Klabund – Lesebuch

Vers und Prosa von Klabund für Carola Neher
Verlag Fritz Heyder – Berlin-Zehlendorf 1926

Epigramm

Langsam ringt sich der Geist aus der Hülle des Unterbewusstseins,
Und der Nebel gemach ballt sich zur festen Gestalt.
Wie ein Falter im Mai die Puppe bricht und die Schwingen
Zaghaft prüft und entzückt treibende Kräfte verspürt:
Mählich beginnt er den Flug, nicht weiß er das Ziel oder Ende,
Rings betäubende Luft, Taumel reißt ihn dahin.

Der Urmensch

Er ging groß dahin
Unter grünem Himmel
Der Eisige.
Die heißen Winde
Schlugen vergeblich an sein Herz.
Die kleinen Paviane weinten,
Aber sein Ohr war verstopft mit moosigem Werg.

Am See im Zwielicht
Stand er zuweilen zwischen hohen Binsen
Die ihn verdeckten.
Er sah den Mondschwan im Nebel rudern
Und fröstelte.

Er streichelte am Tag die Sonne: Mutter!
Sie wärmte wortlos ihn an ihrer weißen Brust
Und säugte ihn, das große Kind: mit Licht.

Er schlief, gesättigt. Schmetterlinge spielten
Mit seinen Träumen. Seine Gletscherstirne
Lag auf dem blauen Kissen des Azur.

Die zwei Reiche

Frieden war auf Erden, denn die Erde war Friedlich, und der Mensch war friedlich, und friedlich war der Himmel und des Himmels Sohn. Man sprach nicht um zu sprechen. Man sprach Gedachtes. Das Leben war einfach und ernst. Die Heiterkeit wohnte im Herzen und nicht in den Schenken. Man hatte das Seine zu tun: Das Feld zu beackern, das Vieh zu hüten, das Weib zu lieben. Man hatte das Seine zu denken: Den Lauf den Gestirne und der Goldkäfer zu verfolgen, den Gang der Schildkröte zu beachten und aus dem zerstreuten Blütenstaub der weissagenden Pflanze Schi die Zukunft zu lesen. Der Städte gab es wenige. Die Kinder wurden gemeinschaftlich erzogen von der Gemeinde. Nur heilige Feste wurden nach dem heiligen Rituell gefeiert. Die Kleidung war wie der Staub der Erde: Braun. Den Toten nur zuliebe trug man am Totenfest Gold. Die Greise, die Waisen, die Witwen wurden aus den öffentlichen Mitteln ernährt. Es gab keine Bettler. Jeder hatte zu atmen, zu essen, zu lächeln, zu leben. Der Sohn diente dem Vater, die Tochter der Mutter, gatte und Gattin dienten sich gegenseitig. Wer da stürzte, dem wurde geholfen, sich zu erheben. Am Grabe des Guten weinte jedermann. Der Fürst ritt auf einem Maultier durch die Städte, wie ein bescheidener Beamter, und er weilte am liebsten bei dem Alten auf dem Berge zu Gast. Dort saß er zu dessen Füßen, und während der Tau von den Bäumen tropfte, die Grillen zirpten, ein Schwarm von wilden Gänsen kreischend den Horizont zerriss, sprach der Alte zu ihm und senkte eine Saat in seine Seele, die spross in ihm und seinen Landeskindern zu herrlicher Blüte.

Aber die Zeiten wandelten sich und die Menschen. Man verlernte gut zu denken und also Gutes zu tun. Einfachheit wandelte sich in Vielfachheit, stille Beschaulichkeit in laute Betrachtung, edle Herrschaft in rohe Tyrannei. Sanfter Zuruf in wilden Schrei. Die goldenen Gewänder ihrer früheren Feste trugen sie tagtäglich, nachtnächtlich, und ihren Toten gaben sie armselige Symbole in den Sarg- Statt die Toten in sich immer neu zu erwecken zu immer neuem Leben (denn solches ist der Sinn des Todes, der nur scheinbar ein Tod, wie dieses Leben nun scheinbar ein Leben) lispelten sie: Lasst die Toten tot sein und uns – leben. Was soll uns die alte Zeit, die Zeit der alten Weisen und der alten vom Berge? Wir wollen eine neue, eine funkelnagelneue Zeit. Die soll glänzen wie dieser Kupferkessel, in dem ein Hühnchen schmort, oder wie der gläserne Pokal dort voll Wein und Klugheit. Die soll leuchten wie unsere tausend Städte nachts; von Millionen papiernen Ampeln oder wie die Patina auf der Riesenkuppel des Tempel zu Tscheu-kong. So sprachen sie und sprachen Unbedachtes. Sie sprachen nur, um zu sprechen, und dachten nur um zudenken. Und also ward die Einheit von Gedanke und Handlung zerrissen in eine böse Zweiheit. Und die Dreieinigkeit von Seele. Sinn, Sein ward zerrissen in eine Dreiuneinigkeit. Seele bleib Seele und für sich. Sein blieb Sein und für sich. Sinn bleib Sinn und für sich. Der Sohn diente dem Vater nicht mehr und die Tochter nicht mehr der Mutter. Und die Frau war die Sklavin des Mannes und der Mann der Sklave der Frau. Bettler saßen zerlumpt vor den Heiligtümern, und die Heiligtümer saßen zerlumpt vor den Bettlern. Dass Volk hungerte. Die Witwen wurden geschändet. Die Waisen missbraucht. Die Greise erfroren in den Winternächten. Jeder erzog sein Kind nach seiner Schlechtheit.

Der Fürst aber ritt auf einem mit Silber aufgezäumten Schimmel inmitten einer Kavalkade adliger Reiter zum Alten auf dem Berge. Er galoppierte über die Reis- und Maisfelder, die Hufe seiner Rosse zertrampelten die Ernte, der Zuruf seiner Begleiter entehrte die Frauen, welche auf dem Felde arbeiteten, und den demütigen Gruß der Bauern erwiderte er nicht. Die Tagelöhner warfen sich winselnd vor sein Pferd. Das tänzelte über sie hinweg.

Und er band sein Streitross, auf dessen weißem Fell noch das Blut von Feinden verharschte, an den Torpfosten der Einsiedelei. Die Ritter ließen sich davor auf dem Rasen nieder und begannen zu lärmen und zu zechen. Einige hoben den Bogen und schossen mit Pfeilen nach den kleinen Singvögeln im Gezweig oder den Schwänen, die auf dem einsamen Waldteich ruderten.

Der Fürst trat prunkend, die Hand am diamantenen Degenknauf, in die Hütte. Da saß der Alte vom Berge in seinem 111ten Jahr, eisgrau, vor einem Buch mit drei Siegeln. Und der Fürst hob die Hand und sprach: Sei gegrüßt, großer Wu, großer Zauberer.

Der Alte stand auf. Sein Gesicht war verwittert wie ein ewiger Berg. Aber die Augen darin: Blaue Blüten. Sein Haupt war sanft beschneit. Aber Sonne lag auf dem Schnee. Und er sprach und er sprach das Gedachte: Sei gegrüßt Fürst! Verzeihe die Hoheit meiner Niederkeit, wenn sie den Rang richtig stellt, den du ihr gegeben. Der, den du einen Wu nennst, einen großen Zauberer, ist ein Ju, ein kleiner Mensch, der nur bemüht ist, nach der Drei zu rechten und zu richten. Du kommst, mich zu fragen nach der guten alten Zeit, denn eine neue schlechte Zeit ist heraufgezogen wie ein Gewitter. Der blaue Himmel ist verhüllt. Die Klarheit in Dämmerung übergegangen. Statt der Sonne regiert der Blitz und satt des Zephirs der Sturm. Statt dem Tau trieft der Regen, statt der Nachtigall singt der Donner. Ihr seid aus Euch herausgegangen, satt in Euch zu gehen. Ihr habt Euch vermessen, Blumen züchten zu wollen, von den Kiefern und Früchte von den Veilchen. Ihr habt Krieg geführt mit der Waffe des Schachtelhalmes und euer Friede war ein Kampf mit Messern. Bruder hasste den Bruder, Weib das Weib. Un-wesen trieb sein Wesen. Das wesentliche – floh. Leg ab deinen goldnen und die goldnen Ringe an beiden Fingern, die du den Ahnen aus den Gräbern stahlst“ Leg ab deine triumphierende Maske der Herrschaft, die dein Gesicht verzerrt. Tu ab die taten, die du tatest, Reiß nieder die Paläste, die du bautest, verschenke deine Unedelsteine den Armen, die vor den Tempeln eines fremden Gottes lungern. Jage dein Gefolge, dies adlige Gesindel, in die steppen zu ihren Geschwistern: Den Aasgeiern und Schakalen. Erhebe die elendste Hure aus dem elendsten Teehaus der Hauptstadt zur Fürstin, und danach komme wieder nur mit einem Schurz bekleidet, ohne Pferd, ohne Gefolge, ohne Maultier: Zu Fuß am selbstgeschnitzten Stabe. Und ich will dich lesen und denken und handeln lehren aus diesem Buch mit den drei Siegeln, welches genannt ist: I-hi-wie oder die Lehre vom heiligen Dreiklang. Denn drei ist die heilige Zahl. Ist Himmel, Erde, Mensch. Das Ich, das Du und das Es. Dies ist’s, was ich dir sage. –

Und der Fürst erschrak bis in sein tiefstes, bis in sein drittes Herz.
Er fand nicht Worte zum Abschied oder Dank.
Schweigend verließ er die Einsiedelei.
Und trat schweigend unter die Genossen.
Ihr Gelächter verstummte, ihr Becherklang verhallte.
Die Sehne auf dem Bogen, zum Abendstern gespannt, zersprang.

Sie sahen die Stirn des Fürsten: In die war plötzliche eine Rinne gegraben. Und es war die Narbe einer nie geheilten Wunde.

Er sprach: Ich habe den Drachen Lung gesehn. Er rauschte und fuhr durch die Luft, und es war ein wind, der mich zu Boden warf. Und meine Stirn schlug an einen Stein und sprang auf und siehe: Es war Ungeziefer, was aus meinem Hirn quoll: Läuse und Krebse und Raupen. –

Die Abendröte stand über dem Kieferwald.

Der Fürst zerriss sein seidenes Gewand. Er riss von seinem Pferd den Sattel, das kostbare Riemenzeug, die Decken und Gewänder.

Und nackt bestieg er das nackte Pferd und ritt in den Abend.

Und ritt gegen Sonnenuntergang bis in die große Wüste und ward nicht mehr gesehn.

Einige aber sagen, er sei bis in das Abendland Ta-tsin gekommen und habe dort die Weisheit des Alten vom Berg gelehrt, habe ein hohes Alter erreicht und sei selbst ein Alter vom Berge geworden.

Klabund – Gleichnisse

Versuchung

Eines Tages gedachte Seth, Li zu versuchen. Er trat mit bescheidener Geste und zurückhaltendem Wesen vor ihn. Li war beschäftigt, Reisig für den Winter in einem Gehölz zusammenzusuchen. Der Schweiß rann ihm von der Stirn, und er atmete schwer vom Sichbücken, denn er war schon ein alter Herr. Seth wartete, bis Li ihn anredete.

Li sprach: „Was will der Herr?“ Seth sprach: „Welche Steine sind aus Holz?“ Li antwortete, ohne vom Reisigsammeln aufzublicken: „Die Steine des Damespieles.“

Seth fragte: „Wenn man sieht, sieht man sie nicht, wenn man aber nicht sieht, sieht man sie – darf ich den Herrn fragen, was das ist?“ Li antwortete, ohne aufzublicken: „Die Finsternis.“ Seht wurde unruhig. Er faßte sich jedoch und fragte weiter: „Wieviel Erbsen gehen in einen Topf?“

Li erwiderte, ohne aufzublicken: „Keine. Denn die Erbsen können nicht gehen.“

Seth zitterte vor Aufregung: „Ein Huhn frißt eher einen Scheffel Hafer als ein Pferd. Ist das wahr?“

Li erhob sich und wischte sich den Schweiß von der Stirn: „Natürlich, denn die Hühner fressen keine Pferde. Ei, du Narr, jetzt ist es aber genug deiner Narreteien. Hätte ich nicht meine Zeit gut und nützlich mit Reisigsammeln ausgefüllt, ich hätte dir keine Antwort gegeben. So machte es mir Vergnügen, nebenher ein wenig mit dir zu spielen, wie ein großer Bruder mit dem kleinen spielt. Jetzt bin ich mit dem Reisigsammeln fertig und habe keine Zeit mehr für dich, du Schwätzer. Hebe dich von hinnen.“

Da fiel Seth in den Staub und berührte mit der Stirn dreimal vor Li den Boden. Dann stand er auf: „Möge der Herr meinen niedrigen Hochmut verzeihen! Kann ich dem Herrn irgendwie behilflich sein? Darf ich die Reisigbündel nach Hause tragen?“

Li schalt: „Ei, du Nichtsnutz! Hättest deine törichten Fragen bei dir behalten und mir beim Reisigsammeln helfen sollen. Scher dich nur jetzt und denke über die Nützlichkeit des Reisigsammelns und die Unnützheit deiner Gedanken nach.“

Seth schlich von dannen wie ein geprügelter Hund und trat sieben Tage nicht vor das Angesicht des Meisters.

Anschauung der Dinge

Seth sprach: „Wie ist es mit der Anschauung der Dinge?“

Li sprach: „Ich sitze am Fenster, und ein Reiter reitet über den Platz. Wenn ich jetzt die Augen schließe, reitet der Reiter weiter. Wenn ich die Augen öffne, reitet der Reiter ebenfalls weiter. Wenn ich die Augen schließe, so beraube ich mich des Reiters und bin ohne den Reiter. Aber auch der Reiter ist ohne mich. Nur: daß der Reiter nicht weiß, daß ich weiß, daß er reitet. So ist es mit der Anschauung der Dinge“« Seth bewegte nachdenklich seinen Kürbiskopf und ging ein wenig verwirrt von dannen.

Schwarz und weiß

Seth fragte: „Welches ist der Unterschied zwischen schwarz und weiß?“ Li schwieg.
Sie gingen über eine Wiese.
Es begegnete ihnen ein schwarzes Schaf.
Li fragte: „Darf ich den Herrn fragen, welches die Farbe dieses Schafes ist?“
Seth erwiderte: „Schwarz.“
Danach begegnete ihnen ein weißes Lamm.
Li sprach: „Darf ich den Herrn fragen, welches die Farbe dieses Lammes ist?“
Seth erwiderte: „Weiß.“
Danach begegnete ihnen ein schwarz und weiß gesprenkeltes Kalb.
Li sprach: „Du bist wie dieses schwarz und weiß gesprenkelte Kalb. Es ist schwarz, und es ist weiß, aber es weiß nicht den Unterschied zwischen schwarz und weiß. Das heißt: es begreift sich selber nicht“
Seth errötete und zog sich mit einer ehrerbietigen Verbeugung zurück.

Die Idee

Seth sprach: „Ich hörte Meister Kong, daß er dem Meister Li vorwarf, er hätte keine Idee vom Leben …“ Li lächelte: „Gewiß nicht. Denn es kommt nicht darauf an, eine Idee zu haben, als vielmehr eine Idee zu sein.“

Kleinschreiben

Seth sagte: „Es gibt Leute, die, wenn sie schreiben, nur kleine Buchstaben verwenden. Ist dies nur eine neue Mode oder irgendwie wesentlich begründet? Man könnte sich vorstellen, daß jemand aus Demut alles klein schreibt, weil er sich an das Große nicht wagt. Es könnte aber auch sein, daß jemand aus Stolz alles klein schreibt, weil ihm, an seiner eigenen Größe gemessen, alles andere klein und nichtig erscheint.“

Li sagte: „Sie schreiben Kleines groß und Großes klein. Die, welche weiter und weiser sind, schreiben Großes groß und Kleines klein. Beide aber schreiben sie ›Ich‹ groß, so groß, daß man es nicht übersehen kann. Das höchste Wesen schreibt sich selber klein, so klein, daß man es übersieht und es nur zwischen den Zeilen lesen kann. In den heiligen Büchern der Altvordern spricht Gott durch des Menschen Mund. Er selber aber schweigt. Er ragt wie ein Fels in einem tosenden Wasserfall. Die Wasser gischten und rauschen, weil sie sich am Felsen brechen. Sein Schweigen ist die Ursache ihrer Beredsamkeit.“

Der schwarze Vogel

Seth fragte: „Glaubt der Herr an die Gewalt der Sünde?“

Li sprach: „Wenn man zu einem kleinen Kinde sagt: „Sieh dich vor, dort fliegt ein riesiger schwarzer Vogel, er wird dich gleich in seine Klauen packen und von dannen fliegen“ – so wird das Kind jämmerlich weinen und sich in der Schürze der Mutter zu verbergen und zu schützen suchen. Warum dies? Weil es den schwarzen Vogel sieht. Und warum sieht es den schwarzen Vogel? Weil es deinen Worten glaubt. So ist es mit der Sünde. Wer den schwarzen Vogel sieht, der ist ihm schon verfallen.“

Edelsteine im Sarg

Seth fragte: „Was hält der Herr von der Sitte, den Toten Perlen und Edelsteine mit in den Sarg zu geben?“

Li sprach: „Das ist eine überaus verderbliche Sitte. Mit der Sitte erst kam die Sittenlosigkeit in die Welt. Die Tugend zeugte das Laster. Das Gesetz der Waage erhält die Welt. Seitdem man den Toten Perlen und Edelsteine in den Sarg mitgibt, ist die Sippe der Grabschänder und Friedhofsräuber entstanden. Der wahrhaft Weise verführt nicht zu Diebstahl und Raub. Er kriecht wie das Tier in die Einsamkeit, wenn er sich sterben fühlt. Er verführt nicht zur Trauer, denn niemand weiß, wann er stirbt. Er bietet seinen Leib den Würmern und wilden Tieren, und sie essen davon und nehmen ihr Abendmahl davon und werden geheiligt. Er aber reitet schon auf dem Winde.“

Auf dem Winde reiten

Seth sprach: „Man liest in den alten Schriften, wer den letzten Grad der Vollkommenheit erreichte, vermag auf dem Winde zu reiten.“
Li schwieg.
Seth zog sich zurück und ging pfeifend von dannen.
Einige Tage später hörte er, daß Dau gestorben, sein Leichnam verbrannt und daß man die Asche, seinem Wunsche gemäß, in alle Winde gestreut habe.
Li sprach: „Man liest in den alten Schriften, wer den letzten Grad der Vollkommenheit erreichte, vermag auf dem Winde zu reiten. Dau ist nicht nur auf einem, er ist auf vielen Winden von dannen geritten. Welch ein Grad von Vollkommenheit! Welch ein Heiliger!“
Seth schwieg.
Er zog sich ehrerbietig zurück, indem er es vermied, in Lis Schatten zu treten.

Die Waage

Als Seth und Li durch die Straßen spazierten, begegneten sie einem Menschen in Handfesseln, der mit seiner Tochter Blutschande begangen und sie danach aus Eifersucht mit einem Beil erschlagen hatte. Allerlei Volk spuckte dem Verbrecher ins Gesicht, der mit gesenktem Haupt dahinschritt. Seth wollte ihm ein Gleiches tun wie die Menge, da riß ihn Li zurück und sprach: „Dem Verbrecher gebührt unsere unauslöschliche Dankbarkeit. Er übernimmt es, unsere bösen Taten zu tun, die wir nur träumen. Du, Seth, hast im Traum schon alle Schandtaten begangen, die man nur begehen kann. Du hast gelogen, betrogen, geraubt, gemordet, mit deiner Mutter Blutschande getrieben. Der Verbrecher hat deiner Laster Last von deinen Schultern genommen, so daß du frei schreiten kannst. Er ist böse, damit du gut sein kannst. Denn das Böse, es muß so gut getan werden wie das Gute. Durch das Gesetz der Waage erhält sich die Welt. – Willst du es auf dich nehmen, böse zu sein?“

Seth schüttelte betreten den Kopf und schwieg wohl über eine Stunde gänzlich still.

Mörder

Seth sprach: „Gestern war ich auf dem Richtplatz. Ein Mörder wurde hingerichtet. Viel Volk war erschienen, um seiner Rede zu lauschen, die er der Tradition gemäß halten darf, ehe sein Haupt in den Sand rollt. Der Mörder war ein junger Literat, der seinen Vater umgebracht hatte. Er sprach vom Richtblock wie ein Prediger von der Kanzel, und zwar über das Thema: „Darf eine Gesellschaft, die den Mord als unethische Tat verdammt, einen Mörder morden?“ Das Ergebnis seiner geistvoll vorgetragenen Maximen und Reflexionen war: nein, die Gesellschaft darf den Mörder nicht morden, wenn sie sich selbst nicht aufheben will. Tut sie es aber doch, wie bedauerlicherweise in seinem Falle, ist der Mörder ihr gegenüber in jeder Hinsicht frei. Er ist so frei zu morden, weil sie so unfrei ist zu morden.

Das Volk hörte aufmerksam zu und klatschte seiner Rede Beifall. Auch der Mandarin schien, wenn nicht von seiner Argumentation, so doch von seinem eleganten Stil entzückt. Er befahl, daß man dem Mörder als besondere Gnade den Kopf mit in die Grube lege. – Was hält der Herr von diesem kuriosen Mörder?“

Li sprach: „Dieser Mörder hatte nicht so unrecht, weniger unrecht zum mindesten als das Gesetz, sein Henker.“

Nesseln

Seth sprach: „Hat ein Vater recht, dem heranwachsenden Sohne den Umgang mit Frauen zu verbieten: sei es aus moralischen oder sonstwelchen Gründen?“

Li sprach: „Die Mainacht leuchtet voll Glühwürmer, die einander suchen und finden. Die Liebe von Mann und Frau ist etwas Blinkendes, Glänzendes, Strahlendes. Der Vater soll zu seinem Sohne dieses sagen: »Unter den Blumen, die im Garten der Lust stehen, sind einige giftige Brennesseln, die einen gefährlichen Ausschlag erzeugen, wenn man sie pflückt. Begnüge dich, Hahnenklee, Winde, Veilchen, Nelke und Rose zu pflücken. Aber hüte dich vor den Nesseln! Sie vergiften!“

Widernatürliche Liebe

Seth sprach: „Die Leute reden viel von widernatürlicher Liebe. Von Homosexualität, Perversitäten und wie man das sonst nennt. Was hält der Herr davon?“ Li zog die Stirne kraus: „Der Affe, der allein im Käfig sitzt, onaniert. Die männlichen Hunde bespringen einander. Der brünstige Frosch bespringt Karpfen. Was in der Natur ist, ist nicht wider die Natur. Der Herr verschone mich mit seinen albernen Fragen.“

Nächstenliebe

Seth sprach: „Ich besuchte gestern eine Garküche. Sie war dicht gefüllt mit allerlei zweifelhaftem Volk. Da bemerkte ich, wie ein Taschendieb einem Bakkalaureus die Geldtasche stahl, ohne daß er es bemerkte. Ich bewunderte die Geschicklichkeit des Diebes, wenngleich mir sein Handwerk Abscheu einflößte.“
Li sprach: „Der Dieb war sehr ungeschickt. Er stahl dem Bakkalaureus die Geldkatze, ohne daß er es bemerkte. Aber er konnte es nicht verhindern, daß du es bemerktest.“
Seth sprach: „Der Herr hat recht. Ich bin beschämt. Ich winkte einem Polizeisoldaten und ließ den Dieb verhaften, der durch mein Zeugnis überführt war. Er wird der Gerechtigkeit zugeführt werden.“
Li sprach: „Du nützest der Allgemeinheit. Aber dir selbst hast du geschadet.“
Seth sprach: »Woher weiß der Herr das?«
Li sprach: „Ich weiß es, ohne es zu wissen.“
Seth sprach: „In der Tat hat der Herr recht. Während ich nämlich den einen Dieb beobachtete, stahl mir ein anderer – meine Tasche …“
Li lachte.
„Da hast du die Probe aufs Exempel deiner Nächstenliebe. Um ein Nahes hast du das Nächste nicht beachtet und bist also mit Recht zu Schaden gekommen.“

Die grüne Fliege

Seth fragte: „Wie schütze ich mich vor meinen Feinden?“
Li sprach: „In meinem Zimmer trieb sich eine grüne Fliege herum, die mich abends, wenn ich die Lampe entzündet hatte, empfindlich störte. Sie brummte und summte unaufhörlich gegen das Licht. Am Tage verhielt sie sich still. Am Tage wußte ich von ihr gar nichts und wußte gar nicht, daß eine grüne Fliege in meinem Zimmer sei. Nachts aber brummte und summte sie immer unerträglicher und störte mich in meinen Meditationen. Da tötete ich sie. Sie brachte mich um meine Gedanken, und so brachte ich sie um die ihren.“
Seth zog sich leise auf den Zehenspitzen zurück.
Li rief ihn zurück.
„Du tust recht, leise zu gehen und deine Schuhe draußen vor der Matte abzulegen. Hätte sich die Fliege durch ihr vorlautes Benehmen nicht immer wieder bemerkbar gemacht, sie wäre noch am Leben.
Wer Feinde hat, suche sich in Vergessenheit zu bringen.“

Der Stärkere

Seth sprach: „Wer ist stärker, die Mücke oder der Elefant?“
Li sprach: „Das kommt auf den Standpunkt an. Wenn der Elefant die Mücke zertritt, ist der Elefant stärker. Wenn die Mücke den Elefanten sticht, ist die Mücke stärker.“
Seth sprach: „Der Elefant vermag die Mücke zu töten, aber die Mücke nicht den Elefanten. Also ist der Elefant stärker.“
Li sprach: „Du Tor! Woher weißt du, ob der scheinbar unbeträchtliche Mückenstich nicht das erste Glied einer Kette ist, deren letztes den Elefanten ins Verderben und in den Tod schickt? So daß, wenn die Mücke ihn nicht gestochen hätte, er auch nicht elend zugrunde gegangen wäre? Als Kaiser Tschu auszog, die Tataren zu bekriegen, ritt er auf einem prächtig aufgeschirrten Schimmel. War guter Dinge, und der Sieg schien ihm sicher. Ein kleiner Vogel flog über ihn in den Lüften, den niemand beachtete. Dieser Vogel k… und ließ etwas fallen, das unglücklicherweise dem Kaiser ins Auge fiel und ihn für einen Moment blind machte. Er ließ die Zügel los, um sich die Augen zu reiben. Diesen Moment benutzte sein Pferd, um durchzugehen, er konnte seiner nicht mächtig werden, wurde aus dem Sattel geschleudert und schlug mit dem Kopf auf einen Stein, daß er tot liegenblieb. Die Tataren brachen ins Land ein, wüsteten und verwüsteten alles. Jener kleine Vogel war die Ursache, daß unser Land jahrhundertelang unter der Gewaltherrschaft der Tataren seufzte.“
Seth zog sich mit einer ehrerbietigen Verbeugung zurück.

Kämpfen

Seth sprach: „Von Yu geht das Gerücht, daß er ein gewaltiger Krieger sei. Er hat aber noch nie einen Kampf bestanden: wie kann man ihn also einen gewaltigen Krieger nennen? Mir scheint das logisch gerade so unrichtig, als wolle man eine Jungfrau Mutter und einen Kapaun Hahn nennen.“
Li sprach: „Yu hat schreckliche Waffen erfunden, gegen die es keinen Schutz gibt. Man muß sich hüten, ihn zu reizen, daß er sie anwendet. Er kann mit Blicken schießen und mit Gedanken töten. Seine Feinde legen die Waffen nieder, wenn er nur die Nasenflügel bewegt und die Wimpern bewegt. Der wahrhafte Held kämpft nicht. Er hat es nicht nötig zu kämpfen. Es genügt zu wissen, daß er ein Held ist. So wird er waffenlos auf dem Felde pflügen, und niemand wird es wagen, das Schwert gegen ihn zu richten.“

Der Stein der Weisen und das Wasser des Lebens

Seth traf Li, wie er mit nackten Füßen am Flußufer spazierenging.
Der Weise ließ sich am Strand nieder, ließ die Beine ins treibende Wasser hängen und spielte mit Kieseln. Er nahm einen Kieselstein, den die Wogen glatt und glänzend geschliffen, und hielt ihn ins Licht: „Dies ist der Stein der Weisen“, sprach er, „nach dem die Narren überall suchen – nur nicht dort, wo er offen daliegt. Dies ist das Wasser des Lebens“, und er zeigte auf den Fluß zu seinen Füßen. – Die Wellen spielten um seine verkrüppelten Zehen, Algen blieben darin hängen. – Und der Weise nahm ein Algenbüschel, hielt es einen Augenblick ins Licht: „Dies ist unser aller Ahn. Man hat seiner beim Ahnenkult vergessen. Seine Mutter war das Meer, sein Vater der Sonnenherr. Wir haben keine andern Eltern.“

Ruhm

Seth fragte: „Soll der Weise nach Ruhm streben? Wenn man seinen Kindern sonst nichts vermacht, ist es nicht wünschenswert, ihnen einen großen Namen zu hinterlassen?“
Li sprach: „Kung ordnete den Staat und sammelte die Ideen der Vorzeit in den heiligen fünf Büchern: „Liederbuch“, „Buch der Urkunden“, „Buch der Wandlungen“, „Buch der Herbst- und Frühlingsannalen“, „Buch der Riten“. Woher datiert nun sein Ruhm, und wie wurden diese Bücher befolgt? Auf einem gewissen Ort, der zur Regelung der Verdauung dient, hängen seine Schriften, man reißt sich die Blätter ab und, ehe man sich den A… damit wischt, liest man den einen oder andern Spruch. So ist Kung, so sind die alten Schriften berühmt geworden. Der Weise verschmäht diese Art Ruhm, die nach Kot stinkt. Er zieht es vor, verborgen zu bleiben wie Re, der fünfzehn Jahre unter den Menschen lebte, ehe man durch einen Zufall dahinterkam, daß er der Verfasser der ›Frühlingsmusik› sei. Als seine Matte nicht leer wurde von den Schuhen der bewundernden Besucher, rollte er sie eines Tages ein und ging in die Einöde. Da waren es nur die Jahreszeiten noch, die ihm einen Besuch abstatteten, und der Frühling selbst spielte ihm seine „Frühlingsmusik“.“

Geistererscheinungen

Seth sprach: „Man hört in letzter Zeit viel von Geistererscheinungen.“

Li sprach: „Es schweben niedere Geister zwischen Himmel und Erde. Sie können sich aber nur dem mitteilen, der selber niederen Geistes ist. Mit diesem treiben sie allerhand Schabernack. Sie blasen sich wie Ochsenfrösche auf und entblöden sich nicht, über ihre armseligen Gerippe den erlauchten Namen des Herrn der gelben Erde wie ein weißes Tempelgewand zu hängen. Was geht es den Weisen an, ob sie in den Wänden klopfen, mit Tischen rücken, wie weiße Schleier wallen oder ob die Hand des sogenannten Mediums konfuses Zeug schreibt, was ihr ein Windstoß eingeblasen. Diese Geister benehmen sich wie Kinder von fünf Jahren, die mit Papierdrachen spielen. Aber der Drache Ling, er läßt nicht mit sich spielen. Er erscheint dem Weisen, wenn er in sich versunken ist, um Mitternacht oder am hellen Tage. Man sieht ihn nicht, man hört ihn nicht. Man weiß nicht seinen Weg und seine Stätte. Man ist eins mit ihm und reitet mit ihm auf den Winden über die vier Meere und durch die fünf Himmel. Also erscheint der Geist Gottes den Weisen, der nicht mit Geist und Geistern spielt, sondern Geist ist.“

Die Zukunft

Seth sprach: „Wie vermag ich die Zukunft zu sehen?“
Li ballte seine Hand zur Faust: „Was siehst du?“
Seth erwiderte: „Eine Hand, die sich zur Faust gekrümmt hat.“
Li sprach: „Gut!“
Nun öffnete Li seine Hand und schlug ihm mit der offenen Hand ins Gesicht. „Was siehst du nun?“
Seth rieb sich seine Wangen, seine Augen schmerzten von dem Schlag, er vermochte sie kaum zu öffnen, er schwieg.
Li lachte.
„Du siehst nichts. So ist es mit der Zukunft. Was man fühlt, kann man nicht sehen. Man erkennt die Zukunft, wenn sie Gegenwart geworden ist. Dann ist sie aber keine Zukunft mehr. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: das sind nur Anschauungsformen der Zeit. Der Weise kümmert sich nicht um sie. Er ist immer in seiner Zeit. Er tut, was ihm und also auch ihr angemessen. Wenn du den ersten Grad der Vollkommenheit erreicht hättest, würdest du dir jetzt mit Borwasser die Augen kühlen, anstatt noch immer über die Zukunft nachzudenken.“
Seth errötete und zog sich mit einer ehrerbietigen Verbeugung zurück.

Kunst und Leben

Seth sprach: „Heute sah ich dem Maler Ma zu, der mit fünf schwarzen Pinselstrichen in fünf Sekunden die Illusion eines binsenbestandenen Seeufers, über das ein Reiher zieht, auf Papier zauberte. Ich gestehe, daß mir sein Bild gefiel. Aber was für eine oberflächliche, unernste, leichtsinnige und leichtfertige Kunst, die im zehnten Teil einer Minute schon ihr Resultat gibt und vergibt.“ Li schwieg.
Er führte Seth in Mas Atelier. Seth erstaunte auf das höchste.
Im Atelier lagen Tausende von Blättern herum, und alle zeigten ein binsenbestandenes Seeufer, über das ein Reiher zieht.
Li sprach: „Ma hat fünf Jahre lang nichts gemalt als das binsenbestandene Seeufer, über das ein Reiher zieht. Er hat fünf Jahre gebraucht, um in fünf Sekunden mit ein paar Pinselstrichen ein Bild der Vollkommenheit zu geben, wie es das binsenbestandene Seeufer zeigt, über das ein Reiher zieht.
Wer weiß, wieviel Äonen das höchste Wesen brauchte, um in einer Sekunde das zu schaffen, was wir das Leben nennen?“
Seth zog sich beschämt mit einer ehrerbietigen Verbeugung zurück.

Namenlos

Seth sprach: „Welchen Namen pflegt der Meister dem höchsten Wesen zu verleihen, mit welchem Zauberwort es zu rufen?“
Li sprach: „Der, den ich nicht nennen will: er schweigt ewig. Die Fische sind seine tiefsten Gedanken.
Der, den ich nicht nennen will: er leuchtet ewig. Die Sonne ist sein flammendstes Herz.
Der, den ich nicht nennen will: er ragt ewig. Ein Schneegipfel ist sein liebster Traum.
Der, den ich nicht nennen will: er stürmt ewig durch die Welt. Die Winde sind sein Atem.
Er ist herzlos, also schmerzlos. Er ist neidlos, also mitleidlos. Er ist da, also dort. Er ist nah, also fort. Er hat hunderttausend Namen und ist namenlos.
Nenne ihn bei dem Namen, mit dem du deine Mutter oder dein Kind, dein Leben oder deinen Tod rufst.“
Seth zog sich mit einer ehrerbietigen Verneigung zurück.

Musik

Li spielte die Laute.
Seth hörte ihm zu.
Dachte Li beim Greifen der Töne an die Sonne, so rief Seth: „Wie strahlend, wie glänzend!“
Dachte Li an das Meer, so rief Seth: „Wie rauschend! Berauschend!“
Sie gingen in den Wald, und ein Unwetter überfiel sie.
Sie traten in einen verlassenen Tempel.
Li spielte die Laute, das Wetter zu besänftigen.
Aber der Blitz hörte nicht auf zu blitzen, der Donner nicht auf zu donnern, der Regen nicht auf zu regnen.
„Wahrhaftig“, sprach Li, „ich bin noch sehr weit von der Vollkommenheit der Musik entfernt. Ich bat den Blitz mit meinen Tönen, sich zu besänftigen, den Donner innezuhalten, den Regen zu versiegen. Blitz, Donner und Regen begriffen mich nicht. Was habe ich erreicht, wenn die Menschen mich begreifen und Gott schweigt?“
Der Blitz blitzte, der Donner grollte, der Regen rann.
Li hatte die Laute sinken lassen.
Er schwieg – und siehe – da hörte er auch Gott schweigen.

Tod und Leben

Seth ging in den Wald, wo der Alte vor seiner Baumhöhle saß, und fragte ihn: „Meister, wie verhält es sich mit Himmel und Erde, Tod und Leben?“
Da saß der Einsiedler. Der weiße Bart wallte ihm bis zur Erde. Ameisen krochen vorüber. Der Mistkäfer rollte seine Kugel und beschmutzte ihn. Er aber sah nicht den Mistkäfer, nicht die Ameise, nicht Seth, nicht Himmel und Erde.
Er schwieg.
Nach sieben Tagen trat Seth wieder vor ihn. Er saß noch immer vor dem Baum. Der Regen rauschte durch sein Haar. Der Wind zauste seinen Bart. Der Himmel ergoß sich über ihn, die Erde klebte feucht an seinen Sohlen.
Und Seth fragte: „Meister, wie verhält es sich mit Himmel und Erde, Tod und Leben?“
Er aber spürte nicht den Regen, nicht den Wind, nicht Himmel und Erde und hörte nicht die Stimme, die durch Windeswehn und Regensang zu ihm drang.
Er schwieg.
Nach sieben Monaten trat Seth wiederum vor den Alten. Er saß noch immer vor seinem Baum. Tiefe Stille herrschte im Wald. Kein Vogel zwitscherte, kein Quell rieselte, kein Laub säuselte.
Schweigend verneigte sich Seth dreimal und trat schweigend auf den Zehenspitzen näher.
Da bemerkte er, daß Li tot war. Denn kein Leben war in ihm. Aber er sah, daß auch kein Tod in ihm sei. Der Weise hatte seinen eigenen Tod nicht bemerkt.
Da begriff Seth, daß Li über Tod und Leben hinaus sei. Da wußte Seth, wie es mit Himmel und Erde, Tod und Leben bestellt sei. Er fiel auf die Erde nieder und küßte die schmutzigen Enden von Lis Bart, die schon im Moos Wurzel faßten.
Und mit einer ehrerbietigen Verbeugung zog er sich zurück.

Der letzte Kaiser

Für Gräfin und Graf Arco

Der kaiserliche Knabe wachte auf. Er schlug den gelbseide­nen Vorhang zurück. Er lauschte wie ein Hase, der Männchen macht. Die regelmäßigen Atemzüge der schlafenden Diener und Eunuchen drangen aus dem Vorzimmer durch die dünne Sandelholzwand zu ihm. Er erhob sich; eine kunstvolle eu­ropäische Uhr, ein Schmied, der auf einen Amboss hämmert, begann sieben zu schlagen. Er läutete mit einer kleinen gol­denen Glocke, die auf einem Mahagonitischchen neben dem Ruhebett lag. Die Flügeltüren wehten auf, und der Ober­hofmeister, ein Mandarin letzten Grades, erschien. Neunmal berührte seine Stirn den Boden vor dem Kaiser, der in roten Lederschuhen, einem gelben, mit Symbolen bestickten Mantel auf einem Blaufuchsfell stand. Drei Diener sprangen wie aus dem Bauch des fetten Mandarinen hervor: der er­ste offerierte eine Tasse mit Tee, der zweite eine Schale mit Konfitüren, der dritte eine Lackdose mit Zigaretten. Der Kai­ser nippte im Stehen am Tee. Er betrachtete aufmerksam die Frühlingslandschaft, die auf der Tasse abgebildet war: blühende Aprikosenbäume, darunter ein Liebespaar, in der Ferne ein Teich, eine Gondel, im Hintergrund ein Hügel mit einer Pagode. Der Kaiser kräuselte die Lippen, als er das Lie­bespaar sah, in Unschuld jeder Seligkeit hingegeben. Eine Falte durchbrach seine glatte, kindliche Stirn. Der Diener, der das Teebrett hielt, zitterte. Kaum vermochte er sich auf sei­nen bebenden Knien zu halten. Der Kaiser stellte die Tasse nieder, dass sie klirrte. Er machte eine Handbewegung. Die drei Diener schnellten zurück. Der dicke Mandarin erneu­erte den neunmaligen Kotau. Dann sprach er, mit zu Boden gesenkten Blicken: „Die Tasse, in der der Diener Yüan Yng den Tee servierte, erregte das Missfallen Euer Himmlischen Majestät. Ich werde Befehl geben, den Diener auszupeit­schen.“ Der Kaiser überhörte die geflüsterten Worte: „Laß Hi kommen.“

Hi, die Amme, watschelte auf ihren geschwollenen Fü­ßen herbei. Die Augen des Knaben leuchteten, als er sie sah: „Zieh mich an, Hi.“ „Welches Gewand befehlen Euer Maje­stät? Das himmelblaue, mit Orangenblüten bestickte? Das schwarze mit den Sternen und himmlischen Figuren? Das braune mit den Darstellungen des Ackerbaus und der Vieh­zucht? Das purpurrote mit den Symbolen der glücklichen Liebe?“ – Der Knabe war erblasst. Er stampfte mit dem Fuß dem Blaufuchs auf den präparierten Schädel, dass er knackte. Die Amme sah schief von unten, die Arme demütig über dem weichlichen Bauch gefaltet, zu ihm empor. Er wandte sich nach der Wand und zerdrückte eilig eine Träne, die ei­nes Kaisers und Gottes nicht würdig war. „Man hat mir Fey-yen genommen. Man hat mein Herz verwundet.“ Die Amme schwieg. „Als ich gestern Nacht, von zwei Eunuchen begleitet, die Gemächer der Kaiserin, meiner Frau Gemah­lin, aufsuchte, trat mir ein Zeremonienmeister, ein dürrer, fragwürdiger Intrigant, mit einem neunmaligen Kotau und ei­nem Grinsen des Bedauerns entgegen: Ihre Majestät, die Frau Kaiserin, wäre in dringender politischer Mission am spä­ten Abend zu Ihrer Majestät der Kaiserinwitwe Tsze-hi in den Sommerpalast berufen worden. Man habe mir soeben einen Boten geschickt. Der Bote habe mich nicht mehr er­reicht. Nun sage selbst, was für eine politische Mission kann Fey-yen, die ein Kind ist, fünfzehn Jahre alt und noch ein Jahr jünger als ich, in ihre kleinen unwissenden Hände neh­men? Diese Hände sind dazu da, mich zu streicheln, wenn ich Schmerzen habe. Wann wird Tsze-hi, die böse Warzen­kröte, mir Fey-yen, meine Libelle, wieder schicken? Sie wird sie verschlingen, wie sie alles verschlingt, was in ihre Nähe kommt. Und dabei kostümiert sie sich als Kwanyin, als Göt­tin der Barmherzigkeit! Sie martert mich, nur weil ich der Kaiser bin und weil sie Pläne mit mir vorhat, die dunkel sind wie die Anschläge der Dämonen des Nordens.“ Hi schwieg noch immer. Sie tat, als habe sie nichts von den Worten des Kaisers gehört.

Der Kaiser trat an ein Fenster. Ein junger Gärtner war da­vor beschäftigt, Sträucher zu beschneiden. „Ich will keines von diesen kaiserlichen Gewändern mehr am Leibe haben“, der Knabe knirschte wie ein Pferd in der Kandare. „Hi, geh zu dem Gärtner da, gib ihm einige Käsch und versichere ihn mei­ner kaiserlichen Gnade: er soll mir seine Kleider leihen.“ Hi wollte etwas sagen. Der Kaiser schnitt ihr mit einer scharfen Handbewegung die Worte ab, ehe sie den Mund verließen. Hi watschelte von dannen. Sie kam mit den schmutzigen Lappen zurück. Der Kaiser war entzückt und klatschte in die Hände. Er warf sie sich über und besah sich im Spiegel. „Endlich sehe ich einmal wie ein Mensch aus – was meinst du, Hi? Wenn ich in dieser Maske unter meine Armee trete – werden sie in mir den Kaiser erkennen?“ Er riss das Fenster auf, sprang in die Sträucher und Stauden und war verschwunden. Hi schrie wi­der alle Etikette auf. Dann kroch sie jammernd zum Oberhof­meister, der sofort einige Mandarine erster Klasse hinter dem Kaiser herschickte. –

Der Kaiser schlug sich durch Seitenwege und Gestrüpp. Er kam an einen verfallenen Turm; stieg ihn hinauf und sah hinab. Das Land lag noch vor dem ersten Frühling. Bäume, Häuser, Wiesen-, Dächer, Kuppeln, Erde, Himmel: alles Gelb in Grau und Grau in Gelb. Monatelang schon herrschten diese Farben über Peking. Sie ermüdeten ihn. Er sehnte sich nach blauem Meer, nach grünen Wiesen, nach roten Lippen, nach den roten bemalten Lippen seiner kleinen Kaiserin -deren Lippen rot und zart waren wie die Lippen der geheimnisvollen Göttin im Tempel der Enthaltsamkeit, die nur er kannte. Er hatte sie entdeckt eines Tages in einem halb­verschütteten Gewölbe, das zerschlagen worden war von den Geschossen der fremden Barbaren. Sie war die beste, die reinste, die schönste Göttin. Er betete zu ihr in allen schmerzlichen Stunden seines Daseins. – Der Kaiser lag auf dem Turm, auf dem pelziges, grausilbernes Moos wucherte. Da hörte er Wehklagen und sah in einen Hof, wo der Die­ner, der ihm früh den Tee serviert hatte, mit Bambushieben regaliert wurde. Über die gelbe Haut flössen kleiner hell­rote Blutbäche. Der Kaiser empfand ein leises Wohlbehagen, als er das Rot in all dem Grau und Gelb aufschimmern sah. Er stieg den gebrechlichen Turm hinab, wobei er eine Fle­dermaus ins Tageslicht scheuchte. Er ging weiter durch die unendlichen Gärten. Er kam durch kleine Zypressenhaine, an Lotosteichen, kleinen Tempeln, Marmorbauten vorbei, an Landschaften, die er noch nie gesehen. Er stieg auf ei­ner Brücke empor, die sich wie ein Kamelrücken wölbte: in neun Bögen über neun Kanäle.

Auf der Höhe der Brücke blieb er, an das Geländer gelehnt, stehen und blickte hinab, wo die Gärtner im Teich die alten Lotospflanzen versetzten und jungen Raum gaben. In der Mitte ließen sie eine kleine Wasserstraße für die Gondeln und Lustjachten frei. Man­che der Gärtner standen bis zum Nabel im Wasser. Einige sangen ein monotones Lied:

Lotosblüte,
Tochter des Himmels,
Lustgeborne, Lusterkorne,
Wie bald verduftest, verblühst, verfaulst
Auch du –

Einer der Aufseher sah zufällig zur Brücke empor und ent­deckte den Kaiser in der Gärtnertracht. Er schwang seinen Bambusstab: „He, du Faulpelz, du Lump, du Tagedieb, willst wie der Kaiser vom Thron zusehen, wie andere arbeiten! Herunter mit dir, sonst lasse ich dir die Bastonade auf die Fuß­sohlen geben!“ Der Kaiser lachte und lief die Brücke auf der anderen Seite flink hinab. Er fand einen Kahn lose angekettet und stakte sich auf das andere Ufer. Enten und Wassertauben begleiteten seinen silbernen Weg. Er sprang über eine Wiese, dann in ein dichtes Farngebüsch. In einer Lichtung warf er sich zu Boden und schlief sofort ein.

Als er aufwachte, saß ein Mädchen neben ihm, vielleicht siebzehn Jahre alt. Sie lächelte verlegen und kratzte sich ihren grindigen Kopf. Sie war hübsch, aber schmutzig und verwahr­lost. „Störe ich dich in deinen Träumen? Die Winde des Sü­dens mögen dir gewogen sein und dir zärtlicher als die Hand einer Geliebten über die Stirn streichen.“ „Mögen die Dämonen des Nordens dir immer fernbleiben und möge Kwanyn aus dem silbernen Krug, den sie in ihrer Linken hält, dir ewig das Wasser des Lebens aus den Yüquellen spenden. Ich freue mich, dir zu begegnen.“ Der Kaiser .richtete sich ein wenig auf. Libellen flogen über ihm hin, gelbe Schmetterlinge, die wie flatternde Mandarine aussahen. „Du bist wohl von deiner Arbeitsstelle weggelaufen?“ Sie blickte ihm forschend ins Gesicht. „Zeig deine Hände.“

Sie nahm seine Hände. „Sie sind zart, als hätten sie nie gearbeitet. Und hier: was bedeuten diese Ringe?“ Der Kaiser erschrak. Er hatte bei seiner Ver­wandlung vergessen, die kaiserlichen Ringe: den riesigen in Brillanten gefassten Saphir, den Ring der neun heiligen Per­len abzulegen. Er lächelte verlegen: „Die Steine sind falsch. Ich habe sie mal in der Vorstadt einem Tändler für ein paar Käsch abgekauft.“ Das Mädchen drehte seine Hand mit den Steinen in der Sonne, die das Gebüsch zu durchbrechen be­gann. „Aber sie sind hübsch und glänzen zierlich. Schenk mir einen Ring! Wenn du magst, will ich dich dafür lieben.“ Der Kaiser dachte: wenn ich die Ringe von mir gebe, bin ich kein Kaiser mehr. Sie gehören zu den Insignien des Kaisertums. Jahrhunderte haben die Söhne des Himmels den blauen Sa­phir als Symbol des Himmelsgewölbes getragen, und jetzt soll ich ihn einem schmutzigen Mädchen hinwerfen, dessen Vater ein Rikschakuli und dessen Mutter ein Mädchen aus einer nie­dersten Teeschänke ist. Ein Mädchen, das ich nicht kenne, das ich nicht liebe und von dem ich mich auch, die Götter mögen mich behüten, nicht lieben lassen werde. Das den unermesslichen Wert des Ringes nicht einmal ahnt und ihn dem er­sten besten Mandschusoldaten oder Tortenbäcker weiter ver­schenken wird. –

Der Gedanke der Sinnlosigkeit dieses Geschenkes und der tiefen Selbsterniedrigung und Demütigung entzückte ihn aber derart, dass er den Ring mit dem Saphir vom Finger streifte, eine Sekunde zauderte und ihn dann ihr an die Hand steckte. Sie pfiff vor Freude wie eine Haselmaus und legte seine beiden Hände an ihre jungen Brüste. „Wer bist du?“ fragte er. „Ich diene als Küchenmädchen im Som­merpalast Yü Schau Ihrer erhabenen Majestät der Frau Kai­serinwitwe Tsze-hi.“ Der Kaiser sprang auf die Beine. „Ich habe dir einen Ring geschenkt, und wenn er auch nicht viel Wert besitzt, so bist du mir doch einen kleinen Gegendienst schuldig. Ich bin augenblicklich ohne Stellung, der Gärtnerberuf behagt mir nicht mehr recht, bring mich zu deinem Kü­chenmeister. Er soll mich als Küchenjunge anstellen. Mit meinen Kenntnissen der Gemüse und Pilze und Früchte und Sa­late vermag ich ihm gewiss dienlich zu sein.“ Das Mädchen klatschte in die Hände: „Komm.“ Wenige Schritte hinter der Farnhecke war die Mauer des Palastgartens. In der Mauer war eine winzige Öffnung, durch die sich beide durchzwäng­ten. Noch einige Schritte durch eine Heckenrosenhecke, und sie standen auf der Straße an der großen Mauer. Die Straße war von Geschrei, sausenden Rikschas, Händlern, Gauklern, Eseln, räudigen Hunden, trippelnden Frauen, jaulenden Kin­dern, Straßenmusikanten belebt. Zelte und Buden waren er­richtet. Hier pries einer, einen spitzen, unwahrscheinlich ver­filzten Hut auf dem Kopfe, Hundeherz an Stäbchen gebraten an. Hier gab es Eselsfleisch, Froschschenkel in weißer Eier­sauce. Hier war eine Bäckerei von Reiskuchen und Zucker­torten. Es roch nach schlechtem Öl und ranzigem Fett. Nach Moschus, nach Knoblauch. Nach Zwiebeln, die jeder dritte im Munde kaute. Den Frauen bot ein Krüppel, dem beide Beine fehlten und der in einem kleinen Holzwagen sich mit zwei Stäbchen vorwärtsbewegte, Riechkissen an. Ein Verbrecher, eine hölzerne Krause um den Hals, wurde von Soldaten vor­über getrieben. Er grinste frech und höhnte die Vorübergehen­den mit unflätigen Redensarten, unter denen „Tochter einer Schildkröte“ noch die geringste war. Wahrsager und Zaube­rer hatten ihre Buden. Der eine sagte aus Reiskörnern, der andere aus Linien der Hand, der dritte aus den Zeichen des Himmels wahr.

Je nach der Anzahl der Käsch bekam man Böses oder Gutes geweissagt. Die Reichen hatten insgesamt Glück und Seligkeit zu gewärtigen. Aus Teeschänken klang Gitarrenmusik. Eine Theatertruppe spielte unter freiem Him­mel eine historische Tragödie „Der letzte Kaiser der Ming-dynastie“. Der Kaiser kam gerade zurecht, um zu sehen, wie der letzte‘ aus der Mingdynastie sich die Schnur umlegte. Er schauderte ein wenig. Hatte ihm der Literat, der ihn in Geschichtswissenschaft unterrichtete, das furchtbare Ende der Mings verheimlicht? Oder phantasierte der Schauspieler nur, ein grell geschminkter Bursche mit den Allüren eines Lust­knaben? Bei einem Drachenverkäufer kaufte der Kaiser einen Papierdrachen. Er ließ ihn über den Buden emporsteigen, den heiligen gelben Drachen. Wild und ungebärdig tanzte er im Winde. Da riss die dünne Schnur. Kopfüber Schoss der Dra­che zu Boden und war verschwunden. Der Kaiser erschrak wiederum. Was waren dies alles für üble Vorbedeutungen? Der letzte Kaiser der Mingdynastie, der heilige Drache, der erst steil emporsteigt, um plötzlich unterzugehen. War der Faden, an dem Chinas Geschicke hingen, so dünn und leicht zerreißbar? Der Kaiser trat auf einen Wahrsager zu: „Sag mir die Wahrheit!“ Der Wahrsager wog die paar Käsch in seiner Hand. Es war ein Zauberer, der in einer Ruine des Yuang ming yuan, des alten Sommerpalastes, hauste. Er strich sich seinen Bart und sagte: „Wenn man die Wind- und Wassergötter beunruhigt, so ist Sturm und, wilde Flut zu erwarten. Man erhöhe sich nicht zu den Göttern, wenn man nur ein Mensch ist. Die Tempel baue man klein, dass sie sich der Erde anschmiegen: desto eher findet der Geist des Himmels zu ih­nen. Von Menschen, die mit Ratten und Wanzen zu hausen gezwungen sind, ist keine friedfertige Gesinnung zu erwarten. Man mache die Menschen glücklicher, so werden sie besser werden. Der Große opfere sich um ein Kleines, der Kleine um ein Großes auf. Das Opfer ist der Sinn des Lebens und der Sinn des Todes. Die Gnade träuft von den Göttern wie Harz von einem Baumstamm.“

Der Kaiser ging nachdenklich von dannen. Hinter ihm trip­pelte das Küchenmädchen, den blauen Saphir eitel in der Sonne drehend. Sie führte ihn zu einem Seitentor des neuen Palastes, wo ein Mandschusoldat, zu dem sie in gewissen Beziehungen zu stehen schien, Wache hielt. Er kaute Ta­bak und spuckte träge vor sich hin. Der Kaiser trat auf ihn zu und verneigte sich: „Mein älterer Bruder möge verzei­hen, wenn sein jüngerer Bruder ihn in seinen Meditationen stört. Ich bin einer Wildgans begegnet und ihrem Flug gefolgt. Ich wäre entzückt, dich als meinen Freund begrüßen zu dürfen, denn ich gedenke die\Stellung eines Küchen­beamten in diesem erlauchten Hause anzunehmen.“ „Tritt nur ein“, sagte der Soldat, ein wenig barsch, aber nicht un­freundlich, der hübsche Junge gefiel ihm: „Du kommst zu einer wunderlichen Stunde. Hättest du an einem der Haupt­tore Einlass begehrt, man hätte dich nicht hereingelassen.“ „Was bedeutet deine Rede, Tu-Wei?“ sagte das Mädchen, „du machst mich ganz ängstlich.“ „Die Pfeile, die den stolzen Reiher treffen, sind schon gespitzt. Das bunte Kleid des kai­serlichen Pfauen wird bald verblassen. Es ist Revolution in der Stadt.“ „Revolution?“ fragte der Kaiser und musste sich das Wort klarmachen. „Warum Revolution und gegen wen?“ „Gegen wen anders als gegen den Kaiser“, sagte der Sol­dat, »hast du dich nie mit Politik beschäftigt?“ Der Kaiser schüttelte den Kopf. „Politik ist das, was die alte, böse Kai­serinwitwe Tsze-hi betreibt. Es kann nicht gut sein.“ Der Soldat runzelte die Stirn: „Sei nicht so vorlaut. Und sprich vor allem von Ihrer Majestät der Kaiserinwitwe in einem an­dern Ton. Vielleicht bist du gar selbst ein Revolutionär?“ Der Kaiser lächelte aus seinem bleichen Gesicht heraus. Der Sol­dat fuhr, ohne eine Antwort zu erwarten, fort: „Es sind einige Literaten zweifelhafter Grade, Rechtsanwälte und Rechtsverdreher aus dem Ausland, aus Amerika zurückgekommen. Sie haben sich die Zöpfe abgeschnitten und tragen Zylinder und Gehröcke wie die weißen Barbaren. Nun wollen sie, dass wir alle uns die Zöpfe abschneiden und Zylinder und Gehröcke tragen: deshalb ist Revolution. Verstehst du das?“ Der Kaiser nickte. „Sie stehen also mit den weißen Barbaren im Bunde. Sie sind Verräter unseres Volkes. Wie entsetzlich.“ Der Sol­dat nickte. Er spuckte den braunen Saft im Bogen an die Mauer. „Sie haben geheime Gesellschaften gegründet und im Volke agitiert gegen den Kaiser und die Kaiserinwitwe im Namen der Menschenrechte: der Freiheit, der Demokra­tie, des Selbstbestimmungsrechtes der Völker.“ Der Kaiser buchstabierte vor sich hin: „Der Men-schen-rech-te… was bedeutet denn das? China ist doch ein Kaiserreich seit Jahr­tausenden. Der Kaiser ist der Sohn des Himmels, der Mittler zwischen den Menschen und Schang-ti, dem Geist des Him­mels. Wie wollen sie mit den Göttern verkehren, wenn sie keinen Kaiser mehr haben?“ „Lieber Junge“, sagte der Sol­dat zärtlich, „jeder will eben ein Kaiser sein und persönlich mit dem Geist des Himmels in Verbindung treten.“ Dann lachte der Soldat und machte mit der rechten Hand eine Gebärde des Geldzählens und Einsäckeins. „Beim heiligen Delphin, du bist aber schwer von Begriffen: verdienen wol­len sie – das, was die Mandarine als Stellvertreter des Kaisers bisher verdient haben, das wollen sie selbst verdienen. Tael! Tael! Käsch! Käsch! Kwai zau für die kleinen Lumpen, nach­dem die großen abgetreten sind.“

Der Kaiser war verblüfft von der Suada des Soldaten, die auf ihn einstürmte. Ganz begriff er ihn nicht. Seit wann han­delte es sich im Leben des Menschen um Tael oder Käsch? Das waren doch ganz nebensächliche, lächerliche metallische Begriffe, mit denen man Hundeherz am Rost, einen Papier­drachen, vielleicht auch eine Frau kaufen konnte.

