm vorbei. Runkel schwenkte ironisch lächelnd zuerst seinen Hut: „Morgen, Morgen – sind das Ihre Brüder, lieber Freund?“

Bubenreuther beantwortete die Frage, während er sich ein wenig rückwärts wandte: „Nein, Herr Gelehrter.“ Dann lüftete er seine Mütze.

„Pardon“, schnarrte Runkel, „Pardon.“

Wenn ich ihn nur erwischen könnte, dachte Runkel.-

Nach knappen zehn Minuten hielt er vor einem Eckhaus. Er rückte den Hut zurecht und putzte sich den Kneifer. Es schien, als ob er die eine Straße heruntersehe, nach dem Fabrikschornstein oder der Kirchturmspitze, oder in die andere Straße hinein, die schon auf freies Feld führte: im Hintergrund verlief sich ein bläulich-blasser Hügelzug in dunstige Wolken. Es schien nur so. In Wahrheit schielte er nach dem zweiten Stockwerk des Eckhauses hinauf.

Würde sie wissen, dass er heute um elf Uhr frei wäre? Würde sie überhaupt da sein? Wenn sie den Thermometer nachgesehen hätte, hätte sie sehen müssen, dass es Hitzeferien geben würde.

In einem Fenster des zweiten Stockes verschob sich eine gelbe Tüllgardine. Wenig später – und aus dem Haustor trat ein schwarzseidnes, ältliches Fräulein, das einen Pompadour überm Arm trug und sich eben die Handschuhe zuknöpfte.

Runkel grüßte sehr galant, seine Bewegungen verloren auf einmal das Eckige, Groteske.

„Sehen Sie, Herr Professor“, lächelte sie, „das hab ich mir gedacht. Da werden Sie und Ihre Jungen froh sein. – Es liegt aber auch ein Gewitter in der Luft“, fügte sie hinzu und zeigte mit dem Sonnenschirm auf den trüben Horizont.

„Wohin geht es nun – in den Stadtpark oder übers Feld nach Gerbersau?“

„Nach Gerbersau, sobald es Ihnen genehm ist“, sagte Runkel mit vollendeter Höflichkeit. Jeder Gedanke an Stadt und Gymnasium berührte ihn heute unangenehm. Er könnte allen möglichen Schülern begegnen …

„Der Weg unter den Pappeln ist schattig, und der Wald nachher bei der Hitze kühl und wohlig“, suchte er sie zu bestechen.

„Nanu, wo bleibt Ihr frostiges Gemüt, lieber Professor, frieren Sie ausnahmsweise nicht? – Aber gut, Gerbersau sei die Parole“, pflichtete sie bei.

Sie setzten sich langsam in Bewegung.

Runkel war sehr einsilbig.

Ich hätte sie früher heiraten können. Verflucht, warum habe ich es nicht getan?

Das Fräulein plauderte viel und lustig: von der Verlobung Ella Munkers mit Leutnant Beckey und dass sie beide kein Geld hätten und er wahrscheinlich Polizeioffizier werden müsste, wenn sie sich überhaupt einmal heiraten wollten … von der Fleischteuerung, dem „Barbier von Sevilla“ und den letzten Reichstagswahlen – sie trieb Politik mit Leidenschaft. Runkel hörte mit halbem Ohre zu. Er sah von ferne sich eine Gestalt nähern, die ihm bekannt vorkam.

Er wurde unruhig und wollte durchaus umkehren.

„Aber weshalb, lieber Professor“, lachte das Fräulein, „wir werden doch nichts Halbes tun“.

Der Professor stand eine quälende Angst aus. Der Schweiß tropfte ihm von der Stirn. –

Arnold Bubenreuther grüßte höflich, als er dem Paare begegnete. Runkel vergaß ganz wiederzugrüßen – in seinem Erstaunen. Diesmal vergaß er es wirklich ohne Absicht.

„War das nicht der junge Bubenreuther?“ fragte das Fräulein.

Runkel überhörte die leise Frage.

Wo hat dieser Bubenreuther nur sein ironisches Gesicht gelassen? dachte er erregt, er steckt es doch sonst alle Augenblicke auf? Und seltsam, ich weiß genau, er wird von dieser Begegnung der Klasse nichts erzählen. Warum? Hat er – Mitleid mit mir?

Runkel schnitt ein böses Gesicht, dass das Fräulein erschreckt stehenblieb.

„Was haben Sie denn, Professor?“

„Nichts, liebes Fräulein“, Runkel lächelte grimmig, „ich glaube, die Schüler halten hier draußen in Gerbersau ihre verbotenen Kneipereien ab. Man müsste ihnen das Handwerk legen.“

Insgeheim dachte er: Der Bubenreuther, dieser – Hund hat Mitleid mit mir. Er erfrecht sich, Mitleid mit mir zu haben. Wenn ich ihn nur fassen könnte…

Der neue Dichter

(Ein Kapitel aus einer Literaturgeschichte des Jahres 2003)

… In eben diesem Jahre 1900 wurde Joshua Kraschunke, welcher den literarischen Typ der Mitte des 20. Jahrhunderts am reinsten und stärksten verkörperte, als Sohn des Dorfschulmeisters Habakuk Kraschunke zu Beutnitz, einem kleinen märkischen Dorf nahe der schlesischen Grenze geboren.