Aber der Geist des Himmels – was hatte er mit Taels zu tun? Das Mäd­chen drängte: „Komm nur herein. Das Tor wird bald geschlos­sen, und du musst wissen, woran du bist.“ Der Kaiser ver­beugte sich vor dem Soldaten, bat, ihn Seiner Hochwohlgeborenen Familie zu empfehlen, und folgte dem Mädchen. Das Mädchen führte ihn zum Küchenmeister Wang, der mit krebs­rotem Gesicht in einer Terrine rührte. „Ich bringe Euer Hochwohlgeboren einen diensteifrigen Knecht.“ Der Kaiser trug seinen Wunsch mit Anstand vor. „Nun gut“, sagte der gut­mütige Wang, der nie nein sagen konnte, auch den Frauen gegenüber nicht; er ahnte, dass durch Annahme des Küchen­jungen zum mindesten bei Noa etwas für ihn heraus- oder hereinspringen werde. „Nun gut, wir wollen’s mit dir probie­ren. Kannst du auch servieren? Du hast ein hübsches, gelecktes Gesicht, so als lecke dich deine Mutter, die Katze, jeden Tag dreimal ab. Man könnte dich b& Hof präsentieren.“ Der Kaiser hatte die Manieren der Diener bei den seinen studie­ren können. Er glaubte bei Hofe stilgerecht aufwarten zu kön­nen. „Nun gut. Wir werden sehen. Noa wird dich zum Bekleidungsmeister bringen.“

Gerade, als der Kaiser in die kleidsame, weiße Tracht der Diener gehüllt wurde, entstand eine Aufregung im Palast, die sich von den Toren ins Zentrum der Gemächer der Kaise­rinwitwe und von da in alle Seitenflügel strahlenförmig fortpflanzte. Der Kaiser war aus dem alten Palast verschwun­den und trotz eifrigster Forschungen nicht aufzufinden. Man hatte ihn in den neuen Palast in Sicherheit bringen wollen: er war gewiss den Rebellen, den verfluchten Republikanern und irrsinnigen Anhängern der westlichen Barbarenideologie, in die Hände gefallen. Die Kaiserinwitwe war außer sich. Sie schlurfte in ihrem Geheimgemach, das von Parfüm betäubend roch, asthmatisch aufgeregt auf und ab. Yng, der Obereunuch und ihr Vertrauter, immer hinter ihr her wie ein Küchlein hin­ter der Henne. „Yng, was soll ich tun?“ Sie tat einen Zug aus einer Opiumpfeife, die in einer Ecke lag. „Er ist davongelau­fen. Das ist es. Er ist selber ein Rebell, der Sohn des Himmels, Yng. Ein ungeratener Junge ist es, dem wir immer noch zu viel nachgesehen haben. Was wird er tun? Er bekommt es fertig, sich zu den Rebellen zu schlagen und gegen mich zu kon­spirieren: als kaiserlicher Republikaner, als republikanischer Kaiser. Tschang-tü-tsf, den sie zu ihrem Präsidenten machen wollen, ist ein alter Narr und Knabenschänder. Er wird sich in den Kaiser verlieben, und wir haben die Bescherung.“ Sie schnaufte schwer und sah wie ein großer brauner Frosch aus, der auf Land schwer atmet. „Yng, was macht die junge Kai­serin?“ „Sie hat sich in den Schlaf geweint, Majestät.“ „Sind die Wachen verstärkt? Ist für den Fall eines Abzuges durch den geheimen unterirdischen Gang alles in Ordnung?“ „Al­les in Ordnung, Majestät!“ Die Greisin ließ sich jammernd auf ein Kissen fallen und griff nach kandierten Nüssen, die in ei­ner Schale auf einem Tischchen standen. „Yng, was wäre aus den Mandschus geworden, wenn ich nicht gewesen wäre.“ Sie wiegte wie ein Marabu den Kopf. „Wir müssen den Kaiser wieder haben, so oder so. Zum Glück ist die junge Kaiserin schwanger. Dass sie einen Sohn gebärt: dafür werde ich sor­gen. ..“ –

Die junge Kaiserin ließ sich das Abendessen in ihrem Schlafzimmer servieren, während sie auf dem Kang lag. Zu­fällig fiel ihr Blick auf einen der Diener. Sie senkte die Wim­pern, befahl den Eunuchen und zwei Dienern das Zimmer zu verlassen. Der dritte blieb. „Kwang-sü!“ rief sie leiden­schaftlich und drückte ihn, der kaum Zeit hätte, die Pastete beiseite zu stellen, an ihre Brust. „Die Winde des Südens ha­ben dich zu mir geweht. Wie verlangte mich nach dir! Mich und dein Kind!“

Sie führte seine Hand unter die Decke, wo er unter ihrem seidenen Hemd die erste Regung seines Kindes spürte. Eine Träne wollte wieder in sein Auge. Er beherrschte sich. „Ich bin verfolgt und weiß nicht von wem. Ich bin geraubt und weiß nicht wozu. Ihre Majestät, die Kaiserinwitwe, ließ mir sagen, alles geschehe zu meiner persönlichen und der Dynastie Sicherheit. Es tobe ein Aufstand in der Stadt.“ „Nieder mit dem Kaiser, riefen sie. Ist das wahr, Kwang-sü? Was hast du ihnen getan? Du kannst doch niemandem Bö­ses tun?“ Der Kaiser zuckte die Achseln: „Aber vielleicht bin ich böse, vielleicht bin ich für die Aufrührer das böse Prin­zip, und das ist’s, was sie vernichten wollen. Man hat mich aufgezogen in dem Glauben, dass ich des Himmels Sohn sei, der Stellvertreter Gottes auf Erden: aus der Gnade des Gei­stes heraus. Habe ich mir diese Gnade erworben, erkämpft? Wo habe ich ein Opfer gebracht? Fey-yen: ich bin ein armse­liger Mensch, nichts weiter. Ich habe nie etwas getan: weder Gutes noch Böses, jetzt müsste ich eine Tat tun: aber wel­che?“ Er fiel in Sinnen. Fey-yen streichelte seine Stirn: „Du bist aus dem alten Palast geflohen in der Tracht eines Dieners?“ Der Kaiser lächelte: „O nein. Wovor hätte ich fliehen sollen? Ich wusste nichts von der Rebellion, als ich von Hause wegging im Gewand eines Gärtnerburschen. Das Schick­sal ist vor mir hergelaufen. Als ich hier ankam, war es schon da und berichtete mir in Gestalt eines Soldaten der Torwa­che, was geschehen.“ Die Kaiserin streichelte seine Hand, ihr Tastsinn vermisste eine goldne Unebenheit, sie zog die Hand erschreckt herauf: „Kwang-sü, wo ist der himmlische Sa­phir? das Symbol deiner Kaiserkraft?“ – Der Kaiser kämpfte: „Fey-yen – wirst du mich begreifen? Ich habe den Stein ver­schenkt, erbleiche nicht, Fey-yen, ganz einfach, ja eigentlich sinn- und zwecklos verschenkt. Die Person, die den Stein empfangen hat, weiß gar nicht, was es mit ihm für eine Be­wandtnis hat. Und ich habe ihn verschenkt, weil, ja weil ich an die Tradition der Jahrhunderte nicht mehr glaube, son­dern nur noch an mich. Vielleicht glaube ich auch nicht an mich, vielleicht zweifle ich nur an mir: aber Glaube und Zweifel sind ja Kinder eines Vaters. Entweder das Kaiser­tum besteht ohne den Ring in mir – oder es besteht gar nicht. Vielleicht haben wir es schon verloren. Und über­dies“ – er lächelte höflich – „den Ring mit den neun heiligen Perlen besitze ich ja noch.“ – Die Kaiserin lag da, die Au­gen geschlossen, Tränen zwischen ihren Wimpern. Er verließ sie auf den Zehenspitzen, durchschritt im Vorzimmer die Reihe der Eunuchen, die vor ihm auswichen, ohne zu wis­sen, warum. Er verließ bei seinem Freund, dem Soldaten der dritten Seitenwache, den Palast, gelangte durch das Loch in der Mauer in den Park des alten Palastes und schlich auf Sei­tenwegen zum Schloss. Das Fenster zu seinem Schlafzimmer stand offen. Er schwang sich hinein. Er hörte im Vorzimmer die Diener und Eunuchen aufgeregt wispern. Er warf sich ein gelbes Gewand über und schellte. Die Türe ging auf, Die­ner mit Leuchtern erschienen. Der Kaiser stand in der Mitte des Raumes: „Ruft mir Hi, die Amme!“ Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, dass der Kaiser wieder da sei. Wang zerschmetterte vor Freude beinah seine Stirn im Kotau. Er hätte seinen Kopf verloren, wenn der Kaiser nicht zurückgekehrt wäre.

Hi watschelte verschlafen, schlecht gekämmt und unausgeträumt herbei. Ihr Gesicht hatte noch einige Runzeln mehr als am Tag. „Hi, salbe mir das Haar, öle mir den Körper, kleide mich in das schwarze Gewand, das mit den Sternen und Him­melsfiguren bestickt ist. Ich habe einen heiligen Gang zu tun.“ „Euer Majestät: das schwarze Gewand ist das Gewand des kaiserlichen Opfers zur Wintersonnenwende oben auf dem Marmoraltar.“ – „Tu, wie ich dir sage.“

Noch einmal rief der Kaiser das Gottesgericht an. Er wählte das Bambusorakel, neun Bambusstäbe verschiedener Länge. Er zog geschlossenen Auges einen Stab. Es war der kürzeste. Gott hatte gesprochen. Gesalbt, geölt und geschmückt, ein Perlendiadem auf dem Haupt, ein goldnes Krummschwert an der Seite, schritt der Kaiser aus dem Palast und die heilige dreigeteilte Straße zum Tempel aufwärts. Eine Krähe kreuzte seinen Weg. Das erste Morgenrot dämmerte herauf. Im Früh­wind läuteten die Glocken und Glöckchen unzähliger Pago­den. Er schritt den mittleren Weg, den Weg, der nur von den Geistern beschriften werden durfte und den keines Menschen Fuß bisher gegangen.

Er durchquerte die Halle der Enthalt­samkeit. In einer verborgenen Nische stand die Kwanyin aus Yadq. Die Lippen rot geschminkt wie Fey-yen, die linke Brust leicht entblößt. Der Kaiser küsste die über dem Herzen sich wölbende Brust. Er schritt weiter die neunmal neun Marmor­stufen zum Opferhügel empor. Als er oben angelangt war, blieb er aufatmend stehen. Keine Minister und Ministranten, keine Tänzer und Tänzerinnen, Chöre und Musikkapellen wa­ren bei ihm wie sonst beim nächtlichen Opfer des Kaisers zur Zeit der Wintersonnenwende. In den Sternenmantel gehüllt wie jener, der über ihm thronte und dessen Gleichnis und Sendbote er war, stand er allein und einsam seinem Gott ge­genüber und bot ihm stolz und demütig zugleich das Opfer seines Leibes und Lebens. Dreimal kniete er vor ihm nieder. Neunmal beugte er die Stirn im Kotau. Schangti, der Geist des Himmels, kam im Gespann der Morgenröte über den Ho­rizont gefahren. Da öffnete der Kaisen sich mit dem goldenen Schwert die Ader am Hals und ließ sein Blut in die Marmorschale rinnen. Das Blut des Himmelssohnes vermischte sich mit den blutigen Tränen, die der Geist des Himmels aus der Morgenröte herniederweinte. – Die sechzehn Tore Pekings stiegen aus dem Staub der Nacht. Dort, im Zentrum des Pa­lastes, stand das innerste Tor, das Tor der himmlischen Rein­heit, das er nicht hatte betreten dürfen. Die westlichen Hü­gel hoben sich aus der Dämmerung. Auf dem Bahnhof lief der sibirische Express ein. Um diese Stunde stürmten die Re­bellen den Palast. Sie fanden den Kaiser, das Haupt über die Marmorschale gebeugt und sie mit beiden Händen umklam­mernd. Die Kaiserinwitwe und die junge Kaiserin hatten den Sommerpalast durch den geheimen unterirdischen Gang ver­lassen und befanden sich, von kaiserlichen Truppen umgeben, auf der Flucht außerhalb Pekings. Noa schenkte den Ring mit dem blauen Saphir dem Soldaten der dritten Torwache. Es war derselbe, der als General Tu-Wei später die Geschicke Chinas einige Jahre in seiner Hand halten sollte. –

Traum

Da ich als Knabe in den Gassen Kairos lief
Wie die Antilope flink und braunschillerndes Leibes
Datteln feilhielt und klingende Scherzworte nach den Mädchen rief
Oder jäh erbebte unter dem Lächeln eines vornehmes Weibes:
Wie war mein Herz bunt und der Himmel türkisen!
Derwische tanzten welche auf schlanken Flöten bliesen,
Kamele schritten stolz
Auf ihrem Bug Frauen tragend, Haar und Augen wie Ebenholz.
Reiter galoppierten in weißen Mänteln mit silbernen Flinten
Zum Schutz der Karawanen –
Da lief ich oft nebenher und bot den Dürstenden Bananen.
Nachts war der Himmel violett, darin die Sterne wie rorgoldene Löcher
Brannten, und der Mond war ein Tier mit großem runden Maul,
Und es war als kröch er
Wild in meinem Traum, mich zu verschlingen.
Nun leb ich fern unter des Nordens Hass.
Die Leute sind kalt, mich fröstelt, der Himmel ist blass.
Immer muss ich vom Monde Kairos und den Pyramiden singen.

Der Erkorene Gottes

Zu Basra herrschte einst eine große Dürre. Seit Monaten war kein Tropfen Regen gefallen, keine Wolke zeigte sich am Himmel, der wie ein Kupferkessel glänzte. Mehr als tausendmal hatte das Volk, hatten die Vornehmsten der Stadt Gott um Regen angefleht. Erde, Mensch, Vieh droh­ten zu verschmachten. Noch ein letztes Mal zogen sie, die Priester und Adligen, mit einem Nachkommen Moham­meds an der Spitze, danach das Volk heulend und jam­mernd, in langer Bittprozession zur Moschee. Die ganze Stadt war auf den Beinen; Weiber, Kinder, selbst die Skla­ven, nur ein alter schmutziger Neger, auf den niemand acht gab, war bei seinem Herrn, einem Sklavenhändler, zu Hause geblieben, das Tor zu hüten. „Herr, sieh uns hier im Staub,“ flehten die Priester: „selbst schon zu Staub geworden. Hab Erbarmen! Laß es regnen. Laß uns nicht verdursten, die Felder und Bäume nicht verdorren!“ Sie jammerten und beteten bis Sonnenuntergang; aber kein Tropfen Regen fiel. Wehklagend zog alle Welt wieder heim. Nur der Nachkomme Mohammeds blieb in der Moschee, im tiefen Gebet versunken.

Um Mitternacht hörte er, wie leise Schritte näherkamen, sah auf und sah einen alten zerlumpten Neger herbeischlei­chen. Der Neger machte die vorgeschriebenen Waschun­gen: dann warf er sich nieder und schrie zum Himmel: „Mein Gott! mein Gott! mein Gott!“ – Dieses schrie er so inbrünstig, daß der unfreiwillige Lauscher schier erschrak vor der Gewalt dieses Herzens. Er schrie: Mein Gott; als wäre Gott sein ganz persönlicher Gott, der niemand sonst angehöre. Und er schrie weiter: „Ich beschwöre dich, o mein Gott, bei der Stärke meiner heiligen Liebe, die mich mit dir verbindet: schicke Regen, schicke Regen, schicke Regen!“ Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, so ging schon ein Unwetter über Basra nieder; es blitzte, es don­nerte und der Regen strömte.

Der Enkel Mohammeds folgte dem Neger, als er das Got­teshaus verließ und merkte sich das Haus des Sklaven­händlers, in dem er verschwunden. Am nächsten Morgen ging er zu dem Sklavenhändler und bedeutete ihm, er wolle einen schwarzen Sklaven kaufen. Der Händler ließ viele Sklaven vor ihm passieren, aber der, den er suchte, war nicht darunter. Als er das Haus verließ, sah er den ge­suchten Neger in einer Ecke auf der Streu schlafen. „Die­sen will ich kaufen,“ sprach der Nachkomme Mohammeds. Der Sklavenhändler lächelte mitleidig: „Ihr werdet einen schlechten Kauf machen. Das ist der dümmste und faul­ste Kerl, den ich habe. Tags schläft er und nachts betet er.“ „Eben den will ich haben,“ bestand der Enkel Mo­hammeds auf seinem Wunsch und kaufte ihn für ein paar Goldstücke. Der Neger war von dem Reden und Feilschen um seine Person aufgewacht, erhob sich von der Streu und sprach: „Herr, Ihr täuscht Euch in mir! Mein alter Herr hat ganz recht. Ich tauge zu nichts, bin dumm, schmutzig und faul und der Übel-flüssigsten einer.“ Der Enkel Mohammeds sprach: „Ich habe dich gekauft, um aus deinen Gebeten Nutzen zu ziehen.“ Da schrie der ‚Neger gewaltig: „Mein Gott! mein Gott! mein Gott! Unser heiliges Geheimnis ist verletzt. Das Geheimnis unserer Liebe! Unsere Zusammenkünfte sind belauscht! Das Geheimnis meiner Seligkeit ist verraten! Nutzen will man aus unserer Liebe ziehen, als sei sie ein Kapital, das Zinsen trüge. Ich beschwöre dich, Gott, bei meiner Liebe: Hol mich zu dir heim; hol mich zu dir heim; hol mich zu dir heim!“ Kaum hatte er ausgesprochen, fiel er tot zu Boden nieder. Der Enkel Mohammeds aber war auf das tiefste beschämt und ließ dem Neger ein Begräbnis und Grab­mal richten, wie einem Heiligen.

Die Tafel

Ein Student verliebte sich in ein junges Mädchen, das mit ihm die Schule besuchte. Sie waren die einzigen Schüler der obersten Klasse. Sie saßen nebeneinander auf der Bank, aber sie sprachen niemals miteinander, denn sie fürchteten den gestrengen Lehrer. Der Jüngling wagte nicht einmal aufzusehen, obwohl ihm das Blut heiß ins Gesicht schoß, wenn er nur an das Mädchen dachte, das lieblicli durch seine nächtlichen Träume wandelte. Sie ihrerseits hielt aus Scham die Augen gesenkt, und nur dem gestren­gen Lehrer gaben sie sich klar und unbefangen hin. Zwei dunkle Saphire, dachte der Lehrer, strahlend, aber wie kühl. Eines Tages war ihnen aufgegeben worden, eine Hym­ne an die Gottheit zu dichten, denn die Dichtkunst gehör­te dazumal zu den Lehrfächern der höheren Schulen. Die Religionsstunde nahte und der Lehrer forderte den Schü­ler auf, vorzutreten und seine Dichtung auf die Tafel zu schreiben. „An die Gottheit“ lautete das Thema. Der Schü­ler trat an die Tafel, die Kniee bebten ihm, die Schläfen sausten, rote Räder drehten sich vor seinen Augen. Er schrieb: „Kennst du die Hand, die diese Zeilen schreibt? Sie zittert vor der Gewalt der Leidenschaft, Die du mir einflößest wie einen feurigen Trunk.“

„Vortrefflich!“ sagte der Lehrer. „Und nun: schreib du deinen Spruch!“ wandte er sich an das Mädchen. Das Mäd­chen war erbleicht und blasser als eine Narzisse oder der Vollmond trat sie an die Tafel und schrieb mit zitternder Hand:

„Mein Herz erkennt die Hand,
Die mit goldnem Griffel ihre Zeichen in die Tafel meiner
Seele grub.
Es ist nicht unempfindlich gegen die Gefühle der
heiligen Liebe.“

„Ausgezeichnet“ sagte der Lehrer, griff zur Kreide und schrieb darunter:
„Mit den wahrhaft Liebenden übt Nachsicht und Erbarmen Gott.“

In diesem Augenblick trat der Vater des Mädchens in das Schulzimmer: „Nun, machen sie gute Fortschritte?“ Er las die Tafel.
„Prächtig!“ sagte er, ging auf seine Tochter zu und legte ihre Hand in die Hand des Jünglings. Da sahen sich die beiden jungen Menschen zum ersten Mal voll an. Sie stiegen einer in des andern Herz durch den Schacht der Augen wie Bergleute in die Grube. Dort aber fanden sie Keuschheit und alle Tugenden der Welt. Dann rissen die zwei Augenpaare sich voneinander los und grüßten in schweigendem Dank den Vater des Mädchens, den Lehrer, die Tafel – und von der Tafel, auf der oben als Überschrift stand: „An die Gottheit“, von der Überschrift gingen ihre Augen zum Himmel empor und dankten ihr, die sie zusammengeführt.

Die stumme Sklavin

Emin besuchte eines Tages seinen alten kahlköpfigen Oheim Ibrahim Almahadi. Als er durch die Vorhalle schritt, hörte er Laute spielen, ging den Tönen nach und entdeckte eine außergewöhnlich schöne Sklavin. Sie saß am Rand eines Bassins, in dem ein Springbrunnen sprang. Sie spielte eine Melodie, die mit dem Fall des Wassers zu einer höheren Einheit silberklingend verschmolz. Als Emin hinzutrat, ließ sie die Laute sinken und sah lächelnd zu ihm empor. Die Laute schwieg, aber der Springbrunnen tönte fort.
„Du bist schön“, sagte Emin. Sie lächelte.
„Du bist eine große Künstlerin!“ sagte Emin.
Sie lächelte und wies mit einer anmutigen Gebärde auf
den Springbrunnen, als wolle sie bedeuten, daß er wohl
ein ebenso großer, wenn nicht größerer Künstler sei als sie.
„Ich liebe dich,“ sagte Emin.
Sie zupfte einen Vollakkord auf der Laute und lächelte.
„Hat ein Mann dich schon besessen?“ fragte Emin.
Da zeigte sie lächelnd auf ihr weißes Hemd, auf dessen Rand mit goldenen Buchstaben gestickt war:

Keine Hand hob mich auf.
Die Reize, die ich verberge, kennt niemand.
Niemand sah sie je
Als der Mond,
Der aus Verlangen nach ihnen dahinschmilzt,
Aus einer Kugel zur Sichel wird,
Mit der er meinen zarten Nacken bedroht
Wie der Mäher mit der Sense die zarten Blumen.
Immer wieder schwingt er die Sichel,
Aber immer wieder fängt die Nacht seinen Streich auf
Und rettet mich vordem lust- und mordgierigen Greise.

Emin war entzückt von der ebenso schönen wie geistreichen stummen Sklavin, deren Anspielungen auf den alten brahim Almahadi, der ihr nachstellte, in ihm den Entschluss reifen ließen, sie dem Oheim abzukaufen. Er bot tausend Goldstücke, Ibrahim gab sie frei und Emin verliebte sich in der Folge derart in seine neue Sklavin, die, summ geboren, ihr Leben lang stumm blieb, daß er sie zu seiner Gemahlin erhob.
Von manchem Ehemann, der ein geschwätziges Weib sein eigen nannte, ward Emin ob der stummen Schönheit seiner Gattin in der Folge viel bewundert und beneidet.

Die hölzerne Frau

An einem Kreuzweg, wo sich vier Straßen kreuzten, pfleg­ten sich früh morgens, wenn sie ihre Herden zur Weide trieben, vier junge Hillen zu treffen. Sie kamen von Sü­den, Norden, Westen, Osten und trieben dann ihre Herden gemeinsam weiter: auf einen Hügel, Berg Dsching ge­nannt. Eines Tages verspätete sich der Hirt aus dem Nor­den. Er traf allein am Kreuzweg ein, seine Gefährten wa­ren schon auf den Berg Dsching gezogen. Da fiel ihm ein, aus Holz die Figur einer Frau zu bilden und sie am Kreuz­weg aufzustellen. Gesagt, getan. Dann folgte er seinen Ka­meraden auf den Hügel, erzählte ihnen aber nichts von der hölzernen Frau. Am Abend kehrten sie vom Hügel, ohne den Kreuzweg zu berühren, in ihre Dörfer zurück. Am nächsten Morgen verspätete sich der Hirt aus dem Westen. Er sah am Kreuzweg die hölzerne Frau, und es fiel ihm ein, sie mit Farben anzumalen. Am dritten Tage verspätete sich der Hirt aus dem Osten und schuf der höl­zernen Frau die symbolischen Zeichen. Am vierten Tag aber kam der Hirt aus dem Süden und hauchte ihr mit dem Südwind den Odem des Lebens ein. Als sie am fünf­ten Tag wieder gemeinsam am Kreuzweg eintrafen, stand da eine schöne junge Frau, die ihnen reizend entgegen ­lächelte. Da begannen sie um die Frau zu streiten, die Herden wurden unruhig, ihre Hunde bellten und blafften. Der erste schrie: „Ich habe sie erschaffen. Denn ich habe sie überhaupt erst aus Holz geformt.“ Der zweite schrie: „Ich habe sie erschaffen. Denn ich habe ihr durch meine Farbe das menschliche Ansehen verliehen.“ Der dritte schrie: „Ich habe sie erschaffen. Denn ich habe ihr die symbolischen Zeichen gegeben, die das Weib an ihr aus­machen.“ Der vierte schrie: „Ich habe sie erschaffen. Denn ich habe sie beseelt.“ So stritten sie miteinander. Da sie zu keiner Einigung kommen konnten, traten sie vor die junge schöne Frau, die sie gemeinsam erschaffen hatten, und sprachen: „Entscheide du!“

Das Weib sprach: „Der die Figur formte, ist der Vater. Der die Farbe auftrug, ist die Mutter. Der die symbolischen Zeichen gab, ist der Lama. Der ihr die Seele einhauchte: sollte das nicht ihr Mann sein?“ Und sie trat zu dem Hirten aus dem Süden. Der machte alsbald mit seiner Herde kehrt, führte sie in sein Dorf, und es wurde eine prächtige Hochzeit gefeiert. Die drei übrigen Hirten aber sahen dem abziehenden Zuge mit langen Hälsen nach.

Oktavian und Mark Anton

 Der Jüngling stand im Türrahmen, den fieberheißen Kopf an den kalten Marmor gelehnt.

Wie süß der Stein kühlt! Dies dachte er und: Ist mein Kopf schon heiß, brennt mein Hirn – so darf mein Herz sich nicht in Flammen setzen lassen. Es muß kalt bleiben, so kalt wie dieser Marmor. So kalt wie Cäsars Leiche. Ich legte meine Wange an die seine.

Mark Anton redete auf ihn ein. Er redete mit spitzen Lippen, die auf- und zuklappten wie der Rachen eines Raubfisches, er redete mit strahlenden Augen, die wie Fahnen waren, mit Fäusten, in denen Speere zuckten. Um seine Lenden stob ein grober Mantel, daß es aussah, als öffne ein Raubvogel seine Schwingen.

Oktavian hielt die Augen geschlossen und schien kaum hinzuhören. Aber jedes der Worte Mark Antons schrieb sich in sein Gedächtnis wie mit beinernem Griffel in Wachs.

„Cäsars Platz ist frei geworden!“

Cäsars Platz ist frei geworden! jubelte ein Echo hinter Oktavians unbeweglicher Stirn.

„Die Mörder haben ihn aus einem lächerlichen Gefühlsüberschwang heraus gemordet, aus Pathos sozusagen, besoffen gemacht von ihren volksbeglückerischen Ideen, an die sie, die Strolche, im Ernst zu glauben schienen. Jetzt, da der Koloß tot am Boden liegt, sind sie starr. Sie sehen entsetzt, daß beim Morden Blut fließt, und wissen nicht, was sie machen sollen. Die Partei ist in Dutzende von Sekten und Klüngeln gespalten, die alle durch ein Band geeinigt sind – das Band der Habsucht, der Gold-, Profit-, Ämtergier.“

Oktavian hüstelte. Er spie den Schleim zu Boden. Mark Anton, lauernd: „Ihr seid krank?“
Oktavian wandte den bleichen Kopf seitwärts: „Ein wenig, Konsul. Das Klima Griechenlands war mir nicht zuträglich.“
Mark Anton, höflich: „Hoffen wir, daß Euch das römische besser zusagt.“
Oktavian nickte schweigend.
Mark Anton fuhr fort: „Ich habe Cäsar geliebt.“
Er biß die Zähne zusammen und wiederholte haßerfüllt: „… geliebt – geliebt –„
„Wer, der für wahre Größe empfänglich ist, hätte ihm seine Zuneigung und Wertschätzung versagen können?“
Oktavian sprach die Worte ohne Betonung.
„Soll Rom dem Geier Brutus, dem Warzenschwein Cassius, der giftigen Viper Cicero anheimfallen? Gibt es keine aufrechten Männer mehr in Rom?“
Oktavian reckte sich unmerklich.
„Männer, bereit, ihr Leben für die Größe des Vaterlandes einzusetzen?“

Oktavian schwieg. Sein sandalenbeschuhter Fuß stieß nach einem Tausendfüßler, der aus dem Mauerkalk kroch.

„Oktavian!“ schrie Mark Anton. „Cäsar hat Euch adoptiert! Ihr seid sein von ihm und von den Göttern gewollter Erbe. Verbündet Euch mit mir: Euer Recht, meine Macht: wir werden vereint unüberwindlich sein. Ich habe mich mit meinen Legionären noch in der verflossenen Nacht in den Besitz des Staatsschatzes gesetzt.“ Er lachte verächtlich. „Wer Gold in der Hand hat, hat Rom in der Hand.“

Er schwenkte Papierrollen: „Ich habe das Testament Cäsars der erschreckten Cornelia aus den Händen gerissen. Ich bin als Konsul sein gesetzlicher Nachfolger –„

Oktavian unterbrach ihn leise, indem er ihn mit kalten Augen ansah. Mark Anton erschrak vor diesen Augen eines Neunzehnjährigen: „Und wozu braucht Ihr mich?“

„Wie Cäsar mich brauchte, brauch ich Euch, Oktavian.“

Oktavian dachte blitzschnell: Wenn ich mich zu Cicero und den Republikanern schlage, werden sie in Sicherheit gewiegt. Sie werden alle ihre Kampfmittel zum Kampf gegen Mark Anton aufbieten. Sie werden sich verbluten. Im Kampf gegen Mark Anton. Er wird auch nicht ungeschwächt davonkommen. Man wird ihn heftig zur Ader lassen. Ich werde mein Ja und Nein im letzten Moment in die Waagschale werfen, denn noch habe ich nichts als mein verbrieftes Recht, der Erbe Cäsars zu sein. Ich kann nur gewinnen, wenn beide verlieren.

„Mark Anton“, sagte Oktavian. „Ich bin müde. Die Dämmerung kommt. Und meiner schwachen Gesundheit ist die Abendluft nicht zuträglich. Wir sehen uns bei der Leichenfeier Cäsars wieder. Ich habe alles wohlverstanden, was Ihr gesagt habt, und werde Euch im gegebenen Moment meine Antwort nicht vorenthalten.“ Er reichte Mark Anton die Hand, die sich anfühlte wie Holz, wie Borke, blutlos. Dann ging er, leicht gebeugt und hüstelnd.

Mark Anton faßte sich an sein Herz. Durch den Portikus kam von den Wiesen der feuchte Abendnebel wie eine weiße Schnecke gekrochen und ließ ihn frösteln.

Der Marienkäfer

Als Maria im Stall auf elendem Stroh in Wehen lag, glaub­te sie vor Schmerzen zu vergehen. Sie klammerte sich mit beiden Fäusten an einen Strohhalm. Da fielen ihre Augen auf einen kleinen roten, schwarzpunktierten Käfer, der den Strohhalm eilig hinauslief. Als er oben angekommen war, stutzte er einen Augenblick, dann machte er kehrt und lief den Strohhalm wieder herunter; als er aber unten an­gekommen war, lief er wieder hinauf, und so immer hin und her. Maria vergaß beim Anblick des kleinen Käfers ihre Schmerzen. Er handelt wie ein Mensch, dachte sie.

Bald ist das Ziel oben, bald ist es unten, und so geht es hin und her. Aber über den Strohhalm kommen wir nicht hinaus. Dies dachte sie; da hob der Käfer, der wieder ein­mal auf der Spitze des Strohhalms angekommen war, seine Schwingen und entflog. Maria war beschämt. Ein kleiner Käfer muß mich Vertrauen und Hoffnung lehren. Wir kön­nen ja fliegen! Sie fiel in eine leichte Ohnmacht. Als sie erwachte, war das Jesuskind geboren. Es lag zu ihren Fü­ßen und sah sie mit seinen großen blauen Augen an. Auf seiner Stirn aber saß der kleine rote schwarzpunktierte Käfer, der vorhin den Strohhalm auf- und abgelaufen und dann davongeflogen war. Auf seinen jetzt geschlossenen Flügeldecken malten sich die sieben schwarzen Punkte deutlich als ein schwarzes Kreuz ab. Als Maria das schwar­ze Kreuz sah, erschrak sie sehr. Sie nahm das Jesuskind zu sich empor. Tränen tropften aus ihren Augen auf seine Stirn: grade auf den kleinen roten Käfer mit dem schwar­zen Kreuz, der in ihren Tränen ertrank.

Die neun Musen

 Als Christus die griechischen Götter vom Olymp ver­trieb, lagerten sich die verstoßenen neun Musen traurig an den Hängen des Helikon und des Parnassos. Klio, die Muse der Geschichte, saß über ihr Pergament gebeugt, stumm, und las vom Werden und Wachsen des Christentums darin. Melpomene, die Muse des Trauerspiels, sah tränenden Auges die endlosen Zü­ge der heiligen, um des Glaubens willen gepeinigten und getöteten Märtyrer und Märtyrerinnen an sich vorüberziehen. Kalliope, die Muse des heroischen Gesanges, sang die Epopöe vom Anbruch der neu­en Welt. Urania sah die Sterne am hellen Tag; aber alle überstrahlte der Stern von Bethlehem. Euterpe blies auf ihrer Flöte die erste Liturgie. Polyhymnia, den Lorbeerkranz auf den dunklen Locken, lausch­te ihr schweigend. Erato, den Kranz von Rosen und Myrten in der Hand, gelobte, in Zukunft nur dem himmlischen Bräutigam in Liebe und Treue dienen zu wollen. Terpsichore schritt zur Musik der Euterpe im heiligen Reigen. – Als Christus sah, dass jede ihm auf ihre Weise dienen und Untertan sein wolle, hat­te er Mitleid mit ihnen und sagte ihnen freundlich zu, sie alle in den christlichen Himmel aufzuneh­men. Es solle nur eine jede ihre Zeit abwarten, und immer, wenn eine Heilige auf Erden wandle, werde eine der neun Musen in ihrer Seele zum Himmel fah­ren. Da wurden die Musen heiter und guter Dinge. -Und es geschah, dass Klio in der heiligen Katharina, Melpomene in der heiligen Cecilia, Kalliope in der heiligen Apollonia, Urania in der heiligen Juliana, Euterpe in der heiligen Euphrosyna, Polyhymnia in der heiligen Eugenia, Erato in der heiligen Thais zum Himmel fuhr.

Terpsichore aber, die Tänzerin unter den Musen, wandelt bis heute unerlöst auf Erden einher. Wenn du Glück hast, kannst du sie am Sonntag beim Tanz in diesem oder jenem Dorfe sehen. Sie ist daran erkennt­lich, daß sie mit jedem Tänzer nur einmal tanzt. – Ihr schönen Jungfrauen, hat nicht eine von euch Lust, … das Tanzen aufzugeben und eine Heilige zu werden? Alsbald wäre Terpsichore erlöst und würde in der Seele dieses heiligen Jungfräuleins zum Himmel fahren…

Der Raubvogel

Er stelzt dahin im rauschenden Gefieder,
Der Vogel Ri, das Meer hat ihn getränkt.
Von seinen Schwingen schwingen Lieder.
Sein Schnabelkopf wippt auf und nieder,
Wenn Sonn und Sterne er wie Mücken fängt.

Die Gräser beugen sich vor seinen Krallen.
Das Kornfeld liegt enthalmt.
Die kleinen Lerchen, die zum Raub ihm fallen,
Sie lassen noch ein letztes Lied erschallen
Zum Lobe ihm, der ihre Knöchel malmt.

Das Wasser trübt er. Und die Kühe trinken
Den schmutzigen Quell mit seligem Muh.
Die jungen Hasen, ehe sie versinken
Klaglos im Nichts: mit ihren großen Äugen blinken
Sie ihm Vergebung zu.

Es tönt sein rauher Ruf noch vor der Mette,
Wenn er betaut im Morgenrote streicht.
Es reißt der Haushund an der Kette.
Die Kinder fahren schaudernd aus dem Bette,
Und Gott, der ihn geschaffen hat, erbleicht.

Der Neger

Der Neger hob Balken, hämmerte, bäumte.
Hobelte Tische: saum-selig.
Särge, werdend, quietschten wie junge Ferkel.
Hochsprung und Abfall der Späne beglückte ihn: wie junge Schwalben schwingend,
kaum flügge, dann stürzend: weicher Flaum, darauf er schlief.
Falter flogen quer durch sein Herz.
Nachts schnitt ein schwarzes Messer in die Schale seines Schädels: warf das Gehirn
in Wind und Duft, wo es mit seinen Schwestern, den schwarzen, schaukelte.
Ein kleiner Vogel, Kolibri, saß morgens vor Sonnenaufgang im Geäst seiner Finger.
Zart, zart: ihn nicht zerdrücken: denn er sang.

Vogelschwärme stießen, zu einem Pfeil gespitzt, in seine Brust.
Wald wanderte, aus Schlinggewächsen männlich sich entreißend, dicht Baum
an Baum übers Meer zu ihm.
Brach in die Knie. Zersplitterte liebend. Weinte mit den Blättern, seinen Tränen.
Ein goldner Schwarm von Käfern fiel aus einer Wolke.
Der Heimat Ungeziefer selbst besuchte ihn nachts: und brüderlich entbot er seinen
Leib zum Fraße: Skorpion und Floh, Termite oder Laus.

Roger, der Herr, schnellte den Fuß nach ihm.
Sandale strich striemend über seine Wange.
Er küßt die lederne Sandale.
Sie riecht wie Gurt am Leibe seiner dunklen Frau.
Viel helle Leute lachen.
Er ahmt den Schrei des Esels nach.
Den Lockruf der Gazelle.
Sie schweigen.
Roger räuspert: rauh: ein leiser Fluch.
Ein helles Weib senkt seitwärts leicht den Kopf und seufzt.

Der Tag ist so voll Weiße, daß ihn friert.
Weiß das Kastell, weiß Stein. Weiß Himmel, Meer und Mann und Frau.
Am Strand, da es Ebbe, liegt ein toter Fisch, schwarzschuppig.
Er jauchzt, tut ihn an seine Brust, nimmt ihn in seinen Stall.
Vergräbt ihn unter Heu und Decken.
Mit offenen Nüstern zieht er des Verwesenden Geruch in sich.

Als er schläfrig in der Sonne glänzt, kommen Kinder ihn zu betasten.
„Ein Tier,“ sagt eines, „und zu fürchten fast.“
„Sein Haar ist wie von Lämmern.“
„Seine Stirne edel: wie eine kupferne Schale.“
„Er hing wohl lange in der Räucherkammer; die rußte ihn.“
„Er riecht wie Rauch.“
„Die Sonne ist ihm gut.“
„Schlank seine Beine: spränge er.“
„Ein Hirsch, den Götter plötzlich menschlich machten.“
– Der Neger blinzelt durch die Augenlider. Dann stößt er Atem stürmisch durch die
Zähne,
Die Kinder schreckts.
Sie laufen. Taumeln. Mückenschwarm.
Eins stolpert über seine Beine.
Die kneifen es wie Scheren eines Seekrebses.
Es will weinen, sieht in seine braunen Augen, fühlt seine Hände, die es schweben lassen.
Und lächelt.

Aus feuchter toniger Erde fertigt er sich seinen Gott: braunes Gedächtnis Afrikas.
Steif Beine, Hände, Bauch. Der Kopf ein riesig Überwölbendes. Mit Kieselaugen,
Muschelmund, Tanghaar. Das ihm auf eckige Schultern rieselt.
Schmerzlich, daß Haar nicht wollig, fett, sich kräuselt.
Trotzdem ihn Sonne trocken brennt und röstet, zerfällt der Gott.
Als Regen ihn benetzt, zerfließt er weich. Ist nur ein Schlamm! Ein widerlich Gegorenes.
Nun wetzt der Neger das Messer an Bäumen, schneidet hölzernes Fleisch aus ihnen,
und schnitzt sich Unvergänglichkeit.
Jetzt erst gewinnt der Gott Bedeutung.
Sein.
Ihn dörrt nicht Sonne.
Regen streichelt und strichelt nur.
Er steht, besteht aus sich.
Zum größten Gliede, überragend, wuchs das Männliche.
Stolz stößt es in die Wolke. Befruchtet täglich, stündlich Himmels Schoß.

Auf schwer zugänglicher Klippe wohnt der Gott.
Vom Meer aus zu erblicken, verführts vielleicht den Schiffer, mit den Segeln ihm zu
winken, von tiefer Ferne gellend ihn zu grüßen.
Er wohnt in Wüste, einsam, verborgen vor Kastell und Strand.
Man findet den Weg zu ihm durch grauer Höhle Feuchtigkeit,
Felsenkamin und glitschigen Grat.
Moos sproßt zu seinen zehenlosen Füßen: die kolossig stehen.
Libelle ruht auf seinem Haupte: schillernd. Ein grüner Hauch der Luft.
Man opfert ihm der Ebbe tote Tiere, die man in seine offenen Hände bettet: Qualle,
Seestern, Seepferdchen, Silberfisch.
Sein wollig Haar erschuf man aus dem eigenen Haar: das man sich aus dem Kopfe
riß und blutend noch auf den hölzernen Schädel klebte.
Daß man doch auch die Augen, schleimigen Schaum, sich aus der Stirne risse. Dem
Gott sie gäbe. Sich selber seine Kiesel in die Öffnungen legte.
Man sähe schlechter nicht, wenn man nach innen sähe, nach außen steinern glotzte.

Der Gott starrte übers Meer.
Die Wogen wälzten sich an seinen Altar: demütig zerstäubend, trotzig zerplatzend.
Seine Männlichkeit stieß stürmisch in den Himmel.
Eine Möve fühlte sich flügelnd befruchtet und legte zu Füßen des Gottes in ihr Nest
zwei schwarze Eier, daraus Schlangen krochen.

Am Backofen saß der Neger und buk. Er buk aus Mais und Gerste ein fremdartiges
Brot, das Roger trefflich mundete. Für die Frauen und Kinder tat er getrocknete
Weintrauben, die ein Raubschiff aus Griechenland heimgebracht hatte, in den Teig.
Süß schmeckte das Gebäck.

Isold sann.
Ganz band sie ihren Kopf in blondes Haar, daß sie nur Blondes sah.
Sie sah: Blond.
Sah: Gold.
Sah: rote Sonne hinterm Vorhang blond.
Sah: rote Streifen licht, die bluteten.
Sah: Fäden fallen und sich knüpfen. Wie Maschen zartesten Gewebes.
Gewebe glänzte: Hand griff leicht in Hand. Wand webte sich zu Welt. Zu ihrer Welt.

Stämmig stand der Neger und drehte die Ruder.
Fahl klatschten sie ins Wasser.
Im Bug der Zwerg blies böseste Musik: auf einem Ahornblatt.
Isold saß in der Mitte des Bootes.
Die dunkle Haut des Negers vibrierte über seinen Rippen: wie eine leise Trommel.
Des Negers Auge tastete nach blondem Schopf.
Wenn ich den Gott mit ihrem Haar bekränzte? Wär er noch schwarzer Gott: so gold?
Kreischend bespritzte der Zwerg den Neger mit Wasser.
Isold lächelte höflich zum Neger.
Wenn ich spräche: was würde er sagen? Wie neulich: singen?
Nichts als: singen: u – o – u – a – o – a –
Schwarze Leute wissen mehr von der unteren, der dunklen Welt als wir.
Salzwasser mischte sich auf der tellernen Rückenhaut des Negers mit Schweiß.
Plötzlich hielt er im Rudern inne: ergriff mit einer Hand den Zwerg am Blusenkragen
und stülpte ihn eine Sekunde nur ins Wasser: worauf der, ganz wie vorher wieder, nur
trübe triefend im Bänklein des Buges saß und wie ein Käuzlein äugte.
Isolds Gelächter klang dem Neger wie kriegerische Pauke seiner Feinde ins Ohr: ihn
fordernd und erhebend, höhnisch hallend, listig lockend.

Sturm fegte das Meer.
Wogen überstürzten sich in Rede und Gegenrede. In Fluch und Echo, Schreien
schamloser Vermischung. Als brüllten Millionen Stiere und Hengste. Als zischten
Millionen Kater. Als balzten ungezählte Auerhähne.
Der fremde Gott stand steil in seinem Element.
Der Sturm warf seinen Schoß an seine Schenkel, die sich spreizten spitz.
Neben ihm stand sein Herr und Diener: der Neger. Mühselig sich im Winde haltend.
Das Wasser schlug wie mit großen Tüchern klatschend an seine Brust. An seinen
Lippen lag schon weißlich Salz.
Gepeitscht, geschlagen und gepeinigt bot duldend er sich Wildnis, Wind und Meer.
Der Gott genoß, indes er sich zerfleischte.

Im Hofe des Kastells hingen wie Krammetsvögel an einer Schnur sieben Juden.
Sie hatten, spanischer Herkunft, Roger beim Tausch von Edelsteinen, Seide, Zimt
und Ebenholz betrogen.
Der Neger legte jedem einzelnen die Schlinge um den Hals und zog ihn zum Galgen
empor.
Sie schrien wie Schweine vor der Schlachtung, warfen sich winselnd auf die Erde und
leckten dem Neger die Füße.
Sie schrien: Erbarmen, Erbarmen!

Der Neger sah ihre Lippen auf und nieder sich bewegen und sah in die dunkle
Höhlung ihres Mundes. Dies war eine Höhle wie jene, die er durchdringen mußte,
wenn er zum Gotte ging.
Einer von den Juden erhob sich bald, warf seine von Angstschweiß schwammigen
Arme um den Neger, rief: Bruder, Bruder und tanzte am Seile schon empor.
Tod? Ein Zustand, der sich täglich wiederholte. Wozu bedenken, was so
schwesterlich stets nah.
Man stach ein Schwein ab. Hängte einen Menschen. Zerdrückte eine Motte in der
Hand. Aß Fische lebend roh, die noch im Munde mit den Flossen schlugen. Zwischen
zwei Fingernägeln starb die Laus, die man aus seinem Pelze fing. Hunde
zerfleischten sich tapfer. Hähne dressierte man zum Kampfe, denen man eiserne
Sporen an die Krallen band, daß sie zu einem roten Muß sich zerhackten und
zermörserten. Mord schien Gesetz. Ursache kaum bedacht. Weil Tod Natur, schiens
Mord. Der Starke galt.

Im Mondschein tanzten die blonden Mädchen.
Im Schatten eines Turmes stand der Neger, groß geäugt.
Da drehte sich ein Leib wie seines Weibes Leib: am Fest des Gottes, das man froh
beging.
Brust rieb an Brust sich. Wange schwellte purpurn.
Zwischen den blonden Mädchen stampfen die schwarzen Männer des afrikanischen
Kraal. Rasend trommeln ihre Füße den Erdboden, während jene schreiten. Ihre
Augen
sind aufgerissen wie die Zelte aus denen die schwarzen Frauen hymnisch taumeln.
Je einer der schwarzen Männer ergreift ein blondes Mädchen, hebts an die Schulter,
springt wie der Eber in den Urwald.
Wehklagend schließen die schwarzen Frauen kreisend sich zum Reigen; einsam,
vom Blätterbett enthoben und entthront.
O-a – o – a – o – o – …

Sehnsüchtig treibt es ihn, heimatlichen Laut zu hören.
Er geht zum Gott und spricht mit ihm
„Mein Gott!“
„Mein Freund?“
„Du redest meine Sprache?“
„Ich rede sie.“
„Laß sprechen mich mit dir, sei’s was es sei. Ich will nur hören Mund wie meinen
Mund. Ein Wort, wie ich es weiß. Sprich: Mutter.“
„Mutter.“
„So sprich: Vetter.“
„Vetter.“
„Sprich: schwarzes Mädchen.“
„Schwarzes Mädchen.“
„Sprich: Himmel. Dunkle Heimat. Afrika.“
Wie Echo warf der Gott zurück es: „Afrika.“
Der Neger neigt die Wimpern. Wittert Wehmut. Weint.

Isold, in den Felsen flackernd, überrascht den Neger in Gemeinschaft seines Gottes.
Der Neger, Tränen noch an seinen Wimpern, kniet nieder, trifft den Felsen mit der
Stirn.
Der Gott steht unverwandelt, männlich stolz.
Isold, voll ihrer sechzehn blonden Jahre, dem Mann noch nicht gewöhnt: beugt ihren
Nacken als des Gottes Kraft sie beugt.
Neben dem Neger kniet sie erschüttert von der dunkelsten Gewalt.
Das blonde Haar fließt an den Stein; vom Stein ins Meer.
Die Brüste pressen sich den Fels ins Fleisch.
Blut färbt des Gottes Fuß.
Er zieht sie sanft empor.
Sie schwebt … Sie schwebt.
Die Lippen öffnen sich zum ersten Kuß.
Das Männliche des Gottes trifft wie Dolch den Mund.
Sie seufzt beseligt. Und erstirbt.

Als sie erwacht, kühlt Salzwind ihre heiße Stirn.
Unendlich wogt das Meer zu ihr heran.
Ich sah den Neger – denkt sie. –
Sie legt die Hände an den Mund, ruft:
O – a – o – a – o – a
Die Stille schweigt.
Sie wendet sich.
Blut purpurt ihre Stirn.
Schwarz steht der fremde Gott im Abendrot.
Der Neger lag im Stroh.
Ich bin nicht mehr allein. Du schwarzer Gott. Ich gab das Wissen weiter an ein weißes
Weib.
Ihr schwarzen Frauen zürnt dem schwarzen Manne nicht, der in der Einsamkeit
verzweifelte und endlich seinem Gotte die Genossin fand.
Zwar ist die Haut weiß wie der Sand am Meere. Ihr Herz, ihr schwarzen Frauen, aber
ist dunkel: dunkel wie das Eure.
Nehmt sie als Eure Freundin freundlich auf.

Isold hat sechs Gespielinnen, jung und blond wie sie.
Sie sitzen im Hofe des Kastelles und spielen mit dem Zwerge wie mit einer Katze.
Sie streicheln ihn. Er schnurrt.
Sie schütten Milch in einen Teller! Den wirft Isold um, und er muß die Milch vom Boden lecken.
Er faucht. Und sträubt den Bart.
„Böser Kater. Böser Kater.“ sagt Isold.

„Hört,“ sagt Isold.
Sie rücken eng zusammen, daß ihre Köpfe sich berühren.
„Ich weiß am Meere, in den Felsen, einen Ort; dort herrscht ein fremder Gott:
Entsetzlich zwar zu sehen, aber es ist süß zu ihm beten. Er ist von andrer Art als
unsere
Götter: nicht streng und stämmig, ernst und unantastbar. Man darf ihn lieben und er
liebkost uns. Er hat nicht nur Verbote und Gesetze. Er sagt nicht stets: Tu dies nicht,
dies nicht.
Und doch ist er kein Gott des Lichts wie Baldur. Er spricht: liebe das Dunkle wie dich selbst.
Denn dies bist du: die Nacht. Die Finsternis. Fürchte sie nicht. Du weißt dein
Wesen nicht.
Die Nacht ist golden, wenn sie dich beglückt. Der liebt den Tag, der nur sein Äußeres
sieht: die weiße Sonne und des Leibes Licht: die weiße Haut.
Schwarz ist des Gottes Farbe: schwarz sein Angesicht. Sein Haar schwarz wollig.
Ebenholz sein Blick …“
Entsetzt betrachteten die Mädchen die Stammelnde.
Sie sahen sich verängstigt um. Aus allen sprach ein Mund:
„Der Neger ist der schwarze Gott … Gesteh’s.“
Isold streicht Schatten aus der Stirn.
Sie seufzt.
„Der Neger?“
Und sie lächelte.
„Vielleicht.“

Er fühlte sich einsam in der grellen Wüste des Lichts. In der Öde der weißen Mauern
und weißen Blumen. Wie er die weißen Hyazinten haßte. Sie rochen wie die weißen
Männer.
Wenn ein weißer Mann seinen Stall besucht hatte: tagelang wurde er den widerlichen
Ruch nicht los.
Er pißte an die Wand seiner Wohnung, nur um mit seinem Geruch Rogers
Ausdünstung zu übertäuben.

Die Tiere der Nacht, die ihn besuchten, liebkoste er. Er spielte mit den Ratten. Er
rutschte sich die Knie rauh. Mit spitzen Schnauzen stießen sie an seinen Bauch.
Er lachte.
Als eine alte Ratte einst ihn biß, zerquetschte er sie in seiner Faust und warf sie ihren
Genossen zum Fraße vor.

Oft schrie er in den aufsteigenden Morgen mit der Stimme des Uhus.
Die Sonne gedachte er zu bannen mit dunkler Drohung.
Sie aber lächelte schon über den Klippen und spielte auf den goldenen Saiten der
Frühe ein Lied, das ihm gefiel und strahlend ihn betörte.

Roger trat in seine Behausung.
Um seine Schultern schlang sich erbeutetes Löwenfell.
Schön geflochtenes Haar preßte ein silberner Helm.
Schienen klirrten unterm Knie und Schwert zur Seite.
Er warf dem Neger eine Keule zu, die dieser in der Luft noch fing.
Mit seinem Speer stieß er ihn in die Seite: „Hinaus“
Der Neger schritt gesenkten Hauptes vor ihm her.
Ein Segel blähte sich gelb im Hafen.
Ein riesiger Zitronenfalter schwebte über dem Wasser.
Die Menge grüßte Roger mit Gemurmel.
Als der Neger den Schiffssteg betreten wollte, fühlte er in seinem Nacken zwei Blicke
brennen.
Er wandte den Kopf und seine großen Augen, durch die man wie durch schwarzes
Glas bei Sonnenfinsternis die Sonne zu sehen meinte, baten Isold:
„Hüte in meiner Abwesenheit des Gottes.“
Der Zwerg hinter Isold knurrte wie ein getretener Hund.

Es ging gegen die afrikanische Küste.
Man enterte unterwegs ein portugiesisches Schiff.
Dem Neger ward Befehl, die Portugiesen zu erschlagen.
Sie knieten vor ihm nieder.
Einer hob ein hölzernes Kruzifix gegen ihn.
Der Neger erschrak.
Er sah, gespreizt auf der Marterbank, mit Dolchen durchbohrt, einen Dornenkranz im wolligen Haar, der die klare Stirn blutend ritzte, seinen Gott.
Er warf die Keule hin. Empfing von Roger duldend Prügel. Plapperte Gebete.
Roger ließ die Portugiesen ins Meer werfen.
Der Neger riß dem Letzten das Kruzifix aus den gekrampften Händen.
Der, schon versinkend, hob die leeren Hände flehend noch zum Schiffsrand.

Der Neger nagelte das Kruzifix an seine Keule.
So schien er unüberwindlich.
Sie landeten in einem versteckten Golfe, unweit von Tunis. Eine Stadt fiel dem
lohenden Feuer ihres Willens anheim. Dörfer legte ein schiefer Blick ihrer Augen in
Asche.
Der Neger schlug mit seiner Keule auf die platten Köpfe seiner Stammesgenossen.
Es galt ihm gleich, da Tod nun einmal Befehl.
Die Neger hatten die jungen Weiber vorm Ansturm der Normannen ins Innere des
Landes in Sicherheit gebracht.
In einem Dorfe war eine alte Frau von etwa fünfzig Jahren zurückgeblieben, mit
langen, wurmähnlichen Brüsten, vertrockneter Haut und Geieraugen.
Diese erbat sich der Neger durch Geste und Gebärde von Roger als Siegespreis.
Roger gewährte sie ihm gnädig, unbändig im Gelächter fast zerplatzend.

Isold saß oft beim Gott am Felsen überm Meer.
Sie starrte in den Horizont, sah einen Schwarzen riesig Ruder führen.
Sah in den Wolken ihn die Keule schwingen, bis Abendrot wie Blut vom Himmel
spritzte.
Sie sah den Kampferhitzten endlich in die Wellen springen, sich zu reinigen und zu
kühlen; weiß zischte silbern überm Schwarz.

Als er, den Kopf in den schmutzigen Schoß des alten Weibes gebettet, träumte,
erschien auf einer hohen Mauer eine weiße Frau. Er stand im Graben, sah empor. Da
löste sie das Haar und ließ es langwallend herab. Es reichte bis an das Gras des Grabens.
Wie an einem blonden Strick kletterte der Neger zur weißen Frau empor.
Es war Isold.
Sie lächelte in ihrer sonderbaren Sprache.
Er erwachte.
Die alte Negerin klapperte mit den Zähnen.
Er schlug sie.
Sie pfiff aus Angst wie eine Ratte.
Pfeif mir du, dachte der Neger.
Ich will singen hören … den Vogel der Weißen … der mir des Nachts singt … horch …
er singt … er singt …

Isold stand beim Gotte auf dem Felsen und winkte den heimkehrenden Schiffen.
An der Spitze fuhr Rogers Schiff, festlich bewimpelt.
Der Neger stemmte sich an den Mastbaum.
Zu seinen Füßen hockte die Alte.
Er winkte Isold zurück mit seiner Kruzifixkeule.

Roger rief Isold, alsbald nach der Landung, zu sich.
Er saß im Erker seines Schlafzimmers, einen zinnernen Krug voll Wein vor sich.
„Da,“ er lachte ihr entgegen und schwenkte den Krug, „trink, es ist Negerblut.“
Isold erblaßte.
Roger sprang auf.
„Was hast du? Du bist krank?“
„Nein – – laß, mein Vater …“
Sie strich die blonden Strähnen aus ihrer Stirn zurück.
„Du ließest mich rufen?“
Roger fiel in seinen Sessel im Erker zurück.
„Du bist morgen siebzehn Jahre alt …“
Isold gab ihre Blicke einem Mövenflug mit, der durch das Fenster flirrte.
Sie lächelte verwundert.
„Ich vergaß ganz, mein Vater.“
„Nur deshalb kehren wir schon heute zurück. Ich befahls. Ich wollte diesen Tag bei
meinem Kinde sein.“
In seiner Kehle gurgelten halblaute Töne.
Isold dachte: er ist ergriffen. Er will – was?
„Deine Mutter ist längst tot. Du selber kanntest sie nie. Sie starb bei deiner Geburt.
Du weißt es …“
Leere Gefühle stülpten wie leere Gefäße ihren luftigen Schall über Isold.
Mutter – was heißt das eigentlich? Warum habe ich nie darüber nachgedacht? Den
alten Mann ergreifts, wenn ers bedenkt.
„Ich habe einen Gatten für dich ausgesucht. Es ist der junge Banno. Sein Schloß
steht zwei Reitstunden von hier. Du kennst ihn?“
„Nein, mein Vater.“
„Du wirst ihn kennen lernen. Heute. Ich habe ihn mitgebracht. Er wird dir gefallen. Er
ist jung und stark.“
Er klopfte mit dem Zinnkrug auf die Brüstung des Fensters.
Die Tür knallte auf und im Zimmer stand ein rothaariger Riese.
Roger warf eine Gebärde nach ihm.
Dann zu Isold:
„Banno.“
Isold neigte den Kopf.
Banno trat neben sie.
„Isold.“
Banno faßte ihre Hand. Ließ sie los. Griff mit beiden Pranken nach ihren Brüsten.
Roger grunzte.
„Morgen ist Hochzeit.“
Isold verbarg ihren Kopf in der rothaarigen Brust des Riesen.
Der Neger – der Zwerg – der schwarze Gott – der rote Riese – tanzten einen lautlosen
Reigen um sie.

Sie ging über den Hof.
Stolperte über den Zwerg, der besoffen in einer Ecke auf einer dreckigen Küchenmagd lag.
Sie sah den Neger.
Er saß vor seinem Stall und schnitzte an einem hölzernen Instrument.
Die Alte fraß rohe Fische und bemühte sich, die Gräten möglichst weit zu spucken.
Als Isold vor ihnen stehen blieb, fiel die Alte in die Knie und rieb ihre Stirn demütig im
Staub.
„Steh auf, meine Mutter,“ sagte Isold und erschrak im Augenblick über das Wort.
Aber die Alte, welche sie nicht verstand, murmelte im Staube Ergebenheit.
Der Neger reichte ihr das halbfertige Instrument.
Sie nahm. Lächelte hilflos und reichte es ihm zurück.
Roger und Banno schritten über den Hinterhof.
Der Neger beobachtete sie aus halben Lidern.
Isold schüttelte den Kopf.
Eine Träne hing an ihren Wimpern.
Sie ging in ihr Gemach.

Am nächsten Morgen wurde Banno, der rote Riese, am Strande erschlagen
aufgefunden.
Auf seiner Brust hockte wie eine Krähe, gleichfalls tot, aber erwürgt, der Zwerg.

Isold stand, im weißen Brautgewand, in ihrer Kemenate.
Ihre sechs Gefährtinnen gackerten um sie wie Hühner um die Glucke,
„Ein schöner Mann,“ sagte die eine.
„Das schöne Kleid – wie fein es die Brüste zeigt.“
„Deine süßen Brüste,“ lächelte Margit und küßte sie.
„Die silbernen Schuh.“
„Der Gürtel aus Gold.“
„Eine Nacht dich erwartet – “
„Du badest in Glück …“
„Der rote Riese – er hütet dich hold.“
Isold erschrak.
Die Freundinnen verstummten plötzlich in ihren Stellungen: wie eine jede lag, stand,
ging.
Roger brüllte:
„Banno ist ermordet.“
Er war aus dem Zimmer – sie lagen, standen, saßen noch unverrückt.
Regen klatschte ans Fenster.
Isold weinte: leise.

Der Neger bespannte das heimatliche Instrument, das er geschnitzt, mit einem
Schafsdarm.
Er sang, ehe die Sonne erwachte:

Das Dunkel .. die Sonne:
Wie uns der Wald bewacht ..
Die ewigen Vögel zwitschern.
Vielleicht … vielleicht. –

Regenwürmer sind mein Fraß –
Die fetten Fische –
Der kleine Kolibri
Nistet im Nabel mir.

Wenn Nacht nicht wäre
Was tun? Wo träumen?
Töten und träumen
Ist schwarzen Mannes Tat.

Aber Frauen
Sind wie Bäche:
Überstürzen
Liegenden Mann.

Helle Haare
Werden ihn würgen.
Sterne sind wie
Hauch seines Atems.

In den Kraalen
Heulen die Mädchen,
Über den Leichen
Singt der Schakal.

Schwarzen Mannes
Gott ihn betreute
In der meerischen
Einsamkeit.

Als Roger, nachdem man die Leichen Bannos und des Zwerges gefunden, den Neger
suchen ließ, war er nicht mehr zu finden.
Die Alte erschlugen sie und warfen sie wie eine tote Katze über die Mauer.

Isold führte in hochzeitlichem Kleide ihre Gespielinnen über nasse Klippen und
feuchte Höhlen zum Gott empor.
Ein schwarzer Kater kreuzte buckelnd ihren Weg.
Ein schwarzer Hund schlug schattig seine Kreise.
Die Nacht stieg aus dem Meere, schwarz gewandet.
Nachtwandlerisch erstiegen sie den Fels.
Dort stand der Neger riesig mit dem Banjo.
Er sang und wieherte. Ergriff die erste Frau, begattete sie stehend und stieß sie in
den Abgrund. Er beugte sich übers Steingeländer und sah sie zerschmettert drunten
bei den Muscheln liegen. Schon krochen Taschenkrebse über sie und nagten an den zarten Brüsten.
Er nahm die zweite. Spielte Hund mit ihr. Warf sie ins Meer. Und so die dritte, vierte,
fünfte.
Er blieb allein mit Isold.
Kniete vor ihr nieder.
Begrub den Mund wie einen Sarg in ihrem Schoß.
Sie drohte zu fallen: Seligkeiten stürzten auf sie ein: die goldenen Säulen barsten:
Sterne stäubten Fliederregen.
So viele Sonnen brachen aus der Nacht.
Sie hielt sich an den Gott. Umschlang ihn seufzend.
Sein spitzes, hölzern Männliches drang in ihr Herz.
Rot sprang ihr Blut –

Der Kinderkreuzzug

Eines Sommermorgens, die Sonne stieg gerade über den schieferblauen Bergen empor, erschien mir, als ich die Herden zur Weide durch Tau und Dunst trieb, ein junger, lockiger Engel, wie er auf den Spruchblättern zur heiligen Kommunion abgebildet ist. Er trat zwischen zwei Birkenstämmen hervor, trat auf den Leitbock zu und fasste ihn zart zwischen den Hörnern. Der Bock hob den bärtigen Kopf und sah mit stumpfem, grünem Auge verwundert zu ihm auf. Die beiden Schäferhunde sprangen herbei und sprangen, ohne anzuschlagen, wedelnd an dem Fremdling empor, der hell zu lächeln begann. „Stephan“, so sprach der fremde Jüngling, „Gott hat dich wie einst den Hirten Moses zu seinem Gesandten, Gesalbten und Verkünder auserkoren. Sahst du in den Wäldern deiner Heimat den Heerwurm ziehen? Einer nur weiß den Weg, und alle andern folgen ihm blind und blindlings. Du sollst der eine sein. Hebe deinen Stab, laß deine Hirtenflöte tönen, sie werden dir folgen, deine Brüder und Schwestern, die Kinder, die Knaben und Mädchen aller Völker. Denn wisse: wie der Herr gesagt hat, „Lasset die Kindlein zu mir kommen“, so wird das Heil der neuen Welt nur von den Kindern kommen. Die Alten sind verdorrt wie entwurzelte Bäume und sind nur wert, auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden. Der Schoß ihrer Weiber aber ist unfruchtbar zum Guten. Wie einst die Jungfrau Maria, so wird der Schoß einer Jungfrau von dreimal drei Jahren, dem heiligen Zeichen der Trinität, in dreimal drei Monaten den neuen Heiland gebären. Du wirst sein Prophet und Vorläufer sein, Stephan. Ich rufe dich zum Kreuzzug gegen alle Laster, gegen Trägheit, Lüge, Mord, Neid, Bösheit. Nimm den Heerruf der Kreuzfahrer in deiner Seele auf: Herr Gott, erhöhe die Christenheit! Stoß in den Abgrund die Heiden! Herr Gott, gib uns das wahre Kreuz wieder!“- Der Engel löste sich im Nebel auf, den die Morgensonne durchbrach. Die Hunde bellten. Der Leitbock schnupperte und senkte die Hörner. Ich trieb die Tiere auf die Weide, schnitzte mir aus Weidenholz eine Flöte und blies ein lustiges Lied in den Junimorgen des Jahres 1212. – Am Abend trat ich vor den Bauer und sprach: „Gib mir Urlaub, Bauer. Ich muss dich verlassen, ich kann dein Hirt nicht mehr sein.“ Sprach der Bauer: „Du bist ein Hammel von der Sorte, wie du sie auf die Weide treibst. Du hast dein Auskommen bei mir, auch Wams und Schuhwerk und zu Weihnachten einen Taler: was willst du mich verlassen? Hast wohl an deinen dreizehn Jahren zu schwer zu tragen?“ Ich sprach: „Ich muss Gott suchen und die von ihm erkorene neue Jungfrau, welche den neuen Heiland gebären wird, wie mir der Engel am Kreuzweg verkündet hat.“ Der Bauer machte Topfaugen. „Welcher Engel hat dir was verkündet?“ Ich erzählte dem Bauern die Begebenheit. Er aber lachte mich aus. Da ging ich in die Nacht, nur mit meiner Flöte und dem Hirtenstab. Aber wie wunderlich: die zwei Hunde und der Leitbock und die ganze Herde folgten mir. Und alle Ställe öffneten sich, und aus allen Häusern folgten mir die Lämmer und Ziegen durch die Nacht. Die Sterne leuchteten blank. Es war warm. Aber ich fror und schritt schnellen Schrittes voran. Am Morgen gelangte ich in das Dorf Bloies bei Vendôme. Tausend Tiere folgten mir, und war kein Halt, denn auch die Hunde schlossen sich meinem Zuge an. Da setzten mich die Bauern gefangen in einen Turm. Die Schafe blökten, die Böcke meckerten, die Hunde bellten. Als ich aber auf die Brüstung des Turmes trat, verstummten sie. Ich machte das Zeichen des Kreuzes über sie und sprach: „Geht zu euren Herren und dient ihnen! Gott wird sein Kreuz in Wahrheit bald errichten, in dessen Schatten ihr dann grasen werdet! Geht mit Gott!“ – Und sie gingen, die Köpfe gesenkt, die Hunde aber mit zwischen den Hinterbeinen eingeklemmtem Schwanz. – Die Bauern ließen mich voll Staunens aus dem Turm. Da hob ich meine Flöte ans Licht und begann zu blasen: ein Kreuzfahrerlied:

Maria himmeloben,
Maria herzeninn‘,
Du hast uns hoch erhoben
Zum Dienst nach deinem Sinn.

Da tanzten die Türen der Häuser, wie beim spanischen Tanz Herr und Fräulein, auseinander: und Knaben, Mädchen, Kinder kamen auf mich zugelaufen und umdrängten mich dicht. Ich blies ihnen das Lied, und sie folgten mir, singend und jubilierend. Es half kein Gewaltmittel der Alten, der Altern, der Eltern und Priester. „Herr Gott, erhöhe die Christenheit! Stoß in den Abgrund die Heiden! Herr Gott, gib uns das wahre Kreuz wieder!“ schrien sie zwischen den einzelnen Gesängen. Durch Dörfer und Städte zogen wir, und je mehr unser wurden, um so williger ließ man uns ziehen. Es war bei hunderttausend Kriegern nicht gelungen, das Heilige Grab den Ungläubigen zu entreißen. Gott hatte sie geschlagen, weil er in ihre schwarzen Herzen sah. Er sah darin, worum sie in Wirklichkeit kämpften: das war nicht der heilige Leib, die Gebeine der Märtyrer, die geschändete heilige Erde, die in Schutt und Asche gelegten Zinnen Jerusalems. Die einen hatten das Kreuz auf dem Mantel, weil sie reiche Beute beim Sultan zu machen gedachten, die andern lockten die braunen, heißen Frauen der türkischen Heiden. Die dritten aber zogen mit, weil sie unterwegs durch Diebstahl, Mord, Plünderung im Namen Jesu Christi wohl auf ihre Kosten zu kommen gedachten. Wir Knaben und Kinder aber, wir trugen Gott in unsern Herzen und wollten das Heilige Grab mit unsern Herzen erobern. Kein Blut sollte fließen, kein Mord geschehn, keine Untat, kein unziemlicher Gedanke. Da wurden die Dörfler und Städter von uns bezwungen: ohne Rede, ohne Wort: nur dass wir zogen, wie die Heuschrecken ziehen, wie die Winde wehen, wie die Fische im Meer ziehen. Sie gaben uns Almosen in Hülle und Fülle, und wo wir übernachteten, übernachteten wir in den Domen und Kirchen, und wo wir zu Mittag speisten, da waren es die Tafeln der Bürgermeister, Barone, Chorherren und Bischöfe. Der König von Frankreich sandte uns einen königlichen Kurier mit der Lilienstandarte und befahl uns, zu unsern Eltern zurückzukehren. Wir aber kannten keinen König von Frankreich und keine Eltern, denn unser Gedanke war nur des Gottes voll.

Wir zogen durch Frankreich und zogen am Mittelmeer entlang nach Italien. Wir erreichten Piacenza und Genua und wandten uns nach Rom. Tagelang vor Rom schon sah ich die Peterskuppel in den Wolken glänzen. Ich stieg mit meinen Knaben und Mädchen die Freitreppe auf dem Vatikanischen Platz zum Petersdom empor. Schweigend bildete das sonst so laute römische Volk Spalier. Oben unter der Säulenhalle stand Papst Innozenz. Er hob die Hand, wie um uns abzuwehren. Da machte ich das Kreuz über ihn und segnete ihn. Danach fielen wir, dreißigtausend Kinder an der Zahl, in die Knie, und ich sprach: „Segne uns, Heiliger Vater, für unsern Zug über das Meer!“ Und der Papst, blass und schweigend, segnete uns. Ich aber höre noch seine leise zum Kardinalstaatssekretär geflüsterten Worte: „Wir schlafen. Diese Kinder sind erwacht. Wie fröhlich ziehen sie zum Grabe.“ – Da war es, dass ich zum erstenmal erschrak. Ich schlief in dieser Nacht in einem Saal des Vatikans, der mit prächtigen Bildern aller Heiligen geschmückt war. Der heilige Sebastian war diese Nacht bei mir und schloss mich in seine Arme und küsste mich. Wir zogen weiter durch die Campagna und bis nach Brindisi. In der Campagna, an einer Ruine der römischen Wasserleitung, traf ich ein neunjähriges Mädchen namens Maria. Es hatte mich kaum an der Spitze des Zuges erblickt, so fiel es vor mir nieder, küsste mir die Füße und folgte mir demütig. Da glaubte ich, die Mutter des neuen Heilandes gefunden zu haben, und vergrub meine weinenden Augen in ihrem dunklen Haar, das süß nach Feigen roch. Und es überkam mich eine grenzenlose Begierde und Sehnsucht, Gott zu zeugen, und angesichts der ganzen Pilgerschaft, die in die Knie gefallen war und die Köpfe im Staube barg, erkannte ich sie fleischlich. – Von Rom aus folgte allerlei liederliches Gesindel unserm Kreuzzug: Laienmönche, Bettler, entlassene Landsknechte, Kuppler und Kupplerinnen. Endlich war Brindisi erreicht, das Meer, das wir durchschreiten mussten, lag vor uns. Ich schlug mit meinem Stab in das Meer – aber die Wogen teilten sich nicht wie vor Moses. Es waren aber zwei Schiffsherren in Brindisi, die erklärten sich bereit, uns für Gotteslohn um des heiligen Zweckes willen nach Alexandria überführen zu wollen. Wir segelten mit sieben Schiffen ab. Zwei Schiffe kenterten in der Nähe von Sardinien bei der Insel San Pietro. Es schien mir ein gutes Vorzeichen, dass es die beiden Schiffe waren, auf denen sich der erwachsene Tross unseres Zuges eingeschifft hatte: die Bettelmönche, Landsknechte, Kuppler und Kupplerinnen. Mit lautem Geschrei „Herr Gott, erhöhe die Christenheit!“ begrüßten wir die aus silbernen Nebeln tauchende afrikanische Küste. Jubelnd und singend durchzogen wir Alexandria. Aber als wir auf dem Markt ankamen, fanden wir plötzlich alle Straßen, die aus dem Markt hinausführten, von bewaffneten Matrosen abgeriegelt. Auf dem Markt aber standen, Pistolen im Gürtel, mit feisten, grinsenden Gesichtern unsere beiden Schiffsherren Hugo Ferreus und Guilelmus Porcus, letzterer in der Tat wie ein bekleidetes Schwein anzusehen. Der erstere schoss eine Pistole in die Luft ab und schrie in das allgemeine Schweigen, das eingetreten war: „Die Versteigerung kann beginnen! Wer bietet als erster?“ – Wir waren gerade rechtzeitig zum jährlichen großen Sklavenmarkt eingetroffen und wurden, noch zehntausend an der Zahl, von einem Abgesandten des Kalifen für die Summe von achtzigtausend Goldstücken den Schiffsherren abgekauft. Der Kalif sann uns zuerst an, unsern Glauben abzuschwören, da wir aber standhaft beharrten, ließ er von seinem Plan ab. Maria, das kleine Mädchen aus der Campagna, die Mutter des künftigen Heilandes, hatte allein der Seelenverkäufer Porcus für sich zurückbehalten. Sie hat, wie ich erfahren konnte, in seinem Harem ein Kind geboren, von dem ich nicht weiß, was aus ihm geworden ist. Der Kalif, dessen Kammerdiener ich geworden bin, hat mir einmal einen Besuch des Heiligen Grabes verstattet. Es liegt verfallen und ungepflegt außerhalb der Stadt Jerusalem in einer dürren Einöde. Eine Herde weidete darauf, und ein Hirt blies auf einer selbstgeschnitzten Flöte ein lustiges Lied in das fahlgrüne Frühlicht. Da Christus von den Toten auferstanden und zum Himmel emporgefahren sein soll, wie uns die Evangelien berichten, so meinte ich, ein leeres Grab zu finden. Dem war aber nicht so. Vielmehr lag ein wohlerhaltener Totenschädel darin und allerlei Gelenk- und Hüftknochen eines menschlichen Skeletts. Ich nahm den Totenschädel in die Hand und sah lange in seine leeren Augenhöhlen. Freilich, dachte ich, da du gestorben bist wie andere Menschen auch sterben, und tot bist und nicht zu Gott emporgefahren und nicht neben ihm auf dem diamantenen Thron sitzest, hast du mir auch nicht helfen können auf meiner Fahrt. Ein trügerischer Engel ist mir erschienen, der mich narrte, dass ich die anderen narren musste. Nun ist Gott tot in mir, und ich weiß gar nichts mehr von ihm. Hätte er sich meiner wie ich mich seiner erbarmt! Nun werde ich meinen christlichen Glauben abschwören, das Kreuz an meinem Halse zerbrechen und ein Heide werden wie der Kalif, mein gnädiger Herr. Als ich am Abend bei der Tafel dem Kalifen meinen Entschluss anzeigte, war er hocherfreut. Er umarmte mich und küsste mich wie einst das Phantom des heiligen Sebastian im vatikanischen Saal in Rom. „Du sollst nicht mehr Stephan heißen“, sprach er, „ich werde dich Ali taufen, wie der erste Sohn Mohammeds hieß.“ Meine Hand zitterte, als ich ihm aus der weißen Kristallkaraffe roten Wein eingoss, und eine Träne fiel aus meinen Wimpern in sein Glas, das er schweigend leerte.

Ich habe unter meinem gnädigen Sultan Al-Kamil in den Reihen der Sarazenen gegen Friedrich den Zweiten gekämpft und sein christliches Heer. Ich habe manchen Christen mit dem Morgenstern erschlagen. Durch einen Zufall gerieten in den Wechselfällen des Krieges die beiden Seelenverkäufer Hugo Ferreus und Guilelmus Porcus, die sich diesmal als Streiter Christi kostümiert hatten, weil sie in dieser Tracht bessere Geschäfte zu machen glaubten, in meine Hand. Ich ließ die beiden Schacher in Jerusalem auf dem Ölberg kreuzigen und errichtete in der Mitte zwischen ihnen ein drittes Kreuz, daran ließ ich den Totenkopf und das Skelett Christi, daran ließ ich Christus zum zweiten Male kreuzigen.

Katharina

„Du wirst närrisch“, sagte Lapa, „du darfst nicht mehr allein in einer Kammer schlafen, sonst flennst und betest du die ganze Nacht, statt nach rechtschaffen erfüllter Tagesarbeit und einem kurzen, Gott wohlgefälligen Gebet – Gott liebt die langen Gebete nicht, sie schmecken ihm wie übermäßig verdünnter Wein – den traumlosen Schlaf der guten Menschen zu schlafen. Ich werde eine Magd entlassen, damit du im Hause zu tun bekommst und keine Zeit hast, deinen Schrullen nachzujagen, in feuchte Grotten zu kriechen, die dich nichts angehen, und Berge zu sehen, wo keine sind.“

Katharina neigte das Haupt.

Ein Lächeln wiegte sich auf ihren schmalen Schultern.

Lapa schrie böse: „Jakob Benincasa, das Schwein, dein Vater, ist wieder einmal besoffen nach Hause gekommen. Er hat unser Bett beschmutzt und die ganze Stube verunreinigt. Ich habe in der Küche auf einem Stuhl schlafen müssen. Du wirst das Zimmer sogleich in Ordnung bringen. Carlotta, die Magd, kann sofort gehen.“

Katharina erhob das Haupt. Sie sah, wie ihre Mutter sich entfaltete: eine goldene Blüte, und sah die heilige Maria als Biene summend dem Kelch entschweben.

Wenn ich meiner Mutter diene, diene ich der Muttergottes, dachte sie. Mein Vater sei Christus, meine Brüder gleichen den Aposteln und Bonaventura, meine Schwester, entflieht im Mönchsgewand dem väterlichen Hause, sich selig so zur Euphrosyne wandelnd. Ich aber, ihre Zwillingsschwester, weihe meine Dienste unter dem Namen Smaragdus dem Kloster meines elterlichen Hauses, und erst, wenn ich gestorben bin, wird man begreifen und erfahren, daß ich ein Weib war…

Als Jakob Benincasa in das Schlafzimmer trat, wo Katharina mit Feudel und Eimer beschäftigt war, die Spuren seiner Trunkenheit emsig zu entfernen, schien es ihm, als ob eine weiße Taube sich von ihrem Scheitel erhebe und leise schwingend durch das geöffnete Fenster verwehe.

Er eilte sogleich in das Wirtshaus „Zum fröhlichen Federigo“ zurück und lud die dort versammelte Gesellschaft zu einem kräftigen Trunk auf seine Kosten ein. »Will sich deine Tochter Katharina nun endlich vermählen«, lachte der bucklige Schuster Ciseri, „oder welche Freude treibt dir den Zapfen aus dem Spundloch?“

„Ich weiß“, wisperte der lange Steinmetz Bosco, „seine Frau bekommt in neun Monaten das dreizehnte Kind. Eben hat er es ihr und sie es ihm mitgeteilt. Da weiß seine Seligkeit keine Grenzen …“

„Ich glaube“, am Fasse dröhnte der Hammer des Wirtes, „er hat ein gutes Geschäft gemacht. Die hohen Damen von Siena haben ihm Auftrag gegeben, ihre ergrauten, vom Liebesaussatz zerfressenen Haare blond zu färben oder ihnen, wo sie überhaupt keine Haare mehr haben, den Schädel am Schöpf schwarz anzustreichen. Wenn er nur von jeder Dame einen Taler erhält, so macht das sicherlich ein kleines Vermögen.“

„Komödie“, wieherte Jakob Benincasa. „Euch sind die Sinne irre. Ihr tappert, Maulesel gleich, gesenkten Kopfes durchs Gebirge. Freßt biedere Kräuter, die um eure Hufe wachsen. Seht ihr den Wasserfall am Felsensturz? Die leise Gemse braun im Horizont? Den Geier Blitz? Die blaue Blume Schnee? Der Menschen Dörfermoos?“

„Junge“, der Maler Simon Martini warf seine Worte wie Farbenklexe in den grauen Raum, „du dichtest wie Petrarca. Mußt es drucken lassen.“

„Meine Tochter Katharina ist eine Heilige“, Jakob Benincasa brüllte. Er stieß mit seinen Ellenbogen rings am niedern Gewölbe. „Deshalb wollen wir uns alle heute betrinken. Denn ich, Jakob Benincasa, bin der Vater dieser Heiligen. Und wenn sie heilig ist, so steckt der Same der Heiligkeit wohl auch in mir. Denn von Lapa kann sie die Heiligkeit nicht haben. Lapa ist eine bösartige Hündin.“ Der Maler, der bucklige Schuster und der lange Steinmetz klatschten in die Hände. Der Hammer des Wirtes dröhnte den letzten Schlag. Jetzt flog der Zapfen aus dem Spundloch.

„Wenn deine Tochter Katharina eine Heilige ist“, sagte der kleine Goldschmied Ambra, „dann mußt du ihr bei mir einen Heiligenschein machen lassen. Ganz aus Gold.“

„Hat sie schon Wundmale an den Händen und Füßen?“ fragte Pedamonte, welcher mit Edelsteinen handelte. „Du mußt ihr Rubinen in die Wunden setzen lassen.“

„Wenn sie sich geißeln will, wie es alle rechten Heiligen tun, so bedarf sie einer dauerhaften Geißel oder einer Peitsche mit Nägeln. Ich halte mich der heiligen Kundschaft bestens empfohlen“, dienerte der Waffenschmied Marchetti.

Der Maler Simon Martini zeichnete Katharinens Bild mit Kreide auf den Tisch.

„Sie ist so schön, wie wenige Frauen in Siena sind“, sagte er leise.

Jakob Benincasa bebte.

Der Dichter Petrarca trat an Martini heran, legte die Hand auf seine Schulter und beugte sich zart vor, die Zeichnung zu betrachten.

Seine Stirn leuchtete wie eine ewige Lampe, und seine Lippen bewegten sich wie zwei Schmetterlingsflügel.

An das Vaterland

Petrarca bei seiner Rückkehr von Avignon auf dem Grenzpass zwischen Frankreich und Italien:

Willkommen, heiliges Land, der Heiligen Land,
Kerker der Bösen, Herberg der Gerechten!
Nimm deinen Sohn, der aus der Fremde kommt
Und Leid und Sorge unterm Mantel trägt,
(Ach keinen Edelstein, kein edles Gut,
Und ach, wer weiß, vielleicht kein edles Herz…)
O nimm ihn gnädig auf! Und sei’s auch nur,
Daß einen Baum du ihm zum Sarge leihst.
Ich bin so müde, müde dieser, jener,
Ach aller Welten bin ich gänzlich satt.
Im Äther reckst du stolz dein Felsenhaupt
So frei, wie jene Freiheit, die du schenkst.
Du lohnst mit Blumensilber, Sternengold,
Dich denkt der Weise und dich schützt der Held.
Das Mädchen liebt dich. Gott hat dich geträumt.
Ich stehe auf dem Alpenpaß und blicke
Hinab zu dir. Es dämmert schon. Du schläfst.
Und Tränen stürzen mir aus meinen Augen,
Sie sammeln sich zu einem Bache, der
Mir weit voraus hinab zu Tale springt.
O schenke mir die Erde wieder! Schenke
Mir so viel Erde nur, darauf, darunter Zu ruhn –

Ben Jonson und der Spitzbube

Spitzbuben und Straßenräuber gibt es mehr als genug auf der Welt, aber wenige sind (nicht nur mit ihren Keulen und Pistolen) so schuß- und schlagfertig wie es Walter Traeey war, und deshalb soll von ihm ein wenig die Rede sein. Er war ein wohlhabender Pächter und Landwirt, mit einer hübschen Frau, der Tochter eines reichen Viehmästers, rechtschaffen und angemessen verheiratet, als ihn im vierzigsten Jahre seines den allgemein gültigen Geset­zen der Moral und Schicklichkeit entsprechend verbrach­ten Lebens der Ekel vor soviel süß- und sauertöpfischer Bürgerlichkeit entscheidend packte. Er hatte von London, der Stadt der Abenteuer und Genüsse, von Wanderpredi­gern, Reisenden in Düngemitteln und Vagabunden so viel Reizendes vernommen, daß er eines Tages, als die Gele­genheit sich günstig bot, sein Gut verkaufte und, die Geld­katze prall über den Bauch gebunden, mit Frau und ge­brechlichem Schwiegervater gen London abzog. Unterwegs in einem Landgasthaus ließ er die samt dem armseligen Greis einfach gänzlich hilf- und mittellos sitzen und hat sich in der Folge niemals mehr um sie bekümmert. In Lon­don verlor er in ein paar Tagen und Nächten in einem be­rüchtigten Spielsalon fast sein ganzes Geld. Den Rest nahm ihm Anna Holland, pockennarbige Aufwärterin in einem niederen Kaffeehause, ab. Kurz entschlossen warf sich Walter Tracey von nun ab auf den Straßenraub. Der erste, der ihm auf einer Straße vor London in die Hände fiel, war niemand anders als der Dichter Ben Jonson. Dieser zog seine Pistole und apostrophierte den Banditen in dem von ihm erfundenen Blankvers wie folgt:

„Du Höllenhund, du Abfall allen Drecks,
Du Jauchetonne, die die Luft verpestet,
Du Schurke, Gauner, Lump und Strolch: entfleuch!
Daß diese Kugel, eisenrohrentsprungen,
Dir nicht die krätzge Brust zerreißt, dein Leib
Ein Fraß der wilden Hund und Katzen werde!«
Der Räuber, der den Dichter erkannte, parierte seinen Hieb geistesgegenwärtig mit der gleichen Waffe:
»Ich habe bessere Verse schon gehört
Und bin vor ihnen nicht davongelaufen.
0 schweig, Ben Jonson, schweig und gib klein bei!
(Da du nicht groß beigeben kannst, denn groß
Ist Shakespeare nur, dem seinen Ruhm du neidest.)
Du Schmiedejunge holpriger Trochäen,
Gedankengauner, Dieb an fremdem Geist,
Du Räuber auf den Straßen Phantasias:
Heraus mit deinem Gold! Ich nehme Geld
In Vers und Prosa, wie es eben kömmt.
Doch wehrst du dich mit deiner Donnerbüchse
(Die älter, wahrlich, als der Hammer Thors),
Wird man auf deinem Grabstein lesen können:
Hier liegt Ben Jonson, dessen leere Verse
Den Tod ihm brachten und sein voller Beutel.“

Ben Jonson mußte sich in jeder Richtung geschlagen be­kennen. Er lieferte Tracey seine Guineen aus und ging mißmutig seines Weges. Seine Laune besserte sich erst, als ihm der Gedanke kam, die sonderbare Begegnung zu einem Gedicht zu verarbeiten. Solches tat er. Das Gedicht gelang ihm bestens, wurde in einem Flugblatt verbreitet und in Großbritannien viel belacht. Als Walter Tracey es zu Gesicht bekam, geriet er außer sich: „So ein Spitzbu­be!“ rief er einmal über das andere: „So ein Spitzbube! Schämt sich nicht, dem lieben Gott die Zeit und einem Walter Tracey seine Ideen und Verse zu stehlen. Was für ein schmähliches Handwerk ist doch das Dichterhandwerk. Um zu Ruhm zu gelangen und Ehre, müssen sie einen Dieb bestehlen!“ Er saß in dem elenden Kaffeehause, in dem Anna Holland Aufwärterin war, schlug ihr vor Wut ein Stuhlbein in das pockennarbige Gesicht und bestellte die dritte Flasche Schnaps.

Heinrich von Wales und Sir John Falstaff

Wenn man die größten Gauner, die listigsten Lumpen al­ler Zeiten nennt, so darf man den Prinzen Heinrich von Wales und Sir John Falstaff nicht vergessen. Auf hundert Meilen im Umkreis von London war kein Pilger, kein rei­sender Kaufherr, kein Pächter vor ihnen sicher. Prins, Bardolph, Gadspill und Pabo leisteten ihnen beim Rauben und Stehlen gute Kameradschaft. Es kam ihnen aber auch nicht darauf an, sich untereinander über das Ohr zu hau­en. Falstaff hatte mit einigen verwegenen Brüdern fromme Pilger, die mit kostbaren Weihgeschenken nach dem Grabe des heiligen Thomas Becket unterwegs waren, überfallen und ihnen tausend Pfund abgenommen, als Prinz Hein­rich und Prins, beide verkleidet und in ihren Masken un­kenntlich, ihrerseits wieder Sir John überfielen und ihn um die eben erbeuteten tausend Pfund völlig erleichter­ten. An einem der nächsten Tage trafen Falstaff und der Prinz einander in einem Wirtshaus. Falstaff fluchte nicht schlecht und erzählte sein Mißgeschick: „Es ist eine böse Welt. Helf mir Gott.“ Seine kleinen, versoffenen Ratten­augen tränten. „Es gibt in ganz Großbritannien keine drei anständigen Kerle, die noch ungehangen herumlaufen, und einer davon« – er tippte sich an seinen hervorquellenden Bauch – »ist fett, alt und auch schon ein wenig verblödet. Hör mich an, mein süßer Hai, mein Herzchen: begegne ich da vor einigen Tagen einigen frommen Leuten, die an Weihgeschenken aller Art, Gold und Edelsteinen schwer zu tragen haben. Ich nehme ihnen die kostbare Last gerne ab. Mochten so alles in allem zehntausend Pfündchen sein. Und was geschieht? Einige Augenblicke später fallen hun­dert Straßenräuber über mich her – hundert über mich armen, alten, gebrechlichen Mann. Ist das nicht eine Schande, mein Prinz? Eine Stunde habe ich mich mit ih­nen herumgeschlagen. Zwanzigmal bin ich durch das Kamisol und zehnmal durch die Hosen gestochen worden. Mein Degen sieht aus wie eine alte Handsäge und von meinem Schild ist nur der Federgriff übrig geblieben. Helf mir Gott, was für eine böse Welt. Aber die zehntausend Pfund bin ich los.“ Grimmig rührte Sir John Falstaff in seinem Grog. Der Prinz lag über dem Tisch, er bog sieh vor Lachen. Mißtrauisch blinzte Falstaff zu ihm herüber. Einen Augenblick leuchtete in seinen kleinen Rattenaugen ein Strahl der Erkenntnis auf. Aber er ließ sich nichts mer­ken und fuhr fort, vor sich zu brabbeln und zu sabbern. Heinrich von Wales war, wie viele Kronprinzen, ein aus­gemachter Tunichtgut. Er bestahl seinen eigenen Vater, den König, um das königliche Zepter, und es heißt, daß er es für einige hundert Pfund bei einem jüdischen Wucherer versetzt habe. Er machte den Versuch, einen seiner gefangenen Freunde zu befreien und schlug, als Zeuge vernom­men, dem Oberrichter im Gerichtssaal ins Gesicht. Der Richter, ein würdiger und entschlossener Mann, ließ furcht­los den Prinzen verhaften. Gäbe es solche Richter, die vor der höchsten Person nicht halt machen, doch häufiger auf der Welt! Und gäbe es mehr solcher Könige, wie der war, der zu diesem Richter sprach: „Ich bin glücklich, daß ich einen so kühnen Mann habe, der meinen eigenen Sohn zu bestrafen wagt.“

Wenige Zeit darauf starb der König und Prinz Heinrich entstieg dem Kerker und bestieg den Thron. Jedermann machte sich, eingedenk der bisher vom Prinzen verübten Taten und Untaten, auf das Schlimmste gefaßt. Nur Sir John Falstaff, Prins und die andern Strauch- und Straßen­räuber, die ehemaligen Genossen des jetzigen Königs, bläh­ten sich gewaltig auf und meinten, daß ihre Zeit nun ge­kommen sei. Sie ritten zur Krönung nach London und Sir John Falstaff schwankte, dickbäuchig, schwammig und auf­geblasen wie eine Wasserleiche vor den König und hub zu sprechen an: „Es ist eine böse Welt, Gott helf mir, der Euere Majestät so lustig und fidel erhalten möge wie bis­her. Hör mich an, mein süßer Hai, mein Herzchen: ich komme, dich im Namen aller unserer Kumpane zu der Thronbesteigung herzlich zu beglückwünschen. Ich hoffe, daß du, in Erinnerung unserer alten Freundschaft und glor­reichen Heldentaten, uns nicht vergessen wirst, insonder­heit nicht deinen alten, dicken, getreuen Sir John Falstaff, der, um repräsentabel vor dir erscheinen zu können, sich von einem reichen Mann hat tausend Pfund leihen müs­sen, leihen müssen, haha, du verstehst.“ -Der König aber sah ihn finster an und erwiderte: „Ich habe mit meinem vergangenen Leben auch euch alle insgesamt vergessen. Ich kenne dich nicht, alter Mann. Hör auf mit deinen Possenspielen. Wie schlecht steht sol­ches einem weißhaarigen Greis an. Ich habe einmal von einem solchen widerlichen und liederlichen Dickwanst ge­träumt wie du einer bist. Aber jetzt bin ich erwacht. Ich bin nicht der, der ich war. Ich habe mein früheres Leben abgeworfen wie ein altes Kleid. Ich befehle dir, dich hundert Meilen von meiner Person entfernt zu halten. Shallow –„ der Oberrichter, der einst den Prinzen Heinrich in das Gefängnis hatte werfen lassen, trat an den Thron – „Shallow, Eueren unbefleckten Händen übergebe ich das Schwert des Rechtes, das Ihr gegen diesen alten Narren und gegen alle Übeltäter mit der nämlichen kühnen, ge­rechten und unparteiischen Gesinnung gebrauchen möget, wie Ihr es gegen mich geschwungen habt. Ich will die Er­wartung der Welt vereiteln und die Prophezeiung des ge­meinen Haufens zu Schanden machen.“ Der Richter verneigte sich. Sir John Falstaff war erbleicht, und hielt sich nur mit Mühe aufrecht. Schwankend ver­ließ er den Krönungssaal. Er ging durch ein halbes Dut­zend leere Säle und kam in den Speisesaal, wo schon die Krönungstafel angerichtet war. Da erwachte er wieder zu sich selbst. Kein Mensch war im Saal. Er setzte sich an die Tafel und begann zu fressen. Er fraß wie ein urweltli­ches Ungetüm. Hummern, Pasteten, Kapaune, Spargel, Tor­ten schlang er wahllos in sich hinein. Aus seinen schmat­zenden Mundwinkeln tropften Saucen und Weine auf sein weißes Kamisol. Als er gesättigt war, betrachtete er prü­fend das goldene und silberne Tafelgeschirr. Seine Rattenaugen kniffen sich zusammen, und er erinnerte sich jener ihm vom jetzigen König einst gestohlenen tausend Pfund, die er den Pilgern abgenommen hatte. Goldene Teller und Pokale stopfte er, so gut es gehen wollte, unter sein Wams, daß sein Bauch sich noch unförmiger gestaltete. »Ich will mich bezahlt machen, mein Herzchen, mein süßer Hai.« Die gestohlenen Teller und Pokale klapperten, als er den Königspalast verließ. Einige Zeit danach wurde er des Lan­des verwiesen. Aber die Verweisung traf einen Toten. Er war bei einer seiner Fressereien an einem Entenknochen erstickt. –

Störtebecker

Vorwort

Einen Roman über die Hanse wollte Klabund schreiben, letztendlich wurde daraus ein Roman über den Seeräuber Klaus Störtebeker.

Störtebecker – Der Roman

Marlen blähte der Wind den blauweiß karierten Rock auf.

 

Sie stand in einer Tornische der Nikolaikirche, dickbäckig und dickbäuchig, die grellroten Hände stemmte sie in die Seite und schrie:

Zwetschgen! Zwetschgen!
Ein Echo von den Häusern her höhnte:
Zwetschgen! Zwetschgen!

Der Wind fegte eine Staubwolke über den Nikolaimarkt. Erst schlich sie über den Boden wie eine Blindschleiche. Dann wuchsen ihr Flügel. Sie rauschte auf und schlug wie der Vogel Phönix mit riesigen Flügelschlägen gegen die bemalten Fenster der Nikolaikirche, dass sie in den rostigen Angeln knarrten und der rote Sankt Sebastian und der grüne Sankt Makarius ihre Farbe verloren und braun bestäubt wie schmutzige Bettelmönche oder Lebkuchenmänner im gläsernen Oval standen.

Der Himmel blinkte schwefelgelb wie ein Katzenauge bei Nacht.

Der erste Blitz zuckte seine silberne Geißel und peitschte die Wolken, dass sie brüllend auseinanderstoben.

Marlen stand in der Nische und lachte.

Der Regen sauste vor ihr nieder.

Immer schneller zuckten die Blitze. Sie legte die breite Hand auf ihren Bauch. Der Herzschlag des Kindes, den sie schon spürte, und Blitz und Donner: das war ein Schlag, ein Klang, das ging im gleichen Takt.

Das wird ein wilder Junge werden, ein Blitzjunge, ein Donnerbursche.

Blitz und Donner knallten und zischten ineinander. Eine schlanke Feuersäule stieg auf. Der Blitz hatte in das Haus des Senators Stollenweber eingeschlagen. Fenster sprangen auf. Geschrei. Hilferufe. Lärm in allen Gassen und das Horn des Wächters vom Turm.

Marlen lachte.
Sie ballte die Faust.

Ihr Gesindel, ihr Lumpen, ihr Pack! Es hat bei euch eingeschlagen! Es war die strahlende Faust meines Sohnes, die auf euer morsches Gebälk niederfuhr! Er wird auf euch niederkommen wie Gottes Sohn. Er wird kein Jesus Christus sein, kein sanfter Engel, kein milder Prophet. Er wird das Licht der Liebe nicht eher entzünden, als bis er mit der Fackel des Hasses euch aus dem Bau geräuchert hat, den ihr aus unserm Schweiß, aus unserm Blut, aus unseren Leibern, aus unsrem Leben euch errichtet, und den unser Blut, unser Leben wieder niederringen muss. Ihr habt Gödeke an den Galgen gebracht, weil er den Menschen helfen wollte, zu Recht und Gerechtigkeit zu kommen. Aber der tote Gödeke wird in euern Häusern umgehen. Er wird bleich hinter eurem Stuhl stehn, wenn ihr tafelt, und er wird euch Vernichtung einschenken. Er wird euren Kindern in der Wiege die Seele vergiften mit Wolfsmilch und Rattenmilch. Eure Weiber werden mit bocksbeinigen und kalbsköpfigen Missgeburten niederkommen, darum, dass ihr des Menschen Antlitz und Gestalt geschändet und habt aus Lämmern Wölfe und aus Eidechsen Drachen gemacht.

Ihr sollt an meinen Zwetschgen ersticken!
Der Regen sauste. Der Donner grollte nur noch wie ein ferner Hofhund.
Zwetschgen! schrie Marlen, Zwetschgen!

Unbeweglich wie ein steinerner Nepomuk stand der Wächter am Galgen. Die Hellebarde stach mit dem Schaft in die feuchte Erde, mit der Spitze in den Himmel. Ein Stern tanzte darauf wie ein Elmslicht.

Gödeke schwankte im Nachtwind.

Er hing die dritte Nacht und hatte Leben und Sterben schon vergessen. Er war tot, wie er einst lebendig gewesen war. Ein Rabe, der sein linkes Auge gefressen hatte, saß auf seinem kahlen Schädel. In der leeren Augenhöhle kroch ein brünstiger Glühwurm. Von Hamburg herüber schlug es zwölf Uhr. Von zwölf Kirchen hintereinander. Der Wächter zählte bis hundert, da war er im Stehen fest eingeschlafen.

Er schreckte auf.

Was war das für ein verdächtiges Geräusch? Er fällte die Hellebarde.

Wer da?

Marlen legte ihm von hinten die Hände über die Augen.

Rate, mit wem du zu tun hast!

Der Wächter fluchte. Mit des Teufels Großmutter wahrscheinlich. Verdammtes Weibsstück, laß los. Wer bist du?

Deine Freundin, sagte Marlen. Und wenn du willst, deine Geliebte.

Sie riss ihn zu sich heran, dass die Hellebarde ins Gras fiel und er nach Atem schnaufte. Als er seine Arme frei spürte, suchte er nach ihren Brüsten. Er schälte sie aus dem groben Leinenhemd wie Früchte. Sie fielen neben der Hellebarde ins Gras, das noch feucht war vom Gewitter. –

Du bist schwanger, sagte der Soldat.

Sie lagen im Gras und sahen in den Himmel, wo die Sterne verschlafen blinzelten wie sie selbst.

Ja, sagte Marlen, ich bekomme ein Kind.
Von wem? fragte der Soldat.
Von meinem Mann, sagte Marlen.
Und wer ist dein Mann? fragte der Soldat.
Marlen zeigte mit spitzem Knöchel nach oben.
Der da!

Wer da? Ich sehe niemand da oben als Sterne. Also ist ein Stern dein Mann.

Er glänzte wie ein Stern und zog seine Bahn wie die Sonne.

Und wer ist es?
Marlen hob wieder den Finger:
Der, der da hängt.
Der Soldat richtete sich auf.
Der am Galgen, der ist dein Mann?
Ja, sagte Marlen, der Mann am Galgen ist mein Mann.
Der Soldat schüttelte den Kopf:

Da kannst du froh sein, dass du ihn los bist. Er war ein roher Patron, ein Räuber und Bandit. Er hat dich sicherlich jeden Tag geprügelt.

Marlen dachte nach:

Ja, er hat mich wohl zuweilen geprügelt. Das war so seine Art. Aber er hat mich geliebt, und ich habe ihn geliebt.

Du verstehst zu lieben, sagte der Soldat.
Und zu hassen, sagte Marlen.
Sie schwiegen.

Dem Soldaten war, als wäre ein kühler Wind über ihn hinweggestrichen. Ihn fröstelte.

Der Mann am Galgen schwankte leise. Der Rabe hatte ihn verlassen. Nur der Glühwurm leuchtete noch.

Hier in der Nähe ist ein Friedhof, sagte Marlen.

Der Soldat schwieg.

Gestern ist der Sohn des Tuchhändlers begraben worden. Das Grab ist noch nicht zugeschüttet.

Was soll das? fragte der Soldat.

Marlen fuhr fort:

Gödeke soll das Begräbnis eines ehrlichen Christenmenschen erhalten. Denn er war ein Christ wie wenige.

Vielleicht, sagte der Soldat. Auch Räuber sind zuweilen umgängliche Menschen. Ich habe mal mit einem Karten gespielt und ihm all seinen Raub abgenommen. Hilf mir, sagte Marlen. Und sie hatte plötzlich Tränen in den Augen.

Der Soldat drehte verlegen an einem Rockzipfel.
Wie könnte ich dir helfen, ich bin hilflos wie du.
Marlen stand auf:

Wir graben den Sohn des Tuchherren aus und hängen ihn an die Stelle von Gödeke an den Galgen. Der Galgen ist hoch. Man kann von hier unten nicht unterscheiden, wer da oben im Winde hängt.

Und Gödeke graben wir ehrlich in die Erde an Stelle des Kaufmannssohnes.

Der Soldat:

Ich verlier meinen Kopf, wenn es an den Tag kommt –
Die Nacht ist finster, es kommt nicht an den Tag.
Sie zog ihn zu sich heran. Da spürte er ihre Brüste.
Wie Katzen schlichen sie die hundert Schritte zum Friedhof.

Wie schwer die Toten wiegen! sagte der Soldat, als sie den Kaufmannssohn zum Galgen trugen. Nun: es schadet nichts, wenn von dem Patrizierpack einmal einer hängt. Ich wünschte noch manchen an den Galgen. Sind hochmütig wie der Kaiser. Unsereiner ist ja nur ein Stück Vieh für sie.

Sie setzten eine Leiter an.
Der Soldat löste Gödeke die Schlinge.

Er hielt sich die Nase zu. Alle Wetter, dein Liebster duftet nicht schlecht.

Er ließ Gödeke die Leiter hinabgleiten.

Marlen nahm ihn zitternd in ihre Arme und küsste seinen stinkenden Mund.

Die Schlinge wehte leicht und lustig. Marlen sah empor.

Ach, sieh die lustige Schlinge! Wie hübsch sie sich ringelt! Wie eine Schlange.

Sie sucht ein neues Opfer. Soldat, zeig mir doch einmal, wie man die Leute hängt. Möcht’s gern wissen.

Der Soldat lachte.

So mein Täubchen, hängt man die Leute, so mein Täubchen.
Er legte sich die Schlinge kunstgerecht um den Hals.

Als er den Hals in der Schlinge hatte, stieß Marlen die Leiter um. Er zappelte noch ein wenig wie ein Frosch, zuckte ein paarmal und hing still.

Marlen sah zu ihm hinauf:
So soll es allen gehen, die Schergenknechte sind.
Ihre Brust ging schwer.
Gödeke!

Sie schleifte die Leiche zum Friedhof und begrub ihn. Den Kaufmannssohn zerrte sie bis übern Damm und warf ihn, mit einem Stein beschwert, in die Elbe.

Als um sechs Uhr früh die Ablösung der Galgenwache kam, sah sie zu ihrem Entsetzen den Wächter am Galgen hängen.

Von Gödeke ward keine Spur mehr gefunden.

Aber durch die Bürgerschaft Hamburgs ging ein Zittern.

Der Teufel ist mit den Rebellen im Bunde! wisperte der Erzpriester von Sankt Georgen und legte diese Worte seiner nächsten Sonntagspredigt zugrunde und malte ein Bild des Teufels, dass die christliche Gemeinde schaudernd in den Mittag auseinanderging und sie sich in der grellen Sonne voreinander fürchteten.

Einige Tage darauf warf Marlen wie eine Hündin in einer Nische der Nikolaikirche einen Knaben, der später Störtebecker genannt wurde.

Vertrunken und versunken saß ein junger Gelehrter vor seinem Schoppen Wein. Zuweilen nahm er den Doktorhut herab und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Störtebecker trank ihm zu:
Euer Wohl!

Der Gelehrte sah ihn durch seine schwarze Hornbrille misstrauisch an und dankte mürrisch.

Woher des Weges? fuhr Störtebecker unbeirrt fort.

Der andere schwieg.
Er hob den Pokal ans Licht:

Wie klar dieser Wein! Wie golden! Flüssige Sonne. Wenn es einen Menschen gäbe, der so klar wäre wie dieser Wein. Aber vermanscht sind sie alle, unausgegoren, trübe, zu bitter oder zu süß. Essig oder Most. Euer Wohl! Ihr seid ein Kriegsmann?

Störtebecker:
Etwas Ähnliches, Herr. Ein Kämpfer.
Und was bekämpft Ihr?
Die Dummheit, den Hochmut, die Niedertracht.

Des andern Augen hinter den Brillengläsern funkelten. Ihr seid mein Mann. Ich wüsste Euch einen würdigen Feind. Er dämpfte die Stimme:

Ich komme aus Rom.
Störtebecker lauschte.
Dort herrscht die Trinität, die Ihr eben anführtet, unbeschränkt.

Störtebecker:
Kommt mit zum Thing. Sprecht zu den Friesen! Ihr seid der Unsere!

Der Thing fand auf einer Lichtung bei Bremen statt. Der Fremde erhob seine Stimme und sprach:

Zwei Metzen namens Theodora und Varozzia regieren. Sie setzen Bischöfe ein und ab und erheben zum Papst, wen sie wollen. Pfründe, Dispense, Absolutionen, Urteile: alles ist käuflich. Die Justiz ist eine Dirne geworden, der längst die Binde von den Augen fiel. Der Papst liest die heilige Messe, ohne zu kommunizieren, und ein siebenjähriges Kind, das mit dem Bischofshut wie mit einer Karnevalsmütze spielt, wurde zum Bischof geweiht. Wer weiß, wer der rechte Papst ist? Benedikt heißt der eine: der Gesegnete: er ist mit der Franzosenkrankheit gesegnet. Innozenz, der Unschuldige, heißt der zweite.

Er ist unschuldig wie eine Landsknechthure. Damit sie ihr gottverfluchtes Leben leben können, pressen sie die Christgläubigen mit Abgaben und Steuern. Zieht nicht auch bei euch in den Katen und Dünen der Pfaff mit dem Klingelbeutel herum und fordert den Zehnten, indem er sich auf Gottes Wort und die Bibel beruft? Werft ihm die Bibel an den Kopf. Was braucht ihr die Bibel, wenn sie zulässt, dass solchen Ungeistes Kinder sich auf sie berufen? Als ihr die Bibel noch nicht hattet, Friesen, da tönte Gottes Wort euch milder und reiner im Sausen der Winde, im Sturm der See. Kein hässlicher Gott, der gewunden am Kreuze hing, mit verzerrten Gliedmaßen, drückte euch. Freia, die Göttin der Schönheit, kam auf einem Delphin über das Meer geschwommen und segnete euch! Wehr- und hilflos ließ sich der Christ ans Kreuz nageln, desgleichen verlangen die heuchlerischen Pfaffen von euch. Sie wollen euch ans Kreuz von tausend Verträgen und Edikten nageln, um euch besser und sicherer schröpfen zu können. Meint ihr, dass es beim Zehnten bleibt? Den Dritten, die Hälfte werden sie fordern, und eure Weiber und Töchter werden sie im Beichtstuhl verderben mit römischem Laster und gallischer Sünde. Noch lebt Wodan, der Schlachtengott! Noch lebt Thor! Er schwingt den Streithammer und wird zerschmettern, die sich gegen ihn stellen. Nieder mit den Pfaffen! Nieder mit Rom! Wir wollen freie Friesen sein!

Frei ist der Mensch! Frei ist die See!

Die Gesichter der Friesen flackerten erregt wie rote Fackeln. Sie klirrten mit den Sensen, Messern, Keulen aneinander:

Frei ist der Mensch! Frei ist die See!
Der Doktor aber fuhr fort:

Nun aber haben die Pfaffen eine Einrichtung erfunden, die würdig wäre der Erfindung des obersten, blutgierigsten Teufels.

Die Inquisition! riefen einige.

Ja: es ist die Inquisition, das grauenvollste Marterinstrument, das eines Menschen Hirn ersonnen! Wer nicht ihres rechten Glaubens ist, wie sie ihn verstehen, den spannen sie auf die Folter, hacken ihm die Hände oder Füße ab, legen ihm Daumenschrauben an, reißen ihm die Zunge mit glühendem Eisen aus dem Maul, schneiden ihm lebendigen Leibes das Herz aus der Brust. Einem Ketzer darf man kein Almosen spenden. Das Haus, darin man ihn findet, muss niedergebrochen werden. Verbrecher, Meineidige, Ehrlose dürfen wider ihn zeugen. Die gegenseitige Spitzelei und Denunziation wird den Christen zur Pflicht gemacht. Warum denn dies alles, meine Brüder?

Ich will es euch sagen: aus christlicher Nächstenliebe tun sie das alles ihren Mitmenschen und Mitkreaturen an.

Das Gebrüll der Friesen erschütterte die Luft. Sie schrien wie Tiere in der Brunft und röhrten wie Hirsche.

Der Papst, der solches zum Gesetz erhob, er ist der in der Offenbarung Johannis beschriebene Antichrist. Es sind Albigenser und Waldenser zu euch gekommen, sie haben euch berichtet, wie das Schwert der Pfaffen bei ihnen gehaust. Wahrlich: der Boden Frankreichs ist rot vom Blut der Gerechten. Kein Korn wird auf ihm mehr wachsen, nur Rade und Mohn. Es ist genug und übergenug des Mordens. Wir wollen der reißenden Wölfe Herr werden. Ich sage euch mit Paulus: Leget die Rüstung Gottes an, dass ihr an bösen Tagen Widerstand leisten und, in allem unbesiegt, das Feld behaupten möget.

In die Lichtung setzte plötzlich mit einem Galoppsprung der Bischof von Bremen, der sich auf der Jagd befand, bei ihm ein Knecht. Ehe er wusste, wie ihm geschah, war er von den Friesen eingeschlossen. Schweigend standen sie um ihn herum, die Äxte, Sensen, Messer funkelten in ihren Händen.

Herunter vom Pferd! schrie Störtebecker.

Der Bischof gehorchte.

Störtebecker gab dem Pferd einen Schlag mit der Hand. Es lief ein paar Schritte und begann ruhig zu äsen.

Ihr seid der Bischof Ortleb von Bremen?
Ich bin’s, der Bischof neigte das Haupt.
Ihr habt Euch als Inquisitor des Papstes in Rom bestellen lassen?
Der Bischof nickte schweigend mit dem Kopf.
Durch die Friesen ging ein Murren.

Ihr lasst von den Bauern durch Eure Pfaffen den Zehnten eintreiben. Wer gab Euch ein Recht dazu?

Das Gesetz. Ich gab den Bauern das Land, sie haben mir dafür zu zahlen und zu steuern.

Ei, sieh da: Ihr gabt den Bauern das Land? Warum? Weil Ihr dazumal Kriegsknechte brauchtet. Habt Ihr auch das Land gesehen, dass Ihr den Bauern gabt? Sand, öder Sand war das Land, auf dem nur die Stranddistel wucherte. Die See kam alle Augenblicke und schluckte ein, was monatelange Arbeit dem Boden abgerungen. Jahrzehntelang haben die Friesen geschuftet und gewerkt, haben Dünen gebaut und Straßen gebaut, von denen auch Ihr Nutzen habt. Und nun, da die Arbeit ihre Früchte zu tragen beginnt: nun seid Ihr plötzlich zur Stelle, neidisch und hoffärtig, und wollt ernten, wo sie gesät haben.

Der Bischof schwieg.

Nie werdet Ihr von uns auch nur einen Pfennig erhalten.
Die Friesen schrien: Nie! nie! nie!

Der Bischof erhob seine Stimme. Er sprach sehr leise, aber er knirschte mit den Zähnen. Ich werde die Reichsexekution gegen euch beantragen.

Die Woge ging hoch. Störtebecker hatte Mühe, sie zu besänftigen.

Herr Bischof: Ist es wahr, was uns berichtet wurde: dass Ihr unserem Bruder Hinrichsen das Bußhemd angezogen, dass Ihr ihn mit dem Strauchbesen habt geißeln lassen, dass Ihr ihn bei lebendigem Leibe habt die Gedärme aus dem Leibe wringen und winden lassen – als einen Ketzer und widerspenstigen Rebellen?

Der Bischof war leichenblass geworden. Er schwieg.

Es ist wahr, schrie Störtebecker, denn – und seine Stimme schlug über, und Tränen traten ihm in die Augen – ich habe es mit eigenen Augen ansehen müssen. Ihr seid des gleichen Schicksals tausend- und abertausendmal schuldig.

Schuldig, schuldig, schuldig, gab das Echo der Friesen.

Der Bischof fiel winselnd in die Knie. Er jaulte wie ein junger Hund.
Schont meines Lebens!

Ihr werdet uns sogleich einen Ablass erteilen von dreihundertfünfundsechzig Tagen und Ablass von allem, was wir euch noch antun werden. Segne uns mit dem kirchlichen Segen, oder wir tun dir das an, was du so vielen angetan.

Der Inquisitor wimmerte. Er breitete die dürren Arme: Ich segne euch!

Tritt an diesen Stein. Es ist der Opferstein Wodans, bete zu Wodan! Du bist ein Friese aus dem Geschlecht der Stadinger! Du hast deinen friesischen Gott verraten um den römischen Gott. Knie nieder. Bete zu Wodan!

Der Bischof blieb stehen. Er rührte sich nicht.

Da sprangen von hinten einige und stießen ihn, dass er mit dem Kopf auf den Stein schlug. Andere schichteten aus Reisig und kleinen Holzstämmen einen Scheiterhaufen. Sie banden den Ohnmächtigen an einen jungen Birkenstamm, die Arme gebreitet, dass er stand wie der Gekreuzigte. Dann zündeten sie die Flamme an. Es war Dämmerung geworden. Die Flamme schlug in die Nacht. Sie standen, Hand in Hand verschlungen, im Kreis um den Scheiterhaufen und sangen:

Flamme empor!
Frei ist der Friese geboren!
Mensch ist zum Menschen erkoren.
Sünder in Sünde verloren,
Segne uns, Thor!

Sie lagen in der Heide.

Hummeln und Wespen brummten um die violetten Blüten des Heidekrautes.

Calluna vulgaris, sagte Binswanger und bog einen Büschel Blüten zu sich heran. Er schnüffelte wie ein Hund. Er erinnerte sich seiner botanischen Studien auf der hohen Schule von Helmstedt. Niedrige, verästelte und sehr gesellig wachsende Sträucher mit anliegenden, fast schuppenförmigen Blättern, winkel- oder an kurzen Zweigen endständigen Blüten, deren Kelch länger als die Blumenkrone ist, und vierfächeriger Kapsel.

Da weißt du was Rechtes.

Anke blinzelte wie ein träger Vogel, der ein heißes Sandbad nimmt, in die Sonne. Die andern lagen da und dort: die grünen, roten, gelben Wämse hoben sich aus der graugrünen Fläche wie riesige Blumen. Störtebecker lag auf einem Heidegrab und sah auf sie hernieder. Die Köpfe hatten sie tief im Heidekraut vergraben.

Ihr seht wie Geköpfte aus. Fühlt mal an euren Hals, ob ihr euren Kopf noch habt.

Töllessen in seinem roten Wams warf sich mit einem Ruck herum.

Sei so gut, ja.

Brandes lag auf dem Bauch, fraß Erde, spuckte sie wieder aus.

Binswanger: Ich brauch‘ die Erde gar nicht erst in den Mund zu nehmen: ich weiß, dass sie stark quarzhaltig ist. Ich weiß. Es kommt auf das Wissen an.

Brandes rollte sich wie eine schlecht geteerte Tonne zu ihm heran. Er stank. Er zog sein Messer und setzte es ihm an den zarten mädchenhaften Hals:

Darauf kommt es an. Auf das Können.

Ohne dass die andern es bemerkten, war Anke wie eine braune Eidechse zu Störtebecker auf den Hügel geschlichen. Er riss sie an ihren Zöpfen zu sich heran.

Sie lagen stumm.
Die Sonne brannte.
Die Hummeln und Bienen sangen.

Hier unten liegt ein Toter, sagte Anke, und wir lieben uns.

Ja, sagte Störtebecker, darauf kommt es an: auf das Sein.

Sein oder Nichtsein, das ist mir gleich, wenn ich nur mit dir bin, wenn du bist, und wenn ich mit dir nicht bin, wenn du nicht bist.

Sie schwiegen und versanken im Heidekraut. Störtebecker spielte mit einem Zweig.

Die Leute machen Besen aus diesen Zweigen und Ästen. Ich werde mir einen sauberen Besen in dieser Heide schneiden und das feiste Gesindel in Hamburg aus den Toren herauspeitschen.

Anke glühte:

Ja, das wirst du tun! Peitsche sie! Peitsche sie! Du musst sie nackt aus der Stadt herauspeitschen: die zarten Herrchen und die feinen Fräulein, die so viel Kinder vor der Zeit aus ihrem Leibe trieben, dass sie keine Brüste mehr haben, nur Lappen, und die wie Säue alle vierzehn Tage bluten. Komm, ich helfe dir den Besen schneiden!

Sie strich sich das Haar aus der Stirn und warf die Zöpfe über die Schulter. Dann sprang sie auf.

Die Sonne schwebte dicht über dem Horizont. Der Heidenebel stieg, und sie sah wie eine rote Laterne aus.

Störtebecker hörte ein Knurren aus der Kute unterhalb seines Hügels.

Ein Wolf! sagte Töllessen.
Sie umstellten die Kute.

Da brach das Tier auch schon aus dem Gehölz, sprang Binswanger mit einem mächtigen Satz an, dass er umfiel, und war in der Heide verschwunden.

Lupus in fabula, sagte Binswanger.
Anke lachte, dass ihr die Tränen herunterliefen.
Störtebecker lächelte:

Ein Schäferhund! Da können die Schafe nicht allzu weit sein, zu deren Schur wir bestellt sind. Vorwärts!

Die Lichter von Lüneburg glänzten durch die Nacht.

Ich freue mich, mal wieder ein Wasser zu sehen, und wenn’s auch die Ilmenau ist, grinste Töllessen.

Wie ist das mit dem Lüneburger Silberschatz, Klaus? Anke hängte sich an ihn wie ein Schwertgehenk. Sind auch Ketten darunter, um den Hals zu tragen?

Störtebecker brummte:

Halt dein Maul. Du bist schön genug, so wie du bist. Ja: es sind auch Ketten unter dem Silberschatz. Und wir tun gut, uns vorzusehn, dass man uns nicht darein schlägt, in diese Ketten, die wir zerbrechen wollen.

Brandes fluchte:

Ich habe einen gottverdammten Hunger.

Störtebecker:

Wart bis Lüneburg. Kannst dich an Lüneburger Brinken satt fressen.

Waldemar ließ sich mit kleinem Gefolge in mehreren Handschlitten über das Eis fahren. Die Ostwinde pfiffen. Sein rissiges Gesicht lief blau an.

Er schrie schon von weitem:
Wo ist der Hauptmann?

Störtebecker trat an die Reling des eingefrorenen Schiffes:
Was wünscht Ihr, Herr?
Seid Ihr’s, Herr?
Der Hauptmann? Ich bin’s.

Waldemar sprang aus dem Schlitten und schnaufte aufgeregt. Er warf die Arme nach oben wie eine Eidergans vorm Aufstieg die Flügel.

Ich biete Euch ein Bündnis, Herr, gegen die lübischen und hanseatischen Lumpen. Eine Konföderation haben sie gegen mich geschlossen. Sollte man’s glauben. Und das heilige Köln, sancta Colonia, muss natürlich auch dabei sein. Sanctae romanae ecclesiae fidelis filia. Ich habe meinen Schreiber und Notar mitgebracht. Gehen wir an die Festsetzung der Statuten: Punkt eins, zwei, drei.

Ein klapperndes Männchen kroch aus dem zweiten Schlitten.

Störtebecker lachte:

Wer seid Ihr denn, Herr? Verzeiht meine neugierige Frage.

Waldemars blaues Gesicht wandelte sich stolz wieder ins Rosige. Er nahm seine Pelzkappe ab, unter der sein Kopf trotz der grimmigen Kälte schwitzte. Er schwieg, aber unvermutet schrie er plötzlich:

Waldemar! Ich bin König Waldemar!
Matrosen ließen ein Fallreep vom Reling.

Er kroch mühselig daran empor wie ein dicker Käfer. Der Notar hinter ihm: eine zierliche Spinne.

Kaum oben angelangt, schrie der König grob: Was soll nun werden? He?

Ihr seid mit Euren Schiffen und Euren Gedanken eingefroren?

Störtebecker wies ihm den Weg in die geheizte Kajüte:

Trinkt erst mal einen heißen Grog, Herr. Werden uns schon einigen, Herr. Weil wir nämlich müssen, Herr. Mit Eurer Königlichen Majestät Autorität ist das so eine Sache. Wollen uns nichts vormachen. Auf den Straßen von Kopenhagen laufen die Kinder Euch nach: verzeiht: wie einem Jahrmarktsgaukler.

Der dicke König sah sich hilflos um. Er fiel wie eine Qualle, die zur Ebbe auf Strand geriet, in sich zusammen.

Wer ist daran schuld? Ganz plötzlich schoss er wieder diese Worte heraus, wie Bolzen von der Armbrust. Ich will Euch sagen: Der Papist. Der Bischof von Roskilde. Predigt im Dom wider mich, der ich ein christlicher Fürst bin, dass es eine Schande ist. Beuge ich das Recht – wie er? Martere ich Menschen – wie die Inquisition? Tue ich Unrecht? Hure ich? Ich fresse und saufe gern. Ist das unchristlich?

Er hob sein Glas und goss es hinunter.
Störtebecker winkte.

Man trug zum Essen auf. Kiebitzeier, gebratene Enten. Einen Schweinskopf in Himbeersauce. Dem König lief das Fett zu den Mundwinkeln heraus.

Der kleine Schreiber krähte fröhlich.

Störtebecker geleitete den König an das Fallreep, der sich vor Aufregung in den Seilen verhaspelte.

Auf dem Eise angekommen, schrie er noch nach oben, die Hände hohl an den Mund gelegt:

Nichts für ungut!

Die Schlitten glitten über die Watten.
Schnee fiel.
In einer Schneewolke war der König verschwunden.
Störtebecker wandte sich.
Er ging in seine Kajüte.
Sein gefurchtes Gesicht fiel schwer auf die Tischkante.
Anke fand ihn so.
Klaus?
Er antwortete nicht.
Leise verließ sie ihn wieder.

Der weiße Pilger sprach:

Kennt Ihr den Edelmann Rosenkreuz? Störtebecker machte eine abwehrende Handbewegung.

Ich kenne keinen Edelmann Rosenkreuz. Möchte ihn auch nicht kennenlernen. Hab‘ keine Sehnsucht nach Edelleuten. Wird wohl ein Jud sein, der Edelmann.

Der Pilger sprach leise und vorsichtig wie zu sich selbst, als wolle er sich selber besänftigen:

Was habt Ihr gegen die Edelleute und gegen die Juden?

Die Edelleute sind Straßenräuber und Raubritter. Sie fallen Euch draußen vor den Toren an, wenn Ihr kein Schwert habt, Euch ihrer zu wehren. Und die Juden betrügen und berauben Euch, wenn Ihr in den Städten seid, kein Geld mehr habt, eine goldene Kette oder ein samtenes gesticktes Wams versetzen müsst.

Der Pilger sprach leise:

Überlegt, ob das nicht Eure Schuld ist, wenn man Euch überfällt und betrügt. Wozu geht Ihr vor die Stadt mit Edelsteinen im Beutel und ein Schwert an der Seite? Warum besitzt Ihr eine goldene Kette, wenn Ihr sie nicht entbehren könnt? Man besitzt nur das, was man entbehren kann. Man lebt nur im Angesicht des Todes.

Herrgott, schrie Störtebecker, gibt es keine Gerechtigkeit!

Doch, sänftigte der weiße Pilger, doch, und sein blaues Auge strahlte: aber es ist nicht Eure Gerechtigkeit. Seht nur auf Euch und tut nur das Eure. Was die andern tun, was kümmert’s Euch? Habt Ihr ein Recht, von irgendjemand etwas zu fordern: im Guten oder Bösen?

Ich will den Menschen helfen!

Helfen! Helfen! Der weiße Pilger warf das Wort wie ein Echo zurück. Das Wort ist sehr groß, das du sprichst. Vielleicht kannst du ihnen gar nicht helfen. Vielleicht ist die Kunst, die du gelernt, von der Art wie die Kunst des Drachentötens, die jemand vier Jahre lernte. Und als er ausgelernt hatte, da fand er keine Gelegenheit, sie anzuwenden. Denn es gab keine Drachen. Und in seiner Wut, dass es keine Drachen gab, begann er Menschen zu töten. Vielleicht seid Ihr von dieser Art?