Über die allmählige Ausformung dieses Typus und über seine Vorläufer und Propheten soll erst noch – in Kürze berichtet werden.

Die Idee des Naturalismus kam im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts nach und nach abhanden. Seltsam: Je maschineller und mechanischer, je lauter und reklametoller das äußere Leben sich gestaltete, umso lyrischer und gefühlselegischer, umso inniger und romantischer offenbarte sich der Geist der neuen Dichtung. Großstadt und Industrierevier wurden sehr bald als Natur, als Landschaft empfunden (Heym, Zech) – nicht ohne freilich noch zu ironischem Stimmungsreiz atavistischer Intellektualisten Anlass gegeben zu haben. Die Weltfreundin Else Lasker-Schüler und der Weltfreund Werfel gehen schon einen Schritt weiter zum Ziel des problemlosen, schlich-träumerischen Genies: Kokett tänzelnd und noch zu absichtlich blühend. Offizier, Amokläufer, Notar, Roter Radler; Dies alles und vieles mehr möchte der Weltfreund in eins darstellen. Eben: Er stellt sich noch zu sehr dar, er ist nicht. Feigheit vergiftet ihn, Unwahrheit, schmerzlich geahnt und nie erfasst, schwärt an seine Seele. In diesem Sinne sind die verzweifelten Reisen der Dauthendey, Hesse in den Orient zu betrachten. Noch scheint die Ferne nur und die bunten Ausschweifungen Indiens und Japans die wild ersehnten und verfluchten Abenteuer herzugeben. Es ist die Flucht vor der Metaphysik und Selbstzersetzung in der Physik aufregend fremder Kulturen. Die Physik des Ich wird vernachlässigt oder ver“kannt“. Unpoetische, schildernde Reisewerke, wie Holitscher‘s Amerika und Rosen’s Lausbub ertappen zuerst (Im Dunkeln) einen richtigen Saumpfad, der zur Hauptstraße führen wird. Wedekind’s Marquis von Keith, Thomas Mann*s Hochstaplerroman Felix Krull und vor allem Gorleben‘s Rastaquärkomödie stehen vor der Erfüllung, in der Lyriker und Hochstapler (Verbrecher und Richter) sich wunderlich einen; Josua Kraschunke.

Josua Kraschunke erschuf sich die Poesie als zweite Wirklichkeit, nicht wie die Bisherigen Literaten aus Not und Zwang (da sie unfähig und zu schwächlich waren, die erste Wirklichkeit in sich verrinnen zu lassen), sondern aus Lust, aus Willkür. Die andern spielten das Leben und lebten die Literatur. Er lebte das Leben und spielte mit seinen Versen wie ein Kind mit Puppen spielt. Josua Kraschunke’s erster Gedichtband (Berlin 1923) mit dem affektierten Titel: „Verse in Blond“ scheint noch non Bellman, Aristide Brunant, Peter Hille beeinflusst, wächst aber in der Kraft der physischen Empfindung weit über jene Bohemiens (Joshua Kraschunke war kein Bohemien) hinaus.

Den ersten Gipfel bedeutet sein großer Roman: „Einer“ (Berlin 1925) – beherrscht von einer Selbstverständlichkeit der Erfindung, der Charaktere und des Stiles, die, bei völlig gelöster romantischer Form, erstaunlich wirkt. Das Thema des Romans ist die Doppelliebe eines Knaben zu seiner Schwester und zu seinem Freunde: Jenseits ins Menschlich-Allermenschlichste gehoben.

Josua Kraschunke’s äußeres Dasein zeigt ihn als Lehrkandidaten, Packträger am Hamburger Hafen, Photographen, Offizier in Guatemala, Zuhälter in Buenos-Aires, Naturheilkundigen in Appenzell. Josua Kraschunke spielte diese Typen nicht, er war sie ganz in seiner trunkenen Ertrunkenheit im Leben, in der alle Probleme ethischer und philosophischer Art wie Mühlsteine (anderen um den Hals gehängt) Ersoffen.

Josua Kraschunke erwürgte im Jahre 1927 – man munkelte zuerst von Raubmord – mit eigenen Händen seinen jungen Freund, einen Berliner Millionärssohn. Er ertrug die Tat kühl und selbstverständlich. Sie hinterließ keine Reue und keine hässliche Falte in seinem glatten Jungengesicht.

Er wurde infolge mangelnder Beweise unter frenetischem Beifall des Publikums (damals regierte schon das amerikanische Gerichtssystem in Deutschland) freigesprochen.

Als der Urteilsspruch verkündet war, wandte Josua Kraschunke sich um, hustete (er litt an der Schwindsucht) und spie den gelben Eiterschleim in den Zuhörerraum, wo er einer dicken Rechnungsrätin am violetten Satinkleid haften bleib.

Für dieses Kleid, da als Reliquie betrachtet wurde, zahlte ein Antiquitätenhändler auf der Stelle tausend Mark …

An Stelle eine Epilogs: In diesem Karussell sind Schreib- und Rechtschreibfehler. Und die stammen nicht von Fredi, sondern von mir.

Das Buch erschien 1914 und ist mit einem Schrifttyp geschrieben, den mein Scanner nicht lesen kann.

Also habe ich es abgeschrieben – und da passieren Fehler, trotz mehrmaliger Prüfung. Daher bitte ich um Entschuldigung.

Hartmut Deckert