Störtebecker stöhnte.

Ja, ich bin ausgezogen, den Drachen zu töten. Aber er hat mich angeblasen mit Feuer und Schwefel, dass ich schier betäubt wurde.

Und Ihr habt Menschen getötet?
Sie haben den Drachen geschützt.
Und was habt Ihr gewonnen?
Hass, Hass, Hass – gegen Sie – und gegen mich.

Störtebecker verbarg seinen buschigen Kopf in zuckende Hände.
Vom Hass bis zur Liebe ist der Weg nicht weit.

Der Pilger strich Störtebecker ganz leise über den Hinterkopf. Dem war, als ob ein Vogelflügel ihn berühre.

Als er aufsah, war der weiße Pilger verschwunden.

Er saß in seiner Kammer am offenen Fenster und sah einem Kranichzug nach, der über die Stadt strich.

Da hörte er dumpfe Schritte die Treppe herauftappen, die vor seiner Tür haltmachten.

Blitzschnell drehte er sich herum, zog sein Dolchmesser und stellte sich hinter die Tür, die nach innen aufging.

Er lachte und warf sein Messer zu Boden.

Töllessen – Bruder – wie hast du mich ausfindig gemacht?

Töllessen standen die Tränen in den Augen wie einem dreizehnjährigen Mädchen, das nach langer Trennung die Mutter wiedersieht.

Störtebecker schüttelte ihn wie ein Bündel Kleider.

Komm, wir gehen in die Schenkstube. Eine Flasche Malvasier soll uns nicht zu schlecht sein für dieses Wiedersehen.

Töllessen schüttelte den Kopf.

Laß, Kapitän. Ich habe mit dir zu sprechen. Ernsthaft zu sprechen.

Störtebecker warf sich auf seine Matratze. Töllessen stand jetzt am Fenster. Die Kraniche waren nur wie Punkte noch zu sehen.

Störtebecker: Sprich, Hans.

Klaus, Töllessen würgte, Klaus, du darfst uns nicht verlassen.
Er fiel vor ihm in die Knie.

Die Schweißhunde sind uns auf den Fersen. Ihr Gebell tönt immer rauer. Und das Triumphgeschrei der Jäger schallt zu uns: Sie haben keinen Führer mehr. Störtebecker ist geflohen. Er hat sie im Stich gelassen.

Störtebecker schloss die Augen. Er sprach ganz leise. Es klang, wie eine Hummel summt:

Hans, du weißt, weshalb ich von euch ging. Die Schlacht gegen die Seehunde kann ich nicht vergessen. Ich habe ehrlich gekämpft: Mann gegen Mann: ich habe niemand den Dolch in den Nacken gestoßen, der mir nicht das gleiche getan hätte, wenn ich nicht flinker war als er. Aber jene Schlacht, jenes Schlachten wehrloser Tiere: ich kann es nicht vergessen, Hans!

Wir hatten acht Wochen kein Gefecht gehabt, Klaus: da kam es über uns. Ich begreife es heute nicht mehr. Mir selbst möchte ich ins Gesicht speien dafür. Glaub mir, Klaus. Verzeih uns! Verzeih mir! Die Mannschaft lässt dich um Vergebung bitten. Wir sind verloren, wenn du uns nicht hilfst. Brandes ist verwirrt und weiß nicht, was er tun soll. Er kreuzt unruhig mit einer Galeone und sechs Karavellen vor Jütland. Wir haben an der Galeone eine neue Galeonsfigur angebracht, Klaus. Der Widderkopf ist uns in einem Gefecht mit den Dänen abgeschossen worden.

Der Widder abgeschossen? Ein böses Zeichen.

Störtebecker hielt noch immer die Augen geschlossen.

Claudius hat eine neue Galeonsfigur geschnitzt: aus einem Stück Fockenmast von einer dänischen Brigg: deinen Kopf, Klaus. Du bist immer bei uns gewesen, Klaus.

Wenn ihr meinen Kopf habt, was braucht ihr da den ganzen Leib? Laßt’s euch genügen an dem, was ihr habt.

Klaus: es geht ein Gerücht –
Es gehen viele Gerüchte –
Du habest dich zu unsern Feinden geschlagen.

Er schwieg und sah durch die Wimpern wie durch einen Schleier zu Störtebecker.

Störtebecker öffnete die Augen weit.
Er setzte sich auf den Bettrand und lachte.

Eine sonderbare Methode habt ihr, meine Kameradschaft wiederzugewinnen.

Töllessen: Ich will dir den Grund des Gerüchtes sagen: Sita, die Tochter des Senators Stollenweber, unseres erbittertsten Feindes –

Was ist mit ihr?

Sie ist auf dem Orlogschiff der Hamburger Flotte, die gegen uns ausgeschickt ist. Ja, man sagt, sie, das Weib, führe den Oberbefehl über die Flotte der Hansa. Es ist ein albernes, ein kindisches Gerücht, aber ich erzähle es dir, Klaus, weil es dich interessieren könnte –

Töllessen lauerte.

Störtebecker war mit einem Schritt neben ihm am Fenster. Der Kranichzug war verschwunden. Die Dämmerung stieg wie Nebel aus den Straßen. Er dachte laut: Sie sucht mich.

Sie soll mich nicht umsonst suchen. Dann zu Töllessen: Ich bin der eure, Hans. Topp. Führe mich zu den Meinen.

Töllessen glänzte speckig vor Freude.

Ein Boot wartet an der Außenelbe. Komm, Kapitän.

Die Brigg drehte bei.

Mit singenden Segeln schoss die feindliche Fregatte auf das Admiralsschiff der Likedeeler zu und rammte es seitwärts.

Enterhaken krallten sich wie Geier ins Strauchwerk der Taue.

Kleine Schiffsbrücken sprangen wie böse Hunde von einem zum andern Schiff und bissen sich in den hölzernen Bohlen fest.

Einen Morgenstern in der zarten Faust, sprang Sita als erste auf das Admiralsschiff. Aus dem eisernen Helm rann das blonde Haar in Strähnen und Strömen.

Die Brust tanzte unter dem Panzer.

Am Mastbaum stand Störtebecker, den Degen in der rechten, die rote Fahne in der linken Hand.

Vom Hals tropfte über das schwarze Halstuch Blut.

Sita schrie:

Likedeeler! Likedeeler! Ihr Gleichmacher! Der Tod wird euch alle gleichmachen! Und wird es gleich machen! Ihr Stromer! Vom Strom des Lebens rettungslos in das wüste Meer getrieben! Ihr Stürmer! mit denen der Sturm spielt! Mors wird euch Mores lehren! Du wirst nicht mehr den Becher stürzen, Becherstürzer, Störtebecker, und das Blut deiner Feinde saufen, du Blutsäufer! Wo ist dein riesiger goldener Pokal? Ich will dein Blut auffangen und in der Marienkirche in Hamburg zum entsetzlichen Gedächtnis aufstellen, dass Zehntausende das Kreuz davor schlagen, wenn der Teufel es wieder zum Wallen bringt.

Dröhnend lachte Störtebecker:

Mädchen, Mädchen! Jungfrau oder Hure: wer du seist: Dieses Blut ist unsterblich! Ewig wird es in den Venen der Menschheit rasen. Es ist das Blut, das Luzifer den Engeln abzapfte, ehe er sich von ihnen wandte. Und solch ein Engel scheinst auch du zu sein, du Blasse, Bleichsüchtige! Es ist das Blut des Gottestrotzes, es rann in Prometheus‘ Adern, als er den Göttern das Feuer stahl, um es den Menschen zu bringen. Es ist das Blut, mit dem meine rote Fahne getränkt ist: denn diese Fahne habe ich getränkt mit dem Blut meiner Brüder, die gefallen sind, damit auferstehe eine ehrliche, kühne, wahre Menschheit. Ich komme als Hüterin des heiligen weißen Grals –

Der Gral: das ist der Goldschatz der reichen Hamburger, erpresst aus dem Blut der dienenden Sklaven und Knechte. Ihr schreit Gral und Gott: und meint Gold und Prozente.

Da hob sie die Keule und schlug sie ihm auf die Stirn, dass er zusammenklappte. Aber im Fallen noch stieß er ihr den Degen von unten in die Brust.

Sie sanken wie in einer Umarmung zusammen.

Ihr Helm kollerte über das Deck. Blond rann ihr Haar in sein schwarzes. Und beider Blut floss ineinander.

Als Störtebecker erwachte, schrie er:

Wo ist das Mädchen?

Er konnte seine Augen nur halb öffnen, so waren sie von Schweiß und Blut verklebt.

Klaus Toelen, der Wundarzt, saß bei ihm.

Ihr habt ihr nur zwischen zwei Rippen zart die Lunge gekitzelt. Sie lebt. Sie liegt in der Kajüte nebenan. Anke Hansen ist bei ihr.

Störtebecker schloss die Augen.
Das Schiff ging auf und nieder.

Und ihm schien, als schritte auf den Wogen des Meeres jenes Mädchen in einem weißen Hemd, in der Linken eine weiße Fahne, in der Rechten eine Lilie.

Die Augen noch geschlossen, verzog er grinsend das Gesicht.

Der Teufel. Der Gott. Was für alberne Gesichter zaubert mir das Fieber. Jenes Mädchen schlägt mir mit einem sauberen handfesten Morgenstern fast den Schädel ein, und ich sehe auf einmal eine Blume in ihrer Hand. Vielleicht habe ich ihr gar nicht mit meinem Degen eins ausgewischt, sondern mit einem Fliegenwedel eine spanische Fliege von ihrer zarten Brust verscheucht. Hat man ihr das Panzerhemd abgenommen? Ich habe Sehnsucht, diese Brust, die mein Degen gespalten, mit meiner Hand wieder zusammenzufügen.

Klaus Toelen lächelte:

Es fehlte noch, dass Ihr Euch in die Amazone vergafftet.

Bockemühl trat durch die Kabinentür.

Ich bin dafür, sie an ihren blonden Strähnen am Mastbaum aufzuhängen. Weib hin, Weib her, sie ist unser Feind.

Toelen zupfte an seinem gelben Spitzbart.

Wir haben ein gutes Pfand an ihr. Sie ist die Tochter des Senators Stollenweber in Hamburg. Hamburg wird einige Tonnen Dukaten springen lassen, wenn wir sie ihm heil wieder zuschicken.

Bockemühl brummte:

Damit uns nach fünf Wochen wieder eine Laus im Pelz sitzt? Sie ist ein verdammtes Weibsstück. Ich habe allen Respekt vor ihr, und gerade darum will ich sie aufhängen. Irgend eine gleichgültige Hure könnte man laufen lassen.

Störtebecker versuchte, die Augen ganz aufzureißen.

Er hatte eine Binde um den Schädel und um den Hals.

Er erhob sich, Toelen stützte ihn.
Er stapfte einige Schritte. Strauchelte und fiel an die Tür.
Griff wie Simson nach links und nach rechts an die Pfosten.
Und stampfte und schwankte bis in die Nebenkajüte.
Anke saß am Fußende und spielte mit Sitas Füßen.
Sie küsste ihre Zehen, einen nach dem andern.

Sie gab ihnen Namen: nannte die große Zehe Grete, die kleine Anna und so fort und sagte: Ich liebe Grete, ich liebe Anna, ich liebe alle, alle.

Ich liebe die große Zehe, ich liebe die kleine Zehe. Ich liebe alle Zehen.
Ich liebe Klaus Toelen. Ich liebe Bockemühl. Ich liebe Störtebecker –

Störtebecker stand im Türrahmen.
Das Schiff schwankte.
Er hielt sich links und rechts am Holz fest. Anke Hansen schwieg.
Sie ließ die Füße Sitas fahren.
Sita schlief.

Ruhig atmeten unter dem groben Leinwandhemd, das man ihr angezogen hatte, ihre kleinen Brüste.

Störtebecker ging ein paar Schritte vorwärts. Geh, er versuchte seiner rauhen Stimme einen zarten Klang zu geben, geh, Anke, laß mich allein mit dem Mädchen.

Er setzte sich auf die Pritsche und betrachtete die Schlafende.
Er saß eine Stunde unbeweglich.
Da erwachte Sita, sah ihn groß an, schloss die Augen und schlief weiter.
Er räusperte sich.
Sie erwachte.

Warum lässt Ihr mich nicht schlafen? Es ist mein einziges Gut. Ich kann mir vorstellen, dass ich im Sterben liege. Warum tötet Ihr mich nicht?

Störtebecker schwieg. Dann:

Bockemühl schlug vor, Euch aufzuhängen.
Sita sah ihn fragend an:
Und –? warum tut Ihr es nicht?
Störtebecker hielt ihren Blick.
Vielleicht könntet Ihr mir noch einige Dienste erweisen?

Sita lächelte:

Ich? Dienste? Wodurch? Wenn Ihr mich freiließet, wäre es mein erstes, eine neue Flotte gegen Euch auszurüsten, denn ich würde es nicht ertragen, dass mein erster Anschlag misslang. Ihr werdet Euch wundern, wenn ich Euch ganz ruhig sage, dass ich Euch hasse. Weil Ihr die Stärke seid und ich die Schwäche. Weil Ihr ein Mann seid und ich ein Weib. Ja: darum hasse ich Euch und bin bestrebt, Euch zu vernichten.

Störtebecker:

Ihr sprecht wie ein Professor der Beredsamkeit oder Moralwissenschaft. All das ist müßig: Ihr seid in meiner Gewalt, und ich tue mit Euch, was ich will.

Zweifellos. Es wäre töricht, wenn Ihr das nicht tätet.

Störtebecker zupfte sich an seinen über der Stirn zusammengewachsenen Augenbrauen: Wieviel Lösegeld, glaubt Ihr, würde Euer Vater zahlen, wenn ich Euch ihm heimschickte?

Blut schoss in ihre blasse Stirne.

Ich weigere mich, einem solchen schimpflichen Handel als Objekt zu dienen. Er kann mit dem Gold, das Ihr verlangen würdet, eine ganze Flotte gegen Euch rüsten. Was tut’s, wenn ich draufgehe? Ich habe mich in St. Nicolai dem Dienst Gottes gewidmet. Und weil Ihr der Teufel in eigener Person seid, kämpfe ich gegen Euch: mit den reinsten Waffen und dem reinsten Herzen.

Dem reinsten Herzen?

Störtebecker lachte.

Ist Euch noch nie ein Gelüst nach einem Manne gekommen? He? Zum Beispiel jetzt nach mir? Ich kann nicht leugnen, dass die zarte Brust, die unter dem rauhen Hemd so sanft sich bewegt, mich reizt, sie zu packen und die Narbe zu küssen, die ich ihr schlug.

Sita schwieg.
Sie schlug das Kreuz über ihrer Brust.
Nun – nun –

Er grinste.

Auch wir haben unser Kreuz zu tragen. Aber wir sind keine Christen. Nein. Denn wir wollen das Kreuz, das Ihr und Euresgleichen uns auferlegt, von uns werfen und in der Johannisnacht unseres Gottes verbrennen. Ja, schrie er, und seine Stimme schlug über, ich glaube nicht an Euren schamlosen, duldenden, kriechenden Christengott: ich glaube an den heidnischen Donnergott Perkun, der seine Feinde mit seinem silbernen Blitzschwert zerschmettert. Ich glaube an Wodan. Und, schrie er, ich glaube an die Walküren. Liegt nicht leibhaftig hier eine vor mir? Wehrt Euch, soviel Ihr wollt: Ihr seid eines Blutes mit mir, seitdem auf dem Deck des Schlachtschiffes unser Blut ineinanderfloss. Vereinigt Euch mit mir, so werde ich unüberwindlich sein, und auf dem St. Nikolaiturm in Hamburg wird die rote Fahne wehen. Wir werden den Gekreuzigten von seinem Kreuz reißen, mit seinem Kreuz Feuer machen, in dem Weihwasser unsere blutbefleckten Hände reinigen und an seinem Altar dem einzigen Gott opfern, dem es wert ist, ein Opfer zu bringen: dem lebendigen Leben.

Er stand mit gebogenen Knien in der Kajüte. Das Schiff schwankte.

Die Binde um seine Stirn rötete sich mit frischem Blut.

Sita hatte sich halb aufgerichtet; sie stützte sich mit der Rechten und warf die Linke gegen ihn wie ein Pfeil:

Apage, Satanas!
Ihm wurde rot vor den Augen.
Schwindel packte ihn.
Er fiel vor ihr zusammen.

Sie setzten Störtebecker in einen eisernen Käfig und fuhren ihn im Triumph durch die Stadt.

Er saß darin wie ein Adler in der Gefangenschaft, stolz und schweigsam.

Die Kinder in den Straßen warfen Pferdedreck nach ihm, der ihm im Barte hängen blieb.

Die Frauen spieen ihm ins Gesicht. Du Mörder unserer Männer! unseres Glückes!

Du Bastard eines Stinktieres und einer Hyäne! Wo ist jetzt dein Hochmut? He?

Man wird dir die Gedärme aus dem Leibe wringen und dich daran aufhängen.

Mit der Zange wird man dir das Herz aus dem Bauche zwacken und es in dein Maul hängen.

Der Käfig wurde acht Tage am Pranger der St. Nikolaikirche aufgehängt.

Es regnete unaufhörlich.

Die vom Kampf ramponierten Kleider und Stiefel wurden ihm vom Leibe geschwemmt.

Schon am fünften Tage stand er nackt im Käfig.
Seine breite braune Brust atmete dem Himmel entgegen.
In einer Nacht begann der Regen nachzulassen.
Plötzlich setzte er ganz aus.
Es war eine undurchdringliche Finsternis. Plötzlich erklang eine Stimme:
Störtebecker!

Störtebecker lauschte.

Störtebecker!

Die Stimme klang wie im Gebet.

Störtebecker gab Antwort: Wer ruft mich?

Fragt mich nicht nach dem Wer. Wer ist wer? Was ist was? Das Dunkel ruft Euch. Die Nacht. Ich liebe Euch.

Wer liebt mich? Ich werde nur gehasst.

Ein Mensch liebt Euch. Wenn nur ein Mensch Euch liebt: so seid Ihr gerettet.

Niemand vermag mich zu retten.
Doch: Ihr selbst.
Wodurch?
Durch den Glauben.
An wen?
An mich!
Wer bist du?
Die Liebe.
Die Liebe ist ein abstractum.
Ich bin ein Mensch, der liebt.

Ihr täuscht Euch, Ihr habt Mitleid mit mir, weil ich hier hänge in Sturm und Regen.

Ich habe kein Mitleid mit Euch. Ich kann nicht mit Euch leiden, weil Ihr nicht leidet.

Woher wisst Ihr das?
Ich fühle es.
So müsst Ihr lieben: in der Tat.

Ja: in der Tat will ich Euch lieben. Ich will Euch befreien.

Ihr könnt mich aus dem Käfig befreien, vielleicht, wenn Ihr Leiter, Feile und Hammer habt. Aus dem Käfig meines Hirns und meines Willens befreit mich kein Mensch. –

Kein Gott?
Kein Gott und kein Teufel. –

Man setzte eine Leiter an den Stein des Turms. Jemand kletterte empor.

Feilen. Sägen. Leises Hämmern.
Das Gitter brach.
Sita stand im Käfig.

Sie riss sich den Mantel und das Hemd vom Leibe und warf sich nackt dem Nackten an die Brust.

Sie sprachen kein Wort mehr.
Sie standen tief umschlungen, bis der Morgen graute.
Da löste sich Sita aus seinen Armen.
Du folgst mir nicht? Ein Boot liegt an der nächsten Twiete.
Ich habe Kleider und – – –
Störtebecker schüttelte den Kopf.

Was soll’s? Die Brüder sind mir erschlagen. Mein Herz schlägt nur langsam noch. Ich bin müde. Zur neuen Tat nicht mehr fähig. Es werden andere kommen, die rote Fahne aus dem Staub zu holen, in den wir Ahnungslosen selbst sie getreten.

Sie stieg die Leiter hinunter. Warf Leiter, Feile, Hammer ins Wasser.

Noch einmal wandte sie den Kopf. Um seine Stirne spielten schon die ersten Strahlen der aufsteigenden Sonne wie silberne Wellen.

Die Aufregung in der Bürgerschaft war groß, als man entdeckte, dass der Käfig Störtebeckers durchgefeilt war. Noch größer aber die Verwunderung, dass Störtebecker nicht geflohen war.

Der Henker warf ihm das rote Hemd der Mörder und Verbrecher über. Die Hände auf dem Rücken gefesselt, schritt er inmitten der Wache, die mit ihren Spießen das Volk abwehrte, ihn zu lynchen. Er schritt aufrecht und fest zum Richtplatz, obgleich er zehn Tage keinerlei Speise zu sich genommen.

Der Richtplatz war von einer schwarzen wimmelnden und murmelnden Menge erfüllt. Als er das Gerüst betrat, lastete plötzlich ein Schweigen über dem Platz. Man sah, wie er den Geistlichen zurückwies und einsam in seinem roten Hemd, über das sein roter Bart herniederwallte, im Morgenrot stand.

Er hob die Hand. Und augenblicklich trat Ruhe ein.

Ihr Menschen, er sprach langsam, ich habe euch geliebt. Ich habe euch befreien wollen von den Götzen. Vergebt mir! Denn nichts wollt‘ ich für mich selber. Auch jetzt bitte ich nur für meine gefangenen Kameraden. Ich will, nach der Hinrichtung, an ihnen vorbei schreiten und soweit ich komme, die sollen frei und ihrer Bande ledig sein.

Die Richter sahen einander an. Hohnlachend gab der Oberrichter Bescheid: So soll es sein! Dein letzter Wunsch sei erfüllt! –

Der Henker hieb ihm den Kopf herunter, der in den Sand rollte.

Und ohne Kopf, aufrecht, schwer stampfte Störtebecker an dreizehn seiner Kameraden vorüber. Dann fiel er der Länge lang steif um.

Ein Aufschrei zerriss die bleierne Stille, die auf dem Platz lastete.

Auf dem Balkon des Senators Stollenweber war Sita ohnmächtig zusammengebrochen.

Auf der Hallig Süderoog, auf dem höchsten Hügel oben, stand Anke, den Knaben an der Hand.

Die Wellen peitschten den Strand, und Spritzer zischten wie Schlangen bis in den Vorgarten des Hauses, über die Hecke aus blühendem Bocksdorn, wo sie wie Tautropfen an den Aurikeln und Stachelbeersträuchern hängen blieben.

Der Kastanienbaum wiegte sich wie ein ungelenker Tänzer im Sturm.

Tag für Tag hielt Anke Hansen Ausschau nach Süden und nach Norden, nach Osten und nach Westen.

Sie sprach kein Wort, auch der Knabe schwieg, die linke Hand im Nackenfell seines Lieblingsziegenbockes verkrampft.

Sie hisste am Mastbaum vorm Hause die kleine Fahne, die er am Tage ihrer Hochzeit getragen hatte.

Sie nahm ihr rotes Kopftuch und winkte über die See. Und nur die untergehende Sonne winkte zurück.

Eines Nachts fuhr sie aus dem Schlaf.

Sie hörte Geschrei, Gesang, Zinnkrüge, die aneinander klirrten, als tränken Zecher sich zu.

Sie sprang nackt, wie sie war, aus dem Bett, aus dem Haus.
Das Meer lag still und blinzelte wie ein großes Auge.
Sie sah zum Mond empor.

Sie nahm ihre beiden Brüste in die Hände und bot sie ihm. Dann sank sie in den gelben Sand, und er neigte sich über sie wie ein Liebhaber, und seine Liebe war so glänzend und gewaltig, dass sie die Augen schließen musste, er blendete sie, er hielt sie stark in den strahlenden Armen.

Seit dieser Nacht hielt sie keine Ausschau mehr. Sie wusste, dass er zu den Gestirnen eingegangen sei.

Eines Abends fragte der Knabe:
Wo ist der Vater?
Sie zeigte zum Mond:

Siehst du den Mann dort im Mond? Er ist’s. Der Vater ist mit seinem Schiff auf den Wolken zum Mond gesegelt. Er sieht und weiß immer, was wir hier auf Erden tun und denken. Es wird der Tag kommen, da wird er uns Töllessen oder Bockemühl mit einem Boot schicken, uns an den goldenen Strand zu holen. Du, Pidder, werde wie er: Die rote Fahne ist einmal entfaltet worden, in den Städten und auf dem Meere. Sie wird nicht mehr verschwinden. Frei soll die See sein, frei die Erde, frei der Mensch. Er hat ihnen den Weg gezeigt, und sie werden ihn nicht mehr verlieren. Einst wird auf den Türmen und Kirchen und Lagerhäusern, auf den Galeonen und Karavellen der Patrizier von Hamburg und Lübeck die rote Fahne wehen: in den Ledersesseln im Ratssaale werden Schreiner, Schlosser, Metzger, Bäcker und Schiffsknechte sitzen. Nach Jahrhunderten der Unterdrückung und Rechtlosigkeit wird ihnen ihr Recht geworden sein. Und dort, wo über dem Sessel des Bürgermeisters an der Wand das Bild des Kaisers hing, Karls IV., dem sie fronten: wird das Bild Störtebeckers hängen, deines Vaters, den sie einen Räuber schalten, weil er sich sein Recht und Gut nahm, das sie und ihre Ahnen ihm und seinesgleichen gestohlen.

Der Knabe nickte ernsthaft. Tränen standen in seinen blauen Augen.

Er hob die Hand:

Frei ist die See, frei ist die Erde, frei ist der Mensch!

Ungarische Balladen

Anna Feher

Laszlö Feher hat zwei braune Fohlen
Hinterm schwarzen Berg gestohlen.
Seine Peitsche knallt
Lustig durch den Wald –
Daß es bis zum hohen Rat erschallt.

Und der höchste Rat vernahm’s und ließ
Laszlö Feher werfen ins Verließ.
Sie entführten ihn
Bis nach Szegedin,
Wo in Kerkersnacht ihn Glück und Lächeln fliehn.

Anna Feher hört’s, die Blütendolde,
Und zu ihrem Kutscher sprach die Holde:
„Spann den Wagen an! Gold und Silber dann
Einen Sack voll drauf, daß ich ihn lösen kann.“

Und sie trabten rasch nach Szegedin.
Durch das Kerkergitter ruft sie ihn:
„Bruder, bist du wach?“
„Süße Schwester, ach,
Immer träum ich deiner Seele nach!“

„Bruder, weißt du, wie der Richter heißt,
Der mein Herz, der deines bald zerreißt?“
„Miklos Horväth“ – Und
Kaum entfloh’s dem Mund,
Ging zum Richter sie zur selben Stund.

„Miklos Horväth, gib den Bruder frei!
Dein dies Gold, dies Silber alles sei!“
„Gold hab ich wie Mist!
Lach der Frauenlist!
Doch ich geb ihn frei, wenn du mir willig bist!“

Anna Feher ging zum Bruder hin:
„Frei bist du, wenn ich ihm willig bin.“
„Falschheit aus ihm spricht.
Wort und Herz er bricht
Nimm die Unschuld, meine Schuld erläßt er nicht.“

Und sie bietet wie auf dem Altar
Ihren jungfräulichen Leib dem Unhold dar.
Plötzlich in der Nacht
Ist sie aufgewacht,
Weil es auf dem Hofe klirrt und kracht.

„Horch, was trappt und trippelt auf der Flur?“
„Meinen Gaul bringt man zur Tränke nur!“
Jetzt ein Schrei! Sie blieb
Zitternd wach. „Mein Lieb,
Schlaf – sie hängen einen Pferdedieb.“

Anna Feher wacht das Morgenrot heran,
Springt im ersten Strahl zum Kerker dann:
„Lust sprießt noch aus Leid,
Frei bist du, befreit!“
Keines Bruders Stimme gibt Bescheid.

Greiser Kerkermeister tritt herzu:
„Deinen Bruder suchst vergeblich du.
Wo das Feld gemäht,
Wo der Galgen steht,
Suche ihn, der schon im Winde weht!“

Und zum Richter wankt Anna Feher:
„Hunderttausend Flüche dir und mehr!
Brot werd dir zu Stein, Blut aus jedem Wein,
Und dein eigner Dolch dring dir ins Herz hinein!“

Er erbleicht: „So pflück dir einen Kranz,
Den zerrissenen binde ich dir ganz!“
„Bindst du noch so sehr, Her und hin und her:
Den zerrissnen bindst du nimmermehr … nimmermehr .

Das Weib des Räubers

Nie braucht ich, nie mußt ich
Vor Tag schon aufstehn,
Waschen vorm Morgenrot
Blutiges Linnen. Mit Tränen weicht ichs ein,
Mit Stöhnen wand ichs aus.

Immer doch bat ich
Vater und Mutter:
Gebt mich dem Räuber nicht,
Gebt mich nicht hin!

Der große Räuber

Dort wieder zieht er,
Lagert am Kreuzweg,
Lauert auf Raub.
Um einen Pfennig schon
Schlägt er die Menschen tot. —

Der große Räuber
Lauscht an der Türe,
Hört, wie sein Weib so sehr
Jammert und klagt.
»Weibchen, mein Täubchen,
Schließ auf die Türe!«

»Tür steht ja offen,
Herzlieber Mann!«
»Sage, was weinst du,
Weibchen, mein Täubchen?«

»Aber ich wein ja nicht,
Herzlieber Mann!
Eichenholz zündete
Ich in der Küche an.
Eichenholz rauchte,
Drum tränt mein Aug.« »Du lügst ja, du weinst ja,
Weibchen, mein Täubchen.
Morgen Glock zwölfe
Falle dein Haupt.«

Da ruft den Diener sie,
Trocknet die Tränen:
»Hänschen, mein Hänschen,
Großlockiges Hänschen,
Spann die sechs Pferde ein,
Richte die Kutsche her,
Morgen Glock zwölfe
Fahr mich zum Richtplatz!
Sprang mir der Kopf herab,
Wasch ihn mit Wermutwein,
Schlag ihn in Linnen ein,
Trag ihn zur Kutsche.
Fahr nach der Moldau ihn,
Leg auf den Tisch dort ihn:
Vater und Mutter
Sollen ihn sehen,
Nie werd ein Moldaukind
Frau eines Räubers mehr!
Schrecke mein schreckliches
Beispiel die Welt!«

Frau Franz Bodrogi

Eintönig tönt der Gefangenen Klage:
»Heute sind es sieben Jahre und drei Tage,
Daß ich in dem feuchten Kerker lieg gefangen.
Hab im Hunger mich am eignen Fleisch vergangen —
Was ich selbst nicht fraß, das fraßen Kröt und Schlangen,
Hab im Durst mein eignes rotes Blut getrunken,
Bis ich ohn Besinnung auf den Stein gesunken,
Wer mir schenkte eines Brotes dürre Rinde:
In den Himmel trügen Engel ihn wie Winde.
Wer mir schenkte Wasser aus zerbrochnem Glas:
Über ihn hätt nimmer Macht mehr Satanas.«

An der Türe lauschend krümmt der Herrin Magd sich:
»Herrin, gnädige Herrin, ein Geständnis wagt ich,
Wenn ihr mich nicht peitschtet – aber ach, Ihr schlagt mich!«

»Ehe ich einen Bissen gönnte ihrem Munde,
Lieber würfe ich ihn vor die räudigen Hunde.
Ehe ich ihr schenkte Wasser aus meinem Glas,
Spritzt ich es auf die Erde, sei sie auch regennaß.
Ergreift sie, packt sie, schleppt sie zum Richtplatz, zum Gericht!«

»Eh Ihr mich tötet, Herrin, willfahrt meiner Bitte:
Laßt läuten die Totenglocke dreimal nach alter Sitte!
Gönnt meiner armen Seele Ihr die Glocke nicht?
Habt Ihr keine Mutter, die Euch zu Herzen spricht? –

Ich bin des großen Franz Bodrogi Kind -«
»Wenn du bist des Franz Bodrogi Kind,
War ich einst des Franz Bodrogi Weib,
Franz Bodrogi Weib, deine eigne Mutter!«

»Komm zu mir herein, komm süße Mutter,
Bade dich in Milch, salbe dich in Butter!«

»Du hast mich gebadet im Kerker mit Jauche lind,
Du hast mich gesalbt im Kerker mit Regen und mit Wind,
Möge Gott dir verzeihen — ich kann es nicht, mein Kind!«

Anna Betlen

Michael Särosi, Johann Betlen
Saßen stumm bei Tisch zusammen,
Aßen, tranken dann zusammen.
Und es sagte Michael Särosi:
»Hört, Gevatter! Eurer Schwester
Frömmigkeit hat einen Haken.
Fliegt des Nachts in fremde Nester,
Schleicht zu meinem Knecht im Stalle,
Und die Pferde wiehern alle,
Weil sie aus dem Schlafe schraken!«
»Hört Gevatter! Meiner Schwester
Tugend selbst die Frösche quaken.
Ist die Frömmste weit im Lande!«
»Will euch zeigen ihre Schande
Mit der schwachen Kraft der Seele,
Mit der starken meines Schwertes!«

Nächtlich knarrt die Treppenstufe,
Eine Türe knirscht. Die Hufe
Eines Pferdes schlagen an,
Und es schleicht sich was heran,
Und es rauscht ein seidner Rock.

An die Tür ein Schwertknauf kracht:
»Heda, Kutscher, aufgemacht!«
»Kann nicht öffnen, lieber Herr,
Denn ein Pferd springt frei umher.
Öffne ich, so läufts davon,
Nimmer finge ich es wieder.«

Schlug der andre mit dem Knauf,
Daß die Tür sofort sprang auf.
Und er sah, sah – Anna Betlen,
Rot vor Scham. Und er stieß
Ihr den Degen in die Seite,
Daß der Seidenrock zerriß,
Und ihr rotes Blut, es rann.

Anna Betlen schleppte sich
In ihr Bett nach Haus. Am Morgen
Kam die Schwägerin zum Tratsche:
»Nun, was gibt es, Anna Betlen?«
»Ja, was gibt es, liebe Schwägerin,
Stieg hinab in meinen Garten,
Blieb am Rosenstrauche hängen,
Und der seidne Rock zerriß,
Und mein rotes Blut es rann.
Und es rinnt noch immer. Wehe,
Sterben muß ich, bin so jung noch.«

Der Ermordete

Um sechzig Taler haben
Erschlagen sie die Knaben
Und um sein Pferd. Sie wollten ihn
Im schwarzen Fluß begraben.

Die Theiß warf ihn an Land,
Sie spie ihn an den Strand.
Es kam vorbei ein Schiffer, Der seine Leiche fand.
Es kam vorbei die Mutter.
Er lag so sanft im Kutter.
»Steh auf, steh auf, mein lieber Sohn,
Es ruft dich deine Mutter!«

»Ich kann mich nicht erheben,
Ich bin nicht mehr am Leben.
Sieh, wie die schwarzen Locken feucht
An meiner Stirne kleben.«
Sein Vater ist gekommen,
Er hat es nicht vernommen,
»Steh auf, steh auf, mein lieber Sohn,
Dein Vater ist gekommen!«

»0 wär ich nie geboren!
Ich bin im Tod verloren,
Die gelben Stiefel sind wie Eis
Am Bein mir festgefroren.«

Sein Mädchen kam gegangen,
Und ihre Lippen sangen:
Steh auf, steh auf, mein lieber Schatz,
und wolle mich umfangen!«

Da ist er aufgesprungen,
Und hat sie wild umschlungen:
Es hat die treue Liebe selbst
Den Tod, den Tod bezwungen.

Die drei Waisen

»Wohin wandert ihr drei Waisen?«
»In die Weite, in die Knechtschaft.«
»Nimmer wandert ihr drei Waisen,
In die Weite, in die Knechtschaft.
Hier: ich gebe euch drei Ruten,
Peitscht die Gräber, bis sie bluten.«
»Mutter, Mutter sieh uns leiden,
Schon zerrissen Hemd und Kleider.«

»Kinder, Kinder, wie mit Trossen
Bin ich an den Sarg geschlossen.
Heute, morgen, übermorgen
Muß Stiefmutter für euch sorgen.«
»Mutter, wenn sie früh uns kämmt,
Blut aus unsrem Herzen strömt.
Reicht sie Brot uns, sind es Steine,
Reicht sie Wasser, ist es Lauge,
Und es sitzen sieben kleine
Rote Teufel ihr im Auge.«

Der Galgen

»Gott zum Gruß, Euer Gestrengen, in Euerem Hause!«
»Willkommen, schöne Ilona, in meinem Hause!
Warum weinst du, schöne Ilona, in meinem Hause?«
»Herr Schultheiß, auf die Wiese trieb ich meine Gänse.
Kam Euer Sohn, wollt fangen meine Gänse.
Den schönen Gänserich erschlug er mit der Sense!«
»Weine nicht, schöne Ilona, um deinen Gänserich!
Was er auch wert gewesen, das zahle ich.«
»Für jede Feder müßt Ihr ein Goldstück mir gewähren,
Einen goldnen Fächer für seinen Fächerschwanz.
Für die schlanken Füße zwei goldne Ähren,
Für den edlen Hals sechs Ellen Bands.
Für die breiten Flügel zwei goldne Tellerlein.
Für den runden Kopf einen goldnen Apfel drein.
Für die hellen Augen um zwei brennende Kerzen ich bäte,
Für die Kehle, die schmetternd der Sonne rief, um eine goldne Trompete.
Für das verzehrte Futter ersuch ich um sechs Hohltöpfe
Voll Reis, für Magen und Leber um sechs Kohlköpfe …«
»Unzählig deine Wünsche wie der Sand am Fluß!
Der arme Sohn des Schultheiß drum an den Galgen muß!«
»Der Galgen sei gleich hier errichtet, Euer Gestrengen,
Meine Arme breit ich: soll Euer Sohn dran hängen!«

Der stolze Pfau

0 der Pfau, o der Pfau, o der stolze Pfau!
Ich armer Bursche nahm ein reiches Mädchen zur Frau.
Nichts machte ich ihr recht. Ich war ihr viel zu schlecht.
Sie zu gewinnen, ging ich auf den Markt,
Kaufte rote Schuhe, habe nicht gekargt:
Weibchen, liebes Täubchen, nenn mich deinen Herrn!
»So lang ich lebe, niemals nenn ich dich meinen Herrn!
In meines Vaters Hause verkehrten größre Herrn!
Ich nannte keinen Herr! Ich kenne keinen Herrn!«

0 der Pfau, o der Pfau, o der stolze Pfau!
Ich armer Bursche nahm ein reiches Mädchen zur Frau.
Nichts machte ich ihr recht. Ich war ihr viel zu schlecht.
Sie zu gewinnen, ging ich auf den Markt,
Kauft ein Kleid mit Fransen, habe nicht gekargt:
Weibchen, liebes Täubchen, nenn mich deinen Herrn!
»So lang ich lebe, niemals nenn ich dich meinen Herrn!
In meines Vaters Hause verkehrten größre Herrn!
Ich nennte keinen Herr! Ich kenne keinen Herrn!«

0 der Pfau, o der Pfau, o der stolze Pfau!
Ich armer Bursche nahm ein reiches Mädchen zur Frau.
Nichts machte ich ihr recht. Ich war ihr viel zu schlecht.
Ging ich in den Wald mit der Geduld des Lamms,
Schnitt mir einen Stecken, versteckte ihn im Wams:
Weibchen, liebes Täubchen, nenn mich deinen Herrn!
»So lang ich lebe, niemals nenn ich dich meinen Herrn!«
Da packte ich den Stecken, spannte sie ins Gescherr:
»Herr bist du, Herr bleibst du, bis in den Tod mein Herr!«

Der Wüstling

Ein Schäferspiel in Alexandrinern

Figuren

Lysander
Chrysoleth
Amint
Dorothee
Phyllis

Ort der Handlung Park

Chrysoleth stöckelt in steifen, aber zierlichen Schritten durch den Garten. Er bleibt an einer Birke stehen, zieht einen über­trieben großen rosa Brief aus der Tasche, legt den rechten Arm um die Birke, kreuzt das rechte Bein übers linke, hebt mit der linken Hand den Brief hoch und beginnt:

Chrysoleth: 0 neige, süsses Mädchen, Dich zu mir im Kusse.
(Küsst den Brief.)
So fügt sich Herz zu Herz in herzlichem Genusse.
Wie bist Du gut! Wie treu! Wie zärtlich! Und wie blond!
Als habe Helios Dich mit eigenem Strahl besonnt.
Als habe er in Glanz und Mittag Dich geboren,
Als habe er sich ganz in Deinen Leib verloren.
Du funkelst ja aus Dir. Aus Deiner Augen Tor
Bricht mächtig, blau und tief der Himmel selbst hervor.
— Ach, ich vergesse mich und die Galanterie
Vor Ihrer Gegenwart: darum: wie schliefen Sie?
Wie haben Sie die lächelnd laue Sommernacht,
Dorinde, wie die Träume ohne mich verbracht?
Sie senken Ihren Kopf! 0 schämen Sie sich nicht,
Dass Ihre Anmut mir den Kranz der Liebe flicht!
Ich drücke ihn entzückt und stolz in meine Stirn;
So hebt sich lichtbeglückt ins Licht ein Alpenfirn,
Ins Morgenrot, Dorinde, meine Eos — ach,
Ich schlief die Nacht sehr schlecht und bin noch jetzt ganz schwach …
Und immer, wenn ein Traum mich hold umgaukeln wollte,
War’s, dass Ihr Blick wie Blitz und Donner in mich wollte.
Bin Ihre Liebe ich, Dorinde, denn gewiss?
Und weinend wälzte ich mich in der Finsternis.
(Lysander kommt.)
Lysander: Was tragt Ihr da so spitz und sorgsam in der Hand?
Chrysoleth: Es ist ein Brief!
Lysander: Ein Brief?
Chrysoleth: Ein Brief von ihr gesandt!
Lysander: Ich finde das Format ein wenig übertrieben?!
Chrysoleth: (küsst den Brief): Es kann Dorinde nur in diesem Umfang lieben!
Lysander: (sinnend) Dorinde? Süsser Sinn, der mich zum Leben rief …
Chrysoleth (kramt aus seiner Tasche zehn Briefe in allen Farben: gelb, rot, blau, violett u. s. w.): Seht …
Lysander:: Bitte?
Chrysoleth: Das ist heute schon der zehnte Brief.
Lysander: Von ihr?
Chrysoleth: Wo denkt Ihr hin! Es gibt auch andre Frauen!
Lysander: In allen Farben habt Ihr sie, wie’s scheint …
Chrysoleth: Den blauen schrieb Chloe (küsst den Brief), deren Tränen meinen Vers betaun. Den gelben: Dorothee, Figur: schlank, Haare: braun. (Küsst den Brief.)
Lysander: Den grünen?
Chrysoleth: Widmet mir Amaliens Brünette …
Lysander: Den roten?
Chrysoleth: Gestern stieg Phyllis mit mir zu Bette … Und im Gedenken an die Nacht flammt er in roten
Flammen …
Lysander: Eure Frechheit wird nicht überboten! Ihr liebtet Phyllis?
Chrysoleth: Ja!?! Warum so laut?
Lysander: Verlangen Muss ich die Wahrheit …
Chrysoleth: Ja, ich habe sie … umfangen!
Lysander: Unmöglich! Steht Ihr mit dem Degen für Euch ein, So zieht!
(Entreisst ihm den Brief.)
Chrysoleth: 0 weh, mein Brief! Gebt mir den Brief erst!
Lysander: Nein! So hab ich für der Falschen Spiel ein Dokument. Gott! Ihre Handschrift!
Chrysoleth: (beiseite): Ob er in der Tat sie kennt? (laut🙂 Seid Ihr ein Kavalier, so schont des Mädchens Ehre!
Lysander: Nachdem Ihr frech genascht von ihrer Lippen Beere, Und hündisch nun Euch rühmt in allen niederen Gassen, Es habe Phyllis sich von Euch umarmen lassen?!! – Wenn ich Euch sage, dass in meinem Arm sie schlief Die letzte Nacht?
Chrysoleth: Ein wenig anders sagt’s der Brief!
Lysander: Könnt‘ Euer vorlaut Maul ich mit dem Degen bannen! Zieht!
Chrysoleth: Sie liebt mich, nicht Euch, ich zieh – jedoch von dannen … (ab).
Lysander: Es flieht der feige Fant samt seinen Geckerein, Lässt mich und meinen Zorn mit diesem Brief allein – Wie freundlich schien der Mond in unser Liebeszelt Gestern die süße Nacht. Die Hochzeit war bestellt Fürs Frühjahr – und nun findet sich’s, dass ich betrogen, Dass gleich nach mir sie diesem Lump ans Herz geflogen! Ihm Briefe schreibt! Ihm ihre tolle Liebe stammelt! Nun ist des Paradieses Tor für mich verrammelt … (öffnet den Brief) Geliebter! – Dieser Kopf, so hohl wie eine Trommel! Wie lieblich sang um unser Glück des Nachts die Dommel Und um die Laube hing der Mond die goldnen Netze. Verflucht, wenn ich in ihre Lage mich versetze! Dieselbe war’s, wie’s scheint – es war dieselbe Laube In der sie ihn empfing! 0 Schlange Du! 0 Taube! Wie konntest Du in Chrysoleth Dich nur vergaffen, In diesen Moschusruch und aufgeputzten Affen! – Wie les ich weiter? – Du, für den die Welt nur steht, Um den sich alles dreht! – Alles um Chrysoleth! Wann kommst Du wieder? Du – ich kann es nicht erwarten Erwarte morgen früh mich punkt elf Uhr im Garten.
Der Garten? Hier! Elf Uhr? Es fehlen zehn Minuten, Wenn er sie treffen will, muss Chrysoleth sich sputen. Er wagt es nicht! Der Hund, er fürchtet meinen Degen! -Wer kommt? Es ist Amint! Und kommt nicht ungelegen.
– (Amint tritt auf, mit einem gelben Brief in der Hand. Traurig.)
Lysander: Amint …
Amint: Lysander … Freund … mir ist die Welt verleidet,
Ich bin dahin gelangt, wo man den Stein beneidet. Ich möchte fühllos sein wie er.
Lysander: Seht mich: Desgleichen!
Amint: So lasst einander uns bewegt die Hände reichen! (Tun es.) – – Seht diesen gelben Brief. Ihn schrieb-
Lysander: Nun?
Amint: Dorothee! Sie, die ich einst geliebt …
Lysander: Noch gestern
Amint: … Abend. Seh ich diesen Brief nicht heut in eines Gecken Klauen?
Sie ist mir untreu!
Lysander: Ungetreu wie alle Frauen. Mich trog ja Phyllis –
Amint: Dorothee mich –
Lysander: Und mit wem?
Amint: Mit jenem Gecken unterm Narrendiadem. Dem lächerlichen Liebesprahlhans Chrysoleth.
Lysander: Denselben traf auch ich in meinem Blumenbeet. – Und ich vertreibe ihn, geht’s anders nicht, mit Knütteln!
Amint: 0 lasst einander uns bewegt die Hände schütteln!
(Tun es.)
Noch diese Nacht lag sie geliebt mir hold zur Seite, Und eine Stunde drauf gibt ihm sie das Geleite In Amors Land.
Lysander: 0 dieser Wüstling Chrysoleth! Er schloss auch diese Nacht Phyllis in sein Gebet.
Amint: Dieselbe Nacht! – Und nun bestellt ihn dieser Brief Galant punkt Elf hierher.
Lysander: Wohin auch Phyllis – rief …
(Phyllis und Dorothee treten gleichzeitig auf, die eine links hinter einem Gebüsch, die andre rechts. Sie werden von Lysander und Amint nicht bemerkt.)
Phyllis + Dorothee: Es schlägt elf Uhr, doch warum ist er nicht allein?
Dorothee: Lysander weilt bei ihm! Wie grausam!
Phyllis: Es weilt Amint bei ihm. Wie grausam!
Amint: Glaubt mir, kein Liebhaber ward jemals düpiert wie wir!
Lysander: Wir rächen Gemeinsam uns, indem auch wir die Treue brechen!!
Dorothee Phyllis: Er liebt mich nicht mehr! –
Amint: Bah! Wir spielen nun va banque
Lysander: Und gehen heute noch
Amint: Ha!
Lysander: Auf den Frauenfang.
Amint: Versuch’s, wo Dorothee ihr Herz hat, sie zu rühren!
Lysander: Ich schenke Phyllis Dir, Du darfst sie gern verführen!
Dorothee + Phyllis: Der Schurke! Männer!
Phyllis: Und ich kann’s nicht mehr ertragen …
Dorothee: So, will dem Ungeheuer ich die Wahrheit sagen. (Springt hinterm Gebüsch vor, zu Amint) Mein Herr …
Phyllis: (folgt ihr): Mein Herr, verzeihen Sie, wenn ich Sie störe, Nur eines: dass ich Ihnen nicht mehr angehöre …
(Schluchzend zu Lysander.)
Dorothee: (Zu Amint): Sie Mensch nicht mehr, Sie Tier!
Phyllis: (zu Lysander): Und Sie, mein Herr, desgleichen!
Lysander + Amint: 0 lasst einander uns bewegt die Hände reichen!
(Tun es.)
Dorothee: Sie spotten unsrer noch!
Amint: Ja, ja, wie das so geht, das Blatt hat sich gewandt.
Lysander: Was macht denn Chrysoleth, Der Liebling?
Amint: Haben Sie die Nacht auch gut geruht?
Lysander: Es war so kalt — allein. Es fliesst so heiss — das Blut …
Amint: Verzeihen will ich nur, wenn Ihr Euch frei bekennt, Dass Euer Herz zu aller Welt in Liebe brennt!
Lysander: Vielleicht hat Chrysoleth Euch gar in bar vergütet. Er ist ja reich!
Phyllis: (weinend): Begreifst Du, Dorothee –
Dorothee: Behütet Mich, Götter, vor dem Irrsinn! Wie sie uns mit Füssen Treten, die wir einst geliebt.
Lysander: Euch zu versüßen das bittre Dasein, naht, zu tändeln
Amint: Mit Euch zwein der schöne Chrysoleth.
Lysander: Wir lassen Euch allein.
(Wollen gehen.)
Dorothee: Bleibt!
Phyllis: Bleibe …
Dorothee: Chrysoleth, so sagtet Ihr …
Lysander: Ja, Euer Herr, den zum Rendezvous Ihr batet …
Phyllis: Ungeheuer! So hast Du meinen Brief
Dorothee: Du meinen nicht bekommen?
Lysander + Amint: (zeigen die Briefe):
Amint: Hier ist ein Brief, ich hab ihn … Chrysoleth genommen!
(Chrysoleth ist träumend näher getreten.)
Dorothee: (packt die beiden Briefe, zu Chrysoleth): . Den tollen Spuk muss endlich doch der Teufel holen; Ihr hattet diese Briefe?
Chrysoleth: Ja …
Dorothee: Woher?
Chrysoleth: Gestohlen Hab ich sie oder, wenn es besser klingt: entwendet . . .
Lysander: (entsetzt) Mit Diebstahl habt Ihr Eueren Ehrenschild geschändet?!
Amint: Gestohlen habt Ihr, Chrysoleth??
Chrysoleth: 0, welche Zeit, Die nach dem Dichter nie, gleich nach dem Richter schreit! Die Briefe nahm ich, um mein Herz mit Duft zu schmücken, Mit Ahnung ferner Frauen, die Sehnsucht zu beglücken! Ach, diese nicht allein: mir huldigen tausend Bräute, Vermöge derer ich mir Glück und Weihrauch streute. Ich liebe mich so sehr … Sollt ich mir’s nicht gestehn Und mich phantastisch in das Weib verwandelt sehn? Oft schmeckt ein treuer Kuss sehr malitiös nach … Knaster.
Ich liebe nur der Phantasie verwegne Laster. Dich, Dorothee, begehrt ich nie … nur Dein Bildnis!!! Phyllis entführte ich in meiner Träume Wildnis … Wenn ich die Briefe stahl – wer stiehlt Euch mir? Ins ferne Blaufirmament versetz ich Euch als goldne Sterne. Sternbilder seid Ihr mir, wie Venus, Fisch und Bär. Ach, wenn mein Herz so reich nicht an Erfindung war‘! Vertrocknen müsste es in der realen Welt, Die nur auf Tat und Tat, auf Kraft und Kraft gestellt. Wie Schmetterlinge flattern bunt die Flitterwochen … Die zarte Liebe ist so leicht wie Rohr zerbrochen … Phyllis strickt Strümpfe, und die gute Dorothee Kocht ihrem braven Mann zur Nacht Kamillentee. Die Degen, die die Herren heut so tapfer schwenken, Verrosten und verstauben in den Wäscheschränken … Du, Phyllis, wardst so dick, dass Du als Kloss erscheinst Dann ist noch meine Phyllis sanft und schlank wie einst Und wenn vor Dorothee Aminten jagt das Grauen -Bleibt meine Dorothee die Zierde aller Frauen …
Dorothee: Er ist ein Narr.
Phyllis: Verrückt.
Lysander: Lasst den Hallunken schrein! Man muss dem Narren seine Narrheit schon verzeihn.
Chrysoleth: 0: ich ein Narr? Und Ihr wohl gut und stolz und weise?! Erhöre, Venus, mich! Die Welt rollt aus dem Gleise … Ich bin zu zart, zu weich für die Realität. Amint heisst: Wirklichkeit. Wahrheil heißt: Chrysoleth … Ihr werdet mich, ich werde Euch niemals verstehn. Lebt wohl, mesdames, messieurs, auf Nimmerwiedersehn! (Würdevoll und kokett ab.)
Amint: Was nun?
Lysander: Was nun?
Phyllis + Dorothee: (äffend) Was nun? Was nun? Was nun? Könnt Ihr nichts Besseres, als Fratzen schneiden, tun?
Amint + Lysander (fallen ihnen zu Füssen nieder)
Phyllis + Dorothee: Es ging der Narr. Zwei neue liegen uns zu Füssen, Um aller Männer Narrentum in eins zu büßen. Und nehmt ein Beispiel Euch an Chrysoleth. Er stahl Die Briefe – und entpuppte sich als Scheingemahl. Nun, teuerster Amint? Was nun, o mein Lysandre?? (Laufen lachend davon.)
Er stahl die Briefe nur! So stehlt nun ihr … das andre .. (Lysander und Amint hinterdrein.)

Hölderlin

Ich wohne bei dem Tischlermeister Zimmer in Tübingen. Meine Stube ist klein gewölbt und empfängt die Sonne durch ein erblindetes Fenster. Wenn man es aufreißt, hat man weite ovale Blicke glänzend über belaubte Hügel und bergige Bäume. Herr Zimmer verfertigt Tische, braune Geräte, darauf der Wein in goldenen Karaffen steht, und Stühle, darauf zu sitzen und ferner Schiffe zu gedenken in Dämmerung und Seeflut. Wo seid ihr, Schwärme der Schwalben? Und kehrt ihr zurück mit klingenden Fittichen bald, da April den Besen ergriff und warme Winde die Straßen fegen? Schon reiten die Herren Studenten die wandernden Alleen entlang, die Hufe klappern, und höflich schwingen Bauern ihre Hüte.

Begegnet mir Professor Conz und sagt: Guten Tag, Herr Magister. Dass sie mich nie bei rechtem Namen nennen! Bin ich Magister? Bin ich nicht, bei allen Engeln, Diotima, Engelschönste, bin ich nicht fürstlicher Bibliothekarius? Nie gibt man doch bedeutenden Naturen, was ihnen ziemt und frommt. Professor Conz trug den Homer in der Tasche. Er ließ den weißen Vogel aus seinem Käfig fliegen und rief: Sehen Sie, unser alter Freund! Ich griff nach den Blättern und fing ihn und schlug jene Stelle auf, wo Nausikaa am Torpfosten des Saales steht und elfenbeinern zu Odysseus niederlächelt. Träne auf Träne tropft in die blaue Grotte ihres Herzens. Wir können nichts besseres machen, als was Homer gemacht. Und sind doch 1300 Jahre älter als er. O, sagte Professor Conz, Sie sind bescheiden, und er zitierte einiges aus meiner Elegie an die Natur. Die Menschheit, sagte ich, hat das Reißen bekommen und die Gicht. Und Gicht und Reißen machen unklare Gedanken. Eine Elegie ist nichts weiter als eine Kette unklarer Gedanken, bunt wie Lampions in die verworrenen Nebel einer Frühlingsnacht gehängt.

Das Wams und die drei paar Strümpfe und die Handschuh, die mir meine Frau Mutter schickte, hab ich erhalten. Oft bringt der Mai noch feuchte Dünste und späten Frost. Ich schriebe gern meiner verehrungswürdigen Frau Mutter, wenn ich wüsste, was ich ihr schreiben sollte. Sie versteht mich leicht nicht mehr. Hat sie mich je verstanden? Sie ist von einer unsicheren und allzu zarten Beweglichkeit, schwankend wie eine silberne Möwe auf stürmischer Rhede. Ich aber wünsche mir eine feste Natur. Ich gehe aus allen Fugen. Musik nur schweißt mich noch zusammen. Dann bin ich ein Akkord und der Herr Kantor spielt mich auf der Orgel, in der Kapelle von Maulbronn. In der Sommerfrühe um sechs schlich er durch Tau und Morgen auf hellen grünen Wegen zu mir und spielte einen Choral, damit er bei Gott in Gnaden stünde.

Ich esse täglich Trauben. Herr Zimmer bringt sie auf einem Teller, darauf Ranken und erdbeerrote Herzen gemalt sind. Ich denke: wenn jemand dein Herz auf einem solchen Teller malte, von einem schwarzen befiederten Pfeil durchbohrt und einem lateinischen Spruch dazu: per aspera ad astra. Dann müsste man Trauben über mich schütten in italischen Weinbergen oder an den Ufern der Dordogne gepflückt von tanzenden Frauen.

Herr Zimmer zeigte mir gestern eine Zeichnung von einem dorischen Tempel. Ich glaube nicht, dass Herr Zimmer sie entworfen hat: aber der Zug der Linien und der gleichsam in Stein gemeißelte Traum der Vollendung entlockten mir Tränen.Herr Zimmer, sagte ich, möchten Sie statt der Tische, auf denen goldener Wein in Karaffen steht, und statt der Stühle, auf denen man, das Haupt in die Hände gestützt, der gleitenden Schiffe gedenkt, nicht einmal einen Tempel erbauen aus Holz, so klein wie Sie wollen? Damit ich wieder beten darf.

Beten Sie zu Gott, Herr Hölderlin, sagte Zimmer.
Aber Gott wohnt in kleinen dorischen Tempeln aus Holz. Herr Zimmer meint, er habe leider keine Zeit für Spielzeuge, er müsse um Brot arbeiten, und wer bezahle ihm einen solchen dorischen Tempel und die nutzlos vertane Zeit? Ich wusste nicht weiter, denn ich habe kein Geld und habe wohl nie welches gehabt.
Ich suchte nach der Zeichnung mit dem Tempel, betrachtete sie und schrieb mit Blaustift auf ein Brett, das in der Werkstatt herumlag, diese Verse:
Die Linien des Lebens sind verschieden,
Wie Wege sind und wie der Berge Grenzen,
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.

Täglich muss ich die verschwundene Gottheit wieder rufen. Wenn ich an große Männer denke in großen Zeiten, wie sie, ein heilig Feuer um sich griffen und alles Tote, Hölzerne, das Stroh der Welt in Flamme verwandelten, die mit ihnen aufflog zum Himmel – ahne ich mich, wie ich oft, ein glimmend Lämpchen, umhergehe und betteln möchte um einen Tropfen Öl, um eine Weile noch die Nacht hindurch zu scheinen…

Der Rabbi

Der Rabbi schritt durch die stürmende Nacht. Der Schnee lagerte sich in dicken weißen Flocken auf seinem schwar­zen Kaftan wie ein Schwärm weißer Vögel auf einem Schieferfelsen. Er sah nichts. Seine Augen waren verklebt. Der Wind heulte so laut, daß er vor lauter Lärm nichts mehr hörte. Auf den Baumstümpfen am Wege hockten frierende Raben. Sie glichen in ihren sonderbaren Verkrümmungen den Buchstaben des hebräischen Alphabets. Allif! kreisch­te der erste. Bejs! der zweite. Der Rabbi hörte sie nicht, als wäre er ein Amuriz, ein Ungläubiger. Er sah nach innen, er lauschte nach innen. Ein Glanz war erschienen wie von tausend Sonnen. Eine Stimme hatte sich erhoben wie von tausend Schofar. Der ewige Tag war angebrochen, Jomkipper, an welchem Gott unerbittlich Gericht hält und |ein Urteil fällt. Das Licht strahlte, als wäre Sohar, das Buch des Glanzes, aufgeschlagen. Er hatte das Kolniddri längst gesprochen, sein Leib war leer vom Fasten und be­reit, die Speise des Geistes aufzunehmen. Glanz und Ge­schrei im Innern und der Schneesturm betäubte ihn. Er blieb stehen und schnellte seinen Oberkörper hin und her, wie eine Woge sich immer wieder an den Strand wirft. Er dawwinte. Er betete. Da er aber allein war und die Gemeinschaft der zehn Brüder nicht bei ihm, die er bedurfte zur Vollkommenheit des Gebetes, hielt er inne. Da sah er auf ‚einem Baumstumpf zehn Raben sitzen. Sie waren weiß wie Schnee und sahen aus wie zehn fromme Beter in lan­gen weißen Kitteln. Allif! kreischte der erste. Bejs! der zweite. Da machte er das Minjin mit ihnen. Und die Ra­ben warfen ihre Körper ekstatisch in den Wind wie der Rabbi. Das Gebet erschöpfte den Rabbi. Er setzte sich auf einen Meilenstein zu Füßen des Baumstumpfes. Allif! kreischte der erste Rabe. Er hat Recht. Er weiß alles. Was weiß ich mehr als er? Allif, der erste Buchstabe, ist die Wurzel alles Wesens. Aus ihm ist die Welt entstanden, als Gott ihn zum ersten Mal aussprach. Als er das Alphabet zu Ende gesprochen, da war auch die Welt zu Ende ge­schaffen. Tuwa, der letzte Buchstabe, ist du Ende allen Wesens. Vor Allif war nichts und hinter Tuwa wird nichts sein. Von Schabbes zu Sehabbes fasten: das mag einiges bedeuten. Sobald man aber dadurch seine Frömmigkeit beweisen will, so wird dieses Fasten von Gott für nichts geachtet. Da ist es besser, daß man fresse und saufe und treibe Völlerei. Denn es ist lästerlich, sich und anderen seine Frömmigkeit zur Schau zu spielen, ein Schauspieler, ein Gaukler Gottes zu sein. 0 mein Gott, mein Gott: erniedrige doch meinen Hochmut, daß ich glaube, Dein Die­ner und der Deine zu sein. Ja, daß ich nicht in Versu­chung komme, als Pharisäer, als Zaddik, als Gerechter, Selbstgerechter mich zu betrachten und anzuhimmeln: will ich lieber den Teufel anbeten und als unterster Teufel ihm dienen, daß ja ich Deiner Gnade nicht teilhaftig werde, deren ich nicht wert und würdig bin. Ich habe viele Traum­fragen an Dich gestellt, Gott. Aber ich weiß nicht, wer sie mir beantwortet hat: Du oder der Böse. Denn aus Gutem kann Böses, und aus Bösem Gutes erfragt werden. Das Böse ist die unterste Stufe des Guten. Meine Seele hat mich oft geflohn. Sie entwischte mir als Maus. Da fing ich sie mit Speck in einer Mausefalle. Sie schwebte als Schmet­terling über mir. Da nahm ich einen Käscher und haschte sie. Warum wollte meine Seele mir entfliehn? Sie flatterte als Schmetterling und wollte ins Licht und Lichte zu Dir. Sie grub sich als Maus ein Mauseloch und wollte ins Fin­stere der Erde. Als ich sie gefangen hatte, da schachtete ich sie. Sie mußte alles Blut lassen, bis sie nur noch eine graue Hülse war. Das Blut trank die Erde. Aber ein roter Dunst wehte empor bis zu Dir, Herr. Du rochst das Opfer meiner Seele. Wäre ich im Verborgenen geblieben, so wäre ich zur Offenbarung gekommen. So aber schrie ich meine Lehre in die Welt wie ein Trompeter vor der Jahrmarkts­bude, ich sammelte Schüler, ich lehrte sie lernen und den­ken wie ich. Weh mir! Was soll das alles! Da ich schon Zuviel bin auf der Welt, sind nun viele, die sind wie ich: viel zu viele. Sie studieren die Toiri und meinen, Gott da­mit zu dienen. Aber sie wollen nur sich dienen, ihrer gei­stigen Eitelkeit, ihrem seelischen Hochmut. Sie wissen nicht, daß Gott außerhalb der Toiri sich im geheimen am tiefsten offenbart. Sie hoffen auch auf eine Belohnung im Jenseits für ihre guten Gedanken und Taten. Aber wahr­lich, wahrlich, nur der wahrhaft Hoffnungslose kann wahr­haft gut sein. Ihn erwartet kein Lohn, keine Seligkeit, kein Glück. Der wahrhaft Gottlose ist Gott am nächsten. Allif! kreischte der erste Rabe, dem Rabbi zu Häupten. Tuwa! brach eine Stimme aus dem Wehen des Windes. Und eine schwarze Gestalt stand plötzlich vor ihm. Es war der Engel des Todes. Er trug ein Buch in der Hand. Und der Rabbi sprach: Was ist das für ein Buch, das du da trägst? Und der Engel sprach: Es ist das Buch, das du geschrie­ben hast! Und er schlug auf, und der Rabbi begann zu i lesen, und er erstaunte vor Schreck und Scham. Wahrlich, sprach er, es ist entsetzlich, was ich da lese an meinem letzten Tage. Irrlehre ist alles, was hier verzeichnet steht, Aberwitz und Ketzerei. Und der Rabbi sah eine Flamme aus seiner eigenen Brust schlagen, es war die Flamme, die ihn den ganzen Weg schon im Innern begleitet hatte. Sie durchbrach nun die Wand seines Leibes und schlug hoch aus ihm, wie aus einem Scheiterhaufen. Da nahm der Engel das Buch und Warfes in seine brennende Brust. Da verbrannte es zu Asche. Da sprach der Engel: du bist entsühnt, du hast gebüßt. Gott hat sich mit dir versöhnt. Der lange Tag ist zu linde. Sei gesegnet! Und er segnete ihn. Die Flamme erlosch. Der Lärm der tausend Schofar verstummte. Der Schneesturm ließ nach. Der Mond stieg empor. Sein fahles Licht beglänzte den toten Rabbi, der in einem weißen Schneemantel auf dem Meilenstein saß. Zwei Raben saßen auf seiner Stirn. Sie pickten an seinen Au­gen. Ein Belfer und ein Bocher fanden den toten Rabbi. Er hatte keine Augen mehr. Aber in den Augenhöhlen lagen zwei Wisisi, die kleinen Röhren, die die Pergamentrollen mit dem Schma, dem heiligsten Gebet, dem Be­kenntnis der Einzigkeit Gottes, enthalten. Die Toiri aber, die er geschrieben, waren verschwunden und nicht mehr auffindbar.

Der Kammerdiener

Im Gefolge des Grafen R., dem sein außerordentliches Vermögen die kostspieligsten Marotten und Vaganzen gestattete, befand sich ein junger Mann, der, anfangs von wenigen beachtet, im Lauf sonderbarer Geschehnisse, die sich erst von rückwärts gesehen als sonderbar herausstellten, für einen Tag wenigstens das Gespräch nicht nur der engeren Umgebung des Grafen, sondern der ganzen Welt bilden sollte. Der Graf hatte ihn auf Grund vorzüglicher Zeugnisse, die er vorwies, als Kammerdiener engagiert. Albert erwarb sich in den ersten Tagen durch seine feinen und stillen Manieren das weiteste Vertrauen des Grafen. Er las ihm seine Wünsche von Blick und Gebärde ab und verrichtete seine Dienste mit fanatischem Eifer, der den Grafen in nicht geringe Verwunderung versetzte, bis er sich allmählich daran gewöhnte, ja die Behutsamkeit und Unaufdringlichkeit seines Wesens nicht mehr entbehren und immer um sich haben mochte. Albert war etwa zweiundzwanzig Jahre alt. Er trug das schwarze, leise bläulich schimmernde Haar in der Mitte gescheitelt, seine hellen Augen wurden von sehr langen Wimpern beschützt, so daß ein scharfer, blitzender Blick zuweilen wie eine Lanze aus dem Dickicht hervorbrach. Die Nase war ein wenig gehöckert: das Gesicht erschien nicht verunstaltet, seine sonst weichen Züge energischer dadurch gezeichnet. Auf der Oberlippe lag ein schwach bläulicher Glanz. Das schönste an ihm waren seine schmalen, kleinen Hände. Der Graf enthielt sich manchmal nicht, sie zu streicheln. „Du bist ein Aristokrat, Albert“, sagte er lächelnd. „Es ist, als wären sie von den Erinnerungen an ihre Väter so krank und blass.“

„Von ihrer Hoffnung“, erwiderte Albert. Der Graf sah ihn erstaunt an.

Der Graf vertraute Albert auch seine mannigfachen Liebesangelegenheiten. Er gab ihm alle Aufträge mündlich, brauchte nur wenige andeutende Worte zu machen, so begriff ihn Albert völlig. Er war so nicht nur längerer Auseinandersetzungen, sondern auch längeren Nachdenkens, das ihm Albert vordachte, enthoben. Die Mätressen des Grafen sahen den jungen, seiner selbst so bewussten Mann, der wenig redete und immer viel erreichte, nicht ungern. Manch eine verliebte sich in seinen schlanken Gang, der in seiner Gemessenheit etwas Berechnendes, etwas Koketterie offenbarte, und gab ihm verstohlene Winke. Er sah es und lächelte still abweisend und melancholisch.

Eines Morgens, als Albert in das Schlafzimmer des Grafen trat, ihm beim Ankleiden behilflich zu sein, rief ihn der Graf zu sich heran. Er hatte auf der Bettdecke ein rotsamtnes Kästchen liegen, öffnete es durch einen Druck auf einen verborgenen Knopf und entnahm ihm einen goldenen, mit einem riesigen Türkis geschmückten Ring. Ohne etwas zu sagen, griff er nach Alberts Hand und steckte ihn an. Albert zitterte, seine Augen öffneten sich erschreckt, sein Atem keuchte. Dann fiel er vor dem Grafen nieder, Tränen stürzten ihm hervor, und er küsste seine Hände. Dann wieder sprang er plötzlich empor, sah auf den Grafen mit einem entsetzten Blick und stürmte zur Tür hinaus.

Dem Grafen wollte dieser Vorfall einige Tage nicht aus dem Kopf. Derartig überströmende Gefühlsergüsse war er bei seinen Dienern nie gewohnt gewesen, deren Dank für erwiesene Wohltaten sich stets nur äußerlich und kalt gezeigt hatte. War es bei Albert Dankbarkeit, Verwirrung über das kostbare Geschenk, die ihn so aus der Regelmäßigkeit seiner beherrschten und abgezirkelten Bewegungen und Gefühle warfen? Er dachte daran, Albert zu befragen. Er dachte, es wäre psychologisch doch sehr interessant … aber er wagte es schließlich nicht, aus Furcht, ihm unbekannte Wunden seiner Seele ohne Willen aufzureißen. Denn dieser war der erste Diener, der ihm so etwas wie eine Seele zu haben schien. Nach einer Woche hatte er die, wie er endlich meinte, geringfügigen Schmerzen seines Dieners in neuen Abenteuern und Vergnügungen vergessen.

Albert trug den Ring mit einer heiligen Scheu, die ihn nicht aus der Hand gab und auch nicht nachts von den Fingern löste. Vom übrigen Dienstpersonal, von dem er sich, soweit es anging, bisher schon ferngehalten hatte, trennte er sich nun gänzlich, da man, eifersüchtig auf seine bevorzugte Stellung beim Grafen, in groben und gemeinen Worten hinterlistig auf unsittliche Beziehungen zwischen ihm und dem Grafen anspielte. Es tat ihm weh um des Grafen willen, den er so schnöde verdächtigt sah, und er errötete jedes Mal heftig, wenn ihm aus dem Hinterhalt wie ein vergifteter Pfeil ein solches Wort zuflog, aber er schwieg dem Grafen gegenüber, um ihm Zorn und Schmerz zu ersparen.

Inzwischen knüpfte der Graf eine Liebschaft an, die ihn in auch bei ihm ungewöhnliche Verschwendung seines Geldes und seiner Kräfte trieb. Er, dessen Alter nun schon auf vierzig ging, steigerte seine Leidenschaft zu solcher Raserei, daß er seiner Sinne nicht mehr mächtig schien und, um ihre Gunst zu gewinnen, Hunderttausende zu opfern bereit war. Vergebens, daß ihm seine Freunde Vernunft zuredeten, vergebens, daß sein Schwager, zugleich sein bester Freund, Baron F. herzureiste und ihn zu besänftigen und ihn mit allen logischen Mitteln von der Torheit zurückzuhalten suchte. Er ließ kein Argument an sich herankommen, und wie ein unreifer, kindisch zum erstenmal verliebter Jüngling hatte er, der in allen Listen und Lüsten der Liebe Umhergetriebene, keine andere Waffe gegen sie als ein monotones: „Ich liebe sie, ich werde sie ewig lieben, und ich gehe ohne sie zugrunde.“

Albert vermittelte auch in diesem Falle die Korrespondenz und die fast täglichen Zusammenkünfte zwischen dem Grafen und seiner Dame. Er machte auch die größten Anstrengungen, das materielle Interesse seines Herrn zu wahren, was ihm nicht nach seiner Hoffnung gelang. Die Dame, Witwe eines mittleren Beamten und aus niederem Stande (ihr Vater hatte eine kleine Brauerei betrieben), war ebenso schön wie leichtsinnig. Sie sah sich durch die Freigebigkeit und willenlose Hingabe des Grafen plötzlich in den Stand gesetzt, alle, auch die unsinnigsten und überflüssigsten Wünsche zu befriedigen, und obgleich sie ihrem Gatten in ihrer sehr kurzen Ehe eine sparsame Hausfrau gewesen war, verlor sie jetzt jegliches Maß und Übersicht und ließ die Goldstücke zu Tausenden durch ihre kleinen Hände rollen. Ein scheinbar unerschöpfliches Vermögen kann so verrinnen wie ein Fluss in der Wüste.

Albert sah, wenn dem Treiben der Dame nicht Einhalt geboten wurde, den Ruin des Grafen voraus und sann, ihn zu retten. Sein Einfluss bei dem Grafen war in diesem Falle sehr gering. Logik verfing nicht. Er sagte: „Gehe ich zugrunde, so gehe ich mit ihr zugrunde.“ So musste er ein Mittel finden, auf die Dame irgendwie einzuwirken. Der Zufall brachte ihm hier erwünschte Hilfe.

Die Dame, der überspannten Liebkosungen des Grafen müde – ihre Liebe zu ihm war ja immer nur recht oberflächlich und durch sein Vermögen sehr mitbestimmt gewesen –, verlangte nach Zerstreuungen und Abenteuern, die alle Theater- und Varietélogen, die ihr der Graf zur Verfügung stellte, nicht gewähren konnten. Da sie täglich Gelegenheit hatte, Alberts sehr bescheidenes, aber unbeugsames Auftreten zu bewundern, das durch die verkniffene Selbstzucht, die er übte, noch gesteigert wurde, argwöhnte sie in ihm, was Bildung in den Dingen der Welt anbetraf, einen ihr Verwandten. Der Graf dünkte sie hin und wieder von einer beängstigenden Feinheit des Geschmacks in Sachen der Kunst, der Musik zum Beispiel, und so fühlte sie sich bald zu Albert im rechten Sinne des Wortes hingezogen. Er hielt ihres Schicksals Fäden in seiner Hand gespannt.

Sobald Albert diese Stimmung der Dame erkannte, war er darauf bedacht, sie zu erhalten und klug zu schüren. Er sah, wenn er mit ihr sprach, ihr gerade und forschend ins Gesicht, und sie sog eine dunkle Wollust aus seinen Blicken, daß sie oft in der Rede stockte und nicht weiter wußte. Er achtete darauf, zufällig ihre Hand zu berühren, was ihre Lippen zittern machte, und trieb sie also in eine Leidenschaft, nicht weniger glutvoll und schrankenlos als die, welche der Graf zu ihr fühlte.

Als Albert die Dame sich fügsam genug glaubte, trat er eines Nachmittags in ihr Boudoir, und ohne weitere Vorrede sagte er ihr mit einer Festigkeit, welche die Traurigkeit seiner Blicke milderte: er wolle ihrer Sehnsucht zu Willen sein, sofern sie sich ihm eidlich verpflichte, er sagte das Wort „eidlich“ zweimal, während er auf seine Hände sah, die die Dame mit bangem Entzücken anstarrte, eidlich verpflichte, das Vermögen des Grafen fürder zu schonen und über eine bestimmte Summe monatlich nicht hinauszugehen, indem er ihr die notwendigen Folgen einer weiteren Verschwendung in schwarzen Bildern vor Augen führte. Die Dame, obgleich sie das Erniedrigende ihrer Lage dumpf ahnte, war dennoch von Begierde so geschwächt, daß sie ohne weiteres einwilligte, den ihr vorgesprochenen Schwur nachsprach und weinend, in einen Sessel sank. Albert trat auf sie zu, küsste sanft ihr Haar und versprach, in einer der nächsten Nächte ihr seine Liebe zu schenken. „Gib mir ein Pfand“, sagte sie unter Tränen, da sie fühlte, daß er ihr vielleicht noch entgleiten könnte. Er ließ ihr den vom Grafen ihm geschenkten Ring zum Pfand und verabschiedete sich.

Der Graf erinnerte sich nicht, seinen Diener je so aufgeräumt und fröhlich gesehen zu haben wie diesen Abend beim Auskleiden. Albert erzählte ihm die lustigsten Schnurren von der Umgebung, von den Freunden des Grafen und porträtierte einige in ihren menschlichen Schwächen und Albernheiten so gut, daß der Graf aus dem Lachen nicht herauskam. Am Ende aber wurde Albert ernst, und als er ihm gute Nacht wünschte, war er von heftiger Unruhe befallen. Er zögerte, dann packte er wild die Hand des Grafen und bedeckte sie mit vielen Küssen. Der Graf, dem die Hitze und Inbrunst der Küsse unheimlich vorkam, zog seine Hand schnell zurück.

Am nächsten Morgen trat Albert, der den Grafen noch im Schlafzimmer vermutete, ohne anzuklopfen in sein Arbeitszimmer. Wie Loths Weib blieb er erstarrt am Türpfosten stehen. Er hatte den Grafen und die Dame in einer intimen Liebkosung überrascht. Die Dame, glutrot vor Scham, vor ihrem wirklichen Liebhaber sich so bloßgestellt zu haben, verbarg schluchzend den Kopf in den Kissen des Diwans. Der Graf aber fuhr empört auf, und indem er in seiner Verlegenheit und Wut, daß Albert noch immer in der Tür stand, keine Worte fand, wies er ihn mit hastiger, zorniger Handbewegung, in der der Ekel zitterte, hinaus.

Albert aber stand steif und erstarrt, die Augen gläsern und leer wie zwei tote Kugeln auf den Grafen gerichtet. Dann begann sein Leib zu beben und sich zu krampfen, seine Nasenflügel vibrierten, er riss mit beiden Händen an der Portiere, und mit einem entsetzlichen Schrei biss er sich in sie hinein, um mitsamt der Portiere, die sich von ihrer Stange löste, polternd zu Boden zu fallen.

Der Graf trug die ohnmächtig gewordene Dame in das Nebenzimmer und gab den inzwischen vom Lärm herbeigerufenen Leuten Anweisung, Albert in sein Zimmer zu bringen und sofort einen Arzt zu holen.

Albert lag wie tot auf der Matratze. Vor seinen Lippen schimmerte bläulichweiß ein Anflug von Schaum, die Farbe der Hände und des Gesichts war gelblich-grau.

Der Arzt kam. Bei der Untersuchung war nur der Graf noch zugegen. Als der Arzt Albert das Hemd aufriss, wandte er sich plötzlich mit einem verwunderten und fragenden Blick an den Grafen.

„Es ist ein Mädchen“, sagte er leise.

Da schlug Albert die Augen auf, und als er den Grafen sah, lächelte er ein wehmütiges Lächeln, das um Verzeihung bat: „Der Ring …“

Es war ihr letztes Wort. Am Abend starb sie. Sie hatte den Anblick, den Geliebten leiblich in den Armen eines andern Weibes ruhen zu sehen, nicht überleben können. Für eine Woche bildete das Schicksal dieses Mädchens, von den Zeitungen phantastisch aufgeputzt, das Tagesgespräch der ganzen Welt. Der Graf aber wurde in seinem Tiefsten erschüttert und verfiel in eine Melancholie, aus der ihn kein Weib mehr zu retten vermochte. Er gab ihr den Ring mit ins Grab und mit dem Ring sein eigenes Leben.

Der Himmelsbaum

Es war einmal in Crossen ein armer Tagelöhner, der hatte kein Geld, um für seine vielen Kinder Brot zu kaufen. Als sie Hunger hatten und schrien, gab er ihnen Eicheln, wie man sie den Schweinen vorwirft. Eine Eichel aber behielt er, steckte sie in die Erde, alsbald entsproß ihr ein Eich­baum, der Eichbaum wuchs immer höher, bis seine Krone in den Himmel reichte. Da stieg der arme Mann von Ast zu Ast bis zum Himmel. Er klopfte an das Himmelstor. Sankt Petrus fragte: „Wer ist da?“ „Ein armer Mann mit zwölf Kindern.“ Da sprach der Herrgott zum Sankt Peter: „In der Speisekammer liegen noch einige übrig gebliebe­ne Brote, gib sie ihm.“ Und Petrus gab sie ihm. Der Mann kletterte wieder zur Erde herunter, und seine Kinder wa­ren selig, daß sie sich wieder einmal satt essen konnten. Als sie sich satt gegessen hatten, kroch der Mann wieder zum Himmel empor und dachte bei sich: Wenn du Glück hast, bekommst du heute vielleicht Semmeln. Er klopfte an das Himmelstor. Sankt Petrus fragte: „Wer ist da?“ „Ein armer Mann mit zwölf Kindern.“ Da sprach der Herrgott zum Petrus: „In der Speisekammer liegen noch einige übrig gebliebene Semmeln. Gib sie ihm.“ Und Petrus gab sie ihm. Der Mann kletterte jetzt alle Augenblicke auf dem Himmelsbaum in den Himmel. Und immer bekam er, was er dachte: Kuchen, Fleisch, endlich sogar Silber, Gold, Edelsteine. Als er aber ein reicher Mann geworden war, wurde er ein böser, habgieriger und hartherziger Mann. Er gab den Armen nicht einen roten Heller. Nachdem er sich alles schon vom Himmel erbeten hatte, was es nur an welt­lichen Gütern gibt, und es war ihm stets gewährt worden, stieg er eines Tages wieder in den Himmel hinauf. Er klopf-an das Himmelstor. Sankt Petrus fragte: „Wer ist da?“ „Ein reicher Mann mit zwölf Kindern.“ „Was ist dein Be­gehr?“ „Ich möchte das himmlische Zepter, mit dem Gott die Welt regiert.“ Er dachte aber, daß dieses Zepter reich an Smaragden, Rubinen, Saphiren, Perlen, Brillanten he­tzt und gewiß aus purstem Gold sein müsse. — Der Herr­gott sprach: „Gib ihm das Zepter.“ Und Petrus gab ihm das Zepter. — Es war eine weiße Lilie. Da bekam der reiche Mann vor Wut einen roten Kopf, da er glaubte, man habe ihn betrogen. Er traute Gott einen Betrug zu, schlecht war er geworden. Er verlor in seinem Zorn das Gleichgewicht, stürzte von der Krone des Eichbaums hin­ab bis in die tiefste Tiefe und stürzte bis in die Hölle, und da ist er noch heute. Den Himmelsbaum aber ließ Gott von Josef, der ja ein Holzfäller und Zimmermann gewesen, fällen, damit niemand mehr auf ihm in den Himmel hinaufsteige. Heute gelangt man nicht mehr auf den Zweigen des Himmelsbaumes, sondern nur mehr auf der Himmelsleiter in den Himmel, deren Sprossen gute Gedanken und gute Taten sind.

Die erste Schwalbe

Als der alte Marienkirchturm noch in Crossen stand, da versah einmal das Amt eines Turmwächters ein junger Bur­sche von kaum zwanzig Jahren. Er war erst zwanzig Jahre alt, aber niemand hätte ihm beim ersten Anblick diese zwanzig Jahr geglaubt. Furchen liefen durch sein Gesicht, seine Haare waren weiß, er ging gebückt, als trüge er ei­nen Buckel. Er sah einem Greis von siebenzig so ähnlich wie eine Grasmücke der andern. Sein Wesen war grim­mig, mürrisch und verschlossen. Niemand fand den Schlüs­sel zu seinem Herzen. Niemand den Grund seines frühen Aiterns. Sein Name war Schwalm. Aber wenn man ihn grüß­te: „Guten Tag, Herr Schwalm“, so gab er keine Antwort und hob kaum den zittrigen Kopf.

Es war wieder einmal ein Winter ins Land gegangen. Der alte Schwalm — so hieß er trotz seiner ein- oder zweiund­zwanzig Jahre— hatte im eisigen Nordwind auf steiler Höhe doppelt gefroren wie die Leute unten auf dem Markt. Das erste Grün sproß auf der Aue. Die Weidenkätzchen knospeten. Bald würde auch die erste Schwalbe kommen. Der Tag der Ankunft der ersten Schwalbe galt dazumal als ei­gentlicher Frühlingsanfang und bedeutungsvoller, ja hei­liger Tag. Damals achteten die Menschen noch auf Vögel. Wolken und Sterne und achteten sie. Die Natur war ihnen noch nicht ein Warenhaus, wo man den Anblick einer ver­krüppelten Kiefer oder eines halbtoten Käfers in einem sogenannten Waldrestaurant für dreißig Pfennige bei ei­ner Tasse Zichorienkaffee ersteht. — Der Türmer war ver­pflichtet, die Ankunft der ersten Schwalbe durch sein Horn zu verkünden. Schwalm hatte schon tagelang nach Süden gelugt, aber keine Schwalbe machte sich bemerkbar. Ei­nes Nachts war er im Lehnstuhl am Turmfenster einge­duselt, als ihn eine sanfte Stimme weckte: „Guten Abend, Herr Schwalm“. Er fuhr aus dem Halbschlaf und sah ein junges, schönes, aber ganz in armseliges Grau, wie ein Bettlerkind gekleidetes Mädchen vor sich stehen. Er wollte grimmig dreinschauen, aber das Mädchen lächelte ihn so freundlich an, daß er sie nur erstaunt fragte: „Wo kommst du her, jetzt mitten in der Nacht?“ Das Mädchen lächelte wieder und wies auf das geöffnete Fenster: „Durch das Fenster bin ich gekommen.“ Schwalm Verwunderte sich immer mehr: „Durch das Fenster bist du gekommen? Ja, kannst du denn fliegen?“ Das Mädchen sprach leichthin, als verstände sich das ganz von selbst: „Natürlich kann ich fliegen.“ „Ja, wer bist du denn dann?“ fragte Schwalm. Da lächelte das Mädchen wieder: „Ich bin die erste Schwalbe!“ Da wollte Schwalm das Horn erheben und den Leuten in der Stadt die endliche Ankunft des Frühlings verkünden. Das Mädchen aber entwand ihm das Horn und sprach: „Laß — das erfahren die Menschen morgen früh noch zeitig genug.“ Und sie setzte sich auf seinen Schoß und streichelte seine Wangen. Da verschwanden all die Runzeln daraus und sie wurden die Wangen eines Jüng­lings von zwanzig Jahren. Und sie streichelte seine Haare, da wandelte sich ihr silbernes Weiß in goldenes Blond. Und sie strich über seinen Rücken. Da straffte er sich. Sie lächelte, und da lächelte auch er zum erstenmal in seinem Leben. Sie küßte ihn und er küßte sie. Am nächsten Morgen verkündete er mit seinem Horn beim ersten Sonnenstrahl den Crossnern die Ankunft der ersten Schwalbe. Mittags aber stieg er trällernd vom Turm und ging zum Pfarrer von Sankt Marien. Der wunderte sich nicht wenig, statt des alten grämlichen Schwalm einen jun­gen heiteren Schwalm vor sich zu sehen. „Hochwürden“ sprach der junge Schwalm, „ich komme, ein Aufgebot zu bestellen.“ „Und wer gedenkt in den heiligen Stand der Ehe zu treten?“ Der Pfarrer nahm seine Stahlbrille ab. „Der ehrenwerte Junggeselle Schwalm mit der tugendsamen Jungfrau Schwalbe aus Altrehfeld“. „Das ist mal eine Überraschung“, sagte der würdige Pfarrherr. „Ja, ja, der Frühling –„ und tunkte den Gänsekiel ins Tintenfaß und schrieb mit zierlichen Buchstaben das Aufgebot.

Bauernballade

Der Jochen war ein armer Bursch,
Katharin‘ eine reiche Dirn.
Es schlug ein Band um beide sich,
War fester und zarter als Zwirn.

Sie trug einen Apfel über Nacht,
Über Nacht auf ihrem Schoss.
Gab ihm den Apfel. Er aß davon
Und konnte von ihr nicht los.

Sie gab ihn drei Tropfen von ihrem Blut,
Er gab ihr drei Tropfen von sich.
Wer der Geliebten Blut trank, der ist
Verfallen ihm ewiglich.

Und ob der Bauer ihr Prügel droht,
Sie Schwur ihm den Myrthenkranz,
Den Hochzeitstanz, die Hochzeitsgans,
Er schwor ihr den Rautenkranz.

———

Und Jochen einst in die Heide ging,
Da saß am Weg ein Mann,
Ein rotes Männchen saß auf dem Stein
Und kämmte die Läuse sich aus.

Er kämmte die Läuse in einen Sack,
Und sprach: Trag mir den Sack,
Trag eine Weile ihn Huckepack,
So sollst du Katharina frein.

Der Jochen spuckt lachend sich in die Hand
Und hebt den Sack – und hebt
Ihn keinen Zoll vom Boden auf.
Der Sack war schwer wie Blei.

Da kichert der rote Zwerg:
Wer eine Stunde sich laust,
Dem schenke ich den ganzen Sack,
Den Sack voll Läusen da.

Und Jochen hockt sich auf einen Stumpf
Und laust den roten Mann
Und liest ihm die roten Läuse ab
Eine Stunde oder mehr.

Und als keine Laus mehr im Schapfe saß,
Da sprach das Männchen: Hab Dank!
Und sprang als Eichhorn den Baum hinauf
Und ward nicht mehr gesehen.

Der Jochen öffnet den Läusesack –
Da war er voll purem Gold.
Eine jede Laus war ein Louis d’or,
Ein Louisdor preußischen Courant.

Da jubelt Jochen: Katharina ist mein:
Nun halt ich beim Bauern an –
Vergräbt den Schatz unter einem Strunk
Und kehrt als reicher Mann.

Nun Hab ich wie Ungeziefer so viel
Gold und Gold und Gold –
Und singt sich eins und springt sich eins
Und pfeift und tobt und trollt.
———
Als durch den Wald er nach Hause ging,
Da war es späte Nacht.
Da stieg der Mond am Himmel auf,
Da fiel ein Stern herab.

Und wenn eine Jungfrau stirbt, dann föllt
Ein Stern vom Himmel herab.
Dann kommt ein weißer Vogel zur Nacht,
Zur Mittnacht ans Fenster geflogen.

Mit goldenem Schnabel der Vogel klopft
Ans Fenster: Mach auf: Mach auf:
Er fliegt durch Glas, als wäre es Luft,
Pickt Totenaugen wie Korn.-

Dem Jochen schauderts, als über die Brück,
Die falsche Brücke er geht.
Er sieht im Wasser ein bleiches Gesicht,
Kathrina. Kathrina, den Mond –

———
Die Tote liegt auf der blanken Bank,
Einen Kiesel zwischen den Lippen,
Die Lippen sind blau, der Bauch ist dick,
Wie der Bauch einer schwangeren Frau.

Katharina. Katharina, Jungfrau süß
Du wirst einen Tod gebären,
einen kleinkleinen Tod, die Knöchelchen
Klingen wie Kälberknochen.

Was trägt Katharina denn für ein Kleid?
Die schwarze Schärpe der Braut,
Die schwarze Schürze, den schwarzen Rock
Und das Brusttuch aus weißem Tüll.

Und Jochen kniet noch einmal am Sarg,
Der auf nassem Spreesand steht
Es war an einem Tag wie heut,
Der Herr Jesus gemartert ward.

Einst kamen drei Jungfrauen vom Himmel herab,
Die erste brachte das Gras,
Die zweite brachte die Blumen dazu,
Die dritte das Laub auf den Bäumen.

Und die Dritte, die das Laub gebracht,
Hiese dreimal wehe Kathrin.
Katharina hat das Laub gebracht,
Nun ist das Laub verwelkt.

Auf den Hügeln Gottes drei Rosen Stehn,
Die erste blüht rot wie Blut
Die zweite Rose blüht weiß wie Schnee,
Die dritte blüht schwarz wie die Nacht.

Und wehe, wehe die Dritte heißt
Katharina, die schwarze Rosen
Nun ist der schlanke Stiel geknickt,
Der Wind hat die Blüte entblättert.
———
Die Leichenträger stehen schon am Tor,
Das Florband weht am Hut,
Sie tragen Sträuße in der Hand
Aus Wachs und Papier.

Und aus Wachs ist Katharinas Angesicht,
Und zeigt dem Tod, dass ihr lebt.
Käs, Kuchen, Biersuppe und Branntwein
Soll verfressen, versoffen sein.

Sing jetzt das Lied, das letzte Lied,
Die Glocken läuten schon.
Da fliegt ihre Seele zum Himmel auf,
Der zarte weiße Vogel.

Sie fliegt in die sonn, wie die Mücke in’s Licht
Und Jochen steht am Zaun.
Er reißt die Augen zur Sonne auf,
Die Tränen niedertauen.
———
Katharina fand im Himmel nicht,
Und Jochen auf Erden nicht Ruh.
Es saß am Wehr, am Wasserwehr,
Und sah den Uklein zu.

Er warf ein Netz und zog und zog
Und freute sich seines Glücks.
Er zog eine schwere Beute aufs Land –
Das war ein grüner Nix.

Von Wasserlilien und –rosen war
Um die Nixe ein weißes Geschling.
Sie lachte, und lächelte und sah
Ihn an, dass er verging:

Ich bin die Tochter des Wassermanns,
Komm mit mir auf grünen Grund:
Ich habe eine Kuh aus Silber
Und einen goldenen Hund.
Der Hund frisst tote Fische,
Die Kuh frisst Alge und Tang.
Die Kuh sch… silberne Taler,
Und Goldstücke k… der Hund.

Auf seinem Binsenthrone
Da sitzt der Wassermann.
Um seinen Hals an einem Strick
Hängen neun tote Kinderlein.

Er herrscht über Fische und Frösche,
Über Fluss, und Traun und Teich
Komm mit mir, Du solltest der Kronprinz sein
In des Wassermanns Reich.

Da fiel ihm vom Himmel ein Sonnenstrahl
Ins Aug. Eine Träne rann.
Er sah Katharina mit einemmal
Die sie in der Spinnstube spann.

Er hob sein Ruder und schlug es
Der Nixe um Haupt und Gebein.
Er schlug, bis sie in Stücke sprang.
Er schlug einen moosigen Stein.

Als unser Herrgott auf werden ging,
Da lebte auch Holz und Stein.
Du grindige Hexe#, Du Liliengeschling,
Du solltest verwunschen sein.

———
Katharina im siebenten Himmel saß
Und trat das Spinnrad ohne Rast.
Sie spann für die Engel Linnen,
Sie schlief beim Wocken schier ein.

Und als der Herrgott vorüber ritt,
Er hielt den Schimmel an:
Was spinnst du da, wen sinnst du da?
-Ich denke an meinem Mann,

An meinen Mann, der mein Mann noch nicht war,
Ich denke immer an ihn.
Wenn ein Spinnrad geht, wenn der Westwind weht,
Wenn die weißen Wolken ziehn.

Der alte Mann strich seinen Bart,
Seinen langen, weißen Bart:
Und spinnst du Flachs wie mein Barthaar so weiß,
So sollst deinen Jochen du han.

Katharina spann sieben Tag und Nacht
Und spann den Flachs ihm zu Dienst,
Wie sein Barthaar weiß – und trat vor den Greis,
Und brachte ihm ihr Gespinst.

Da strich der Herr seinen weißen Bart,
Seinen langen weißen Bart:
Und spinnst du Flachs wie Sternstrahl so licht,
So sollst deinen Jochen du han.

Katharina spann sieben Tag und Nacht
Und spann den Flachs so licht,
Wie Sternstrahl, Mondstrahl, Sonnenstrahl licht
Und brachte dem Herrn ihr Gespinst.

Da strich der Herr seinen weißen Bart:
Spinnst du Flachs so zart wie das Band
Das dich mit Jochen bindet und band,
So sollst deinen Jochen du han.

Katharina spann sieben Tag und Nacht
Und spann den Flachs so zart
Wie das Band, dass sie mit Jochen verband,
Und brachte dem Herrn das Gespinst.

Da strich ihr der Alte über das Haar:
Du sollst gesegnet sein!
Zur Kirmes, wenn Tanzmusik im Krug
Darfst du zur Erde herab. –

Der Alte bestieg sein weißes Pferd
Und ritt über Wilken davon.
S’war hoher Sommer und Mittagszeit,
Und Schweigen weit und breit.

Die Lufterzitterte blinkend, Es war
Kein Mensch mehr auf dem Feld.
Er ritt und prüfte die Ähren, wie
Es mit der Ernte bestellt.

Und forschte auch nach den Fischen im Teich.
Da saß der Jochen am Wehr.
Er sah auf den Schimmel des Alten, und
Die Lider wurden ihm schwer.

Er fiel in Schlaf und erblickte Kathrin,
Wie sie im Himmel spann.
Die Karpfen tauchten aus grünem Grund
Und sahen den schlafenden Mann.
———
Was steht den Burschen zur Kirmes zu?
Eine große Kanne Wein.
Was gehört den alten Weibern?
Ein Pelz mit Läusen drein.

Was gehört den aalten Jungfern?
Ein filziger Flederwisch.
Was gehört den jungjungen Mädchen?
Ein junger Bursch bei Nacht.

Und unsere dicke Bäuerin
Hat gestern … geklatscht,
Hat sich den feisten A… gewischt
Mit stinkenden Schweinestreu.

Wir Burschen tragen Kränze und Korn,
Aus Hafer und Gerste den Kranz.
Im Krug wird heute aufgespielt
Hoiho zum polschen Tanz.
———
Die Olle, die Olle wird eingebracht,
Der letzte Wagen Korn.
Die Harken sind mit Blumen geschmückt
Die Mädchen mit buntem Band.

Sie finden beim Mädchen ein totes Kind,
Ein totes Kind im Korn.
Die Ähren standen wie ein Wald,
Es hatte im Wald sich verspielt.

Doch niemand kannte das Kind im Dorf,
Das Kind war schwarz wie Russ,
Wie die Mädchen und Burschen am schwarzen Tag,
So schwarz war das tote Kind.

Da höhnte ein Bursche: Das ist das Kind,
Das Kind von der Kathrin,
Der Jochen wird schon wissen, woher
Kathrin das schwarze Kind hat.

Was war an deiner Kathrine schon dran,
Die war eine läufige Petze.
Eine alte Mulde, ein Schluderding.
Eine schmutzige Klunterliese.

Da schrie der Jochen: Du Eierkerl!
Du Klotz! Du rothaariger Beier!
Du Quappennase, du Plindrian,
Du Laps! Dass dich der Geier!

Und hob die bekränzte Harke und schlug
Dem Lästerer sie ins Maul.
Der brach zusammen und spie sein Blut,
Wie der Ochs, den das Messer traf.
———
Auf dem Erntewagen die Puppe stand,
Eine puppe aus leerem Stroh.
Das sit die Ulla. Und sie empfängt,
Wer die letzte Garbe band.

Der Jochen die letzte Garbe band.
Er trug die Puppe nach Haus.
Sie lachten wie Geblicks hinter ihm drein:
Glückauf zum neuen Schatz!

Er stellte die Puppe an den Herd.
Und wandte sich und sah
Zum Fenster hinaus in die Dämmerung,
Und suchte den ersten Stern.

Da hört er ein Rascheln hinter sich,
Wie wenn man Mäuse im Stroh-
Es raschelt und huschelt und knistert und knackt,
Wie wenn Rehe durchs Unterholz brechen.

Und im Fenster erscheint ein silberner Schein,
Ein roter – er wendet sich
Und sieht am Herd die Puppe schon
In lohen Flammen stehn.

Doch aus dem Feuer trat eine Gestalt
Ein nackter weißer Leib.
Sie sah ihn an. Er sah sie an.
Es war Kathrin, sein Weib.

Sein Weib, dass noch sein web nicht war,
Sie sanken sich an die Brust.
Und aus den Flammen wunderbar
Entbrannte Lust um Lust.

Er fühlte nicht, wie er Feuer fing,
Und wie sein Haar versengt.
Er fühlte nur, wie sie an ihm hing
Und wie ihre Brust ihn bedrängte.

Die Lippen waren wie Sonne und Erd
Ineinanderverbrannt.
Sie bot ihm ihren jungfräulichen Leib
Zur feurigen Hochzeit dar.

———
Die Feuerglocke bellte vom Turm.
Sie kamen mit Tonne und Schlauch,
Es bleib eine schwarze Mauer nur,
Von Jochens Kate stehn.

Sie fanden von Jochen keine Spur,
Er war zu Asche verbrannt.
Dar Pastor schlug ein Kreuz übern Ort.
Ein Uhu schrie im Wald.

Am hohen Mittag ritt ein Mann
Auf einem Schimmel vorbei.
Es regnete. Am Himmel hing
Ein leuchtender Regenbogen.

Und der Reiter sprengt über ihn dahin
Als wäre die Polsche Brücke.
Und reitet auf seinem weißen Pferd
Stracks in den Himmel hinein.
———

Am Haidweg aber saß ein Mann,
Ein rotes Männchen, das sah
Dem weißen Reiter verdrossen nach
Und reckte die sumpfige Hand.

Dann kicherte es in sich hinein
Und greift nach den Läusen im Bart
Und meckerte: Das Läppchen kommt auf das Loch,
Das Loch kommt auf das Läppchen.

Es schlich die Mittagsfrau des Wegs:
Ist uns das Gold nur gewiss
Die Seelen von Jochen und Kathrin?
Das gakste das Männchen höhnisch.

Die Mittagsfrau die Sense hob
Und schlug ihm das Haupt vom Hals.
Sein roter Saft versickerte
Wo der Schatz vergraben lag.

Und die Mittagsfrau nach dem Schatze grub
Sie hob den Sack und schwenkte ihn,
Er lüpft sich leicht wie ein Lappen.

Da waren keine Dublonen drin,
Nur tausende roter Läuse,
Die fielen über die Mittagsfrau her
Und fraßen sie bis aufs Gerippe.
Doch
Doch wer am Kreuzweg vorüberkommt,
Um Mitternacht so schaurig
Erscheint das Skelett ihm der Mittagsfrau.
Die Knochen klappern so traurig.

Wanderung zur Nacht

Wenn ich in Nächten wandre
Ein Stern wie viele andre,
So folgen meiner Reise
Die goldnen Brüder leise.

Der erste sagts dem zweiten,
Mich zärtlich zu geleiten,
Der zweite sagts den vielen,
Mich strahlend zu umspielen.

So schreit ich im Gewimmel
Der Sterne durch den Himmel.
Ich lächle, leuchte, wandre
Ein Stern wie viele andre.

Auf der Walze

Glauben Sie an Gott? fragte der Diakon. Gott, das heißt doch wohl das Gute, sagte ich, wie kann ich an ihn glauben, da er mich in den Dreck getreten hat und mich zerquetschen wird wie eine Wanze. Wenn Sie nicht an Gott glauben, sagte der Diakon und schnaubte sich seine an der Spitze mit zwei bräunlichen Warzen versehene Nase, so kann ich Ihnen nichts zu es­sen geben. Sie sind hier in einem frommen Hause. Also gut, schrie ich erbost, gut, wenn Sie mir einen Teller warme Suppe geben, werde ich an Gott glauben. Erst müssen Sie an Gott glauben, danach werden Sie die Suppe erhalten. Der Diakon sah mich über seine verboge­ne Stahlbrille mit Hechtaugen an.

Zum Teufel noch einmal, ja, ich glaube also an Gott, — ich wurde schon blau im Gesicht vor Wut über diesen einfäl­tigen, boshaften Narren von Diakon.

Der Diakon schöpfte mit einem blechernen Schöpflöffel, der mit einer Kette an der Anrichte befestigt war, aus einem einfachen Kessel eine graue, stinkende Fischsuppe n meinen hingehaltenen Teller.

Ich setzte mich damit an einen Tisch, wo schon ein älte­rer, kahlköpfiger, sommersprossiger Mann saß, der stumpf­sinnig in der Annoncenbeilage einer verjährten Zeitung las.

Er rümpfte missbilligend die Nase, als ihm der Geruch meiner Suppe hineinstieg.

Lauwarmes Wasser, über Heringsköpfe und abgenagte Grä­ten gegossen.

Vorgestern war Sonntag. Da gabs Hering mit Pellkartoffeln. Er vertiefte sich wieder interessiert in die Bekanntmachung eines Saisonausverkaufs von Weißwaren, der wer weiß vor wieviel Jahren stattgefunden. Billige Hemden! äußerte er anerkennend. Ein reelles Geschäft, daran ist nicht zu tipp­en. Weiße Woche! — und er wies mit spitzem, knöcheri­gem Finger durch das mit Eisblumen beblühte Fenster nach draußen auf die Straße. Es schneite, er meckerte vergnügt, als hätte er einen Witz gemacht. Ich löffelte noch immer schweigend die Brühe in mich hinein. Sie war wenigstens heiß. Das tat gut. Haben Sie auch an Gott glauben müssen? Der sommersprossige Greis zeigte mit der Schulter nach dem Diakonen.

Es klingelte.

Das war das Zeichen zur Abendandacht, er Diakon kam und verteilte Gesangbücher.
Wir standen auf, und wer eine Mütze hatte, der nahm sie ab.
Nummer 13, sagte der Diakon.
Und wir sangen drei Strophen des Chorales:
Bis hierher hat uns Gott geführt.

Durch seine große Güte. … Dann betete der Schlummerbos. Er war taub und schrie, als ob er um Hilfe schrie. Draußen, auf der Straße, hinter dem Fenster mit den Eisblumen blieben die Kinder ste­hen, hauchten ihren warmen Atem an das Glas, daß die Eisblumen schmolzen und grinsten in die Stube. Der Diakon griff nach einer blakenden Funzel und leuch­tete uns über eine wacklige Treppe in den Schlafsaal. Wir lagen auf den harten Matratzen unter den dünnen Decken und froren jämmerlich.

Ich lag neben dem kahlköpfigen Greis. Der saß aufgerich­tet, splitterfasernackt, in seinem Gestell. Ich sah seinen nackten, dürren Greisenkörper, der mir Widerwillen ein­flößte. Er untersuchte sein Hemd sachkundig auf Läuse. Auf Bienen. Mit heiserer Stimme versuchte er zu intonie­ren:

Mein Herz, das ist ein Bienenhaus – Halt die Klappe! schrie jemand aus einer Ecke. Der Greis hielt augenblicklich inne und winselte nur etwas in sich hinein, daß die heutige Zeit keinen Respekt mehr vor dem in Ehren erworbenen Alter hege. Er faselte in der Tat et­was von: in Ehren erworbenem Alter. Dann klappte er wie ein Taschenmesser um und fiel sofort in Schlaf. Ich konnte nicht einschlafen.

Der Schein einer Straßenlaterne fiel über mein Gesicht und in meine entzündeten Augen.

Auch hörte ich in meinen Ohren ein Sausen, wie wenn der Hochwald saust, ein Rauschen, wie wenn das Meer rauscht.

Ich warf mich von einer Seite auf die andere, endlich schlief ich ein. Ich hatte einen wüsten Traum: on einem Mädchen, das an Stelle seiner Brüste zwei Quall­en hatte.

Als der Diakon: Aufstehn! brüllte, glaubte ich, keine Mi­nute geschlafen zu haben. Wir wuschen uns auf dem Korridor unter der Wasserleitung. Ein Stück Seife hatte nur der kahlköpfiger sommersprossige Greis, der aber eifersüchtig darüber wachte, daß es kein anderer benutzte.

Wir bekamen als Frühstück einen Kaffee, der genauso wie die Fischsuppe von gestern Abend.

Für Abendbrot, Übernachten, Frühstück musste ich zusammen vierzig Pfennige bezahlen,

Vor der Morgenandacht entfloh ich ins Freie.

Es lag noch Schnee. Aber die Sonne kam gerade herauf und es sah nicht aus, als ob der Schnee liegen bleiben würde.

De kleine Stadt schlief noch.

Einsam dröhnte mein Schritt auf dem holprigen Pflaster, Katzenköpfe genannt, ein Bäcker schob den Rollladen empor. Es duftete nach seinen Semmeln. Ich konnte der Verlockung nicht wi­derstehen und erstand zwei sogenannte Salzköter für einen Sechser.

Ich schob sie in meinen Rucksack und trottete aus der Stadt hinaus, auf der Landstraße nach Halberstadt, es war im Grunde genommen völlig egal, wohin ich wanderte. Die Welt stand mir nach allen Seiten hin offen. Ich hätte um die Himmelsrichtungen würfeln können. Ich hatte auch nichts zu versäumen, rein gar nichts. Ich brauchte nicht dann und dann da und dort zu sein. Ich hatte so viel Zeit wie Gott: eine ganze Ewigkeit. Berauscht von diesem herrlichen Gefühl, über Raum und Zeit zu gebieten, be­gann ich, einen Marsch zu pfeifen, nach dessen Takten sich trefflich marschierte.

Ich mochte drei Stunden gegangen sein, als ich im Walde einem Kerl begegnete, wie man ihm im Walde nicht gern zu begegnen pflegt. Er war groß, dick, breitschultrig. Sein Kinn war mit verschiedenfarbigen Stoppeln besetzt, als habe einer darauf Gerste, Hafer, Weizen durcheinander gesät. Auf dem Kopf trug er eine Mütze aus Kaninchen­fell. Seine Augen waren wie mit spitzen Punkten nur an­gedeutet. Der ganze Bursche stak in einem abgetragenen Sommerpaletot, in dessen Taschen er seine Hände vergra­ben hatte.

Was hast du auf der Landstraße zu suchen, du Lausejun­ge? schrie er mich sofort an.

Wahrscheinlich nichts, was du verloren hast, gab ich ihm trotzig zur Antwort.

Schon hatte ich seine Metzgerpranke im Gesicht sitzen, daß ich auf der Stelle umfiel und im Straßendreck liegen blieb.

Wie beim Kämpfen um die Weltmeisterschaft im Boxen begann er zu zählen: Eins, zwei, drei … neun. All right. Fair play. Er begann, mir vom Boden aufzuhelfen und mir gutmütig den Schmutz abzuklopfen. Es ist gut. wenn die große Aussprache am Anfang, anstatt am Ende einer Bekanntschaft steht. Die Sache ist erledigt. Und er schüttelte mir die Hand. Shakehands. Es stellte sich her­aus, daß er sehr simpel Lehmann hieß, schon in Amerika gewesen war, in den Schlachthäusern Chicagos und auf den Farmen des Westens gearbeitet hatte und wegen seiner englischen Brocken den Namen Allright-Lehmann führte. Wir wanderten einträchtig zusammen weiter. Als wir Rast achten, erhielt er den einen Salzköter und ich durfte an seiner Kornpulle einmal ziehen.

Nun ist es mit deinem Leben zu Ende, dachte ich. Eine Fledermaus flog dicht über meiner Stirn. Ich spürte das leise Sausen ihrer Flügel. Es war ein nutzloses, überflüssiges Leben gewesen. Wem hatte es gefrommt? Niemandem. Nicht einmal mir selbst. Damals, als ich auf der Weidendammer Brücke in Berlin stand, früh um vier, und in die schmutzige Spree starrte, hätte ich schon ein Ende machen sollen. Freiwillig. Selbstherrlich. Jetzt hatte ich mich noch einige Monate Inngeschleppt zu keinem anderen Zweck, als um jetzt von dem herkulischen Mann, der a vor mir stand, mit der Keule eins auf den Schädel zu bekommen. Wie ein Gorilla, der sich einen Ast vom Baum rissen, stand er da, mit grünlich irisierenden Augen und gelb fletschenden Zähnen. Er war am ganzen Leib behaart und roch entsetzlich, daß mir ganz übel wurde. Hätte ich was im Magen gehabt, ich hätte es erbrochen. Das Dunkel verschwand, die Morgendämmerung kam herauf. Der Mann mit der Keule löste sich in einen Baum auf. Aber seine grünen Augen blieben über mir stehen. Es waren zwei Sterne, die von einem zarten rosa Hintergrund durch das Gezweig blinkten. Eine kühle Hand ergriff meine heiße Hand, eine Stimme, die so von weitem her klang, daß es mir schien, als spräche sie tief aus der Erde heraus, sprach: Dormito?« — ormi — to. Was war das für eine süße Musik! Das Morgenrot hatte den ersten Waldvogel geweckt. Er zwitscher­te dor – mi – to. „Dormito?“ wiederholte er, schon näher bei mir, aus dem Grase seinen zärtlichen Ruf. Ein kleines Gesicht beugte sich über das meine. Die grü­nen Sterne am Himmel erblaßten und verloschen. Zwei schwarze Augensterne funkelten mich an. Immer näher kam das Gesicht, immer größer wurde es, schließlich deck­te es den ganzen Horizont. Ein heißer Atem ging von ihm aus. Aber er roch nicht faulig wie der Atem des Mannes mit der Keule, er duftete nach Mandeln. Und das Gesicht begann zu brennen, heller, immer strahlender; bis ich ge­blendet die Augen schloß. Die Sonne war aufgegangen. Die kühle Hand ließ meine heiße Hand fahren. -Nach einer Stunde vielleicht kam Nina wieder mit einem Topf brühwarmer Milch, den sie bei einem Bauern erbet­telt haben mußte.

Sie setzte den Topf an meine Lippen und ich trank gierig. Dann schnitt sie einige Kartoffeln, die sie aus dem nahen Acker gebuddelt hatte, in Scheiben und beschrieb mit zwei feuchten Kartoffelscheiben zwei regelmäßige Kreise auf meiner fieberheißen Stirn. Hatte die erhitzte Haut sie schließlich ausgetrocknet, warf sie sie weg und begann mit zwei neuen Scheiben das gleiche Spiel. Das trieb sie so eine halbe Stunde, und ich fühlte mich wunderbar gekühlt und beruhigt. Ich dankte ihr mit einem langen Blick. Sie lächelte mir zu. Dann schlief ich ein. Und schlief zwanzig Stunden hintereinander. Als ich wieder aufwachte, fühlte ich mich noch matt und zerschlagen, aber ich war gesund. Nina saß bei mir und beobachtete aufmerksam mein Er­wachen.

„Dormito!“ jubelte sie, „viel dormito.“ Ich trank wieder Milch und richtete mich auf. Erst jetzt fiel mir ein, daß ich, seitdem ich den Schüttel­frost bekommen hatte, den Allright-Lehmann nicht mehr gesehen hatte. Wo steckte er? Wo war er? Ich sah mich nach allen Seiten um. Nina bemerkte meine suchenden Blicke. „Mann fort,“ radebrechte sie, „ganz fort.“ Ich griff nach dem Rucksack, der mir als Kopfkissen gedient hatte, und suchte nach meinem Geldbeutel. Abge­hen von einigen kleineren Silber- und Kupfermünzen mußte er noch ein Goldstück enthalten. Ich erschrak und versuchte, Nina klarzumachen, worum es sich handle.

Sie zuckte nur mit den Achseln und machte die Gebärde des Stibitzens.

Kein Zweifel: Allright-Lehmann hatte mir mein ganzes [Geld gestohlen.

„Nicht traurig sein,“ Nina lächelte, „nicht traurig sein, ich noch da, Nina noch da, Nina nicht von bösem Mann gestohlen!“

Da zog ich sie zu mir heran und küßte sie leise auf die feuchten, braunen Lippen.

Fuchswerbung

Fähe!
Schenk mir dein Junges zur Ehe,
Die schlanke Füchsin!
Sieh, wie ich voll Sehnsucht und Glücks bin!
Wir wollen zusammen spielen
Mit den Tannenzapfen, die ins Moss fielen.
Wir wollen zusammen Hasen jagen,
Wir wollen Gräser zur Höhle tragen,
Wir wollen eine wilde Ehe wagen,
Wir wollen Turmschwalben jagen, die im Fels hausen,
Wir wollen uns zärtlich den Pelz zausen.
Wir wollen aus einem Bache saufen
Und mit den Automobilen auf der Landstraße um die Wette laufen.

Die ewige Braut

Wir zogen zu dreien die Landstraße: Jim, privatisierender Totengräber, Kolk, Metallarbeiter und ehemaliger Fremdenlegionär, und ich, der Student. Der Frühling duftete braun aus der feuchten Scholle. Tief hing der rosaverdämmernde Abendhimmel auf uns herab. L., die Stadt mit den blauen Schieferdächern, lag seit drei Stunden hinter und unter uns. Die Wälder und Hügel Thüringens stiegen auf. Wir gedachten querdurch Thüringen uns nach Erfurt herüber zuschlagen.

Jim hatte eine Mundharmonika aus der Tasche gezogen und blies. Kolk sang mit einem etwas rostigen Bariton dazu:

Wenn der Schnee tropft von den Scheunen
Und die Wanzen ferne lauern,
Dann beginnen wir zu streunen,
Schlafen nachts beim Bauern …

Er sang nur eine Strophe und fiel unversehens in seinen bei der Legion gelernten Lieblingsgassenhauer:

Si vous avez aime,
Vous aimerez encore …

Die Straße machte eine scharfe Biegung. – Da reckte sich steil feindselig vor uns ein scharfer Felsen. Und auf dem Felsen wuchs, ein Stück Natur, altes Gemäuer, und ein Turm stand schief wie eine Eiche am Abgrund, und es schien, als wolle er jeden Augenblick in die Tiefe kippen. „Die Rotenburg“, sagte Jim und sah hinauf. Oben aus dem Turm blinkte ein kleines gelbes Feuer, wie von einer alt­modischen, lange nicht geputzten Petroleumlampe. „Wir könnten in der Rotenburg die Nacht bleiben“, sagte Kolk und blinzelte listig zu mir herüber. Ich war dem Spaß nicht abgeneigt.

Jim versuchte mit seiner Mundharmonika einen Fanfaren­stoß anzudeuten, der uns der Schlossherrin melden sollte .

Und ich erinnerte mich, was man uns in L. über die Herrin von Rotenburg erzählt hatte. In der Destille. Zwischen zwei Schnäpsen und einem Rülpser. In ihrer Jugend hatte sie sich in einen Tischlergesellen verliebt, der aus L. auf die Burg gekommen war, irgendeine Ausbesserung vorzunehmen. Sie war ihm nachgelaufen nach L. Sie hatte sich hin buchstäblich zu Füßen geworfen. Aber der Tischler­leselle stieß sie von sich. Er hasste sie, die Gräfin, aus dem Grunde seines verbitterten Proletenherzens heraus, s war damals die Zeit, als die Ausnahmegesetze gegen die Sozialdemokraten in Aussicht standen. – Die Gräfin ehrte auf die Burg zurück. Ihre Eltern starben kurz nacheinander. Sie war die einzige Tochter. Jetzt hauste sie oben dem verfallenen Gemäuer unter Efeu und wildem Wein, selbst eine Ruine mit einem sagenhaft alten Diener und Kastellan. Nie ging sie unter Menschen. Aber ihr Schloß stand gastlich jedem Wanderer und Vagabunden offen. „Ich glaube, es geht hier zwischen den beiden Tannen empor“, sagte Kolk.

Es war der einzige Weg, der aufwärts führte. Wir folgten ihm.

Nach einer Viertelstunde hielten wir vor einem hölzernen, eisenbeschlagenen Tor, das zwischen zwei kleinen dicken Seitentürmen eingelassen war. Ich klopfte mit meinen Stock dreimal feierlich an die Tür, wie ich es in Ritterromanen gelesen hatte. Jim blies dazu auf der Mundharmonika seine Fanfare.

Innen klapperte ein Schlüsselbund. Ein Schlüssel drehte sich einmal im Schloß. Eine Stimme brummte: „Wer seid ihr?“

„Ehrwürdiger Vater“, rief ich, „wir sind vornehme Granden aus Sevilla in Spanien und gekommen, um die Hand Eu­rer erlauchten, schönen und tugendsamen Herrin anzu­halten.“

Der Schlüssel drehte sich noch einmal, das Tor klappte auf – und ein Revolver modernster Konstruktion blitzte uns entgegen, während uns der Schein einer elektrischen Taschenlampe blendend ins Gesicht fuhr. „Verzeihen Sie, wenn ich Sie mit diesem Schießzeug be­lästige, meine Herren,“ brummte wieder die alte zitternde Stimme (und auch der Revolver zitterte in alter, schwäch­licher Hand), „aber es gibt so viele Strolche auf der Land­straße. Man muß sich vorsehen. Wollen Sie bitte Ihre Waf­fen ablegen? Hier herrschen Friede und Freude …“ Ich legte meinen Stock, Kolk seinen Schlagring, Jim seine alte Reiterpistole, die er mal in irgendeinem städtischen Museum gestohlen hatte, auf die Schwelle des Burgtores nieder. Dann durften wir eintreten. Der alte Kastellan schwankte vor uns her. „Der Tisch ist gedeckt, das Mahl ist bereitet… ich werde Ihre Hoheit benachrichtigen …“

Wir gelangten in einen mit roten Backsteinen gepflaster­ten Vorraum zu ebener Erde, dann links über eine eiserne Wendeltreppe in den ersten Stock in den Speisesaal, wo ein Kronleuchter über einem mit Brot, kaltem Fleisch und Wein bestellten länglichen Tische brannte. Den Fenstern gegenüber stand ein schön geschnitzter Lehnsessel – der einzige Stuhl im Zimmer – und über dem Sessel an der Wand hing ein von ungeübter Hand gemaltes Ölporträt eines jungen blondlockigen Menschen. Ich wußte auf den ersten Blick, daß es der Tischlergeselle sein solle. Wir standen neugierig, ein wenig hungrig, ein wenig verlegen vor der recht bürgerlich und gar nicht gräflich her­gerichteten Tafel. Kolk wollte schon mit den Händen nach einem Stück kalten Schweinebraten langen, als plötzlich eine hohe, in weißen Atlas gekleidete Frau wie durch die Wand ins Zimmer schwebte. Sie war sehr schlank, krank­haft schlank, die Gesichtsfarbe spielte ins Silbergrünliche. Aul roten vollen Haaren lag ein Myrtenkranz. Sie schwebte auf den Sessel zu, ließ sich graziös darin nieder und hob die Hand.

„»Mit Vergnügen und tiefer Genugtuung habe ich vernom­men, daß wieder einige Herren hoher und vornehmer Ab­kunft nicht die Unbill einer mühseligen Reise noch die Unsicherheit ihrer Sehnsucht in Hinsicht auf ihre Erfül­lung gescheut haben, um persönlich meiner viel gerühm­ten Schönheit Tribut und Ehrfurcht zu zollen. Ich bin die Gräfin Annette von Rotenburg und stehe im zwanzigsten Jahre und im Zenit meines Lebens. Wer sind Sie, meine Herren?“

„Erlauchte Gräfin,“ hub ich zu sprechen an, „wir sind die drei heiligen Könige aus Nirgendland.

Wir haben keine Heimat, wir haben kein Geld, Wir schlafen des Nachts auf freiem Feld …“

„Meine Herren,“ erwiderte sie, leise lächelnd, „Ihre Vermögensverhältnisse scheinen nicht gerade glänzende ge­nannt werden zu dürfen. Aber das tut nichts. Ich selber bin reich. Sehr reich. Ich sehe bei meinen Freiern mehr auf Charakter und Sinn für ein trautes Familienleben — Aber Sie sind gewiss hungrig? Greifen Sie zu!“ Stehend mussten wir uns an trocknem Brot und kaltem Fleisch sättigen. Es gab nicht einmal Butter.

Rotwein schenkte uns die Gräfin selbst aus einer Karaffe in Blumenvasen ein.

Darauf nahm Jim das Wort, indem er seine Blumenvase an die Lippen führte: „Gestatten Sie mir, gnädigste Grä­fin, auf Ihr geschätztes Wohl zu trinken. Ich bin Totengrä­ber, auch Leichenwäscher von Beruf. Wie Sie dasitzen. Hoheit, im weißen Atlaskleid, den Myrtenkranz im Haar, würden Sie die schönste Leiche geben, die ich mein Leb­tag gesehen habe.“

Die Rührung übermannte Jim. Er musste sich setzen. „Ach –„ sagte die Gräfin mit weicher trauriger Stimme: „Sie haben nicht so unrecht. Wenn ich nicht schon tot wäre, wurde ich gewiss noch heute lieber als morgen ster­ben mögen. Aber ich habe mich gut konserviert. Soll ich Ihnen das Mittel verraten, das mir das ewige Leben ver­bürgt? Es ist ein Hausmittel …“ Sie beugte sich über den Tisch. „Die ewige Brautschaft … Ja, ja,“ nickte sie bestä­tigend, „ich bedauere, Ihre ernstgemeinte Werbung, die mich sehr ehrt, leider abschlagen zu müssen …“ Sie lä­chelte glückselig: „Ich bin bereits verlobt …“ Sie stand auf, neigte sanft die bleiche Stirn  und war verschwunden. Wir schliefen die Nacht sehr schlecht. Oben im Turm war unser Lager. Der Wind zauste uns im Schlaf die Haare. Einmal glaubte ich, die weiße Dame besuchte uns hier oben. Aber es war nur der Mond, der aus den Wolken trat. Am nächsten Morgen, die Sonne vergoldete eben die Turm­spitze, brachen wir auf. Wir ließen uns durch den Kastel­lan, der uns eine Suppe kochte, der Gräfin untertänigst und mit Dank empfehlen. Dann schritten wir rüstig berg­ab, nachdem wir uns unserer Waffen wieder bemächtigt hatten.

Wir sprachen wohl eine Stunde lang kein Wort, bis Kolk leise und wie für sich zu summen begann:

Si vous avez aime,

Vous aimerez encore …

Revolution in Uruguay

Als ich vorhin in einer Redaktion war, fielen mir unverhofft ein paar Mark in die Hand. Ich kaufte mir davon einen Reisekoffer, denn ich will nächsten Mittwoch nach Berlin fahren. Danach ging ich ins Café Fahrig zum Nachmittagskonzert.

Gerade setze ich mich nieder, als eine rauschende, enervierende, tropische Musik über mich hereinbricht. Und Echo klingt von selber in mir auf. Ich balle die Faust und lasse sie wie Paukenschlag auf die Marmorplatte klirren. Was für eine Musik! Bin ich nicht einmal unter ihren Fahnen marschiert? Im Rhythmus einer irren Besessenheit? O, nicht von einer Frau besessen: süßer, verlockender, verlockter!

Ich sehe im Programm nach: … Volkshymnen … 878 … Uruguay …

Libertad! Libertad orientales!

Als ich mit 17 Jahren das Abiturium bestanden hatte, lud mich mein Vetter, der Schiffsarzt, ein, ihn auf einem Postdampfer nach Südamerika zu begleiten.

Von Hamburg bis nach Madeira lag ich bespien und verdreckt in der Kajüte und flehte den grinsenden Steward an, mich mit seinem Tranchiermesser zu durchbohren.

Auch Madeira ist mir nur mehr in Erinnerung als ein Berg, der wie eine Zuckertüte aus den Wellen sah.

Dann legte sich der Sturm, meine Übelkeiten schwanden langsam, und ich durfte besonnt und beglückt meine Augen dem Ozean entgegenbreiten.

Ich war drei Tage glücklich.

Am vierten schon begannen mich Himmel, Meer und Sonne (und die überreichliche Schiffskost) zu langweilen. Frauen führten wir nicht an Bord.

Ich war froh, als Montevideo, die Hauptstadt Uruguays, uns hügelig entgegenschwamm: ein klein wenig der Anblick von Zürich, wenn man von Chur her am Züricher See entlang streicht.

Ich ging mit meinem Vetter an Land. Der Zufall wollte, dass wir uns verloren. Ich war darüber nicht betrübt. Im Gegenteil: frei war ich, ganz von mir selbst aus wollte ich Montevideo „entdecken“; den Weg nach dem Schiff würde ich schon zurückfinden.

Ich fühlte nach meinem Geldbeutel, nach meinem Revolver und ließ mich durch die glitzernden Straßen treiben, die, zum Teil nur chaussiert, regenbogenfarbenen Staub aufwirbelten.

In irgendeiner Bank ließ ich wechseln. Dass ich nur ein Dutzend Brocken Spanisch sprach, bekümmerte mich nicht weiter. Bei einem Café im Angesicht der großen Kathedrale hielt ich zuerst an und schlürfte ein sorbetähnliches erfrischendes Eisgetränk.

Verliebt wie ich war, erwachte mir der Abend wie eine junge Frau, die ihre dunklen weichen Arme um mich warf; die mich (das Bild wurde ich nicht los) mit ihren Armen wie mit Schiffstauen an sich kettete.

Nunmehr von der A.E.G., Berlin, finanzierte Straßenbahnen flogen wie Libellen durch das Gestrüpp der Stadt.

Ich bestieg eine und war wie in einem Aeroplan.

Plötzlich fiel ich wieder auf die Erde hinab und klatschte geradeswegs in eine Singspielhalle.

Ein blondes, grünbehängtes, amerikanisches Girl tanzte mit einem wolligen Nigger etwas Ähnliches, wie das, was man heute Tango nennt. Kreolen, dicht geballt, belachten und beschrien die wirksame Rassenmischung. Dann trat eine Art Ureinwohner auf, ein verkommener Winnetou, ein Stück bemalter Kot, mit Schild und vergiftetem Speer bewaffnet, und plärrte Kriegslieder.

Er hatte gerade geendet, als rasendes Geheul und Geräusch wie von fernen Schüssen uns auf die Straße warf.

Alles lief durcheinander, lachend, weinend, brüllend, pfeifend. Niemand schien recht zu wissen wohin und wie und warum.

Ist das ein Volksfest? Oder irgendeine Vorstadthochzeit? Polterabend oder so was? dachte ich.

Vor unserem Tingeltangel standen schon zehn Straßenbahnen, denen der Weg versperrt war, missmutig wie blau angestrichene Elefanten zu einer Herde getrieben.

Gerade wollte ich einen der sinnlosen Schreier und Läufer nach Ziel und Ursache dieser Volksbewegung fragen, da quoll Musik aus dem Trichter der langen Straße herauf. Wie Ameisen, auf die der Ameisenlöwe lauert, fielen wir alle in diesen Trichter. Musik verschlang uns löwenhaft. Auf einmal marschierte ich in Kolonne, in Schritt und Rhythmus der Musik, den Revolver gezogen. Im Rhythmus einer irren Besessenheit. O, nicht von einer Frau besessen: süßer, verlockender, verlockter! Meine Hände zitterten wie die Pranken eines jungen Leoparden, der zum erstenmal auf Raub schleicht. Englischer Gesang umdonnerte mich, und ich sang, entflammt, entkettet, jene Worte, die, trotz mangelhafter spanischer Kenntnisse, auch ich verstand:

Libertad! Libertad orientales!
Freiheit! Freiheit den östlichen Leuten!
Freiheit des Ostens! Freiheit von Osten!

Meine Beteiligung an der Revolution in Montevideo ist mir gut bekommen; ich befand mich zufällig bei der Partei, die siegte. Es ging noch glimpflich ab: am anderen Morgen lagen auf dem Platz vor der Kathedrale einige zwanzig Leichen wie Pfeffer und Salz versprenkelt.

Die Kinder gingen zur Schule und stießen mit den Beinen nach den Leichen.

Für heute hatten die Roten (oder die Weißen? – in Uruguay benennen sich die politischen Parteien wie in England nach Farben –) gesiegt.

Fiebernd vor Erregung, Anstrengung und Schlaflosigkeit taumelte ich auf das Schiff zurück.

Mein Vetter fieberte ebenfalls: vor Angst, ich wäre zertreten oder zerschossen worden.

In Wiedersehensfreude schmiss er eine Flasche billigen Bowlensekt. Wir hoben unsere Gläser und stießen klingend an.

„Worauf trinken wir?“ sagte mein Vetter, „auf deine Gesundheit! Prost!“

„Waschlappen“, sagte ich und meine Blicke brannten, „Gesundheit! Trinken wir auf die Freiheit! Die Freiheit des Ostens! Libertad! Libertad orientales!“

Und wenn wieder einmal Musik ertönt … Volkshymnen … 878 …  Libertad! Libertad orientales!“ Freiheit! Geist des Morgenrotes! … Dann will ich wieder in Reihe und Rhythmus der Kämpfer schreiten, entflammt und entkettet, ein Krieger des Geistes – und gebe Gott, dass ich wiederum bei der Partei fechte, der der Sieg vin den Fahnen weht …

Libertad!

Diese Geschichte wurde im Band „Marketenderwagen“ als „ Revolution in Montevideo“ veröffentlicht.

Marietta
Ein Liebesroman aus Schwabing

Ich habe kein Vaterland.
Ich habe kein Mutterland.
Jede fremde Sprache berührt mich heimatlich.
Ich bin eine polnische Prinzessin: hübsch, aber schlampig.
Ich schiele.
Das ist meine Weltanschauung.
Eigentlich müßte ich ein Monokel tragen.
Ich gewinne auf der Münchener Wohlfahrtslotterie eine kleine Kuhglocke.
Ich binde sie mir um den Hals und lasse sie läuten.
Jeder möchte mein Hirt sein.
Ich bin Marietta.
Aber ich bin noch nicht ganz Marietta.
Ich will Marietta werden.
Ich schwanke noch.
Bin funkelndes Feuer.
Und sehr viel Rauch.
Ich habe eine unordentlich zugeknöpfte orangine Bluse und verkünde nachts im „Simplicissimus“ blaue Fabeln und graue Anekdoten von Klabund.
Manche nur sind leise rosa und schmecken wie Himbeerkompott.
Ich kriege für den Abend vier Mark und nicht mal warmes Abendbrot.
Ich suche nach Nebenverdienst.
Gestern kam ein sehr junger Mann mit glattem Gesicht in Begleitung Etzels in den „Simplicissimus“.
Etzel sagte: „Der Herr möchte ein Manuskript tippen lassen!“
Ich kann Schreibmaschine schreiben, denn ich war eine Zeitlang auf dem Büro der Zeitschrift „Lese“ (am Rindermarkt) beschäftigt.
Ich sagte: „Ich werde es gerne tun.“
Der junge Mann bestellte ein Glas Bowle für mich.
Ich setzte mich neben ihn auf die Bank.
Wir sprachen nicht viel.
Einmal legte er schüchtern seinen Arm um meine Hüfte.
Emmy Hennings sang das Lied von den „Beenekens“. Sie kreischte wie eine dänische Möwe, die sich von den Wellen des Kattegats erhebt.
„Kommen Sie morgen früh um elf, und holen Sie sich das Manuskript“, sagte der junge Mann und ging.
Er ging mit Schritten wie ein Gymnasiast und mit den Augen eines Seeräubers.
Er trug einen segelblonden Anzug.
Der roch nach Tang und wehte.
Der junge Mann wohnt Kaulbachstraße 56, parterre.
Die Tür stand offen, als ich kam, und er sagte: „Begleiten Sie mich ein Stück? Hier ist das Manuskript!“ Auf dem Tisch lag eine Postanweisung von der „Jugend“.
Ich nahm das Manuskript.
Es waren Verse.
Ich fragte ihn: „Haben Sie das gemacht?“
„O nein“, lächelte er, „gewiß nicht!“
Aber ich glaubte, daß er es sei.
– Wir gingen durch die Kaulbachstraße.
– In der Sonne.
Er nahm den Hut ab und die Sonne ließ sich wie ein goldener Vogel auf ihn nieder.
„Ich habe einen schönen Akt“, sagte ich.
Ich mußte doch etwas sagen. „Der Habermann hat mich gemalt.“
Er sah mir durch die Bluse und meinte: „Vielleicht!“
An der Ecke der Kaulbach- und Veterinärstraße hockte eine italienische Blumenverkäuferin.
Er kaufte ihr eine rote Nelke ab und schenkte sie mir.
Ich fühlte, daß er sie mir schenkte.
Er ist hochmütig.
Ich mag ihn nicht.
Er verabschiedete sich.
Um zu einer Schreibmaschine zu gelangen, stieg ich nachts durch ein Parterrefenster in den Verlag Heinrich F. S. Bachmair, bei dem ich früher einmal Fräulein gewesen war. Ich tippte die Gedichte auf offizielle Briefbögen des Verlages Heinrich F. S. Bachmair, weil sich kein anderes Papier fand.
Becher kam mit Dorka und überraschte mich.
Er wollte mich schlagen. „Was hast du denn hier zu suchen, du Aas?“
Aber Dorka beruhigte ihn.
Sie gingen zusammen ins Nebenzimmer und aufs Sofa.
Der junge Mann war nicht mehr in München.
Ich brachte das Manuskript einem Herrn, den er mir schriftlich bezeichnet hatte.
Ich empfing acht Mark.
Ich weinte.
Ich haßte den jungen Mann in der Ferne.
Der mir fremd war.
Der mir „über war“.
Wie ein Aviatiker.
Ich mußte fort.
Ich erbrach München.
Major Hoffmann sagte im Café Stefanie zu mir: „Möchten Sie nicht als Modell zur Fürstin von Thurn und Taxis?“
Ich sagte: „Sehr gern“ (… ich habe einen schönen Akt. Der Habermann hat mich gemalt…). Man schickte mir telegraphisch das Reisegeld, und ich fuhr.
Die Photographie der Fürstin von Thurn und Taxis hängt immer über meinem Bett. Sie ist eine fürstliche Frau. Ihre Geschenke sind fürstlich.
Aber die Hände, mit denen sie sie reicht, sind die einer entthronten Bürgerin. Während sie mich modelliert, lese ich aus einem Buch vor: „Die japanische Nachtigall“.
Oder ich erzähle ihr allerhand Geschichten.
Aller Hand streichelt dann über mich hin, und ich bin wie Welt.
Ich erzähle ihr, daß ich in Treppenhäusern geschlafen habe und auf einer Bank in den Anlagen der Pinakothek.
Gegen vier Uhr öffnete ich die Augen, und die Schildwache stand vor mir.
Sie lächelte mit geschultertem Gewehr: „Schon ausgeschlafen?“
Sie sagte, daß sie Bäcker sei und immer früh aufstehen müsse.
Sie stehe gern des Nachts Posten, wenn die Sterne wie goldene Kinder über den Himmel gingen, Hand in Hand.
Sie habe viel Spaß an dem Soldatensein.
Es gab schöne Rosen in den Anlagen: hell- und dunkelrote.
Die Schildwache sagte, ich solle mir welche abpflücken.
Sie passe auf, daß kein Schutzmann komme.
Es wird schon sehr kalt.
Ich habe keinen Mantel.
Ich schlafe mit dem Kaufmann Hirsch.
Er sieht aus wie ein verstaubtes Buch, das man nicht gern zur Hand nimmt.
Er ist anonym.
Er sprüht angeregt.
Er hat einen Bruder und einen Freund, die beide Maler sind.
Sie spotten: „Bei der Marietta kommst du nicht so leicht an! Das ist ein Mädchen aus der Boheme. Die geht nicht für Geld!“
Kaufmann Hirsch hat mir fünfzig Mark gegeben.
Er macht mir einen Heiratsantrag.
Er ist sehr besorgt um mich.
Er läßt mir vom Kellner einen Fußschemel bringen.
Ich stelle die Füße unter den Schemel, damit man meine zerrissenen Schuhe nicht sieht
Er ist sehr unglücklich.
Sein Bruder und sein Freund hätten einen idealen Beruf.
Er sei nur Kaufmann. Was könne er mir bieten?
Ich sei ein ideales Mädchen. (Ich glaube, er hat Murgers „Bohème“ gelesen, ehe er mit mir schlafen ging.) Ich sagte, ich sei gar kein so ideales Mädchen, wie er dächte.
Denn ich würde nie mehr mit ihm schlafen.
Trotz der fünfzig Mark.
Ich lasse mich nicht auf den Boden schlagen.
Wir sitzen im Café Stefanie.
Der junge Mann ist auch da.
Er ist eben zurückgekommen.
Während ich in Paris war, war er in der Schweiz.
Ich bin durch das Rote Meer in Paris geschritten, trockenen Fußes, und die Wogen wölbten sich vor mir.
Er glaubt noch immer, über mich hinwegzusehen wie über einen Kiesel.
Aber ich bin nun ein Fels.
Er erschrickt.
Seine Stirn blutet vom Anprall ans Gestein.
Ich liebe ihn.
Sein Blut rinnt in meinen Schoß.
Ich erzähle ihm von Paris.
Wir trinken Samos im „Bunten Vogel“.
Wir fahren im Auto zu neunen nachts ins Isartal.
Es regnet.
Wir überfahren einen Hasen.
Es war eine Häsin und hatte drei Junge im Leib.
Der Chauffeur wird ihn sich braten.
Seine Frau wird ihn mit Gurkensalat servieren.
Wir kommen auf den Gedanken, einen Verein zu gründen und uns alle grüne Schärpen zu kaufen.
Es ist fünf Uhr früh.
Der junge Tag schwingt seinen gelben Hut.
Zwischen Wolken hervor.
Wir wandeln durch die Leopoldstraße.
Die Pappeln stehen steif wie männliche Glieder, aber belaubt.
Ich erzähle ihm von Paris.
Er schweigt wie ein Parlograph, in den man alles spricht, der alles treu bewahrt.
Oh, daß er mich ganz bewahre!
Nicht meine Sprache nur: auch meine Locken.
Meine kleinen Brüste.
Meine schiefen, obszönen Augen, meine turmschlanken Füße.
Und meinen durstigen Mund.
Ich bin sein Kind.
Ich liege gekrümmt in seinem Bauch.
Die Hände vor meinen blinden Augen zu Fäusten geballt.
Wen wollen sie schlagen, wenn meine Blicke sehend werden?
Er wird mich gebären.
Am Morgen bestellt er Frühstück bei seiner Wirtin.
Eier, Kakao und Schinken.
Sein Zimmer ist sehr klein.
An den Wänden hängen Bilder, die er auf der Auer Dult gekauft hat.
Das Stück zu etwa 1,25 Mark.
Er sagt, sie seien von Veronese, Habermann (den kenne ich), Paolo Francese und Anton von Werner.
Ein Akt ist auch da, dem wirbeln die Brüste bis auf die Knie.
Der Geldbriefträger klopft.
Ich ziehe die Decke über den Kopf.
Der junge Mann gibt mir zehn Mark.
Er lächelte: er werde ein Feuilleton über mich schreiben. Im „Berliner Tageblatt“. Er gewähre mir zehn Mark Honorarbeteiligung. Vielleicht werde er noch einmal sehr viel an mir verdienen, wenn ich mit ihm im künftigen Frühling nach Monte Carlo ginge.
Als sein Kapital.
Er würde mir die Garderobe bezahlen.
Und meine Aktien würden steigen bis weit über 500…
Ich berichte dem jungen Mann (er hängt jetzt neben der Fürstin von Thurn und Taxis über meinem Bett: ein lachendes Gesicht in Hut und Mantel), daß ich ein Tagebuch führe.
Ich führe es, wie man ein Maultier führt im Gebirge: steinige Straßen, an brodelnden Schluchten vorbei und patinagrünen Almen.
Aber über der Ferne leuchtet die weiße Jungfrau mit dem Silberhorn, und Grindelwald ruht in besonntem Schweigen.
Er ist begeistert.
Er meint, ich solle ihm das Tagebuch doch einmal bringen.
Vielleicht könne man es seinem Verleger zeigen.
Vielleicht würde der es drucken.
Als ich ihn verließ, lag auf der Treppe ein zertretener Nelkenstrauß.
Hat er mich je geliebt?
Mein Kopf wird herumgeworfen.
Er ist kein Mensch.
Er ist ein Wald mit tausend Bäumen.
Hochwald.
Der streckt sich nach einer anderen Sonne.
Und seine Winde wehn von Uruguay.
„Marietta“-, sagte der junge Mann, „ich werde die Köpfe der Gehenkten über mich befragen“ …
Ich hatte Angst und lachte.
Denn die Gehenkten wissen jede dunkle Zukunft.
„Wenn sie die Wahrheit sagen, opfere ich dir einen Taler, Marietta.“
Er verschwand hinter dem Vorhang.
Auf einmal ertönte Geschrei.
Nicht ein Schrei: Millionen entsetzlicher Schreie. Es klang von außen, von der Straße und warf mich, ich stand am Fenster, betäubt ins Zimmer zurück.
Ich zog den Vorhang.
Der junge Mann hing am Ofenhaken.
Die Augen krochen ihm wie zwei schwarze Weinbergschnecken aus den Höhlungen.
Am Boden zu seinen Füßen lag ein funkelnagelneuer Taler.
Ich werde nie die Köpfe der Gehenkten über mich befragen. (Und jenes entsetzliche Geschrei beim Tode des jungen Mannes weiß ich natürlich zu deuten: es kam vom nahen Schlachthof. Es brüllte aus Tausenden von sterbenden Ochsen, Kälbern und Schweinen.) Bei meinem Tode werden nicht die Ochsen schreien…
Ich habe Sehnsucht nach dem elektrischen Rausch der Boulevards.
Nach Paris.
Nach den kleinen Dirnen, die am Abend wie Porzellan blinken.
Nach den dünnen Blumenmädchen, die gegen einen Frank Honorar im dämmerigen Hauseingang mit einem onanieren.
Mein Kopf ist wie gehenkt.
Der junge Mann hat mich gehenkt.
Mein Kopf hängt lotrecht wie ein Kronleuchter von der Decke.
Meine Augen brennen wie Wachskerzen.
Sie duften.
Wie Weihnachten.
Ich bin Maria.
Ich werde den Heiligen Geist unbefleckt empfangen.

Terzett

Personen
Tatzel, ein junger Vagabund
Anny, eine junge Frau
Bess, ein uralter Mann

TATZEL  (klopft draußen einmal, zweimal, dreimal, immer heftiger, tritt endlich ein): Ein gastliches Haus – steht jedem offen. Guten Tag, Herr Stuhl. Guten Tag, Großvater Schrank. Wünsche wohl geruht zu haben, Fräulein Bett. Ist kein Kamerad hier, der mit mir kommt? Kein kleiner Kamerad, der mich begleitet? Sie schweigen, Vetter Schreibtisch? Sind so – verschlossen. Wollen Ihnen mal ein wenig das Maul öffnen. Vielleicht wissen Sie eine Ant­wort. (Zieht einen Dietrich aus der Tasche, öffnet die ober­ste Schublade.) Sieh da: ein Tausendmarkschein! Reve­renz! Reverenz! Bin dir lange nicht begegnet, freundlicher Mulatte. Wenn mich der Schein nicht trügt, ist deine Freundschaft für mich – echt. (Hält ihn gegen das Licht.) Komm an meine Brust. (Steckt ihn in die Brusttasche.) Ach, du wärmst, schöner als eine Frau. (Will sich entfernen.)

ANNY  (von links): Halt — wer sind Sie? was wollen Sie? (Zieht einen Revolver.) Hände hoch!

TATZEL  (hebt die Hände): Wer ich bin? Ihr Gefangener, rei­zende Göttin oder Gauklerin oder Gaunerin, wer immer Ihr seid! Und was ich will? Da Sie so freundlich mir zure­den? Ihnen in jeder Weise dienen und behilflich sein.

ANNY  (geht an ihn heran, untersucht seine Taschen, findet den Tausendmarkschein): Sieh da! unser letztes Geld! Ein Proletarier bestiehlt den andern. Pfui Teufel. Warum be­stehlen Sie nicht einen reichen Schieber?

TATZEL  Wie recht Sie haben! Ich bin ganz zerknirscht. Es bietet sich mir nicht immer die Gelegenheit.

ANNY  Es heißt: Gelegenheit macht Diebe. Ein wahrer Dieb macht Gelegenheiten.

TATZEL Sie schätzen meinen Beruf falsch ein. Ich stehle nur so nebenbei. Hauptsache werde ich getrieben: vom Win­de und Sturme.

ANNY Es weht eine steife Brise heute überall.

TATZEL Wollen Sie nicht Ihre steifen Arme ein wenig ent­lasten? Und den Revolver ein wenig herunterlassen. Wenn Sie mich der Polizei denunzieren wollten: bitte. Ich laufe Ihnen nicht davon.

ANNY  Sie gefallen mir.

TATZEL Sie mir noch mehr. Ich möchte –

ANNY Was möchten Sie?

TATZEL Legen Sie den Revolver weg. Ich möchte Sie um­armen. Ich möchte Sie lieben. Ich möchte in Sie dringen wie der Hengst in die Stute.

ANNY Rühren Sie mich nicht an. Ich schieße Sie sonst nieder wie einen tollen Hund.

TATZEL  Der bin ich ja: ein toller Hund. Und toll bin ich nach Ihnen.

ANNY Ich bin keine läufige Hündin. Auf der Straße laufen genug. Suchen Sie sich eine aus.

TATZEL Mädchen! Mädchen! Ich rieche den Duft Ihres blon­den Haares! Es riecht wie Korn.

ANNY  Und Sie nach Schnaps.

TATZEL Lassen Sie mich Ihre Füße küssen. Ich bin Ihnen bedingungslos ergeben.

ANNY Bedingungslos?

TATZEL Bedingungslos.

ANNY Hier haben Sie den Revolver-

TATZEL  (betroffen): Was – was soll ich mit dem Revolver?

ANNY  Was stutzen Sie? Wenn Sie den Revolver haben, ha­ben Sie doch z. B. mich ganz in Ihrer Gewalt?

TATZEL  Das will ich ja. Ich will Sie ja ganz in meiner Ge­walt haben.

ANNY Also –

TATZEL  (entreißt ihr den Revolver, den sie ihm läßt): Hän­de hoch!

ANNY (hebt die Hände).

TATZEL  Jetzt habe ich Sie in meiner Gewalt, Sie dumme Gans Sie – Ich liebe Sie – Werden Sie mich lieben?

ANNY Vielleicht.

TATZEL  (fuchtelt ihr mit dem Revolver vor die Stirn): Wer­den Sie mich lieben?

ANNY Vielleicht. Mit dem Revolver da werden Sie mich nicht zwingen. Sie können mich ja über den Haufen schie­ßen, wenn es Ihnen Spaß macht.

TATZEL Der Revolver ist wahrscheinlich gar nicht geladen (sieht nach). Weiß Gott: ich hätte es nicht gedacht, er ist geladen, er ist scharfgeladen. Sie sind eine unbegreifli­che Frau.

ANNY  Ich werde Sie lieben.

TATZEL Sie werden mich lieben

ANNY Wenn –

TATZEL Kein Wenn, sonst schieß ich.

ANNY  Esel. – Wenn Sie mir einen Wunsch erfüllen.

TATZEL  Einen Wunsch – so weit es in meinen schwachen Kräften steht.

ANNY  Einen kleinen winzigen unbeträchtlichen Wunsch. Es wird Ihnen nicht viel ausmachen.

TATZEL  Also heraus mit der Sprache!

ANNY Ich ließ Ihnen den Revolver zu einem ganz bestimm­ten Zweck. Ich tue nichts Zweckloses.

TATZEL Was soll das?

ANNY Das soll, was ich will: ich werde Sie lieben, wenn Sie mit dem Revolver da –

TATZEL Nun?

ANNY  (gleichmütig): Meinen Mann erschießen.

TATZEL  Ihren – Mann – erschießen? Was hat mir Ihr Mann getan?

ANNY Noch nichts. Aber er wird Ihnen viel tun, wenn Sie ihm nicht zuvorkommen.

TATZEL Ist er stark? 0 ich bin stärker. Wozu töten? Stehlen ist mir ein Spaß – aber töten –

ANNY Töten ist auch ein Spaß, nur ein blutiger.

TATZEL Wer wäscht das Blut ab von mir?

ANNY Ich küsse es dir von den Lippen – (Geräusche.) Er kommt. Nimm dich zusammen. (Die Tür geht auf, herein humpelt der Alte.)

BESS Guten Tag, mein Liebchen, mein Weibchen, mein Täubchen, mein Zuckerschnutchen – gib mir einen Will­kommenskuß.

ANNY (küßt ihn): Guten Tag, mein Liebling. Gestatte, daß ich dir Herrn Weißnichtwer vorstelle, der aus Weißnichtwoher kommt. Ich kenne ihn schon weißnichtwielange. Er wird heute unser lieber Gast sein.

BESS Entzückt, mein Herr, entzückt, Ihre werte Bekannt­schaft zu machen. Wie steht das werte Befinden? Ausgezeich­net hoffe ich. Und die Frau Gemahlin? Und die Kinderchen?

TATZEL  Danke der Nachfrage.

BESS  Bring uns doch ein Glas Wein, Täubchen. Wir müs­sen doch den seltenen Gast feiern.

ANNY (ab): Gern. Gleich –

BESS Meine Frau hat viele Freunde. Die Freunde meiner Frau sind auch meine Freunde.

TATZEL  Ich liebe Ihre Frau.

BESS Wer liebt sie nicht? Ich bin glücklich, daß sie mich ihrer Zuneigung würdigt. Sie ist ein selten schöner und selten guter Mensch. Ich bringe ihr volles Vertrauen ent­gegen.

TATZEL Ich … würde ihr nicht trauen.

BESS Herr — Sie beleidigen mich. Welches Recht haben Sie zu Ihrem Mißtrauen?

TATZEL Kein Recht, nur eine Pflicht.

BESS  Ich bin kein Pfliehtmensch. Ich liebe das Leben. Und bin ja Gott sei Dank noch rüstig genug, es zu lieben – (hüstelt).

ANNY  (kommt mit Wein): So, meine Lieben (schenkt ein).

BESS Auf das Wohl unseres Gastes! (Sie trinken.) Darf ich Sie fragen, ob Sie noch einen besonderen Zweck mit dem Besuch in hiesiger Stadt verbinden? Sie wollten nur meine Frau wiedersehen? Oder —

TATZEL  Ich wollte Ihre Frau sehen – ja – ich sagte Ihnen schon, daß ich sie liebe —

BESS  (küßt ihr die Hand): Sie ist überaus reizend. Man muß sie lieben.

TATZEL  Aber – eben darum – verbinde ich noch einen be­sonderen Zweck mit meinem Besuch.

BESS So?

TATZEL Ich habe einen Feind hier.

BESS Wer hat keine Feinde? Viel Feind viel Ehr, wie unser hochseliger König zu sagen pflegte.

TATZEL Ich bin gekommen, diesen Feind zu vernichten.

BESS  Liebet eure Feinde!

TATZEL Das kann ich nicht.

BESS  Wir sind allzumal Sünder.

TATZEL Geben Sie mir einen Rat.

BESS Gern, wenn ich Ihnen damit dienen kann.

TATZEL Ich liebe eine schöne junge Frau.

BESS Sie Glücklicher! So sind Sie ein Bruder meines Glückes!

TATZEL  Diese schöne junge Frau ist mit einem alten Scheu­sal von Mann verheiratet.

BESS (bedauernd): 0 … das arme Weibchen! (Streichelt seiner Frau die Wange.)

TATZEL  Die schöne junge Frau haßt den alten widerlichen Mann.

BESS Wie begreiflich!

TATZEL Er aber weigert sich, sich von ihr zu trennen, und besteht eifersüchtig auf seinen staatlichen und kirchlichen Rechten.

BESS Wie unrecht! Wie verabscheuungswürdig. Es gibt nur innere Gesetze.

TATZEL Diese Gesetze beachtet er nicht. Als unwissendes junges Mädchen ist die schöne Frau auf ihn hereingefal­len. Weil sie die Tyrannei des Elternhauses nicht mehr ertrug. Weil sie frei sein wollte.

ANNY  Ja – so war – es –

TATZEL  Sie wußte nicht, daß sie eine schlimmere Tyrannis dafür eintauschen sollte.

ANNY  (schluchzt).

BESS Aber Liebling, ich begreife nicht, wie ein fremdes Schicksal dich derart aufregen kann? Du bist so gut, mein Liebling, voll Mitleid für jede Kreatur.

TATZEL Was soll sie tun?

BESS Den alten Mann betrügen –

TATZEL Das tut sie schon: verzweifelt, aber voll guten Ge­wissens –

BESS Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen.

TATZEL  Sie aber will frei, ganz frei sein.

BESS (denkt nach): Sie könnte ihren Kerkermeister töten. Ja, das könnte sie, obwohl es gegen die äußeren Gesetze verstieße: Gott spräche sie frei —

ANNY  Gott — spräche — sie — frei?

BESS Er, der mit allen Leidenden leidet: er spräche sie frei.

TATZEL (zieht den Revolver): Du hast dir selbst dein Urteil gesprochen. Du hast dich selbst gerichtet. Du stirbst!

BESS (ächzend): Mörder! Mörder! (Er sinkt in sich zusam­men.)

TATZEL  (wirft den Revolver weg): Was ist mit ihm? — Er verdreht die Augen. —

ANNY  (jubelnd): Er stirbt – ohne daß du ihn hast töten brau­chen — der Schreck hat ihn getötet.

TATZEL Gott hat gerichtet sprach er selbst. —

ANNY Wir haben ein gutes Gewissen – wir können aller Welt in die Augen sehen – frei bin ich — frei bin ich — ach, Liebster. Du Mörder, Gauner, Dieb, du lebendiges Leben, küsse mich, küsse mich! (Umschlungen.)

TATZEL  Ich will ihm die Augen zudrücken –

ANNY Laß, laß seine toten Augen offen – sie sollen mein Glück sehen, als Rache der Qual, die ich um seine leben­den Augen erduldet. (Neue Umarmung im Vordergrunde; im Hintergrunde hat Beß den Revolver aufgehoben, den Tatzel fallen ließ und springt mit einem Sprung auf.)

BESS Auf die Knie, ihr Hunde, ich will euren Liebesbund mit dem Tode segnen.

ANNY, TATZEL  (schreien auf): Er lebt!

BESS Er lebt – und er wird ewig leben, jedenfalls so lange, wie du, mein Liebchen, mein Weibchen, mein Täubchen, mein Zuckerschnutchen. Ihr dachtet, es wäre zu Ende mit mir. Ihr dachtet, ihr könntet beginnen. Gott hat gerichtet -aber euch. Komm her, mein Liebling, küsse deinem Ge­liebten die Füße. Komm, so komm doch — wird es bald -oder ich schieße. (Sie kommt auf den Knien zu ihm gekro­chen und küßt ihm die Füße.)

TATZEL Sie Ungeheuer!

BESS Ich bin ein Drache der Vorzeit. Ich bin Ahasver. Ich bin Baal. Ich bin der Drache, der seinen Schatz, sein Schätzchen bewacht. Willst du bei mir bleiben, mein Täub­chen? Mich nie verlassen? Mich immer lieben? Ja? Du mußt mir einen Gefallen erweisen? Da ist das Telephon — geh an das Telephon — nicht so kleine Schritte — nicht so zögernd – nimm jetzt den Hörer ab – so – und jetzt die Polizeiwache anrufen —

TATZEL  (macht eine Bewegung).

BESS (den Revolver erhoben): Nähern Sie sich nicht — (zu Anny:) Weißt du die Nummer? 33113! Also?!

ANNY  (am Telephon): Bitte       33113 – ja – ist dort die Polizeiwache – (sie läßt den Hörer sinken) was soll ich sagen?

BESS Sag — daß du in der Wohnung einen Einbrecher auf frischer Tat ertappt hättest —
TATZEL  (Bewegung).

BESS Still Sie

ANNY Hier ist Frau … Ich habe einen Einbrecher — in meiner Wohnung — auf frischer — Tat — ertappt —

BESS – und in der Notwehr –

ANNY  und in der Notwehr —

BESS (hebt den Revolver, schießt auf Tatzel): erschossen! (Tatzel fällt tot um.)

ANNY erschossen (sinkt schluchzend am Telephon nie­der).

BESS Weine nicht, Liebling, das macht deine schönen Au­gen häßlich. Wie du weißt, sind wir heute nachmittag zum Tee beim Geheimrat geladen. Um Gesprächsstoff werden wir nicht verlegen sein!

(Vorhang.)

Der Bär

Diese Geschichte beginnt wie ein Märchen der Brüder Grimm. Es ist aber kein Märchen. Es ist auch keine rechte Geschichte mit dem nötigen Schlusspunkt: eine runde Geschichte etwa, rund und durchsichtig wie eine Glaskugel, mit einer schillernden Moral. Diese Geschichte ist nämlich (beinahe) wahr und hat sich zugetragen in der kleinen Stadt, in der ich kürzlich zu Besuch weilte. Sie ist nichts als eine traurige und lächerliche Arabeske zu dem erhabenen Ereignis des Krieges, das sich draußen (weit von hier, die kleine Stadt weiß nicht wo … ) abspielt.

An dem Tage, an dem Deutschland an Russland den Krieg erklärte, traf in der kleinen Stadt der weit- und weltberühmte Zauberer Francesco Salandrini ein, welcher dort eine Vorstellung seiner großen und geheimen Künste zu geben gedachte. Er vermochte Wasser in Wein und Wein in Wasser zu verwandeln. Er zog den Bauernburschen auf dem Lande und den verblüfften Jünglingen und den kichernden Fräuleins der kleinen Städte nur so die Taler aus Nase und Ohren und ließ sie klappernd in seinen schwarz polierten Zylinder springen, obgleich offensichtlich zutage trat, dass er selber nicht im Besitze eines einzigen dieser silbernen Dinger war. Er zerschlug in seinem bereits erwähnten Zylinder, dem man gewisse magische Kräfte nicht absprechen durfte, ein halbes Dutzend roher Eier und buk ohne Feuer und ohne Pfanne in nichts als eben diesem Zylinder einen veritablen wohlschmeckenden Eierkuchen.

Herrn Salandrinis Gefährt, das mit einigen kleinen Fenstern versehen und ziegelrot angestrichen war, rollte, von einem schwermütigen und betagten Pferde gezogen, über die Oderbrücke rumpelnd in die Stadt ein. In seiner Begleitung befanden sich noch seine Frau: Bella, die Schlangendame, die schwebende Jungfrau, das überirdische Medium und eine Person, welche den prosaischen Namen Hugo führte.

Herr Salandrini, der sich mit Weltgeschichte und Politik noch nie in seinem Leben befasst hatte (und es auch fürder nicht zu tun gedachte, da er Steuern zu zahlen weder willens noch fähig war), verwunderte sich nicht wenig, die kleine Stadt in heller Aufregung zu finden. Alle Leute liefen durcheinander, die Kinder schrien und sangen, und die Frauen sahen besorgt aus den Fenstern.

Nichtsdestoweniger lenkte Herr Salandrini seinen Wagen ruhig und besonnen nach dem Salzplatz, wo an Jahrmärkten die Würfelbuden prunken und die Karussells sich munter drehen, um dort sein „Interessantes Wundertheater“ aufzuschlagen.

Er hatte mit Hilfe der schwebenden Jungfrau gerade den ersten Pflock in die Erde getrieben, einen Strick darum geschlungen und Hugo daran gebunden, als sich federnden Schrittes der dicke Polizist Neumann nahte, der ihn ebenso bestimmt wie freundlich darauf aufmerksam machte, dass er sich die weitere Mühe der Errichtung seines „Interessanten Wundertheaters“ sparen könne. Der Krieg sei erklärt. Die für heute Abend angesagte Vorstellung könne vom Bürgermeister in Anbetracht der ernsten Zeitumstände nicht mehr gestattet werden. Es gehe jetzt um andere Dinge als um den Eierkuchen im Zylinder oder um den gedankenlesenden Bären Hugo. Kein Mensch habe Lust, sich derlei abenteuerlichen Unsinn jetzt anzusehen. Er möge sein „Interessantes Wundertheater“ bis auf günstigere Zeiten suspendieren. Damit entfernte sich der Polizist Neumann, freundlich und bestimmt, wie er gekommen war.

Herr Salandrini war wie vor den Kopf geschlagen. Die Möglichkeit eines internationalen Konfliktes, der ihn um Beruf und Brot bringen konnte, hatte er nie im entferntesten in Berechnung gezogen. Auch Hugo, der gedankenlesende und wahrsagende Bär, hatte ihn davon in Kenntnis zu setzen verabsäumt, ja, er schien selber noch nichts von dem drohenden Unheil, das sich auch über seinem Haupte in dunklen Wolken zusammenballte, zu ahnen. Er saß klein und verhungert neben dem Pflock, knabberte wie ein Kind an seinen Pfotennägeln und starrte mit jenem Ausdruck beseelten Stumpfsinns vor sich hin, der unsere Lachmuskeln ebenso reizt, wie er unser Grauen erweckt.

Herr Salandrini setzte sich auf die Wagendeichsel und sann den ganzen Tag, was er nun anfangen solle, um sich und seine Familie durchzubringen. Er hieß eigentlich Schorsch Krautwickerl und war aus Bamberg. Zum Heeresdienst würde man ihn nicht mehr einziehen, dazu war er zu alt. Im Übrigen war er sich sehr klar, dass er augenblicklich bei niemand auf Verständnis und Teilnahme für seine merkwürdigen Kartenkunststücke und die erstaunliche Begabung des gedankenlesenden Bären Hugo zu zählen habe.

Er sann mehrere Tage. Dann ging er auf das Bürgermeisteramt und bat um irgendeine, wenn auch die geringste, Arbeit. Die schwebende Jungfrau und der Bär blieben in banger Erwartung zurück. Sie teilte schwesterlich mit ihm eine alte Brotkruste.

Herr Salandrini kehrte mit der frohen Botschaft zurück, dass er als Koksarbeiter bei der städtischen Gasanstalt Verwendung gefunden habe. Das war wenigstens etwas, wenn auch nicht viel, denn das Gehalt, das Herr Salandrini empfing, reichte kaum für einen Magen (der Bedarf – in Koksarbeitern ist schon im Frieden nicht nennenswert). Wenn also die schwebende Jungfrau zur Not noch mit versorgt war – vielleicht fände sie in der Stadt eine Stelle als Aufwaschfrau? – , was sollte aus dem kleinen, sowieso schon halb verhungerten Bären, ihrem Liebling, Kapital und Abgott werden?

Am nächsten Tage erschien in der Zeitung ein Inserat: „Edle Herrschaften werden um Abfälle gebeten für den wahrsagenden Bären des Zauberers Salandrini.“

So sättigte sich der Bär Hugo von nun ab an den Abfällen edler Herrschaften, die ihm nicht so reichlich zukamen, dass sie ihn völlig befriedigten. Er saß auf dem Salzplatz, an seinen Pflock gebunden, unter Aufsicht der schwebenden Jungfrau, welche Wäsche ausbesserte, und der Herbstregen wusch seinen Pelz. Es wurde Spätherbst, und der Bär fror. Sein Pelz zitterte und seine müden Augen sahen furchtsam zum bleiernen Himmel empor.

Die schwebende Jungfrau weinte.

Da kam Herr Salandrini auf einen guten Gedanken. Er war ja Koksarbeiter an der Gasanstalt. Er bat den Magistrat um Erlaubnis, den Bären in einen leeren warmen Raum der Gasanstalt, neben den großen Öfen, unterbringen zu dürfen. Der Magistrat, der sich von der Harmlosigkeit des halb verhungerten und schwächlichen kleinen Bären längst überzeugt hatte, gab die Einwilligung, und der Bär hockte nun hinter einer hölzernen Gittertür und blickte mit traurigen Augen in die feurige Glut der Öfen. Hin und wieder besuchten ihn die Kinder des Gasanstaltsinspektors und brachten ihm ein Stück Kriegsbrot oder Küchenreste. Er fraß alles, was ihm zwischen die Zähne gestopft wurde.

Eines Morgens aber lag er tot hinter dem Gitter, und das rosa Licht der Öfen tanzte über sein dunkelbraunes spärliches Fell.

Herr Salandrini war erschüttert, aber als Koksarbeiter hatte er keine Zeit zu langen Meditationen. Die schwebende Jungfrau warf sich schreiend über den toten Bären und das ganze sah aus wie ein Bild von Piloty.

Ob der Bär an Gasvergiftung oder an Unterernährung zugrunde ging, war nicht festzustellen.

Herr Rechtsanwalt K. kaufte Herrn Salandrini das Bärenfell samt dem Kopfe ab. Herr K. ist im Begriff, die Stadt zu verlassen und in Z. eine neue Praxis aufzunehmen. Er wird sich das Fell des wahrsagenden Bären Hugo in seinem Herrenzimmer an die Wand nageln, und wenn er Freunde bei sich zu Gast hat, wird er mit einer großen Gebärde auf das Fell deuten, seine Zigarrenasche nachlässig abschlagen und zerstreut zu erzählen beginnen:

„Als ich noch in den schwarzen Bergen Bären jagte …“

Blumentag in Nordfrankreich

Wir vom … ten Landsturmbataillon sind der x-ten Etappen-Inspektion zugeteilt und haben zurzeit als Garnison eine kleine Stadt in Nordfrankreich. Wir brennen Tag und Nacht Posten: auf den Bahndämmen, vorm Lazarett, unter den Brücken. Von abends Sechs bis morgens Zehn steht eine Wache auch vorm Bordell. Jeden Morgen um halb Zehn werden die Mädchen durch unsern Stabsarzt untersucht und kontrolliert. Es sind neun an der Zahl. Acht Französinnen und eine Deutsche. Die Deutsche ist ein kleines blondes Ding aus Hamburg. Wenn Leute von uns das Bordell besuchen, hält sie den Kopf gesenkt und sucht mit den Augen zu flüchten. Um keinen Preis der Welt würde sie sich einem Deutschen verkaufen. Wenn wir sie sehen, erröten wir. Um der schmerzlichen Situation zu entgehen, reißen wir dumme und überlaute Witze und lachen, blechern wie Grammophone. Oder einer setzt sich ans Klavier und spielt: „Die schwarzbraunen Mädchen, die hab‘ ich so gern.“ Dann geht sie hinaus und weint. Sie ist ja blond. Die Einwohner der Stadt, Magistratssekretäre, kleine Steuerbeamte, bessere Kaufleute bevorzugen offensichtlich die Deutsche. Sie sehen sie in den Augen ihrer eigenen Landsleute erniedrigt und weiden sich an ihren Qualen. Madame ist entzückt von ihr, denn sie macht das meiste Geld. „Wo ist die deutsche Kuh?“ brüllen die Steuerbeamten, und einer nach dem anderen will ihr für sein Geld einen Tritt versetzen. Ich sprach sie neulich. Sie heißt Leni. Sie will sich die Pulsadern durchschneiden. Sie erträgt dieses viehische Leben nicht mehr. Ich überlegte, wie ihr zu helfen sei. Sie mußte heraus aus dem Bordell. Aber Madame wird sich kreischend wehren. Man müßte ihr Geld, viel Geld bieten. Ich sprach mit dem Major, und er gab gern die Erlaubnis für eine Sammlung zu ihren Gunsten innerhalb unseres Bataillons. Er zeichnete als Erster zehn Mark. Und nach ihm alle Offiziere und alle die gesetzten bärtigen Landsturmmänner, größtenteils würdige Familienväter. Keiner, auch der ärmste nicht, schloß sich aus. So kauften wir Leni um den Preis von 1200 Franken von Madame los, kleideten sie von Kopf bis zu Fuß neu ein und schickten sie mit dem nächsten Lazarettzug, der zurückging, nach Aachen. Kaum, daß sie ihr Glück zu fassen vermochte. Sie wollte uns allen einzeln die Hand küssen und steckte jedem, den sie in der Eile erreichen konnte, eine bunte Papierblume an den Rock.

Bett Nr. 13

„Chinin,“ sagte der junge Assistenzarzt und sah durch das Fenster der Baracke.
Auf dem Hofe hüpften vier Mann um ein Maschinengewehr. Ein Leichtverwundeter schwebte blaugestreift unter den Kastanien. Im Schützengraben, der zur Übung angelegt war, turnte eine Katze.
Schwester Crescenzia neigte die schmale weiße Stirne und ging zur Hausapotheke.
Der junge Assistenzarzt seufzte.
Er dachte an Manon.
Er sehnte sich nach ihr.
Pferde sind doch netter als Frauen. Und mindestens ebenso hysterisch.
Er fasste die Hand des Kranken, zählte den Puls, sah auf die Uhr und ging zerstreut und sporenknarrend hinaus.
Nr. 13 hob sich sanft aus dem Bett.
Seine grauen Augen schlichen hinter dem Arzt her, wie Ringelnattern. Sie versuchten sich zwischen den Türspalt zu schieben. Die Tür fiel klappernd und zitternd ins Schloss.
Die Augen kamen zurück.
Nr. 13 dachte nach.
Chinin hat er gesagt. Was heißt das?
Nr. 13 sank in die kahlen Kissen zurück.
Man ist so einsam. So einsam, wie … wie … wie ein Mensch. Die Kissen sind so kalt. Man selber so heiß. Und die ganze Stube brennt vor Hitze.
Herrgott ist das eine Hitze.
Wie damals in Südwestafrika.
Die Zuckerfabrik von Souchez … alle Wetter … alle Himmel … das war keine Kleinigkeit. Auf der Fabrik möcht ich keine Aktien stehen haben.
Chinin – Gott wo hab ich das nur schon gehört. Chi – nin. Chi – na. Nein, das ist es nicht.
Nr. 13 versuchte sich aufzurichten. Hinter ihm, am Bett, drohte eine schwarze Tafel. Da waren Zahlen drauf geschrieben und ein paar lateinische Namen. Fieberkurven kletterten in den Himmel.
Nr. 13 erschrak.
Ich erblinde.
Ich muss blind geworden sein. Ich kann nicht mehr lesen. Kann ich noch schreiben? Ich möchte was schreiben. Kleine Gedanken. Einen Vers. Ich bin doch nicht dumm. Ich hab doch mal zwei Gedichte in der „Jugend“ gehabt. Und eine Geschichte von mir ist ins Russische übersetzt worden. Von einer weichen Russin.
Die war meine Geliebte. Meine einzige.
Nein: Meine einzige nicht. In Südwest damals: da war noch eine. Ein Hereromädchen. 14 Jahre alt. Mit Brüsten wie Kupfer. Das wird jetzt beschlagnahmt. Mit Händen wie Wiese. Und stolzen Knabenfüßen. Und einem Oasenmund.
Ich bin dazu verdammt, meine Feinde zu lieben. Meine Feindinnen.
Ich bin ein Christ. Von Pastor Gluschke konfirmiert.
Wie hieß die süße Negerin. Ro –ri. Ro –ri. Das klingt eigentlich wie ein alkoholfreies Erfrischungsgetränk.
Sie war gar nicht schwarz, sondern kakaobraun. Und ein Kind hatte sie: drei Monate alt. Das schnupperte wie eine Maus, und schnappte spielend nach meiner Hand.
Wenn ich nur ein Kind von ihr hätte.
Nr. 13 bebte.
Ich will noch nicht sterben. Ich will ein Kind haben. Einen Sohn. Einen Afrikaner. Damit ich leben bleibe, wenn ich sterbe.
Schwester … Schwester, kommen Sie … helfen Sie mir … ich will ein Kind …
Die Schwester nahte mit kurzen hasenhaften Schritten.
„Was haben Sie?“ fragte sie mild und ihre Haube neigte sich über ihn, „haben Sie Schmerzen?“
„Chinin – was ist das? was hab ich für eine Krankheit?“
Nr. 13 bebte.
„Es wird alles wieder gut,“ sagte die Schwester leise und streifte das Bett.
Dann wandte sie ihr kühles Gesicht zur Seite.
Meine Lunge ist ganz voll Sand, fühlte er.
Ein heißer Wind kräuselt meinen Kopf, als ob er ein Meer wäre. Die Steppe steigt über meine Schultern. Mit funkelnden Sohlen. Sandflöhe wimmeln in meinem Hemd.
Kakteen stechen mein Herz.
Schwester! ich habe Südwest mitgemacht. Ich bin ein Südwest-Afrikaner. Sehen Sie die gelbe Medaille auf meiner Brust?
Windhuk bricht aus meinen Blicken. Okahandja weint. Tausend Ochsen stampfen durchs Gelände. Antilopen springen fern auf bläulichen Gipfeln. Affen hängen in schwankenden Ästen. Ich blühe auf wie die Victoria regia.
Glanz bin ich und flach: ein riesiges Blatt. Ein rosiger Laubfrosch sitzt auf meinem Bauch.
„Malaria im Rückfall,“ sagte der junge Assistenzarzt und dachte an Manon. „Ich habe ihn sowieso bloß auf zwei Tage geschätzt.“

Die Briefmarke auf der Feldpostkarte

Hauptmann R. schied ungern von seiner schönen jungen Frau, die er vor einem Jahre geheiratet hatte, und die, 18 Jahre alt, noch heute ein Kind war. Er brachte ihr jene väterlichen Gefühle entgegen, die dem Manne über 35 Jahren so leicht werden. Wie sollte er aus der Ferne für sie sorgen? Sie war seiner Sorge ewig bedürftig. Und ein hilfloses kleines Mädchen ohne seine leitenden Blicke, Gebärden und Worte, mit denen er sie bald zärtlich, bald streng wies oder verwies. Sollte er sie ihren Eltern, dem Zahnarzt P. und seiner Gattin, für die Dauer des Krieges anvertrauen? Er war froh, dass er sie deren seelischen Plombierapparaten und Kneif- und Brechzangen entrissen hatte. So ließ er sie in der Obhut einer älteren Tante, welche schlecht hörte, aber vortrefflich und ausdauernd Klavier spielte. Er hoffte, dass Annette (so hieß die schöne junge Frau) den Tröstungen der Musik nicht unzugänglich sei und mit ihrer holden Hilfe die Trennung leichter überwinden werde. Nun ist Chopin nicht die rechte Musik, jemand auf helle Gedanken zu bringen. Aber was blieb dem älteren Fräulein übrig, als Chopin zu spielen? Da sie ihn und nur ihn seit 43 Jahren spielte? Sie spielte Chopin, und Annette lauschte, seufzend und strickend.

Zum Abendbrot erschien jeden Mittwoch und Samstag ein entfernter Vetter von ihr, ein junger Postreferendar, welcher entweder als unabkömmlich erklärt war oder dem ungedienten Landsturm angehörte. Er erzählte ihr von seiner Briefmarkensammlung, und sie lachte gern mit ihm. Eines Mittwochabends küsste er sie im Korridor. Und den Samstag darauf wussten sich ihre Lippen kaum zu trennen. So ineinander verbrannt waren sie.

Hauptmann R. machte Namur und Charleroi mit. Er wurde in den Straßenkämpfen schwer verwundet und in das Lazarett von Lüttich eingeliefert. Hier lag er nun und träumte fiebernd von seiner jungen, schönen Frau, welche noch ein Kind war. Sollte er ihr schreiben lassen, wie es um ihn stünde? Eine nie zuvor begriffene Eifersucht ließ ihn heftiger glühen, da er sein Weib blühend und gesund und sich selber für alle Zeit verkrüppelt und verstümmelt fühlte. Er diktierte der Schwester eine Feldpostkarte: „Liebe Annette, ich liege leichtverwundet im Lazarett von Lüttich, Du brauchst Dir keine schlimmen Gedanken zu machen. Sei umarmt von Deinem getreuen Gerd.“ Aber auf die Feldpostkarte klebte er eine belgische Briefmarke. In den Tagen ihrer Verlobung hatten sie ihre heimlichen Liebesgeständnisse immer in winziger Schrift unter der Briefmarke verborgen.

Die Feldpostkarte langte eines Samstagabends an. „O,“ sagte Annette bedauernd, „er ist leicht verwundet. Aber es geht ihm gut.“ „Zeig einmal die Briefmarke,“ sagte der Postreferendar. „Willst Du sie für Deine Sammlung haben?“ fragte Annette und begann, sie vorsichtig abzutrennen. Leise erschrak sie und las: „Wenn es Dich treibt, im Gedächtnis unserer Brautzeit die Marke zu entfernen, so weiß ich, dass Du mich noch liebst wie einst, und dass Du stark genug bist, auch das Entsetzlichste zu vernehmen und mit heiligem Herzen zu tragen: meine Augen sind erblindet, meine Füße von einer Granate zerrissen. Ich bin nur noch ein Stumpf. Sei stark. Es liebt Dich wild wie je Dein Gerd.“

Annette fasste sich an die Brust. Sie wollte schreien. Der Postreferendar war erblasst. Im Nebenzimmer spielte die Tante einen Chopinschen Walzer. Wie zwei zerschossene Vögel fielen die Augen der Annette tot in sich zusammen.

Die Schlachtreihe

Unser Lateinlehrer, der alte Professor Hiltmann, war wie Fontane ein geschworner Feind aller feierlichen und hochtrabenden Phrasen. So konnte er es in den Tod nicht leiden, wenn man nach dem Lexikon acies mit „die Schlachtreihe“ statt einfach und simpel mit „das Heer“ übersetzte.
Der Ultimus unserer Klasse war einer derer von Falkenstein, ein herzensguter, aber dummer Junge.
Jahre gingen ins Land.
Der Weltkrieg brach aus.
Hiltmann, als geschworner Feind aller feierlichen und hochtrabenden Phrasen, konnte sich mit ihm nicht befreunden.
Es tobten die männermordenden Kämpfe vor Verdun. Da erhielt Hiltmann eines Tages eine Feldpostkarte von Falkenstein, der vor Verdun lag. Auf der stand nichts als:
“Sehr geehrter Herr Professor!
Acies heißt doch die Schlachtreihe…
Ergebenster Gruß
Ihres Falkenstein.“
Da stützte der alte Hiltmann den weißen Kopf auf sein Stehpult und die Tränen rannen über seine runzeligen Wangen und tropften auf die Korrekturen des lateinischen Extemporale.
Falkenstein fiel vor Verdun.

Der Sterbende Soldat 

Tag und Nacht sind nicht mehr. Sind versunken wie Segelschiffe hinterm Horizont des Meeres. Ich weiß nicht mehr von Tag und Nacht. Von Sonne und von der grauen Krähen der Dämmerung. Von der Erde und von der runden Kugel des Glücks. Wir marschieren. Wir marschieren bei Tag. Wir marschieren bei Nacht. Wir schlafen in der Nacht. Wir schlafen am Tag. Wir schießen Tag und Nacht. Wenn ich mich umdrehe, steht die Zeit wie eine rosaschwarze Wand vor mir. Kein Tag. Keine Nacht. Kein Monat. Kein Jahr. Nur ein blutendes Feld, blutrote Ackererde, aus dem unsere Leiber wie weiße Blumen in den Himmel wachsen. Wie Tau netzt der Himmel meine Augen. Ich möchte immer blühen. Schmale Lilie. Schwertlilie. Ich habe nie so stark an mich geglaubt. Wenn ich die Hand hebe, werde ich eine Granate im Fluge aufhalten. Ich habe Durst. Nach Wasser. Nach Feuer. Ich will Feuer schlucken wie die östlichen Zauberer. Mein Pferd ist tot. Es muss irgendwo neben oder unter mir liegen. Worauf soll ich nun reiten? Ich werde auf einem toten Engländer in die Hölle reiten. Aber Lilli will es nicht. Sie fasst meine Hand, ich bin ja blind, und wird mit mir den Himmel suchen gehen. Lilli, sag ich, hier riecht es nach Veilchen, hier ist der Himmel. Sie lässt meine Hand los. Ich sehe sie nicht mehr. Da vorn ist eine andere Hand. Eine leuchtende Hand. Rauchgeschwärzt. Sie greift nach dem Haus mit dem Schindeldache. Die Hand wird auf einmal Mund. Sie frisst das Haus. Kaut an ihm. Wenn der Wachtmeister wüsste, dass ich hier so faul liege, während er Appell hält. „Ulan Bubenreuther,“ wird er rufen. „Ulan Bubenreuther …?“ Niemand meldet sich. „Ulan Bubenreuther vermisst …“ Ich habe Durst. Ich möchte etwas trinken. Etwas Heißes. Ich friere. Heißen Tee. Ich muss lachen, wenn ich an die polnischen Juden denke, die uns immer Tee verkauften: „Gebe Sie Münz, Herr, kriege Sie heiße Tei …“ Sie haben keine Heimat. Niemand hat eine Heimat. Nur der Tod. Er ist überall zu Hause. Wo ist die kleine Stadt, in der ich geboren wurde? Die engen Straßen gehen krumm und gebückt vor Alter. Die jungen Mädchen laufen Schlittschuh. Bürger eilen mit wichtigen Mienen zu Geschäft, Versammlung oder Kneipe. Die Oder rauscht unter den Schollen. Die Patina des Marienkirchturms glänzt in der Wintersonne violett und grün. Es muss wer gestorben sein: der Küster läutet die Glocken. Ich will leise mit der Lanze winken. Vielleicht, dass er mich sieht.

 Unter dem gleichen Titel gibt es auch noch zwei Gedichte, sie seien eingefügt:

Der sterbende Soldat

Hauptmann, hol her das Standgericht!
Ich sterb’ für keinen Kaiser nicht!
Hauptmann, du bist des Kaisers Wicht!
Bin tot ich, salutier’ ich nicht!

Wenn ich bei meinem Herren wohn’,
ist unter mir des Kaisers Thron,
und hab’ für sein Geheiß nur Hohn!
Wo ist mein Dorf? Dort spielt mein Sohn.

Wenn ich in meinem Herrn entschlief,
kommt an mein letzter Feldpostbrief.
Es rief, es rief, es rief, es rief!
Oh, wie ist meine Liebe tief!

Hauptmann, du bist nicht bei Verstand,
daß du mich hast hierher gesandt.
Im Feuer ist mein Herz verbrannt.
Ich sterbe für kein Vaterland!

Ihr zwingt mich nicht, ihr zwingt mich nicht!
Seht, wie der Tod die Fessel bricht!
So stellt den Tod vors Standgericht!
Ich sterb’ doch für den Kaiser nicht!

Der sterbende Soldat

Der Tod hat heute keine Geige mehr.
Er ist kein einzelner, der seine Sense schwingt.
Er hebt den Arm aus einem ganzen Heer
Voll brauner Russen, das nach Juchten stinkt.

Ich habe manche Nacht dem Mond geklagt.
Ich tastete mich nach der Mutter hin,
Und meinte: So wie sie ist Gott. Er fragt,
Ob ich bequem und gut gebettet bin.

Ich hätte gern noch mancherlei getan,
Im Herzen strömt der Fluss der ewigen Pflicht.
Doch hinter mir steht schon ein andrer Mann,
Und reiner flammt sein weisses Angesicht.

Die Witwe

Wo werd ich morgen sein?
Wo bin ich heute?
Allein und ganz allein
Inmitten der Leute.

Schleier drückt mein Gesicht.
Ich geh in Nächten.
Möchte die Sterne nicht,
Die Tröstung brächten.

Vater ist auch dabei

Und als sie zogen in den Krieg –
Vater war Maikäfer – Maikäfer flieg –
Da standen am Fenster die zwei,
Vergrämt, verhungert, Mutter und Kind,4
Tränen wuschen die Augen blind:
Vater ist auch dabei –

Der Krieg war zu Ende. Er kam nach Haus.
Er zog die zerlumpte Montur sich aus.
Am Fenster standen die zwei:
»Geh nicht auf die Straße!« »Ich muß, ich muß -«
Und Schuß auf Schuß! Hie Spartakus!
Vater ist auch dabei!

Vorbei der Traum der Revolution;
Wenn früh die Kolonnen ziehn zur Fron,
Stehen am Fenster die zwei:
Es zieht ein Zug von Hunger und Leid
In Ewigkeit – in die Ewigkeit –
Vater ist auch dabei.

Das Marienbild

Ich ging durch die tropische Mondnacht heim, den Zickzackweg von der Kirche Sankt Antonio nach Monti della Trinitä hinauf: dem Berge der Dreiei­nigkeit, auf dem ich wohne.

Plötzlich blendete mich das weiße Mauerwerk einer kleinen Kapelle.

Ich war am Tage oft an dem barocken Heiligtum vorbeigegangen, ohne darauf acht zu haben. Zu viele Kirchen und Kapellen wachsen in dieser Gegend: wie Rade und Mohn im Korn. Und immer ist der An­blick der gleiche, und immer ist das Altarbild dassel­be: eine Madonna, die das Jesuskind auf dem Arm trägt, unbeholfen als Fresko auf die Kalkwand ge­malt. Und vor dem Bilde: kleine Kerzen, frische und vertrocknete Blumensträuße, von alten Pietisten und jungen Verliebten niedergelegt.

Heute in der Mondnacht zwang mich ein Unbe­wusstes, Ungewusstes, stehen zu bleiben und näherzu­treten. Und ich sah auf dem Grunde der Kapelle, vom Mond wie von innen her erleuchtet, ein Bild, das mich bis ins tiefste Herz erbeben ließ.

Mag die magische Mondnacht, das Halbdunkel, Halbhelle, in dem wir leben, den Grund zu diesem Ge­fühl gelegt haben, mögen andere das Erlebnis nicht gar so sonderbar und erschütternd finden: ich sah ein Zeichen des Himmels, wie ich nicht viele gesehn. Auf allen Madonnenbildern, die mir bekannt sind, neigt sich die Madonna selig lächelnd und liebend über den Jesusknaben in ihren Armen. Auf dem Bilde dieser Nacht aber sah ich dies:

An der Brust der Madonna lag das Jesuskind und trank. Sie aber – wandte ihr Haupt tränenden Auges beiseite. Alle Martern und Schmerzen der Zukunft, die dem heiligen Wesen, das sie geboren, bevorstan­den, sie schien sie im Voraus zu empfinden: im Vor­aus zu empfinden alle großen Qualen des kleinen menschlichen Lebens. Kein Lächeln verschönte und besänftigte ihre harten und herben Züge. Keine Mut­terfreude beseligte, ein Mutterschmerz zerriss sie.

So sah ich alle heutigen Mütter ihre Kinder säu­gen, das früh zerfurchte Haupt zur Seite geneigt, un­fähig, den Anblick des geliebten Wesens zu ertragen, das an ihrer Brust den Trank einer bitteren Zukunft trank, das, im Stall geboren, in Stroh gebettet, von Ochs und Esel umschrien, kein anderes Dach über sich hat als den Sternenhimmel und keine andere Hoffnung als die Hoffnung auf ein besseres Diesseits für Ururenkelkind.

Allerseelen

Heut lag es wie Schnee in der Luft.

Ich dachte, es würde schneien. Die Wolken hingen bis zwischen die Häuser und wehten wie Laken vor den Fenstern.

Der Rauch aus den Schornsteinen wand sich wie schwarze Papierschlangen im Karneval um die Dächer.

Schließlich regnete es. Ein langer langsamer Regen.

Ein Regen, der sich selber zum Missmut regnen muss.

Die Lichter der Laternen in der Ludwigstraße stachen wie goldene Bajonette durch den Asphalt und glänzten in der Tiefe. Wenn man heruntersah, glaubte man zu fliegen.

Ein matter Vogel, mit dem klirrenden Flügelschlag des Abends.

Zeppeline fuhren als Trambahnen über den Asphalthimmel. In den Augen der Frauen dämmerte der Herbst.

Heut ist der Tag aller Seelen.

Heut wollen wir nicht Leib sein. Auch nicht heiliger Leib oder Leib des Herrn. Leib der Frau. Nur Seele. Schneegewölk. Sinkendes Laub. Singender Wind.

Wie viele Gräber muss ich heute besuchen. Wie viele Gräber will ich suchen, die ich nicht finden werde.

Im Waldfriedhof, zwischen den Bäumen, liegen die Gräber wie tote Tiere. Da ein Igel. Dort ein Fuchs. Ein Reh. Einige Kaninchen.

Der Regen fällt wie Tannennadeln von den Bäumen. Ich sitze auf einem Grab. Weil ich müde bin. Müde des Irrens in der Wildnis des Krieges.

Ich weiß nicht, auf welchem Grab ich sitze.

Ich habe nicht hinter mich gesehen auf die eiserne oder marmorne Tafel.

Wer du auch seist: der du hier unter dem Moose liegst: du bist mein Freund.

Nimm den Schmerz des Lebenden um deinen Tod, um den Tod aller deiner Brüder, nimm ihn in deiner braunen rauschenden Tiefe gern und gnädig an.

Du ruhst auf dem Grunde des Meeres aller Dinge wie ein schöner Seestern und die silbernen Wogen ziehen über dich hin wie Schwalben.

Wie sind wir einst im blühenden Licht des Frühlings geschritten, jubelnde Genien.

Wie jung warst du, mein Freund, ein springender Hirsch. Hamburg war deine Heimat und du warst voll Rauch des Hafens und voll Weite des Meeres. Voll roter Korallen und klingend vom Geläut hanseatischer Türme.

Wir wohnten in Tegernsee zusammen im Gasthof zum Alpbach, am Eingang des Tales, das nach Schliersee herüberführt.

Jeden Morgen ließen wir uns im Kahn auf die Höhe des Sees treiben. Dann lagen wir der Länge lang auf dem Rücken im Boot und du sagtest, du könntest selbst am hellsten Tag die Sterne sehen.

So scharfe Augen hattest du.

Am Abend liebten wir ein und dasselbe Mädchen. Enzianblaue Augen und rote Haare. Ein Eichhörnchen. „Oachkatzl,“ sagte sie immer und lachte. Sie liebte uns beide, aber ich glaube, sie liebte dich mehr als mich. Weil du dem heiligen Franz in ihrem Gebetbuch so ähnlich sahst.

Was du immer werden wolltest, wurdest du jetzt: Erde. Ewige Erde. Humus wurdest du und deine Kraft wuchs in die Bäume hinein.

Diese Tanne, die ich umarme und die mir brüderlich die Wangen streift: du bist es. So bist du zugleich über- und unterirdisch.

Zugleich Tod und Leben.

Der ich armselig durch die Oktobernacht des Daseins taumle, dunkel und frierend, mit der Ungewissheit des Lebens und der Gewissheit des Sterbens: ich bin weniger als du, mein toter Kamerad, und nur wie eine blaue Blume auf deinem Grabe. Meine Hoffnung ist nur eine Hoffnung des Schmerzes, und mein Glaube nur der Glaube aller Seelen.

Kind in der Wiege

Dies weiß ich: daß ich mich gegen das Erwachen wehrte. Mit Händen und Füßen sträubte ich mich gegen das Ge­borenwerden. Wenn die Inder verkünden, daß die Seelen sich zur Geburt drängen, so kann ich von mir das Gegen­teil beschwören. Ich spielte mit vielen zarten und guten Wesen auf der Lotoswiese. Es war ein ewiges Hin- und Widerneigen von uns wie von Blumen im Winde. Eine sanf­te rosa Dämmerung umhüllte uns: nicht Tag, nicht Nacht. Unendliche Wohlgerüche fluteten.

Jeder war jedem gut. Und keine Seele ahnte auch nur von Bosheit oder Tücke.

Nun, da ich am Leben bin, in weißer Wiege liege, fühle ich in tiefstem Herzen, daß mit dem Nabelstrang auch das gleichsam seidene Band riß, das mich mit der Seligkeit verknüpfte.

Mit schmerzlich großen Augen sehe ich nur manchmal mei­ne Mutter, welche sich blond und lächelnd über mich neigt. Und wie ein Schwalbensittich rauscht kaum hörbar durch mein kleines Hirn die Erkenntnis: In jenem Blick der Mut­ter, mit dem sie mich abends bettet, ist ein Strahl des ver­lorenen Paradieses eingefangen. Und leise hebe ich die Hände, den Strahl zu halten.

Spinnstube

Dreizehn Jahre – und schon ein junges Weib.
Die wilden, blonden Haare – zum Zeitvertreib
Zerrst und schlingst du um deine Finger –
Willst du sie auf der Spule sehn,
Garn zu spinnen
Und goldnes Linnen?
Kind, das lass den bösen Zeiten!
Wird ihnen dein Haar durch die Hände gleiten,
Spinn es bald zu silbernen Fäden.
Glück legt den Faden auf,
Gram tritt die Spindel,
Und das blonde Gesindel
Ist im Nu von der Spule verronnen.
Bei deines Atems erstem Lächeln
Hat schon der Spinner Tod sein Handwerk begonnen.

Der Totengräber

 

Das Drama „Der Totengräber“ erschien in einmaliger nummerierter Auflage von 500 Exemplaren April 1919 im Verlag der schönen Rarität Kiel. Die ersten fünfzig Exemplare auf bestem Papier wurden vom Dichter signiert. Dieses Exemplar trägt die Nummer 372

Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung der Aufführungen vergibt der Dichter. Copyright 1919 by Die schöne Rarität (Adolf Harms) Kiel – Druck von Willibald Nitsche Weißenfels a. S.

Max und Irene Heberle zu eigen – Geschrieben im Dezember 1918

Figuren:

Der alte Totengräber
Der junge Totengräber
Der junge Herr
Träger mit Sarg

Dem Andenken meines Engels

Junger und alter Totengräber schaufeln an einem Grab.

Junger Totengräber:
Der Sommer hob sich lächelnd auf das Haupt
Den blauen Kranz der leuchtenden Cyanen.
Versonnen wehn des Herbstwinds erste Fahnen,
Die weißen Fäden, sonnenglückbestaubt.
Begnadet schwanken in den schweren Gluten
Die blonden Ähren holder Frucht beschwerten.
Die selig einst sich nach den Strahlen kehrten,
Beugen das Knie, wo sie als Kinder ruhten.

Alter Totengräber:
Die Sonne ist erfüllt von Mövenschreien,
Die braunen Blätter taumeln trüb zur Erde.
Die Menschen gehen gern gedrängt zu zweien
Mit des Septembers grämlicher Gebärde.
Ein Hund bellt hündisch aus dem kahlen Kolken,
Von schauerlicher Einsamkeit umgeben.
Über den Menschen wandeln weiß die Wolken
Und wissen nichts von Herbst und Tod und Leben.

Junger Totengräber:
Der Herbst ist süß. Ich trinke ihn wie Wein,
Ach einmal wird ich dunkel und besessen
Von Würmern und vom Engerling zerfressen
Der arme Bruder dieser Schwester sein.

Alter Totengräber:
Die Blätter rascheln schon das zehnte Jahr,
Dass ich an Gräbern wie ein Bergmann grabe.
Und ich benehme lächelnd und gehabe
Mich in den Schänken wie ein Bürger gar.
Kein Schatten fällt von diesen schwarzen Kreuzen
In meines Zimmers Wohlgeborgenheit.
Wenn es von Rabe, Eulen oder Käuzen
Die ganze Nacht vor meinem Fenster schreit,
Erwach ich nur, um höchstens mich zu schneuzen,
Denn gegen Eulenruf bin ich gfeit.
Ihn überschreit mein jüngstes Kind im Traum.
Der Totenwurm tickt nicht in meinem Raum,
Und Furcht verebbt vor mir wie Wellenschaum.

Junger Totengräber:
Mich aber schauderts, wenn die Rabenkrächzen,
Und wenn des Nachts im Mond ein Schatten steht.
Ich atme schwer. Und meine Seufzer ächzen,
Bis sie ein Lächeln von der Wand verweht.
Dort hängt im fahlen Licht, im goldnen Rahmen
Mein Sinn- und Sternbild, dem mein Aufblick gilt.
Ich will im Guten nimmermehr erlahmen,
Ich bin zum Guten immer mehr gewillt.
Glänzt ihre Stirn mir nur, die ewige Ampel,
Und sonn ich mich in Sonnen ihres Blicks –
Entrudert Charon und verdunstet Styr,
erhorch ich ihren Schritt nur auf dem Kies,
Spitz ich die Ohren wie der Hase Lampel;
Ein kleines Tuch, das sie einst fallen ließ,
Stahl ich – damit als Hostie ichs verehre.
In jeder Kirche wirft es mich aufs Fließ,
In allen Erkern bau ich ihr Altäre.
Ja überall blüht Erd- und Himmelswonne,
Denn überall anbet ich die Madonne!
Muss ich in Psalmen nicht das Leben preisen,
Da sie doch lebt im Lichte, das mir glänzt?
Sie ist es, die mit falterhaften leisen
Gebärden meine schwere Schwermut kränzt.
Lass meinen Arm, der schwer die Schaufel schwang,
Sich vogelleicht in goldne Herbstluft heben.
Sing liebe Seele, deinen Grabgesang:
Sie lebt schon tausend Ewigkeiten lang,
Und tausend Ewigkeiten wird ich leben!

Alter Totengräber:
Hast Du gemessen in die Läng und Breite
Das Grab, ob es den Vorschriften auch entspricht?
Im Magistrat sind wunderliche Leute.
Wenn einen bösen Greis der Haber sticht,
er misst das Grab dir nach! Drum miss und schreite
Du springst mir viel zu weit – und fühlst es nicht.
Das Grabwerk will bedächtiges Gesinde,
Dass jeder seine rechte Ruhestatt finde.
Wie würde wohl der brave Bürger geistern,
Wenn er in einem Grab, das viel zu groß
Mit wehendem Gewand und ruhelos
Gezwungen wär, ein Riesiges zu meistern?
Sein ist die hölzerne, die starre Pflicht,
die sich prismatisch an den Wänden bricht.
Fünf Schritte lang, zwei schmale Schritte breit,
Will es des Bürgers Wohlerzogenheit.

Junger Totengräber:
Ich aber, stürb ich, wirbelte und wollte
Die ganze Erde mir zur Grabesstatt!
Dass ich als Geist in tiefste Tiefe tollte,
Und dass mein runder Totenschädel rollte
Vom tiefsten Meer zum höchsten Ararat.
Heut schwämmen Fische zwischen meinen Rippen,
Und morgen hing der Mond mir im Gebein,
Heut regten Falter sich auf meinen Lippen
Und morgen würd ich Weg für Würmer sein.
Es wär im Tode auch mein heilig streben:
Die Lebenden lebendig zu beleben!

Alter Totengräber:
So spricht der Jüngling, den noch Seufzer rühren!
Dem selbst der graue Nebel zaubrich naht.
Ihm scheint der Finsternisse düstrer Pfad
In hellste Helligkeit noch zu führen.
Das alter weiß, wenn es hier Erde wirft,
Dass es vergeblich nach dem Grunde schürft.
Wir werfen erde, mit der Erde: Kerfen,
Wie viele Haufen Erde warf ich schon!
Ich weiß gewiss, es wird mein Enkelsohn
Noch immer Erde in die Lüfte werfen.
Wozu? Verlebte Leiber zu bedecken!
Wir leben, ach! Um zu verrecken.

Junger Totengräber:
Du lügst! Der Tod ist eine schwarze Pforte,
Die uns verhüllt in neue Räume weist.
Wie jemand, der durch eine Höhle reist,
Und dem der Glaube an das Licht schon dorrte,
Auf einmal jubelnd die Erlösung preist;
Kaum traut er seinen bunt beblinkten Blicken:
Ein reinerer Himmel will ihn hoch beglücken!
So ist der Tod gewiss ein andres leben.
Wir wurden Wolke. Stern. Vielleicht auch Tier.
Doch wisse, Alter, wir sind immer wir,
Und was sich immer mag mit uns begeben,
Ob wir verstauben oder mit den Reben
Im neuen Frühling blühend uns erheben:
Der Geist, der der dieses Herz hier pochen lässt,
Ruft immer neu zum Auferstehungsfest.

Alter Totengräber:
Vergesst das Schaufeln nicht! In einer Stunde
Wird hier ein schwarzer Sarg hinabgekettet.
Schon macht der junge Herr dort seine Runde
Und forscht, ob sein Geliebtes sanft gebettet.

Junger Totengräber:
Ich höre Unken rufen, Eulen schrein.
Es ist doch blauer Tag? Und was verdunkelt
Die Sonne sich mit blassem Nebeltuch?
Hat ihre Fackel nicht noch hoch gefunkelt?
Wer mag, der sie im Sande löschte, sein?
In meinem Munde gefriert ein harter Fluch –
Doch ist’s an uns, den jungen Herrn zu trösten.

Alter Totengräber:
Er sei getröstet. Denn sein Weib erlösten
Die leisen Genien vom ewigen Leid.
Ein heißer Sommer war dem Glück geweiht;
Der Herbst hat dieses Ährenglück zerhaun.
Wie lange wird es dauern, Bester, glaubt,
Da ruht in ihrem Bett ein andres Haupt,
Und war das erste blond, so ist es braun.
Wer mag sein halbes Leben unbeweibt sein
Und halb beseelt und gleichsam halb beleibt sein?
Die Prönitenz verhindert das Verdaun,
Ein warmes Weibchen nachts im Arm zu halten
Ist besser, als im kalten Grab erkalten.

Junger Totengräber:

(zu dem wandelnden Herrn)

Verzeihen Sie, dass mir mein Amt gebietet,
Ihr liebstes Licht mit Erde zu bestreun!
Wär ich ein Nagel, jenem Sargvernietet,
Ich würde nicht vor dem Begräbnis scheun!
Ich wär bis am dem jüngsten Tag gemietet
Den Gliedern Wächter, bis sie sich erneun.-
Ich kann nur arme Worte ärmlich stammeln
Und Tränen zu des Grabes Begießung sammeln.
Ich bin ein scheuer Mensch wie Sie, geboren
Von einer Mutter, die in Wehen schrie.
Und bin zum Gräber ihres Glücks erkoren
Und bin an  diesem wilden Schmerz verloren
Besinnungslos und sinnlich wie ein Vieh.
Verzeihen Sie, mein Herr, und glauben sie,
Dass wie ein Zwilling ihre Qual ich teile,
Doch herzlich ich in Ihrem Herzen weile.
Und dass in aller Ewigkeit ich nie
Das Elend dieses Tages vergessen werde.
Auf meiner Brust ja lastet diese Erde.
Die ich verdammt bin, auf ihr Glück zu häufen-
Ich Ketzer! Will kein Gott mich wiedertäufen?

Der junge Herr:
Ich höre die Musik, nach der wir tanzten,
Ich höre Dein blaues Seidenkleid.
Auf welche himmelhohen Kuppeln pflanzten
Wir nicht das Banner der Glückseligkeit.
Ich kann nicht fassen diese leere Schale,
Die ich einst voll durch die Paläste trug.
Sie sind so viele Seufzer hier im Saale,
Seitdem ich dich um deine Lippen frug.

Alter Totengräber:
Erwachen Sie! Sie schweben in Regionen,
Aus denen oft es kein Zurück mehr gibt.
Bedenken Sie, dass sie auf Erden wohnen,
Und dass so manche Seele Sie noch liebt,
Sie haben in den auferlegten Pflichten,
Ihr Tag- und Nachtwerk redlich zu verrichten.

Der junge Herr:
Es nannten viele Verse Deinen Namen
Und manche Maler haben dich gemalt.
Die schmerzlich bleich zu deinem Lächeln kamen,
Sie gingen singend und von dir bestrahlt
Es schlossen leicht sich selbst die schwersten Wunden,
Der arme Sünder ward nicht mehr verdammt,
Und in den besten ihrer dunklen Stunden
Bist du in ihren Blicken aufgeflammt.

Junger Totengräber:
O wie ich Sie begreife, dass Sie taumeln!
Dass Ihre trockne Lippe kindlich lallt!
Von Kreuzen steht ein fürchterlicher Wald
Hier auf dem Friedhof. Kahle Kränze baumeln,
Und mancher Kranz wie eine Peitsche knallt.
Auf manchen Gräbern wächst der wilde Roggen.
Aus manchen Gräbern klingen grelle Glocken.
Und mancher Grabstein wie ein Büßer wallt.
Der Karneval des Todes ist so schaurig,
Und mehr als Sie den Henker, Herr, bedaur ich,
Der arme Mensch wandeln muss zu Engeln,
Indem er sie wie Blumen köpft mit Dengeln.

Alter Totengräber:
Betrachten Sie nicht als Vermessenheit
Die Bitte, sich des Herzschlags zu erinnern.
Steigen nach innen Sie! In Ihrem Innern
Sprießt schon die Wurzel der Vergessenheit,
Schon will die Lunge wieder tiefer atmen,
In ihrem Hauch verwehn die schönsten Fatmen.
Sie gehen vom Grabe durch die lauten Gassen,
So manche Hand wird zart nach Ihnen fassen.
Vielleicht Sie haben einen kleinen Pudel,
Der kleine Pudel will gewartet sein.
Vielleicht auch dringt ein heitres Kinderrudel
Mit Reifenspiel in Ihre Trauer ein.
Der Milchmann  schreit. Es rauchen grau die Essen.
Ich weiß: Sie werden ihren Schmerz vergessen,
Denn gäb es das Vergessen nicht auf Erden:
Es würde nicht ein Mensch geboren werden!

Der junge Herr:
Es ist kein Trost dem Manne, dem der Bote
Die dunkle Nachricht übern Estrich rief.
Wie ist auf einmal Herbst? Woher der rote
Und wilde Weinbusch, der noch sommers schlief?
Sie tragen durch die Räume eine Tote,
Wo gestern sie noch leicht und lächelnd lief.
Ach, wenn der Menschheit einziger Mensch geraubt ist –
Wie der mit Erdenasche ganz bestaubt ist.
Mir bleibt nichts anderes als dich zu suchen
In Welt und Wiese, Mitternacht und Wald.
Halt deinen Schatten ich hier bei den Buchen?
Ach ich umarme eine Fehlgestalt.
Ich atme dich in Düften und in Ruchen,
Ich hör ein Lachen, das aus dir erschallt.
Wo bist du, Engel? Gib ein goldnes Zeichen,
Dass meine Worte deinen Thron erreichen.
Ich weiß gewiss: es wird an einem Tage
Nach die die Sehnsucht mich zerreißen ganz,
Ich bin ja nur noch Tränenkrug und Klage.
Von deinem Glanz  ein schwacher Widerglanz,
Ich wünschte, dass ich in die Wolken rage,
Die nah zu sein beim edlen Engeltanz.
Erflehe doch von deinem Liebesgotte,
Dass er zu dir mich hebe aus der Rotte.
Wohin ich sehe, seh ich deine Linien:
Den Vogel dort bewegen sich im Flug,
Sie schmiegen sich an jene schwarzen Pinien
Und bilden jenen Rauch am Gotthardzug.
Dich träumte Deutschland. Doch in Argentinien
Ist eine Kirche, die dein Bildnis trug.
In den Madonnen italienischer Meister
Regiert dein und das deiner Geister.
Der Gott, dem wir die Seligkeit verdanken,
Das höchste Glück versagte er uns doch:
In eins verschlungen wie die Rebenranken
Zu wandeln durch das Regenbogenjoch.
Warum nicht sanken unsre jungen schlanken
Leiber gemeinsam in das dunkle Loch?
An deinem Grabe ich das Unkraut rode.
Der Überlebende stirbt viele Tode.
Lass mich an meinen Schmerzen blasser siechen,
So sterb ich selig. Blondeste, an dir.
Wie schneckenhaft die trüben Tage kriechen!
Wie langsam blättert es sich im Brevier!
Werd ich im Busch den neuen Frühling riechen?
Der Winter winkt mit weißen Laken mir.
Die letzten Töne meiner Harfe stimme ich:
O stille meinen Durst nach Tod und nimm mich!

Junger Totengräber:
Erzählen Sie von Ihrer jungen Frau,
Dass ich mit Tränen mich wie eine Wabe
Erfülle und dass ich sie tief begrabe
In meinem Herzen.
Dass die Welt ich schau
Nur noch mit Ihren Augen, den verweinten.
Mit Ihrer Faust sie packe, der versteinerten.
Wenn wir uns brüderlich an Händen halten,
Sind wir befähigter den hohen Sinn,
Die hohe Stirn der holden Königin
Zu bilden, zu erkennen, zu gestalten.

Der junge Herr:
Man brachte sie, die Blondeste von allen,
Vor einer Woche in das Hospital.
Noch einmal hört ich ihr Gelächter schallen,
Dann riss es wie Strang mit einem Mal.
Ich musste schluchzend in die Knie fallen
Und blickte in ein unergründlich Tal.
Und meine losgerissenen Augen schweifen
In einer Tiefe, die sie nicht begreifen.

Alter Totengräber:
Mir ist die Symbolik dieser Art geläufig.
Sie scheint beim Scheiden von Verwandten häufig.

Junger Totengräber:
So sprechen sie doch, Herr, Sie sagen: Blond?
Nicht wahr: Von einer ewigen Sonne besonnt?
Und ihre Augen wie der Frühling blau?
Ach, Herr, auch ich liebe eine blonde Frau!
Auch ich bin von den blonden Mond bestrahlt,
Auch meine Fenster sind mit blau bemalt.
Auch meine Hände irren oft in Strähnen,
Die sie so leicht wie Spinnenweben wähnen.
Auch meine Ohren horchen auf den Gang
Der Engelhaften, der wie Cymbelklang.
Zwar bin ich in der ersten Liebe Bangen
Der Wirklichkeit nur zaghaft nachgegangen.
Doch meine Sehnsucht hat mich ganz beglückt,
Ich suchte, kaum zu sehn, ich war entzückt
Und meinem dunklen Handwerk ganz entrückt.
Ach das Bewusstsein, dass die ewig Blonde,
Die Blondeste in meinen Sinnen lebt,
Belebt mich, wenn der Tod aus seiner Ronde
An Gräbern steht, die die Verzweiflung gräbt.

Der junge Herr:
Bewahrt Zu-friedenheit in Eurem Sinn!
Mein Friede ist, seit sie entschwebt, dahin.

Junger Totengräber:
Wie hieß die Blonde, Herr, die Euer Weib war?
Die Euer Echo, Euer zweiter Leib war?
Lasst mich den schwärmerischen Namen kennen:
Ich will ihn neben meiner Freundin nennen!

Der junge Herr:
Ihr Name wart, wie wenn von Bogens Sehne
Statt eines Pfeiles eine Lerche tönt.
Er wie Posaune. Und wie Herbstwind stöhnt
In Dämmerung er. Er grüßt wie junge Hähne
Das Morgenrot, das seinen Ruf verschönt.

Junger Totengräber:
Der Name Herr?

Der junge Herr:
Mein Mädchen hieß Irene.

Junger Totengräber:

(jubelnd)

Irene! Herr! So heißt mein Mädchen auch!
(abbrechend)

Vergebt, dass Euren Jammer ich missachte.
Da der Geleibten glücklich ich gedachte.
Da ich vor Seligkeit den Namen lachte
Recht wie ein Knabe frech und wie ein Gauch.
Wenn eine Frau, die sich Irene nennt,
Nicht mehr als Fackel dieses Lebens brennt,
Wie darf denn ich dem Leben mich verbünden?
Des Todes Diener sollt ich Tod nur künden.

Alter Totengräber:
(halb aus dem Hintergrund zum jungen Totengräber)

O dass ein guter Engel Euch bewahre.
Der Zeuge Eures Untergangs  zu sein.
Kommt Euer schönes Mädchen in die Jahre,
Wird sie ein sonderbarer Spiegel sein.
Die Jungen sind wie Heilige bleich und wächsen.
Aus Runzeln deutet ehstens man auf Hexen.

Junger Totengräber:
Wo stand der Tempel, den Sie ihr errichtet?

Der junge Herr:
Hier dicht am Totengräberbau. Geerbt
Hatt jenes Haus ich, das der Schatten färbt
Von jener dunklen Ulme.

Junger Totengräber:
Schleppt und schichtet
Ihr Steine plötzlich, die mich fast zermalmen,
Bin ich verwirrt? Verirrt? Vielleicht der Wahn
Kräht im Gehirn wie ein verlaufner Hahn?
Es rauscht die Flut, und ihr entsteigen Schwäne,
Mir wird so schwach wie einem kleinen Kind.
In jenem Haus wohnt auch die Irene,
Nach der mein Sinnen unaufhörlich sinnt.
Gewiss, Ihr werdet die Bewohner kennen,
(Ich frug den ganzen Namen nie der Frau,
Ihr Bild genügte meinem Tempelbau:)
Zwei Frauen wohnten dort, die sich Irene nennen.

Der junge Herr:
In jenem Hause war nur eine Frau,
Sie stand des Nachts wohl oft auf sternenschau
Im Fenster, das dem Friedhof zugewandt war.
Sie sah zum Stern, von dem sie einst gesandt war.
(Zieht ein Bild)
Sie dieses Bild!

Junger Totengräber:

(schreiend)
Sie ist’s, es ist Irene …

(Pause)

Reicht Euren Arm, dass ich auf Euch mich lehne.
Ihr seid mein nächster Bruder nun. Ich muss
Euch lieben und umfahn für jeden Kuss.
Mit dem das holde Wesen Ihr beseligt.
Euch lieben muss ich, dass mit Euch verehelicht
Sie die Erfüllung ihrer Schale fand.
Es läuft von Euch zu mir ein rotes Band
Mit Blut gefärbt: Mit ihrem Blut Gefärbt.
Als ihren Namen fiebernd ich gekerbt
In jener Ulme, ward ich Euch verwandt.
Nun da im Grab hier Blut von meinem Blut
Und leib von meinem Leibe künftig ruht.
Nun erst wird dieser Hof mein Heimatland.
Gab Ihre Seligkeit ein Kind Euch?

Der junge Herr:
Einen Sohn!

Junger Totengräber:
So ist’s mein Sohn auch, und für ihn im Frohn
Will ich die Leiche meines Lebens schleppen
Wohl über tausende von Marmortreppen,
Bis einst an ihrem engelhaften Thron
Wir Arm in Arm vor der Madonna Knien:
Wir lebten nur für dich,
Wir starben nur für dich
So nimm uns hin!

(Träger mit Sarg nahen sich von fern. Leichte Dämmerung. Abendrot.)

Ihr halft zum Leben ihr. Und ich zum Tod.
Es naht ihr Sarg. Es flammt das Abendrot.
Der Alte ging. Nehmt die gestürzte Schippe
Und tretet in der Totengräber Sippe.
Die wir am liebsten von den Menschen haben:
Die Schwester lasst uns brüderlich begraben!
Was blieben von der Kelter uns? Die Treber.
Dies ist des Menschen allerletzte Not:
Er ist des eignen Lebens Totengräber.

(Die Träger lassen den Sarg hinab. Die zwei beginnen zu schaufeln)

Der junge Herr:

(hält im Graben inne)

Ihr, die ihr stets mit Tod umgeben seid,
Ihr wisst das Leben wie ein Herr zu nehmen.
Ich aber bin so schwach und muss mich schämen.
Dass meine Lippe wie ein Springbrunn speit
So leere Worte, mögen sie auch glänzen
Und klingen in den zierlichsten Kadenzen.
Ich kenne meines Nichtseins Nichtigkeit.
Wie eine Wünschelrute fühl ich beben.
(zeigt ins Grab)

Mein Herz nach diesem Tod – nach diesem leben.
Wie bald der ´Winter seine Flocken schneit
Auf ihr und mein bescheidenes Gedächtnis!
Auf Eure Arme leg ich ihr Vermächtnis:
Das Kind: Der Zukunft zauberische Zeit!

(Ins Grab)

Du wurdest zur zerfressendsten Chimäre,
Ich winsle wie ein angeschossner Hund.
Ich gab die meinen Gott und meine Ehre,
So gib, Entsetzliche mir meinen Mund!
Mit meinen schon dem Tod verkauften Gliedern
Betret ich schwankend deines Leibes Steg.
O wollte im Geringen nur erwidern
Die Liebe, die ich dir zu Füßen leg!

(Kleine Pause)

(Nach oben)

Noch einmal gib dem Auge seine Pfade!
Noch einmal lass der Faust die Steuerung!
In Demut zeigt sich des Erlösers Gnade,
Und unsrem Atem blüht Erneuerung.
So mancher dreht bestürzt am falschen Rade.
Ihm fehlt des Blutes Blitz: Befeuerung.
Nur aus dem Herzen, dass sich eisern schweißt.
Entfährt der heilige, der harte Geist.
Ich will mich nur noch aus mir selbst begreifen.
Die Uhr steht still . Die sandige Stunde rinnt.
Gebirge mag sich weißer seitwärts schweifen,
In Höhlen haust der Eukalyptuswind,
Die Bücher werden wie die Äpfle reifen,
Wenn Süden nur den Sonnenstrahl beginnt.
O Tal der Trübsal! Scheue Örtlichkeit!
Die Nebel steigen. Abschied steht bereit.
Versuche niemand, mich zurückzuhalten.
Die Wolke winkt. Ich habe frei gewählt.
Schon fühl ich marmorn meine Stirn erkalten,
Und meine Hände fühl ich fast gestählt.
Ich bitt mein kleines Erbe zu verwalten.
Den Bruder, dem es nicht an Würde fehlt.
Und meines Herzens letzte Kantilene,
Mein letzter Seufzer jubilier: Irene!

Junger Totengräber:
Der Friedhof zeigt mir hundert Sarkophage,
In jedem Sarkophag ruhst Du.
O schließe meiner Lippen karge Klage
Mit deinen reinen Engelküssen zu.
Erscheine einmal noch im der Sekunde.
Die mich von hinnen ruft, im heiligen Schein.
Und lass mich sterben sanft an deinem Munde.
So will ich gerne ganz vernichtet sein.

Der junge Herr:
Wer wird es glauben, dass an meinen Schmerzen
Um dich verdürstet ich dahingesiecht?
Die Menschen haben heut metallne Herzen;
Ihr Gott, ist ihre Schlange, welche kriecht.
Sie lesen ketzerisch von großen Mythen,
Von Hero, der Leander sich verdang.
Sie wundern sich, dass einmal Menschen blühten,
Dass eine Menschenlippe einmal sang.
Ungläubig lesen sie, dass der Geliebte
Den Abschied der geliebten nicht ertrug.
Dass er ein Staub in alle Winde siebte,
Dass ihn ihr Sterben mit dem Blitz erschlug.
Es geht mit mir wie einem Traum zu Ende.
Irene ruft zur heiligen Heiterkeit,
Und unsre Liebe leuchtet als Legende
In eine bessere und goldne Zeit.

(Der junge Herr fällt am Grabe zusammen)

Junger Totengräber:

(Auf die Schippe gelehnt)

Der Mond reckt seine bleiche Totenhand
In den ergrauten Tag. In hellem Ocker
Glänzt westlich noch ein kleiner Himmel. Locker
Ein Haufen Frauenbrüste liegt das Land.

(Schweigt einen Augenblick)

Nun bist du tot wie sie: Und aus der Flanke
sickert das rote Blut in schwarzen Sand.
Auch über Götter waltet die Ananke
Mit umerbitterlicher gestrenger Hand.
Es wird an dieses Lebens Kreuz geschlagen
So Gott wie Mensch, und beider Traum: Der Heros.
Es spannt auch dich an seinen Sichelwagen
Der heilige geist des Höllentodes Eros.

(Er beginnt neben dem ersten Grab ein zweites Grab zu schaufeln.)

Jeder ehrt den Gott, der ihm gemäß ist.
Jeder findet geist, wo ein Gesäß ist.
Und er schlürfte, ein geliebter Zecher,
Tieflebendiges aus lebendigem Becher.
Dieses ist das Wahre; sonst ist keines:
Zwei war eins und werde wieder eines.

(Er schaufelt, der Vorhang fällt.)

Gang durch den Frühlingswald

Ich war der Schnee,
Der dahin schmolz,
Liebes Mädchen.
Als ich dein gedacht,
Süße Sonne.
Als ich dich erblickte,

Im Wald hämmert schon
Der erste Specht.
Er pocht
Unaufhörlich an mein Herz.

Sieh: ich öffne es schon weit. Ich reiße
Weit die Pforte auf.
Frühling!
Holder Frühling!
Liebes Mädchen!
Komm!

Sommerbetrachtung

Hier saß ich oft. An diesem grünen Strauch.
Die Rosen blühen heute röter noch.
Die Fuchsien halten ihre Farbe auch.
Es bellt am Zaun der kahle Köter noch.

Die Espe zittert, weil es ihr Beruf.
Den roten Pilz betreut der Regenwurm.
Ein Einhorn scharrt versonnen mit dem Huf.
Die Sonne steht als Frau auf einem Turm.

Der Sommer herbstelt. Im geharkten Kies
Geht an der Krücke ein geborstner Greis.
Ein Kind spielt Mutter. Und es lächelt leis,
Als ich ihm eine offne Grube wies.

Bei jedem Schritte trifft man auf ein Grab
Von Leuten, die noch längst am Leben sind.
O liebstes Herz, dem meinen Leib ich gab:
Wie wohlig weht durch mein Skelett der Wind!

Spätsommernacht

Wie milde zwischen den Türmen
Der Mond.
Bestrahlt und strahlend ziehen Burschen und Mädchen
Durch die Iltzstadt.
Gelächter. Gesang. Eine Haustüre fällt
Ins Schloß.
Ein Kerzenlicht brennt auf. Erlischt.
Ein Herz glüht auf. Erlischt.

Herbst

Es kommt der Herbst, Es kommt der Herbst,
Die Schwalben ziehen schon dahin.
Die Sonne zuckt am Abend wie
Ein Auge, das sich rot geweint.

Es weht der Wind, Es weht der Wind,
Es weht dein kleines Glück im Staub.
Am Boden raschelt frühes Laub.
Ein letzter Glühwurm leuchtet noch.

Es ging das Glück, Es ging das Glück,
Der Sommer war so voll davon.
O süßer Leib du von Jasmin
Vergangen ist dein wilder Duft.

Es kommt die Nacht, es kommt die Nacht,
So dunkel ist es um mich her.
Den Mantelkragen hochgeklappt
Schleich müde ich die Gassen lang.

Der erste Schnee, Der erste Schnee,
Ich setze zaghaft Schritt vor Schritt.
Du weiße Blüte, kaum erblüht:
Du welkst ja schon, du wölkst ja schon.

Es kommt der Herbst, Es kommt der Herbst,
Die Frauen schreiten bleich am Tag.
Auf manchem Bildnis abends ruht
Ein Auge, das sich rot geweint.

Im Schwarzwald

Grau hängt der Himmel viele Wochen lang. Er sieht aus wie Ersatzkaffee mit Ersatzmilch verdünnt. Aber hier un­ten im Waldgasthaus ist wenigstens beides echt. Und echt ist der Wein, ein süßer, weißer Wein, ein 21er, in dem noch die Sonne dieses heißen, milden Sommers brennt. Wenn am Himmel keine Sonne steht, muss man flüssige Sonne trinken. Aber vielleicht scheint morgen die Sonne. Heut abend, als ich von Wildbad durch das Enztal her­aufstieg, hab ich den ersten Stern gesehen. Zwischen den schwarzen Tannen stand er wie der Stern der Verheißung. Was verheißt er mir? Ich glaube, daß selbst die Sterne einem nichts gutes mehr verheißen. Kaum hatte ich sei­nem Glanz mißtraut, als eine Wolke kam und ihn mir ent­zog. Sie kam wie eine weiße silberne Barke angesegelt und der Stern war plötzlich eine schöne goldene blonde Frau, an die ich gedacht hatte. Sie stieg in die Barke und entschwand, ohne noch einmal zu mir herabzusehen. Aus der Wolke begann es zu schneien. Das waren alle meine Briefe, die ich ihr geschrieben hatte und die sie alle zer­rissen hatte und die sie mir nun an den Kopf warf. Ich verließ die Straße und kletterte am Schöllkopf empor. Der Boden war feucht. Es roch nach verfaulten Pilzen. Von den Tannen tropfte es, als wären es Stalaktiten einer Tropf­steinhöhle. Von mittlerer Höhe ab lag noch dichter Schnee. Keine Menschenspur. Hier ist Monate kein Mensch gewesen: ich entdeckte Fuchs-, Reh- und Hirschspuren. Als ich am Abend nach Enzklösterle heimkomme, setzt mir die treffliche Wirtin Hirschbraten vor. Das wird der Hirsch ein, dessen Spur ich oben im Hochwald getroffen habe, das Postauto hat eine Überraschung für mich. Der Stern meiner Sehnsucht, die Dame, die ich schon heut am Himmel gesehen habe in der weißen Barke, entsteigt ihm. Sie ist sehr überrascht, mich hier zu sehen: »Wie kommen Sie diese Gegend?« Ja: wie komme ich hierher? Irgendwo muß man ja sein. Die Dame übernachtet. Sie erwartet ihren Gatten, der oben im Wald bei einer Jagdverpachtung zu tun hat. Er ist Oberförster. Ich denke an die Hirsch­spur, die ich heute im Schnee sah. Nachdem sie gegessen hat, spielen wir Schach. Wie in den alten italienischen Novellen Herr und Dame immer Schach spielen. Der Herr ist meistens ein Abbate, und die Dame eine Gräfin. Ich ziehe den Springer: »Matt«. Und seufzend gibt sie sich besiegt. — Vor dem Zubettgehen trete ich noch vor das Haus in die Nacht. Sterne über Sterne. Morgen wird die Sonne scheinen, ich werde mir meine dicken Bergschuhe anziehen und nach Simmersfeld gehen.

Herbstliche Wanderung

Ich wachte auf. Meine Uhr war stehen geblieben. Ich schüt­telte sie. Sie fing wieder leise an zu ticken. So ging es mir jetzt öfter. Manchmal blieb mein Herz stehen. Ich atmete tief. Dann tickte es wieder leise. Ein weicher warmer Wind wehte durch das offene Fenster. Wie am ersten Sommer­tag. Und es ist doch Herbst. Den ganzen Sommer hat es geregnet. Nun wird ein paar Tage noch Sonne sein. Und Glanz. Und ein wenig Glück. Dann fallen die Blätter von den Bäumen. Der Schuh raschelt im roten Laub. Auf den kahlen Ästen turnen die Eichhörnchen. Ich packe meinen Rucksack und wandere. Am Kochelsee entlang über die Kesselbergstraße, dann den Walchensee entlang. Er schim­mert so schwermütig, lockt so saphirblau, daß man sich halten muß, um sich nicht hineinzustürzen. Er ist der tief­ste der bayrischen Seen. Eine Sage geht, daß er keinen Grund habe. Wer in ihm versinkt, versinkt grundlos im Nichts. Oder im All. Das ist wohl das gleiche. Ich durch­schreite das Dorf Walchensee. Da ist das kleine Haus im nordischen Stil, auf dessen Terrasse ich einmal mit einer schönen Frau saß. Zitronenwasser stand auf dem Tisch. Ich sehe noch die Zitronenkerne hüpfen, wenn man mit dem Glasstab umrührte. Auch lag eine tote Wespe auf dem leeren Kuchenteller. Wie gegenwärtig mir jener Tag noch ist. Ich las ihr Hamsuns „Gedämpftes Saitenspiel“ vor. „Milde legte sich über meine Seele, eine Sordine dämpfte meine Saiten.“ Sie hörte nur halb hin. Sie wollte von ge­dämpftem Saitenspiel nichts wissen. Sie war noch jung und wild, vielleicht ein wenig zu wild. Ich schäme mich zu sagen, daß sie mich mehr liebte, als ich sie. Ihre Wild­heit erschreckte mich. Sie warf mich einmal im Wald am Herzogstand in das Farnkraut, als wäre sie ein Mann und ich ein Weib. Als ich ihr aus Hamsun vorlas, den Nach­mittag auf der Terrasse, da sprang sie mit einem Mal auf, schlug mir das Buch zu und sprach aus der Penthesilea von Kleist jenen herrischen, herrlichen, trotzigen Vers: „Ich will den Pelion auf den Ossa türmen!“ — Sie rannte zum See hinab, daß ich ihr kaum folgen konnte, löste ein Boot und ruderte mich auf die Höhe des Sees. Dann zog sie die Ruder ein und ließ das Boot treiben. Ich sah in das blau­grüne Wasser, in die tiefe Tiefe, und schon damals hatte ich eine gefährliche Sehnsucht, mich dieser Tiefe leiden­schaftlich hinzugeben, mich auszulöschen, zu versinken. Arme Agathe! Ich treibe noch immer, die Ruder eingezo­gen, auf den Wassern. Ein weicher warmer Wind weht. Der letzte Sommertag. Schon droht des Herbstes graue Wolke am Horizont. Vielleicht wird ein Sturm kommen, eine Wasserhose, und mein Boot kentern. Vielleicht werde ich auch diesen Herbst überstehn. Es sind so manche Herb­ste ins Land gegangen. Ich glaubte nicht mehr leben zu können und lebe noch immer. Du aber, arme wilde Aga­the, die du den Pelion auf den Ossa türmen wolltest: Du bist mit einem dieser Herbste verweht wie ein rotes wil­des Weinblatt, bist verweht, verweht, vergangen. Du woll­test alle Schauspielerinnen der Welt überflügeln. Deine Schwingen brachen bald. Der Duse hieltest du dich eben­bürtig. Und duldetest alle Schmerzen, die ich dir zufügte, weil auch die Duse einst so grauenvoll zu leiden hatte an d’Annunzio. „Sie hat das unsagbare Timbre in ihrer Stim­me nur bekommen, weil sie so sehr gelitten hat.“ Ja, ich quälte Agathe. Aber sie quälte sich auch selbst und wurde auch von sonderbaren Freunden gequält. Jeden Morgen lag auf dem Frühstückstisch ein blassblauer Brief. Es war ein anonymer Brief, der Agathe in der boshaftesten und tölpelhaftesten Weise vor mir warnte, ihr in meiner Ge­stalt einen leibhaftigen Teufel an die Wand malte und auf  jede Art versuchte, sie von mir zu trennen. Trotzdem sie schon den dritten Brief nicht mehr öffnete und ihn ungelesen verbrannte, erregte sie die Tatsache dieser Briefe. Denn viele Wochen, so lang wir zusammen waren, lag je­den Tag dieser blassblaue Brief auf dem Frühstückstisch. Arme Agathe: was wußte dieser unglückselige anonyme Briefschreiber von dir, von mir? Ja, was wußte er von sich selber? Er liebte dich gewiß. „Und Liebe ist ebenso heftig und gefährlich wie Mord,“ sagt Hamsun. Er litt. Er litt wie du. Er litt wie ich. Er war feige, tückisch, boshaft, verbre­cherisch, auch ein wenig albern. Aber alles aus Liebe. Wir wollen ihm verzeihen. Er ist mit dem Leben nicht zurechtgekommen. So wenig wie du, arme wilde Agathe. Du wolltest Berlin, New York, Buenos Aires, Moskau, Paris, Rom in lähmende Verwunderung stürzen. Du hast dich damit begnügen müssen, Landshut und Passau zu bezau­bern: als Gretchen und Sappho, als Madame Sans-Gene und Kameliendame. Du bist nie dazu gekommen, deine Lieblingsrolle, die Penthesilea von Kleist, zu spielen. Es ist dir nicht gelungen, den Pelion auf den Ossa zu türmen. Du hast nicht einmal den Kreuzberg von Berlin erklom­men. Auf irgendeiner Wanderbühne spielst du die verlorene Tochter und bist stolz, in einem großstädtischen Theater einmal für zehn Mark den Abend in einer kleinen Neben­rolle aushilfsweise statieren zu dürfen. In einem Theater in München sah ich dich neulich zufällig. Man gab ein russisches Stück. Eine Bäuerin fällt vor dem Polizeimei­ster in die Knie: „Gnade! Gnade!“ Du mimtest die Bäue­rin, die vor dem Polizeimeister, dem Herrn des Elends, auf den Knien lag und um Gnade flehte. Ich verließ das Theater und die Stadt. Ich gab mich dir nicht zu erkennen. Einst meintest du, Reinhardt würde vor dir auf den Knien liegen und dich anflehen, bei ihm aufzutreten. Jetzt sitzest du in den Vorzimmern der Direktoren herum, tust en Direktorstellvertretern und Regisseuren schön, damit sie dir eine, wenn auch noch so kleine, Rolle zuschanzen, du spielst nicht mehr. Du läßt mit dir spielen. Du bist verärgert, verbittert, vergrämt. Aus dem großen Schmerz, den du einst erlitten, sind tausend kleine nichtige Schmerzen geworden. Deine Unterhaltung besteht aus lächerlichem Theaterklatsch. Woher die X. das neue Kleid hat, d warum die Y. die (gänzlich nebensächliche) Rolle eines Dienstmädchens bekommen hat, das interessiert dich, an intrigiert gegen dich. Du bist zu anständig, wieder zu intrigieren. Du sinkst, du versinkst im grundlosen See des ins, der grundlos ist wie der Walchensee.

Ich gehe am Walchensee entlang. Hier ist der Zaun, wo wir uns einst fotografieren ließen. Hier ist der Fleck, wir das weiße Kaninchen begruben, das uns mit seinen roten Augen so göttlich gleichgültig zu mustern pflegte. Hier ist das Grab unserer Hoffnungen. Ich verlasse den See. Der Weg geht aufwärts durch den Wald. Der Wald wird lichter. Über dem Wallgau erhebt sich der Karwendel: herrisch, herrlich, trotzig. Eine Wolke hängt wie ein Turban auf seinem Felsenhaupt. Ich wandere ihm entgegen.

Novemberelegie

Ich habe gestern ein Gedicht an dich geschrieben.
Ich saß am offenen Fenster.
Ich fröstelte.
Der Herbstwind wehte.
Er hat’s verweht.

Als du zu mir kamst,
Standen zwei alte Weiber im Hausflur.
Sie krächzten hinter dir her
Wie Krähen.
Du hüpftest wie eine Bachstelze stolz und zierlich.
Öde ist die Welt, ein braches Feld, und böse sind die Menschen.

Küsse mich mit deinen braunen Augen
Und wirf die Arme
Wie weiße Fliederäste um mich
Und schenke mir, dem herbstlich taumelnden,
Den Sommer,
Schenke
Noch einmal Sommer mir
Und weiße Rosen,
Letztes Licht.

Da nun der Winter eisig reisig klirrt
Und weißer Schnee die Wege wirrt:
Wohin soll ich wandern?
Wo soll ich bleiben,
Ich Habenichts,
Weißnichts,
Kannnichts?

Ich liege schon im offnen Sarg.
Küss meine kalten Lippen,
Um die der Schneesturm stob,
Ein letztes Mal
Und schlag den Deckel zu
Und geh ins Leben
Und lächle deiner Tränen. Lebe!
Liebe!
Und sei geliebt! Gelobt! Bedankt!

Flieder

Eines Tages wusste er plötzlich, daß es mit ihm bald zu de sein würde. War es darum, daß jene schwarzverschleierte Dame, die um ihren verstorbenen Verlobten trau­erte und die er mit der letzten Kraft seiner Schwäche zu lieben versuchte, mitten aus dem Gespräch heraus zu ihm im Kaffeehaus sagte: »Sie sind ja so entsetzlich blaß. Was ist mit Ihnen?« Ja, was war mit ihm? Es wurde ihm silbern vor den Augen. Er schwamm wie ein Fisch dahin. Er ru­derte verzweifelt gegen die Strömung. Er trieb, er trieb. Kriegerische Hechte, im Maul zwischen den Raubtierzäh­nen noch die Gräten eben verendeter und begrabener Fein­de, schössen gegen ihn. Gütig bemooste Karpfen ließen ihre schimmernden Augen sanft auf ihm ruhen. Da fiel ein Tropfen Gold in das Silber: ein Sonnenstrahl, der sich im Wasserglas spiegelte, das neben der Tasse Kaffee auf dem Marmortisch stand. Es wurde ihm braun vor den Augen. Die Erde nahm ihn auf. Er war ein Rädertier, das augen- und hirnlos wie das fünfte Rad eines Wagens unterirdisch durch Kies und Sand rollte. „Nehmen Sie einen Schluck Wasser. Vielleicht wird Ihnen besser!“ Sie legte ihre schwarzbehandschuhte Hand leicht auf seinen Unterarm, der zu zittern begann, als hätte er vom Hirn her die Kon­trolle und die Macht über seine Glieder verloren. Er sah in ihre Augen. Ein schwarzer Himmel öffnete sich. Er zog in ihm seine Bahn als Stern: strahlend und gelassen. Die Sternwarte von Algier registrierte sein Aufleuchten als die Erscheinung eines neuen Planeten. 31 Millionen Meilen von der Sonne entfernt zieht er seine Ellipsenbahn, die er in 13 Jahren vollendet. Wie schnell das Leben sich ent­wickelte! Wie man aus einem Zimmer in das andere tritt. Oder wie das Auf- und Abblenden bei einer Kinoaufnahme. Erst war man ein kleiner Fisch, ein Uklei, dann ein staubi­ges Rädertier, dann ein funkelnder Stern. Zwischendurch ­vorher oder nachher, wer weiß da so genau Bescheid? -ein Mensch. Ein Chauffeur zum Beispiel, der die hun­dertste Taxe eingeschaltet hat. Das Geschäft geht glän­zend. Aber das Auto zu schnell. Man bricht sich den Hals. Da hat eine Schlagsahnefabrik ein behäbigeres Ansehen. Man errichtet sie in einem Keller, benötigt Gelatine, Leim, Quillajasaft, reines Quellwasser und 500 Mark Betriebs­kapital. In einigen Monaten hat man 250 000 Mark und das Zuchthaus verdient. Vielleicht gelingt es einem, dem zu entgehen und den Reingewinn in einem Spielklub an­zulegen. – Er stand auf, seine Hand tastete über den Mar­mortisch, er schrie: „Das Spiel ist gemacht. Es gilt nichts mehr.“ Er fegte die Handtasche der Dame in Schwarz auf den Boden. Der Kellner hob sie auf. Die Dame sagte: „Wir wollen zahlen. Sie müssen schlafen gehn. Sie träumen ja jetzt schon.“ Er kam zu sich, zu ihr. Er sah, daß sie violett geschminkt war. Dann atmete er ihren Atem: Fliederduft, der ihm bis ins Herz wehte. Sie war ein Fliederbukett in einer schwarzen pompejanischen Vase. „Wer war Ihr Ver­lobter? Ein Mensch natürlich. Diese Liebe konnte nicht gut ausgehen. Einer von beiden mußte sterben. Die Pflan­ze war der Stärkere. Mensch und Pflanze können einander nur erahnen, ersehnen. Sein verwesender Leib wird die Erde düngen, darein sie versenkt ist, und sie wird leuch­tender blühn und wilder duften, nachdem er starb, den sie liebte. Sie ist mit allen Wurzeln in seinen Leib gepflanzt.“ Er nahm den Hut und ging. – Katzen und Hunde, die ihm früher nachgelaufen waren, begannen ihm aus dem Weg zu gehen, Katzen leise schnurrend und Hunde, den Schwanz eingezogen und dumpf heulend. Menschen mie­den ihn schon seit längerer Zeit. Der Kellner im Kaffeehaus, bei dem er seinen Stammsitz hatte, bediente ihn nur mit Scheu und Widerwillen, obwohl er einen rechten Grund zu seiner Antipathie nicht anzugeben vermochte. Er hat halt den bösen Blick, äußerte er schließlich einmal zur Büffetmamsell. Die aber lachte. Der und den bösen Blick? Er hat einen Blick wie ein Huhn so sanft oder wie eine Märchenkröte. Wie eine Kröte, sagte der Kellner, das ist es. Wie eine scheußliche, bösartige Warzenkröte. – Wenn man aber in sein Gesicht sah, so war es gar nicht böse anzusehen. Es schien zuweilen nur ein weißer Fleck und gar nicht vorhanden. Man stand plötzlich vor einer Wand, aus der dann mit einem Male zwei dunkle Löcher glotz­ten: seine graugrünen, pantherartigen Augen. Sobald er bemerkte, daß sie irgendeine Wirkung auszuüben began­nen, zog er sie wie Schneckenfühler wieder in sich hinein. Die weiße Wand stand wieder da und einige Falten nur, wie bei einem Zelttuch, verrieten, daß oben eine Stirne sei. Dies Gesicht war nicht zu fassen, zu halten, zu rubri­zieren. Man erinnerte sich auch seiner nicht. Wochenlang hatte ihn der Kellner im Kaffeehaus nicht wiedererkannt. „Das höchste Ziel eines Weisen ist es, sich in Vergessen­heit zu bringen,“ äußerte er zu der Dame in Trauer. „Dann haben Sie Ihr Ziel bei mir schlecht erreicht,“ lächelte sie, „denn ich habe Sie nicht vergessen und ich werde Sie nicht vergessen.“ –

Er spürte, wie die Menschen sich ihm entfremdeten, die Tiere, die ihn einst geliebt, weiten Bogen um ihn schlugen, Lustmädchen und Lustknaben, Schlangen und Eidechsen vor ihm flohen. Nach dem Abbruch und Abbröckeln aller menschliehen Beziehungen und Gefühle begannen auch die animalischen Triebe und Neigungen in ihm zu verdor­ren und abzusterben, und nur die Vegetation blühte und wucherte noch. Auf der Mauer seines Gesichtes sproß pel­zig und graugrün wie Moos sein Haar. Seine Augen verlo­ren den tierischen Glanz, das Sprunghafte des Panthers. Sie traten nur noch still wie Veilchen aus dem Gewölb. Seine Hände griffen nicht mehr, sie wehten wie Blätter. Die Adern liefen darin wie die Linien in einem Ahorn-blatt. Er fühlte sein Fleisch nicht mehr: nur sein Skelett. Im Rückenmark stieg Saft empor wie im Stamm eines Birn­baums. Die Arme waren Äste. Noch ging er: von hier nach dort. Das war ein Atavismus, den es zu überwinden galt. Bald würde er seine Ruhe haben und seine Füße, daraus Wurzeln sprossen, im Erdreich vergraben, stehen, stän­dig, beständig, stämmig, nur leise im Winde schwankend. Als er zuhause war, nahm er den Revolver vom Nacht­tisch, wog ihn in der Hand und betrachtete ihn. Es war ein russischer Revolver, den er auf dem Schlachtfeld von Tan­nenberg gefunden hatte. Es war die einzige Waffe, die er­wählend des Feldzuges benutzt hatte, und er hatte ihn nur einmal abgeschossen: beim Waffenstillstand von Brest-Litowsk. Es war Nacht gewesen. Er zielte auf den großen Bären am Himmel und schoß vor Freude. Er steckte den Revolver zu sich und fuhr mit der Trambahn vor die Stadt. Er kletterte über den Münchnerberg und war im Wald. Der Boden war feucht, die Luft herb und frisch. Es hatte geregnet. Der Wind sauste und sein Herz schlug. Dann hörte es auf zu schlagen und zog sich wie in Essig ge­taucht zusammen. Herrgott! dieser Schmerz: warum hast du mir ein Herz gegeben, das schmerzt, ein Paar Augen, die sehen, ein Paar Ohren, die hören müssen! Ich hätte heute nicht übel Lust, deiner prächtigen Schöpfung den Garaus zu machen. Wer hat mir dieses Hammerwerk ein­gesetzt? Haßerfüllt lauschte er diesem leisen Herzklopfen. Ach, töten möchte ich dich, töten muß ich, töten, sonst sterbe ich vor Schmerz. Ihn quälte die klare kalte Luft. Die Sonne brannte in seine Augen. Er wünschte sich schwarze Tücher, sie zu verhängen. Ihm fiel ein, daß die Anarchisten schwarze Fahnen tragen, und daß er schon aus diesem Grunde Anarchist sein möchte. Er hatte den Wald durchquert und stand vor einem Kar­toffelacker. Die kleinen weißen Blüten glänzten an den grünen Stauden. Da sah er, kaum zwanzig Schritt vor sich, einen Hasen Männchen machen. Erhob den Revolver und schoß.

Der Hase sprang hoch in die Luft und überkugelte sich. Er lief zu ihm. Das Tier lag zwischen den Kartoffelblüten und sah ihn groß und fragend an. Und er erinnerte sich an eine Szene aus seiner Studentenzeit. Damals, in seinem ersten Semester, als er noch Chemiker hatte werden wol­len, arbeitete er im chemischen Laboratorium beim alten Bayer, dem sogenannten Indigobayer, der die künstliche Herstellung des Indigo erfunden und den indischen Indigo­export dadurch völlig ruiniert hatte. Die Wissenschaft als Lakai der nationalen Kapitalsbildung. – Eines Nachmit­tags laborierte er allein im Laboratorium. Nur der alte 73-jährige Wärter rumorte und räumte, heiser ein populäres Liedchen trillernd, auf. Neben sich hatte er eine offene Büchse mit Zyankali stehen, das er zu irgendeinem Expe­riment benötigte. Er kehrte sich eine Sekunde zu einer Retorte um. Als er sich wieder umwandte, sprang der Wär­ter wie ein angeschossener Hase hoch auf, schwebte eine Sekunde wie eine Marionette von unsichtbaren Händen gehalten in der Luft und fiel in sich zusammen. Dann war es auch schon aus. Er lag tot da. Er hatte in dieser unbe­wachten Sekunde in die Zyankalibüchse gegriffen und ein Atom Zyankali heruntergeschluckt. Mit 73 Jahren Selbst­mord begangen, nachdem man noch eine Minute vorher pfeifend und singend durchs Leben getrottet und getrot­telt ist. Der Hase, der im Kartoffelacker lag, erinnerte ihn lebhaft an den alten Wärter, der immer etwas Kaninchen­haftes, Grabendes, Grüblerisches an sieh gehabt hatte. Der Hase sah ihn noch immer mit seinen offenen toten Augen fragend an. Er wußte keine Antwort, als ihm, wie einst dem alten Mann, die Augen zärtlich zuzudrücken. Er ging nach Hause.

Er bekam Sehnsucht, an einer Vorortstrecke, wo die Chaus­see neben dem Bahndamm herläuft, mit einem Eisenbahn­zug um die Wette zu laufen. Fünfzig Meter, dann fiel er erschöpft ins Gras. Sein Herz schlug im Rhythmus der rollenden Wagen. Aber seine Lunge, mit der war es nicht mehr weit her. Als er eine Mohnblume ansah, hatte er plötz­lich Blutgeschmack im Mund.

Er wandte den Kopf und spuckte verächtlich ins Gras. Der Schleim blieb an einem Halm hängen, und in dem Schleim zappelte ein kleiner, roter Käfer, der sich vergeb­lich mühte, freizukommen. Er schlief ein.

Als er erwachte, stand die Sonne knapp überm Horizont wie ein goldner Teller mit Mirabellen. Er spürte die Strah­len süß auf seiner Zunge. Der Käfer war ertrunken. -Wie ein Matrose ging er noch einmal mit wiegenden Schrit­ten über die Erde, nur in Hemd und Hose und mit blan­ken Beinen. Gerade als er den Föhrenwald verließ, knapp vor der Stadt, krächzte eine Stimme hinter ihm her: „Herr – Herr — „

Er wandte sich.

Ein etwa zwanzigjähriger Krüppel watschelte atemlos auf ihn zu: ein märchenhaft schönes Gesicht auf einen Igel­leib gesetzt. „Was willst du?“

„Herr,“ sagte der Zwerg, „ich liebe Sie. Ich wollte es Ih­nen sagen, daß ich Sie lieb habe. Sie gehen oft am Hause meiner Eltern vorüber: aufrecht, schlank, tanzend, wie ich niemals werde gehen können. Das wollte ich Ihnen sagen, weil wenig Liebe in der Welt ist und man seine Liebe hin­ausschreien soll. Ganz gleich, wen man liebt. Darauf kommt es auch gar nicht an. Man kann auch eine Ofenbank oder eine Konservenbüchse, in die man Kresse sät, lieben. Das tue ich zum Beispiel. – Darf ich manchmal ein Stück mit Ihnen gehen?“

Und sah zu ihm auf, schüchtern und leicht verzweifelt. Er hob ihn auf beide Anne und küßte ihn auf den Mund. Als der Zwerg wieder auf der Erde stand, wurde er dun­kelrot wie Mohn, lächelte dann und verschwand, sich noch einmal umblickend, watschelnd im Walde.

Um diese Zeit erhielt er die Einladung eines Freundes, in seiner eine Fahrtstunde von der Stadt entfernt auf dein Lande gelegenen Villa den Sommer zu verbringen. Man kenne und achte sein tiefes Einsamkeitsbedürfnis. Nie­mand werde ihn stören. Auch die Dienstboten seien ent­lassen. Die Schlüssel zu Haus und Garten lägen beim Bäcker Brantl, der Villa gegenüber, zum Abholen bereit.

Es war später Abend, als er mit dem Vorortzug in G. eintraf. Er hatte im Kupee noch die flüchtige Bekanntschaft er schlanken und blonden Dame gemacht, die dem gleichen Reiseziel zustrebte wie er. Sie dokumentierte durch modisch elegante Kleidung, daß sie weitläufige Beziehun­gen zum Theater unterhielt. Sie sei darum mit ihrer Fami­lie ein wenig überquer. Zwar trete sie nur aus Passion und in unauffälligen Nebenrollen auf. Aber der Familie sei dies schon zu viel. Nun sei der Großvater gestorben. Vielleicht renke sich alles wieder ein. Ob sie seine Hand sehen dür­fe? Sie treibe ein wenig Chiromantie. Er reichte ihr lä­chelnd seine Hände. Beim trüben Licht des Zuges verfolgte sie angestrengt die Schicksals-, Charakter- und Gefühls­linie. Dann stutze sie: „Aber Sie haben ja keine Lebensli­nie? Sie mußten ja eigentlich schon tot sein! Tot und be­graben! Übrigens sind wir angekommen. Das da neben dem Bahnhof ist der Friedhof. Da liegt nun der arme Groß­papa. Gott, wird der frieren bei dem scheußlichen Wetter. Es gießt doch in Strömen. Es hat mich sehr gefreut, Sie kennen zu lernen, Herr – Herr – Ihren Namen habe ich vergessen. Besuchen Sie mich doch einmal. Wir sind ja Nachbarn. Meinem Vater gehört die Papierfabrik der Villa ihres Freundes gegenüber. Gute Nacht. Da ist ja Papa. Er hat mich erwartet.“ Sie zwängte sich durch die Bahnhofsperre und tauchte im Dunkel unter. Wie ein Fisch. Und eben war sie noch eine Sonnenblume gewesen, von der Sonne des elektrischen Lichtes bestrahlt: schlank, blond, glühend.

Der Weg schlängelte sich durch das ganze Dorf. Sein Lo­denmantel tropfte. Die paar elektrischen Lampen schwam­men wie matte Goldfische in der Regenflut. Der Bäcker Brantl schlief schon. Er trommelte ihn heraus. Verschla­fen brummelnd gab er die Schlüssel. Er betrat das Haus, eine Villa im bäurischen Stil. Er machte in allen sieben Zimmern Licht und ging aufatmend von einem ins andere. Er hatte die letzte Zeit in einem engen möblierten Zimmer verbracht, wo er bei jeder Bewegung an Wand oder Decke stieß. Welch Gefühl: ausschreiten zu können ein letztes Mal. Zu gehen von hier nach da. Von einem Raum in den andern, von einer Welt in die andere. Durch Sphären zu schweben, unbeschwert. Zu tönen, zu strahlen, zu singen. Den Rucksack auf dem Rücken, im triefenden Lodenman­tel, stampfte er noch immer von Zimmer zu Zimmer, ein dunkler Waldschrat. Lachen bildeten sich auf der geboh­nerten Diele und auf den Perserteppichen. Er trat vor ei­nen Spiegel. Aber er erkannte sich selbst nicht. Was für ein sonderbares Gemälde! Altgoldner Rahmen, darin ein Kerl mit einer fahlen Fratze wie Kaiser Maximilian vor der Erschießung auf dem Bild von Manet. Ein Gesicht wie ein Eierkuchen. Übergelaufene Milch. Undefinierbar. – Er suchte sich ein Schlafzimmer. Wählte das, in dem die Gattin des Freundes, nunmehr von ihm geschieden, ge­schlafen hatte. Es duftete noch leicht nach Heliotrop. -Von der Küche führte eine Treppe zum Garten. Er war schon zum Schlafen ausgezogen, als ihm einfiel, dem Gar­ten noch einen nächtlichen Besuch abzustatten. Er warf auch das Hemd ab und schritt die knarrende Treppe hin­ab. Noch immer regnete es heftig. Sein nackter Leib emp­fand wohlig die sanften Peitschensträhnen des Regens. Gott geißelt mich mild. Wie würden die Pfaffen mit mir verfah­ren? Das Gras stand ungemäht. Es streifte seine Knie, zärt­lich und feucht. Er hörte einen Fluß zu seinen Füßen rau­schen. Es war die Würm, die durch das Grundstück floß. Er trat auf einen kleinen Landungssteg, den er im Dunkeln mit seinen Sohlen erfühlte. Drüben am andern Ufer stampf­ten die Maschinen der Papierfabrik Tag und Nacht. Einige unruhige Lichter huschten über den gleitenden Strom wie kleine funkelnde Papierschiffchen, die Kinder sich zum Spielen verfertigen. Das Herrenhaus lag schon im Finstern. Die schlanke, blonde Sonnenblume schlief schon und hauchte ihre süße Seele wer weiß in welchen Traum. Viel­leicht träumte sie von ihm. Sie hatte sein Gesicht längst vergessen. Aber ein weißer Falter flatterte vielleicht vor ihren geschlossenen Lidern. Und sie sprach zu ihm: „Es hat mich sehr gefreut, Sie kennen zu lernen, Herr-Herr-Ihren Namen habe ich schon wieder vergessen.“ Oder sie sah eine weiße Maus und schrie auf, daß das ganze Haus erwachte und Papa in Schlafrock und Pantoffeln herbeige­schlurft kam. »Aber Kind, was ist denn mit dir?« Sie aber war erbleicht vor Schreck. Das schöne blonde Haar kleb­te feucht an ihrer Stirn. Die Augen wagten noch nicht, sich aufzutun. Denn aus der weißen Maus war eine weiße Ratte und aus der weißen Ratte war ein weißer Elefant geworden. Der stand nun vor ihrem Bett und schlenkerte mit dem Rüssel wie die Arbeiter am Morgen mit den blau­en Kaffeekannen. Plötzlich aber war auch der Elefant nicht mehr da, sondern ein bärtiger Mann mit einem wachsblei­chen Gesicht, wie es die Heiligen in den Dorfkirchen ha­ben. Sein Gesicht war flächig und eigentlich nichts als ein Quartblatt weißes Papier, darauf standen die Worte: »Mein Fräulein, ich liebe Sie.« Sie schrak zusammen. Das war gewiß der Herr, die Reisebegleitung von heute Abend. Der stand am andern Ufer und sah, daß im Herrenhaus Licht wurde und wieder erlosch. Schlaf gut, kleine Son­nenblume. Morgen wird es prächtiges Wetter geben. Den Regen wird die Erde getrunken haben, und du wirst in der Sonne stehen, strahlend, goldblütig, glühend. Der Som­mer währt noch lang.

Er tastete sich zwischen Bäumen durch den Garten. Sie fügten sich borkig in seine Hand. Das war die Borke, aus der er als Knabe kleine Barken geschnitzt hatte. Vielleicht hatte er den Bäumen mit dem Messer wehgetan? Wenn man aus seinem Fleisch Stücke geschnitten und Kähne daraus gebastelt hätte – wäre nicht Blut geronnen? Immer doch trifft man beim Menschen auf Blut. Schon ein Na­delstich trifft Blut. Er erschauerte, als er die Bäume fühl­te, das hölzerne Fleisch in seiner Hand erregte ihn. Er streichelte es, wie er einst Frauen und Katzen gestreichelt hatte. Er neigte seine Stirn, und die Rinde grub Zeichen darein. Früher hatte er Zeichen in die Rinde gegraben: ein Herz, gotische Runen, die er auf der Universität ge­lernt. Er hatte ja seinen Doktor gemacht, er war ja ein Gelehrter – worüber bandelte doch gleich seine Doktorar­beit? „Über das stumme Spiel bei Shakespeare.“ Darunter ließ sich etwas begreifen und vorstellen. Das war wissen­schaftlich fundiert, reichte zur Habilitation. Das stumme Spiel! Man redete zu viel, viel zu viel. Ein großes Ge­schehnis vollzog sich schweigend. Die sogenannten Heroen zwar gingen redend oder schreibend, quasselnd und sab­bernd zugrunde. Die homerischen Helden! Napoleon auf der Insel Elba! Anklage und Rechtfertigung! Wozu? Nur im menschlichen Bezirk befleckt man die Seele mit dem Gesabber des Maules. Sprechen Sterne? Äußern sich Fische diesbezüglich? Werden Bäume hierorts vorstellig? Rechtfertigt sich die Wüste? Das Meer – klagt es an? – Er schüttelte sich vor Lachen wie ein Pudel. Wasser spritzte seitwärts. Der Regen rann über ihn dahin wie über Baum und Strauch. Er troff wie ein Apfelbaum. Er hob seine Beine – und es wurde ihm schwer, zu schreiten, einen Schritt nach vorwärts zu tun. Vorwärts oder rückwärts: das gilt gleichviel. Aber auch rückwärts versagten seine Muskeln. Die Füße wollten endlich Wurzel fassen, die Hände Äste werden. Der feuchte Regenwind trieb einen Duft zu ihm. Er atmete Fliederduft, der ihm bis ins Herz wehte. Einer von beiden muß sterben: Mensch oder Pflanze. Ich erahne, ich ersehne dich, Dame in Trauer. Ganz will ich in dir aufgehen: zu Hauch und Blüte. Ihr tausend violetten Sterne! Mein Himmel über mir! Ich will in Erde vergehen, damit du dich wölbst! Mein Leib wird den Boden düngen, darein du gesenkt bist. Und leuchtender wirst du blühen und wilder duften, weil meine Liebe dich glühen und seuf­zen macht. Ich bin mit allen Gliedern in dich verflochten. Schlag Wurzeln in meiner Brust! – Mit aller Kraft riß er sich von zwei schmalen Apfelstämmen los, die er umkrallt hatte, und verstürzte und versank in einem Fliederstrauch. Er riß die feuchten Blüten und Zweige an seine nackte Brust. Seine Lippen suchten eine Blüte, die unter seinen Küssen aufging. Er liebte den Strauch, wie er einst eine Frau geliebt hatte. Seufzend vor Seligkeit sank er erlöst nieder und blieb wie ein Schacher am Kreuz mit herab­hängendem Kopf und schlenkernden Armen im Gebüsch hängen.

So fand ihn am nächsten Morgen der Bäcker Brantl, als er ihm früh die frischen Semmeln ins Haus tragen wollte.

Die Träger hoben den Sarg. Hinter ihm schritten der Pfar­rer, die Dame in Trauer und der Zwerg. Als sie hinter der Kapelle eine Wegbiegung kreuzten, begegneten ihnen links und rechts zwei Trauergesellschaften, die von ihren Be­gräbnissen schon zurückkamen. Halb aus Neugier, halb aus uneingestandenem Mitgefühl lösten sich einige Grup­pen davon los und folgten dem sonderbaren Leichenzug bis ans Grab. Als der Pfarrer, der im Gebet versunken vor sich hingeschritten war, sich am Grab zurückwandte, sah er zu seinem Erstaunen eine zahlreiche Trauergemeinde um den Verschiedenen versammelt. Die ganze Dispositi­on seiner Leichenrede geriet ins Wanken. Während er sie zuerst auf den Tod des Einsamen, Vereinsamten zugeschnit­ten hatte, modelte er sie nun in aller Eile auf den Typ des Vielgeliebten, der, von einem reichen Bekanntenkreis umgeben, mitten aus einem arbeits- und beziehungsreichen Leben gerissen sei. Als er die drei Handvoll Erde auf den Sarg gestreut hatte, traten zuerst die Dame in Trauer, da­nach der Zwerg, danach etwa fünfzig Trauergäste an die offene Grube und erwiesen dem Verbliebenen die letzte Ehre. Der Pfarrer schüttelte der Dame in Trauer, dem Zwerg und einem halben Dutzend Herren und Damen, die er für nähere Verwandte hielt, die Hand, er setzte sich das Ba­rett auf und entschritt grüßend. Ein Herr im Zylinder, den die Neugier plagte, trat asthmatisch schnaufend auf den Zwerg zu, drückte ihm schweißig die Hand: „Mein inni­ges Beileid — aber sagen Sie: wer war eigentlich der Verehrungswürdige, der soeben hier zur letzten Ruhe gebet­tet wurde?“

Der Zwerg biß sich auf die Unterlippe:

„Ein Fant, ein Nichtsnutz, ein Hallodri – was weiß ich.

Vielleicht auch ein bedeutender Mann. Ein kleiner Gott. Ein Wüstling. Ein Asket. Ich habe ihn nicht besser gekannt als Sie. Aber ich habe ihn geliebt.“ Ergriff an seinen kleinen steifen Hut und schlug sich seit­wärts, denn die Tränen stürzten ihm schon über die kno­chigen Wangen.

Als alle gegangen und das Grab schon zugeschaufelt war, stand die Dame in Trauer noch nachdenklich davor. Schließlieh wurde sie müde und ließ sich wie auf einer Bank darauf nieder.

Ein Fliederstrauch wuchs aus dem Grab hervor. Zur Zeit der Blüte war es mit violetten Blüten schier zugedeckt.

Die Blinde

Jeden Morgen ging die Blinde mit ihrer Schwester Hed­wig denselben Weg durch den Wald und saß auf dersel­ben Bank, gegenüber einer Eberesche, die gerade jetzt ihre Früchte trug und die rotgleißenden Trauben zu ihrer eigenen Schönheit Preis und um sie noch glitzernder zu waschen in den tiefblauen Himmel tauchte. Die Schwe­ster ging dann zuweilen in den Wald, um Blaubeeren zu pflücken oder Blumen, oder sie lief ein paar Schritte her­unter, wo der Pfad auf eine Wiese mündete, und suchte Vogelmiere für ihren Kanarienvogel. Die Blinde saß dann allein, die Hände lagen in einer Falte ihres schwarzen Klei­des und sie machte sich ihre Gedanken. Nein, sie malte sieh ihre Gedanken. Alle ihre Gedanken waren farbig und bunt und leuchteten in einer strahlenden Kühnheit, die den geblendet hätte, dem sie begegnet wären. Blind war sie geboren. Und wie sie sich ihre Seele aus dem Chaos einer dumpfen grauen Verzweiflung mit immer neuer Mühe erschaffen hatte, so hatte sich endlich auch eine Sonne in ihr entzündet, die war nicht trüber und schlechter als die der andern Menschen. Und sie beschien eine Welt, die gütiger und reiner war und frei von allen Leidenschaften eines schauenden Willens.

Jeden Morgen kam auch ein Herr denselben Weg, immer um dieselbe Zeit, wenn die Blinde schon auf der Bank saß. Jedesmal rief er ihr ächzend von der Steigung, die ihm schwer wurde, ein barsches: „Guten Morgen“ zu – das guten Morgen eines Mannes, der von seiner einzigen Wichtigkeit und der Unwichtigkeit sämtlicher sonstigen Dinge überzeugt ist. Die Blinde antwortete ihm freund­lich. Sie gewöhnte sich an sein hastiges Atmen, nachdem er den kleinen Hügel überwunden hatte, sie gewöhnte sieh an seinen kurzen stampfenden Schritt, suchte ihn schon aus der Ferne zu ahnen und unterschied ihn wohl, wenn er im Getrappel vieler anderer Schritte unterzugehen schien. Sie gewöhnte sich an ihn und nannte ihn ihren Freund, indem sie ihn in ihre Welt versetzte. Wie körperlich Miss­gestaltete oft ihr Vertrauen dem Wunderlichen entgegen­bringen, noch öfter beinahe dem Unwürdigen und seelisch Missgestalteten.

Sie glaubte fest an den Mann, wie er in ihrer Welt als ein Engel schwebte, jung, von reichem Herzen und reicher Traurigkeit. Und sie wünschte sich, ihn einmal trösten zu dürfen.

Sie sprach zu ihrer Schwester Hedwig von ihm, die sich sehr wunderte und behauptete, einen solchen Mann noch nie hier am Wege gesehen zu haben.

„Dann warst du eben im Wald,“ lächelte die Blinde. Und eines Tages, als sie seine Schritte hörte, rief sie leise ihre Schwester, die sich zu ihr auf die Bank setzte und wartete, da sah sie ihn. Sie hatte erst ein Wort auf den Lippen wie: „närrische Träumerin,“ aber als sie das entzückte Gesicht der Blinden betrachtete, schwieg sie und sagte dann kurz: „Ja, – das ist er.“

Der Herr, der hier täglich an der Bank vorbei seinen Morgenspaziergang machte, war ein kleiner dicker Privatier, der vor kurzem aus dem Bürodienst seinen Abschied genommen hatte und sein Leben mit derselben glaube- und hoffnungslosen Verbissenheit weiter trug wie vorher. Es war, als schleppe er am ganzen Körper in allen Taschen eine, schwere Steine mit sich herum, die, weil sie ihm einmal irgendwer oder er selbst im kindischen Spiel hineingetan, nun drin blieben, obgleich es sich der leichten Mühe gelohnt hätte, sie herauszuwerfen, Eines Morgens, nachdem er seinen gewöhnlichen Gruß geächzt hatte, ließ er sich neben der Blinden auf der Bank nieder. Geräuschvoll wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Die Blinde hatte seinem Gruße wie immer freund­lich gedankt. Da er die Verpflichtung fühlte, irgend etwas sagen, sich gegen eine Dame galant zu benehmen, so e er mit seiner sehr hohen Stimme: „Sehr heiß. Ist es Ihnen nicht zu heiß hier in der Sonne?“

Sie nestelte verlegen an ihrer Korallenbrosche und antwortete dann ruhig mit jenem Lächeln der Blinden, das ihnen, wenn .sie sprechen, nicht vom Gesicht zu weichen scheint. Es ist, als sei ihnen dies Lächeln ein Sinn, von dem die Helläugigen nichts wissen, als taste dieses Lächeln hinaus und fahre am Körper des Besprochenen auf und nieder. „0 nein“, sagte sie, „ich liebe die Sonne. Ich liebe sie so sehr, daß ich sie höre, wenn sie um die Eber­esche drüben schleicht.“

Der kleine dicke Herr war erstaunt, aber er gab ein Zei­chen, daß auch er dem Gespräch eine geistreiche Wen­dung geben könne: „Die Sonne, ich hätte sie im Leben nötig genug gehabt.“

„0 Sie“, lächelte die Blinde, „Sie sind ja so jung. Und war Ihre Jugend schlimm: schattige Jugend, sonniges Al­ter!“

Er wußte nicht recht, wie sie es meinte und ob sie ihn nicht etwa verhöhnen wolle, und fuhr grob auf. „Und Sie?“ „Schatten“ sagte sie leise, „nur Schatten.“ Da sah er erst, daß sie blind war und erschrak. Und weil er glaubte, eine Taktlosigkeit begangen zu ha­ben, lüftete er in seiner Verzweiflung seinen Hut und ver­beugte sich: „Verzeihung.“

Damit konnte sie nun nichts anfangen und lachte laut. Und obschon er vor diesem Lachen eigentlich Angst hatte, lach­te er mit. Und sie meinte – und lachte noch dabei – „Gott, was sind Sie jung.“

Da brach sein Lachen plötzlich ab und fiel zu Boden wie ein toter Vogel, den das Jagdgeschoß traf. Und er lebte wieder in seiner Jugend und lebte schrecklich in ihr, denn er lebte sie bewusst. Und eine Szene lebte er und er spielte in ihr wahr als ein Schauspieler, der in alle Tiefen seines Rollencharakters sich hineinversenkt und Wirklichkeit und Phantasie schon nicht mehr scheidet: wie er mit Hanni, seiner hübschen Gespielin, an seinem dreizehnten Ge­burtstag gespielt und wie sie ihn geküsst und wie er sie dafür geschlagen und in den Sand gestoßen und sich an ihren Tränen noch geweidet hatte. Kein Mädchen hatte n seither geküsst und das Leben ringsum war ihm zum Ekel gediehen. Indem er sich selbst größenwahnsinnig in seiner Einsamkeit zum Götzen erhob, war er in sich selbst nur umso kläglicher zerfallen. Nun musste er jene Szene noch einmal leben und blieb ihm nichts erspart, und musste er sie wieder schlagen und in den Sand stoßen und ihre Tränen höhnisch verlachen.

Da rannen ihm selbst die Tränen über die Wangen. Ersuch­te es vor der Blinden zu verbergen und schluckte und schluckte. Sie hörte es und glücklich, ihn trösten zu dürfen, streichelte sie ihm seine kleine fleischige Hand: „Nicht weinen, junger Freund, nicht weinen. Schattige Jugend, sonniges Alter.“

Da brach die Tränenflut nur umso heißer aus ihm hervor.

Mond über Davos

Was wissen wir von Ihm, der über uns
Des Mondes Barke im Wolkenmeere lenkt?
Er fährt dahin, und über der Lavastirn
Brennen und leuchten die Gedanken.

Was aber denkt Er, über den Rand des Monds
Hinab auf unsere arme Erde gebeugt?
Er sieht. Was sieht Er? Seine Blicke
Stoßen durch unseren Leib wie Speere.

Und blutend sinken wir in die Knie. Der Schrei
Von Tausenden stößt an das Firmament.
Dort segelt Er in seinem leichten Kahne,
Lächelt so licht, von goldnen Fahrten trunken.

Trauercarmen in memoriam unserer plötzlich heimgegangenen Katze

Davos am 22. Dezember

Unsere alte Katze ist verschieden,
War so sanft und gut.
Ach, sie war des Hauses Trost und Frieden,
Und nun liegt sie da in ihrem Blut.
In Gestalt des Lifts kam er geschlichen,
Lautlos, tückisch, flink: der Tod,
Bis sie unter seiner Eisenfaust verblichen,
Und das ganze Treppenhaus war rot.
Nimmer wirst du mehr im Schoß der Herrin schnurren oder schnarren,
Und der Herr, er krault dich nicht von Zeit zu Zeit.
Unterm Schnee wird man dir eine Grabstatt scharren
Nur zwei Schuhe breit.
Aber einst wird die Posaun ertönen,
Wenn der Katzengott zur Auferstehung bläst.
Und du wandelst dann mit vielen schönen
Katern zum erkornen Fest.
Wie behaglich wirst du in das Himmelsbett, des Himmels Bett dich schmiegen.
Mäuse gibt es ohne Zahl und keinen Hund.
Jeden Tag wirst du ein andres Junges kriegen,
Weiß und schwarz und scheckig oder bunt.
Aber unsre Tränen tropfen, und wir raufen
Uns die Haare sonder Ruh.
Zwar man könnte eine andre Katze kaufen,
Aber das wärst doch nicht du.
Was auch Darwin oder Haeckel sage:
Eine Seele hattest du gewiß.
Und so rinnt denn unsre Totenklage
In die uferlose, in die Finsternis.

Sommerschnee in Davos

Schnee liegt auf den grünen Wiesen. Butterblume, Hah­nenfuß, Enzian, Alpenrose stecken ihre roten, blauen, gel­ben Köpfe aus dem weißen Schnee. Die Tannen sind nur mit einem zarten Pastellweiß bedeckt. Vom Himmel tropft ein blendendes Weiß wie Blei. Es fällt wie Metall in die Augen, und es wird einem schwer in den Gliedern. Bei den Beinen fängt es an. Schon sind sie zu Eisklumpen geworden. Jetzt hört das Herz unter eisiger Brust auf zu schlagen. Die Arme sind lange, dürre Eiszap­fen. Und ganz zum Eismenschen geworden, stampfe ich über die schneebedeckten, sommerlichen Wiesen, und Butterblume, Hahnenfuß, Enzian, Alpenrose neigen un­ter meinen schweren Tritten ihre gebrochenen Blumen­häupter.

Plötzlich zuckt wie ein Blitz ein Sonnenstrahl vom Him­mel. Es blinkt, es blitzt, es werden ihrer mehr. Schon be­ginne ich zu schmelzen. Ich schmelze dahin, und horch, jetzt schlägt auch mein Herz, das aufgetaute, wieder. Es ist wieder Sommer.

Die Sehnsucht ist wieder da. Und ich lebe, lebe.

Schnee

Schnee, Schnee, Schnee fällt. Millionen weißer Sterne tau­meln lautlos auf die braune Erde nieder. Die braune Erde ist feucht, und Millionen Sterne erlöschen, ehe einer, noch einer, immer mehr haften bleiben; tausende müssen sich, im Sumpf versickernd, opfern, damit einer kristallisch er­blinkt. Immer größer werden die weißen Flächen am Hang. Ein riesiger, weißer Krake scheint hundert weiße Arme um ihn zu schlingen.

Auf der Straße schlittern schon Kinder. Die kleinen Schlit­ten gleiten holpernd auf dem noch erdigen Untergrund. Man sieht auch einen großen, eleganten Mietschlitten mit pelzverbrämtem Kutscher. Natürlich ist das Pferd, das ihn zieht, ein Schimmel; aber dieser Schimmel sieht elend eil­fertig zurechtgemacht aus. Als wäre er eigentlich ein Kap­pe und nur aus Stilgefühl, weil im Winter eben alles weiß sein muß, mit weißer Ölfarbe angestrichen. Er fühlt sich auch sichtlich nicht wohl in seiner Haut und äugt alle Au­genblicke nach dem in Heidschnuckenpelz gehüllten Kut­scher. Du da, sagt der Blick, sind wir beide nicht eigent­lich zu schade, um zahlungskräftige Herrschaften durch die Winterlandschaft zu jagen? Wie wäre es, wenn du mit mir, wie vor langen Jahren, wieder einmal nachts im Mond­schein durch den schweigenden Hochwald nach Clavadel hinauf rittest? Aber der Kutscher schweigt und zwinkert nur mit den Wimpern, die Schneeflocken, die sich darin festgesetzt, zu vertreiben.

Vor einer Delikatessenhandlung sehe ich Hasen hängen, tote Hasen, weiße Schneehasen, die mit rot unterlaufenen Augen in das Schneegestöber linsen. Sie fordern den Vor­übergehenden auf, sie zwecks sonntäglicher Verspeisung käuflich zu erwerben. Denn zum Schnee gehören natür­lich Schneehasen, auch Schneehühner. Zu Hause aber im wärmenden Ofen brutzeln schon die Bratäpfel, und ihr Duft erinnert an Kindheit, weihnachtliche Vorfreude, Advent­spiele, überhaupt an alles Glück der Erde, die, selbst nur eine schimmernde Schneeflocke, durch den Äther wirbelt.

Denkmal im Schnee

Es begann zu tauen.

Der Schnee schmolz zuerst über den Wurzeln der Tannen. Die standen bald auf kleinen braunen Erdflecken, braune Oasen in der weißen Wüste. Das Gras, das sich zeigte, war noch verdorrtes Gras vom vergangenen Herbst. Es sah aus wie Kamelshaar. Da und dort spross aber schon erstes, zages Grün, schüchtern verschüchtertes Moos.

Trumm, der Bildhauer, hatte sehr unter seinem Herzen zu leiden. Nachts fuhr er aus einem Schlaf, der ihm wie wirres Haar in die Stirne hing. Er saß stundenlang aufrecht im Bett. Sein Herz schlug rasend, aber es setzte einen Schlag um den andern aus. Die offene Wunde über der rechten Lunge schmerzte nicht mehr so stark. Aber jeden Tag zapfte er wie der Winzer dem Fass Wein seinem Bauch einige Schüsseln Eiter ab. Weiß der Teufel, wie seine Nieren auf die Dauer diese fortgesetzte Eiterproduktion aushielten.

Der Mond schien ins Zimmer.
Er schien auf die Kuckucksuhr an der Wand.
Es war fünf Minuten nach halb vier.

Tramm erhob sich stöhnend, verband vorsichtig seine Wunde, zog sich an und verließ das Haus.

Sein Fuß backte im weißen Schnee fest. Es fror auch nachts nicht mehr.

Er ging die Straße ins Flüelatal.

Nach einer kleinen Stunde bog er rechts ab und ertastete sich zwischen den Tannen den Fußsteig zum Flüelawasserfall. Auf der kleinen Holzbrücke blieb er stehen und sah in die spritzenden, gischtenden Wasser. Seine Augen wurden feucht, und eine Träne tropfte in das fallende Wasser. Er stand viele Minuten unbeweglich. Dann machte er kehrt und ging zur Straße zurück. Er atmete schwer, und sein Herz schlug rasend.

Ein Fels erhob sich über der Straße. Mit Mühe erklomm Trumm den Felsen.

Dann stand er aufatmend und sah ins mondbeglänzte Tal hinab.

Der Fels war hoch mit Schnee bedeckt. Und plötzlich überkam ihn eine unbezähmbare Lust, aus diesem weichen, tauenden Schnee ein Denkmal zu modellieren, ein unvergängliches, ein ewiges Denkmal, das alle seine Marmor- und Bronzetorsos strahlend überdauern würde. Er fühlte eine gewaltige Kraft in sich. Und fieberhaft begann er, den Schnee zu türmen und zu formen. Er formte die schlanke, steile Gestalt eines Jünglings, der, die Arme gebreitet, weit über das Tal hinsah.

Als er den Kopf beendet hatte und im fahlen Mondlicht seine Züge sah, sah er, dass es sein eigener Jünglingskopf war. Vor zwanzig Jahren hatte er einmal so ausgesehen.

Gott segne dich, sagte Trumm, Gott segne dich ein letztes Mal!

Er fühlte ein leichtes, schmerzlich wohliges Schwindelgefühl.

Er fasste sich an das Herz und fiel, mit dem Kopf in den Schnee, dem Standbild zu Füßen.

Weihnachtslegende

Ich bin durch Winter und Wald gegangen,
Eia Maria,
Ich bin durch den Winterwald gegangen,
Sah alle Tannen voll Sternen hangen,
Engel standen im Schnee und sangen,
Eia Maria.

Auf einer Lichtung im weißweißen Wald,
Eia Maria,
Erschien deine gebenedeite Gestalt,
Deine Augen strahlten solche Gewalt,
Daß ich mich zitternd am Baum gekrallt,
Eia Maria.

Du trugst auf deinen Armen lind,
Eia Maria,
Das himmlische, das irdische Kind,
Und dein Gefolge war Schnee und Wind,
Reh, Wiesel und Maulwurf blind,
Eia Maria.

Du zeigtest den Tieren deinen Sohn,
Eia Maria,
Die Menschen haben für ihn nur Hohn –
Da neigten sich Hirsch und Hase schon,
Der Wind wehte sanft, der Schnee fiel wie Mohn,
Eia Maria.

Du stiegest empor durch Tann und Farr,
Eia Maria.
Da beugten die Bäume sich mit Geknarr,
Da neigten die Felsen sich felsicht und starr,
Und da kamen auch Menschen – ein Kind und ein Narr –
Eia Maria.

Weihnacht in einer kleinen Stadt

Im Strome treibt ein leerer Kahn,
Der Ast zerspellt, kein Wimpel dran.
Im Weinberg hängt der Nebel dicht,
Vom Himmel fällt kein Sonnenlicht.
Wie Totenaugen starren stier
Die Fenster aus den Häusern hier.
Kein Mensch zu sehn, kein Hund, der bellt;
Die Stadt verwaist, verwest die Welt.

Auf Rabenflügeln naht die Nacht,
Im Dom Herr Jesus Christ hält Wacht.
Sein Aug aus Stein, aus Stein sein Bein,
Aus Stein sein Stab, sein Herz aus Stein.
Er steht schon an die tausend Jahr
Und steht noch viele tausend gar.
Vergeht die Stadt, verweht die Welt:
Er steht: Prophet und Hirt und Held.

Blanke Pfützen überhüpfend

Blanke Pfützen überhüpfend,
Tauwind schmolz den Schnee zur Nacht,
Tanzt, den Blick ins Blau getaucht
Erster Lenztag durch die Gassen.

Jubelnd greif ich mit den Händen
In der Luft nach einem Bündel
Sonnenstrahlen, stoß sie mir wie
Goldne Speere in das Herz.

Am Rheinfall

Ehemals stand ich gelassen, o Rheinstrom,
Meine Finger verträumt spielten mit Woge und Stein.
Dass, so dacht ich, doch auch mein Schicksal so heiter verflösse
Über Blume und Fels, sicher des einzigen Wegs.
Deinen Ufern folgt ich. Nun raste ich bei Schaffhausen
Und erkenn bestürzt, Gischt, mein rauschendes Herz.

Am Luganer See
Durchs Fenster strömt der See zu mir herein,
Der Himmel auch mit seinem Mondenschein.
Die Wogen ziehen über mir dahin,
Ich träume, dass ich längst gestorben bin.
Ich liege auf dem Grunde alles Seins
Und bin mit Kiesel, Hecht und Muschel eins.

Die Parze
(Italienisches Straßenbild)

Den Kopf vornüber
Träumt der Knabe
Im Mauereck.
Die graue Parze
Hält ihn im Schoß.
Im roten Schopf
Wandern die Läuse.
Der Greisin dürre Finger fahren
Wie Häkelnadeln durch sein Haar,
Und hin und wieder knackt sie mit den spitzen
Fingerspitzen
Ein bräunliches Insekt.

Mascha

Ich heiße Mascha.

Ich bin aus einem adligen russischen, einem edlen Ge­schlecht. Mein Vater ist gehängt, meine Mutter ist erschla­gen. Ich habe nichts auf der Welt als meine kleine Geige. Von den ersten Meistern bin ich im Geigenspiel unter­richtet worden. Einmal hab ich auch bei Marteau in Ber­lin ein halbes Jahr studiert.

Jetzt spiele ich den Ausflüglern auf dem Monte Salvatore Tschaikowsky, Drdla, Kreisler. Sie blicken hinunter auf den Luganer und Muzzaner See, und die Töne umflattern sie wie aufgescheuchte Vögel. „Wie schön!“ sagen sie, „wie schön!“ Aber sie meinen die Schneekappe des Monte Generoso oder die winzigen Boote unten auf dem See. Meine Melodien fliegen umher wie bettelnde Möwen, die die Pas­santen am Kai und die Dampferpassagiere um Brot an­schreien.

Man wirft mir fünf, zehn, zwanzig Rappen auf den Teller mit der schmutzigen Serviette. Manchmal auch einen Fran­ken. Die Italiener sind geizig, die Engländer schäbig, die Franzosen knickrig, nur die Polen, Russen und Deutschen haben einen weiten Geldbeutel und ein weites Herz. Die Deutschen sprechen zuweilen mit mir. „Wo haben Sie studiert?“ fragen sie immer, denn sie sind gründliche Leute, die sich unterrichten wollen. Wenn ich dann sage: in Berlin, dann sind sie begeistert und geben noch einen Fran­ken zu. Wir unterhalten uns dann über Berlin, über die Tauentzienstraße, den Ufapalast, Staaken (alle Berliner ha­ben etwas mit dem Film zu tun), über den prächtigen Dom und das erstklassige Residenztheater und kommen überein, daß Berlin die schönste Stadt der Welt ist. Ich trage immer ein grünes Strickkleid, und deshalb nennt man mich den Laubfrosch. Ich bin hübsch, das weiß ich, und nur darum sind die Leute nett zu mir. Was wird aber einmal werden, wenn ich nicht mehr hübsch bin? Um al­ler Heiligen willen, ich möchte es nicht erleben. Die Wirtin vom Ristorante ist ebenfalls sehr freundlich zu mir. Ich erhalte immer gratis Mittagessen und Kaffee, und zuweilen ein Glas angesäuerten Asti, den man den Gästen nicht mehr vorsetzen darf. Früher habe ich nur französi­schen Champagner getrunken.

Ich wohne in einem kleinen Hotel an einem dunklen, feuchten Platz, mitten in der Stadt, dort, wo die Seilbahn am Bahnhof heraufgeht. Wenn die Seilbahn herunterkommt, läßt sie immer Wasser – wie eine blaue Kuh. Das Geräusch höre ich den ganzen Vormittag alle fünf Minuten.

Im Hotel wohne ich mit meinem Freund zusammen. Er tut en ganzen Tag nichts, als in einem Cafe, gegenüber der Dampferhaltestelle, zu sitzen und abwechselnd Cafe espresso und Vermouth mit Salz zu trinken. Er ist ebenso unglücklich wie ich. Er ist manchmal sehr böse. Aber er tut nur böse, um sein gutes Herz zu verdecken. Er ist böse aus übergroßer Güte. Er ist krank und spuckt zuweilen Blut. Er macht Gedichte, sehr schöne Gedichte. Neulich hat er ein Gedicht auf mich geschrieben:

Weine nicht, Mascha!
Ich bin der Südwind, der alle deine
Tränen trocknen wird –
Aber ach, mein Jammer ist uferlos wie das Meer, und kein Kind und keine Sonne wird es je zum Versiegen bringen, was soll ich Ihnen auf die fünf Franken herausgeben? Nichts? 0, wie ich Ihnen danke. Nun können wir einmal heute bei Biaggi ordentlich zu Abend essen.

Die Bürger von Virano

Virano wollen wir einen kleinen, in einem Seitental des Kantons Tessin gelegenen Ort nennen, der dadurch be­kannt oder vielmehr berüchtigt ist, daß er seine ärmlichen Finanzen durch allzu freigebige Ausstellung von Schweizerbürgerbriefen aufzupulvern pflegt. Denn das Schweizerbürgerrecht ist sehr begehrt, mit einem Schweizer Paß kommt ein Halunke leicht in der Welt herum und auf sei­ne Kosten, und darum scheut er nicht einige blaue oder gar braune Lappen, um in die Gemeinschaft der Eidge­nossen, der Nachfahren Winkelrieds und Teils, aufgenom­men zu werden.

In Virano also gab es eines Tages eine große Aufregung. Zigeuner waren in dem gottverlassenen Nest eingetroffen und hatten auf dem Dorfplatz, gerade vor dem Standbild einer buntangestrichenen, gipsernen Madonna ihre Wa­genburg errichtet. Es waren Zigeuner nicht gerade von der allerfeinsten Sorte: verwegene Burschen und Männer, die schon allerlei auf dem Kerbholz hatten. Sie führten ein zwar sehr schmutziges, aber ungewöhnlich hübsches Mäd­chen bei sich, dem die jungen Burschen von Virano als­bald nachstellten wie die Kater der Kätzin zur Maienzeit. Eines Abends kam es infolgedessen zu einer Prügelei und Messerstecherei zwischen Zigeunern und Viranesen, und um ein Haar wäre der Sohn des Sindaco erstochen wor­den. Am nächsten Morgen hatte der Amtsdiener den Zi­geunern höflich, aber bestimmt zu erklären, daß ihres Blei­bens in einem friedlichen Ort wie Virano nicht länger sei. Leute ihrer heftigen und kriegerischen Gemütsart mögen sich, mit Verlaub zu sagen, dorthin scheren, wo der Pfef­fer wächst, und sie mögen nicht verabsäumen, vor allen Dingen Virano von dem kleinen schwarzen, weiblichen Teufel zu befreien, der in der kurzen Zeit seines Hierseins schon so viel Unheil in der Herrenwelt Viranos angerich­tet habe. – Wie erstaunte der wackere Hüter der Belange Viranos, als der Zigeuner Oberster und des Mädchens Vater sich in die behaarte Brust warf und in einem schlecht sti­lisierten und falsch ausgesprochenen Italienisch sich pa­thetisch als Bürger von Virano bekannte! Und in der Tat: er war es. Er hatte das Gemeindebürgerrecht schon vor einigen Jahren gegen Nachnahme von der Gemeinde Vira­no rechtens erworben.

„Wahrlich“, so sprach er, salbungsvoll wie ein anglikanischer Sonntagsprediger, „wollt ihr uns von der teuer erworbenen Heimaterde verstoßen, mich, euren Landsmann, und Nadja, eure Landsmännin, das unschuldige Opfer männlicher Verbuhltheit? Das Gesetz gibt euch kein Recht zu solchem Tun.“ – Der Amtsdiener war sprachlos, prüfte die Papiere – sie stimmten. Auch der Sindaco wusste nichts Stichhaltiges zu erwidern. Es blieb den Leuten von Virano nichts anderes übrig, als, um die Zigeuner loszuwerden, das Bürgerrecht von ihnen zurückzukaufen – zu einem er­heblich höheren Preise, versteht sich, als den, den die Zigeuner dafür angelegt hatten.

Kleine Novelle

Mit Ambrosio ging es zu Ende. Schwer schnaufend lag er Bett. Am Nachmittag war der Arzt noch mal gekommen. Aber da war ja wohl nichts mehr zu machen. Gina schlich wie eine Katze lautlos um ihn herum. Er tat, als merke er sie nicht. Aber unter halbgeschlossenen Lidern hervor verfolgte er jeden ihrer Schritte. In aller Öffentlichkeit ließ sie ihn verrecken … Sie nahm sich nicht einmal Mühe, die Tür nach dem Gastzimmer zu schließen, wo das mechanische Klavier den Tripolismarsch und die Giovinezza stampfte. »Giovinezza« — auch er, Ambrosio, war einmal jung gewesen, so jung, wie es Gina jetzt noch war. Aber mit fünfzig Jahren, nach dem Ratschluss der Hei­ligen, schon zum alten Eisen geworfen zu werden, hatte er, Ambrosio Bazzi, Wirt zur Osteria Valetta, ein so klägli­ches Ende verdient? Gina holte alle Augenblicke ein Vier­tel oder einen Halben Nostrano, Barbera oder Dolce. Drau­ßen auf der Bocciabahn sprangen die Holzkugeln. Auf dem Steinfußboden des Wirtszimmers schleiften zwei kragenlose Jünglinge einen Tanz von fragwürdiger Eleganz zu den Takten glorreicher italienischer Kolonialmärsche. Hin und wieder warfen sie einen Blick in das halbverdunkelte Zim­mer, wo Ambrosio, wie bissige Köter um einen blutigen Knochen, sich mit dem Tod um sein bisschen Leben herum biss … Es war schon spät. Die letzte Partie Boccia wur­de angesagt. Die beiden Tänzer verschwanden. Endlich war kein Gast mehr im Haus. Gina drehte die Lichter über der Bocciabahn aus. Dann machte sie Kasse. An den ster­benden Mann in der Kammer dachte sie nur flüchtig. Die letzte Ölung hatte er schon am Spätnachmittag erhalten. Ihm konnte nichts mehr passieren. Mit allzu großem Bedauern sah sie ihn nicht scheiden. Er war fast doppelt so alt wie sie. Sie hatte ihn nur des Geldes wegen genom­men. Das wusste er. Aber sie war ihm nichts schuldig ge­blieben. Und betrogen hatte sie ihn niemals. Als sie abge­rechnet hatte und gerade das Licht ausdrehen wollte, hörte sie in der Kammer ein Geräusch, ein tiefes schreckliches Röcheln, einen zischenden Seufzer, dann war alles still. Sie trat in die Kammer. Ambrosio lag steif und stumm da. Bei seinem Anblick kam eine große Ruhe über sie, aus der erst ein Gefühl der Freude stieg, das plötzlich in einen Jubelschrei ausbrach: Er ist tot! Er ist tot! Ich bin erlöst! Ich bin frei! — Sie lief in den Gastraum zurück und warf zehn Centesimi in das mechanische Klavier: Giovinezza! begann es zu jauchzen und „Giovinezza, Giovinezza!“ jauchzte auch Gina und drehte sich tanzend im Kreise. Immer, wenn sie an dem großen Spiegel vorbeikam, der in einer Ecke stand, warf sie sich eine Kusshand zu. Als sie zum fünften Male sich vor dem Spiegel drehte, weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen. Sie blieb angewurzelt stehen und sah im Spiegel, wie in der Totenkammer der Tote sich erhob und mit steifer, feierlicher Geste auf sie zu­schritt. Sie wollte um Hilfe schreien. Aber sie konnte kei­nen Laut von sich geben. Das mechanische Klavier hielt mit einem Ruck an, da hatte Ambrosio sie erreicht. Seine starren Totenfinger krallten sich um ihren Hals. – Am näch­sten Morgen fand die Dienstmagd vor dem zersplitterten Spiegel die beiden Leichen.

Lob der Erde

Ich werde noch einmal wandern
Fliegen
Stürmen
Tanzen
Und die grüne Sommer- die weiße Wintererde
Der ich schon die Knie brach, den Speer in der Brust, den Pfeli
In der Kehle,
Dessen Hände sich schon ins faulige Moos krampften,
Mit rostiger Schaufel aus frischer Grabstatt emporgeworfen,
Der schon in den Abgrund sah mit grünlichen Libellenaugen,
Dem die Todesgedanken wie Sterne vor der blassen Stirn schwirrten:
Er wird wieder gehen, stehen, wehen, sein!
Er wird wieder wandern mit den schmutzigen Strolchen die bayrischen
Und die balkanischen Straßen,
Er wird wieder fliegen mit den Schwalben und den Segelflugzeugen,
Er wird wieder Stürmen mit den südlichen Narzissen. Un den
Nördlichen Salzwinden.
Er wird wieder tanzen mit den Mädchen in den Grotten bei Neapel
Zum automatischen Klavier:
Giovinezza! Jugend!
Er wird wieder lieben
Tausend und eine Nacht
Die geliebte
Dich!

Ode an Crossen

Oft
Gedenk ich deiner
Kleine Stadt am blauen
Rauhen Oderstrom,
Nebelhaft in Tau und Au gebettet
An der Grenze Schlesiens und der Mark,
Wo der Bober in die Oder,
Wo die Zeit
Mündet in die Ewigkeit –
Denk ich deiner, wenn ein Mond am Himmel
Mir wie dir erglänzt
Und mir am Lid die
Goldne Träne eines Steines hängt.
Ach
Da ich jung war
Wie voll Träumens
Falterübertaumelt
Engerlingdurchwühlt
War die Erde!
Wie erschien
So Sonnentag wie Regentag
Gesegnet
Und von zweien Göttern
Vater Mutter.
Ward die wilde Welt so mild regiert.
Stand am Weg vorm Warenhause ein hölzern Hündchen,
Bellt es freudig, wenn ich kam, und maulte,
Daß es mir nicht folgen durft.
Große Männer auch in schweren Tressen,
Hehre Helden, die von Haus zu Haus
Das Geheimnis ihrer Sendung trugen,
Neigten freundlich oft den mähnigen Kopf,
Schenkten dem Erschauernden
Bunte Marken fremder Palmenländer
Und mich grüßte hold Liberia,
Senkte selbst Korea die Standarten.
Grell
Gewaltig
Führte Phöbus stets von Urbeginn die Zeiten
Führte mir die schnobenden die wütig stolzen
Sonnenrösser übern Heidehibbel hell hinauf.
An den Oderhügeln reifte Wein mit kleinen
Roten zottigen Trauben
Aus den Dörfern
Scholl Gebell Geboll der Hunde
Und es meldete ein Dorf dem andern
So den Wanderer weiter
Der durch Sand und Kiefern
Immerdar ins ewige Zion zog.
Hör ich nicht an meines Bodenzimmers Fenster
Fern den Regen klopfen, wie ein guter
Freund um Einlaß bittet? Ja ich biete
Regensturm dir stürmisch meine offne
Heiße Brust, daß du die wilde
Lust des Lebens
Süß mir kühlst!
immer waren Blitz und Donner schon dem Kinde
Seine liebsten Freunde.
Auf dem sorglich durch ein gläsern Dach vor Unbill
Regens oder Sonnenstich geschätzten
Weinumsponnenen Balkon
Sitzt in seinem weißen Leinenkittel
Seinem weißen Haar
Gütiger weiser Mann
Mein Vater
Hat die goldne Brille abgelegt, damit er
Besser so das Crossner Tagblatt lese,
Neben ihm die zarte zärtliche, die lächelnde
Mutter hegt im Schoße einen Korb
Und emsig
Steint sie Zwetschgen oder Kirschen aus.
Hoch im Himmel
Schwirrt ein Häher,
Der den Regenbogen dort im Westen
Wie ein grauer Blitz durchzuckt.
Vom Marienkirchturm
Fällt ein Schwarm von Nachtigallen
Mit den Abendglocken
In die Dämmerung.
Dir auch dir
Wanderer zwischen tausend Städten
Herzen
Seen
War auch einmal Heimat
Wird
Heimat wieder sein, wenn
Dumpf die Schollen kollern auf den Sarg, der deinen
Kleinen kindlich kümmerlichen
Leib der Erde wiedergibt, die ihn gebar
An der Grenze Schlesiens und der Mark,
Wo der Bober in die Oder,
Wo die Zeit
Mündet in die Ewigkeit –

Erschienen 1925

Ich warte drei Stunden in Breslau

Drei Stunden warte ich schon auf dich. Ich gehe im strö­menden Regen durch die Schweidnitzer Straße. Ich sitze in langweiligen Cafes, trinke Tee mit Rum. Ich drücke mich Wartesaal zweiter Klasse herum und bilde mir ein, daß zwei Stunden der Orientexpress einlaufen wird: mit dir, liebstes Mädchen, in einem Extrasalonwagen. Es ist so lt wie im späten Herbst. Auf der Dominsel fiel schon das Laub von den Kastanien. Ich habe dir in einem kleinen Laden am Ring eine Puppe gekauft: einen traurigen, bunten Harlekin. Aber als ich an den Stadtgraben kam, warf ich ihn hinein. Er ist elend ertrunken. In einer Kaschemme aß ich vor Verzweiflung vier polnische Wurst Ich werde niemals mehr polnische Wurst essen. Wenn du endlich da bist, werde ich eine schreckliche Magenverstimmung haben. Es gibt keine Autos in Breslau. Ich habe noch keines gesehen. Nur behäbig schaukelnde Pferdedroschken. Die Kutscher tragen weißlackierte Zylinder. Ich bin mit einem dreimal die Schweidnitzer Straße auf und ab gefahren. Er weigerte sich, ein viertes Mal zu fahren. Er hielt mich für ein wenig verblödet. Und weiß Go ich bin es auch, durch das ewige Warten. Wenn die Bibliothek offen wäre, würde ich auf die Bibliothek gehen  und mir die Manuskripte Johann Christian Günthers u Daniel v. Czepkos geben lassen. Das sind zwei große schlesische Dichter, aber ich bin überzeugt, daß man sie Breslau kaum kennt. Von Czepkos wird man nichts wisse denn der Ruhm des Angelus Silesius hat den seinen verdunkelt. 0 lieber Stern! Wann erscheinst, wann ersehen du! Ich gehe am Lobe-Theater vorbei. Die Vorstellung erst um 1/2 11 Uhr aus. Und es ist erst ½ 10 Uhr. Noch immer eine Stunde. Welches Kleid wirst du anhaben? E schwarze englische Jackenkleid? Oder über dem braunseidenen das Abendcape? Soll ich morgen abfahren? medias res, das heißt mit dem Auto nach Italien? Das Auto steht schon vor dem Frankfurter Hof in Frankfurt. Es ist ein scheußliches Klima. Du bist der einzige Lichtblick dieser tristen Einöde, Mitteleuropa genannt. Leuchte! leuchte mir weiter! Komm! Komm bald! Ich bin schon beim fünften Tee mit Rum und beginne eben mit einer Serie Grogs. Ich liebe. Ich liebe dich. Ich liebe dich.

Schlaflose Nacht

Es schlägt elf Uhr.
Ich denke an dich.
Es schlug grade elf Uhr, als ich dich im Restaurant Alt-Wien
zum ersten mal sah. Und es rar auch der elfte. Der elfte irgend eines
Monats. Unseres Glücksmonats. Des Monate unseres Glückes.
Es schlägt zwölf Uhr.
Zwölf Monate im Jahr schlägt mein Herz für dich.
Es schlägt ein Uhr.
Wir sind eines.
Es schlägt zwei Uhr.
Du und ich.
Es schlägt drei Uhr.
Du und ich – und das Kind.
Es schlägt vier Uhr.
Ich rufe deinen Namen in alle vier Winde.
Es schlägt fünf Uhr.
Alle meine Sinne verlangt es nach dir.
Es schlägt sechs Uhr.
Ich liege noch immer wach. Wie lange wirst du mich noch lieben?
Im Garten, das Käuzchen schreit sechs mal. Sechs Tage? Sechs Monate? Sechs Jahre? Sechs Ewigkeiten?

Liebesgedichte

Als du gestern von mir gingst

Als du gestern von mir gingst. Glaubte ich,
Die Nacht verschlänge dich auf ewig.
Heut, da ich dich nicht sah:
Wie leer war mein Herz.
Die Welt
Ohne dich.
Aber jetzt
Bist du wieder da –

Komm zu mir

Komm zu mir.
Ach, ich sehne mich nach dir.
Reiß mich an deine Brust,
Lächelnde. Lachende, Lustige, Listige.
Antäus werde ich, der die Erde berührt.

Es ist ein Hauch von dir in allen Lüften

Es ist ein Hauch von dir in allen Lüften.
Es ist ein Ganz von allen Sternen in deinen Augen.
Du wiegst dich, wie Stuten schreiten, in deinen Hüften,
Um deine Lippen wie Zicklein am Euter der Ziege saugen.

Wenn du weinst, dann regnen alle Himmel.
Wenn du lachst, scheint Mitternacht die Sonne, uns strahlend zu dienen.
Deiner Küsse Gewimmel
Fällt auf mich wie ein Schwarm von Bienen.

O süßer Leib von Jasmin

Die Luft ist voll von deinem Duft,
O süßer Leib du von Jasmin!
Die Uhr schlägt drei. Am Horizont
Die ersten rosa Wolken ziehn.

Die ersten rosa Wolken ziehn
Am Horizont. Die Uhr schlägt drei.
O süßer Leib du von Jasmin,
Die Luft ist voll von deinem Duft!

Durch den englischen Garten fahrend

Für Carla

Im Wagen durch den Englischen Garten fahrend,
Nachts, roter Mond über dem Kleinhesseloher See,
Nebel über den Wiesen, Dämmerung vor meiner Seele –
Mir ist so schwach in den Knien vor Sehnsucht nach Dir.

Der Kutscher schläft. Das Pferd läuft im Halbschlaf.
Gott schläft. Die Erde rollt ziellos durch den Raum.
Ich bin überwach. Ich komme von Dir. Ich fahre zu Dir.
Alle Wege führen mich an Deine Brust.

Seit Wochen lasse ich Dutzende von Briefen uneröffnet liegen.
Ich gehe nicht unter die Menschen. Sie sind mir widerlich.
Mit einem kleinen Hund, einem melancholischen Rehpinscher, gehe ich gern spazieren
Oder mit Dir.

In dieser regnerischen kalten Einsamkeit
Des tristen Sommers an mich hingeweht
Wie ein Leuchtkäfer auf einen Grashalm –
Ich spüre, daß ein Herz an meinem schlägt.

Dein Mund springt manchmal auf wie eine rote, reife Feige.
Nachts, roter Mond über dem Kleinhesseloher See,
Im Wagen durch den Englischen Garten fahrend,
Hinter den Schläfen donnert der Niagara meiner Sehnsucht.

Die Liebe ein Traum

Ein letzter Kuss streift ihre Wimpern, und
Ermattet von der Lust schließt sie die schönen,
Die müden Augen, atmet tief – und schläft.
Schon hebt sich leicht die Brust,
Senkt leicht sich
Dem Traum entgegen
Wie Mond dem Meer,
Wie Welle sich an Welle schmiegt
Und fällt
Und steigt.
Ich rühr mich kaum, damit ich sie nicht wecke,
Doch wie ihr leiser Atem mich
Wie Mohnduft trifft,
Bin ich entzündet und vom stummen Glanz der Glieder
Entflammt.
Ich neige mich zu ihr und liebe sanft
Die Schlafende, die einmal nur im Traum
Wie eine Taube
Verschlafen gurrt
Und seufzt. –
Sie träumt
Vielleicht,
Dass ich sie liebe …

Liebesode

Komm zu mir!
Es wird dunkel:
Du sollst leuchten.
Mein Stern!

Wer hütet mein Herz,
Das schlagende Fohlen,
Wenn nicht du,
Helle Hirtin!

Auf deiner Schulter
Der Krug voll Wasser:
Senke ihn, gieße das Wasser des Lebens
In die geöffnete Schale meiner Hände“

Nun dreht sich ja die Erde

Nun dreht sich ja die Erde
Um mich. Ich bin ganz still.
Weil immer mehr ich deiner
Sonne Schatten werde
Und selber Sonne werden will.

Ich trage deine Strahlen
In mir in zu goldner Ruh,
Und staple meine Schätze
Und staple immerzu.

Ganz leuchte ich schon vor mich hin
Und weiß doch, dass ich nicht mehr bin:
Nur du!

Den letzten Brief, den du geschrieben …

Den letzten Brief, den du geschrieben,
Zerriss ich wie ein Hund die Schlinge,
Und aus dem Fenster ließ ich stieben
Die Schnitzel: Weiße Schmetterlinge.

Sie sanken bald in Staub und Sand.
Nur einer tanzte im Geflatter
Minutenlang, bis er am Gatter
Des Gartens drüben Ruhe fand.

Ich lief hinab: da hing gekrallt er
Am Zaun. Ich scheucht ihn. Da erlebte
Er sich als echter, rechter Falter –
Und hob die Schwingen und entschwebte.

Kurzgedichte

1

Ich liege krank im Bett. Es tackt die Uhr.
Es schlägt mein Puls. Der Holzwurm tickt im Schrank.
Der regen draußen tropft. Vom gleichen Takt bewegt
Die Unr und Wurm und ich.

2

Die alte Köchin stellt die Sanduhr ein
Zum eierkochen.
Es rinnt der dürre Sand. Die nicht geweinten Tränen.
Von dreiundfünfzig jahren

3

Wenn ich die Wolke liebe, weil sie hingelagert liegt wie du,
Wenn ich die Frühlingswinde liebe, weil sie küssen sanft wie du,
Wenn ich die Sonne leibe, weil sie heiß wie du- .
Betrüge ich dich zwar – doch mit dir selbst.

4

Ein leeres Boot treibt über den Teich.
Wasserrosen suchen umsonst es zu halten.
Geschwellt von ozeanischem Gefühl –
Stößt es am andern Ufer auf Sand.

Die Ballade vom Mond

Mutter in der Vergangenen Nacht –
Schlaf ein, krankes Kind, schlaf ein –
Mutter in der Vergangenen Nacht.
Da bin ich um zwölf Uhr aufgewacht.
Und ein Mann kam durchs Fenster herein –

Das war der Sandmann – er streut Sand –
Mutter das sit nicht wahr.
Der Mann wahrhaftig am Bette stand
Und reichte mir seine goldene Hand,
Und sein Auge war feurig und klar.

Mutter, der Mann war wie Heilige schön –
Schlaf ein, Kind, du hast geträumt –
Mutter, der Mann war also schön,
Wie wir sie in Kirchenfenstern sehn,
Und sein Mantel war purpurbesäumt –

O Mutter, da ist der feurige Mann –
Aber Kind, du fieberst ja –
O Mutter, da ist der feurige Mann –
Er hat ein rotes Röcklein an –
Mein Kind, der Mond ist da –

O Mutter. Mein Kind, was wirst du bleich –
Er schreitet so hell aus der Nacht.
Er sagte mir gestern, er käme gleich
Und nähme mich in sein funkelndes Reich.
<Mutter, noch heute Nacht –

Mutter, er schenkt mir viel goldene Stern –
Gott, hilf einer Mutter in Not!
Mutter ich folge dem goldenen Herrn –
Die Mutter schreit auf. Der Mond stand fern.
Das Kind im Bett war tot.

Wiegenlied

Bin worden alt
Müd müde Frau
Wind weht so kalt
Himmel steht so grau.

Meine Füße sie
Tragen mich nicht mehr
Alle Süße sie
Floss ins salzige Meer.

In der Wiege du
Jung Junges bleib
Wiege biege du
Deinen Espenleib

Dir Himmel glänzt
Südig seidiger Wind.
Morgenrot dich kränzt
Sterne dein Gebind

Vogel baumverzweigt
Katze auf der Bank
Die wohlgeneigt
Federn lobern Dank.

Aber ich bin
Außer mir und der Welt
Sinnloser Sinn
Abgemaihtes Feld.

Senke Gott bald
Deine trotzige Brau
Über mich alt
Müd müde Frau.

Der verlorene Sohn

Mutter, aus der Fremde kehre
elend ich zu dir zurück.
Hab verloren Herz und Ehre
und verloren Gold und Glück.

Ach, als ich an deinen Händen
noch durch Blust und Sommer lief!
Rosen blühten allerenden,
und der braune Kuckuck rief.

Himmel wehte als ein Schleier
um dein liebes Angesicht,
Schwäne glänzten auf dem Weiher,
und die Nacht selbst war voll Licht.

Deine Güte Sterne säte,
und beruhigt schlief ich ein.
Mutter, Mutter, bete, bete!
Laß dein Kind mich wieder sein.

Abend

Es geht der Tag vorbei. Ich bin gewesen.
Die Abendwolken wollen mich vollenden.
Ich greife nach dem Baum mit beiden Händen,
Um Birne oder Traum von ihm zu lesen.

Die Hühner scharren hinter ihren Gattern.
Ich steh am Teich, das schwarze Bild zu schauen.
Und aus der Nacht, der götterlosen, grauen,
Die kleinen Sterne wie Gelübde flattern.

Zuweilen stehe ich am Fenster

Zuweilen stehe ich am Fenster.
Es ist schon Nacht. Das Gaswerk schweigt.
So viele zärtliche Gespenster
Sind jetzt in Lust sich zugeneigt.

Am Güterbahnhof rollen Züge.
Ein Trinker tänzelte im Schumm.
Des Mondes leichte Silberlüge
Beglitzert ein Panoptikum.

Die Bäume zittern, weil sie frieren.
Ein Elmslicht über meinem Haus.
Gardinen flackern, schlagen Türen,
Und plötzlich geht die Lampe aus.

Ich hab am lichten Tag geschlafen…

Ich hab am lichten Tag geschlafen.
Es weint das Kind. Es blökt das Rind.
In meinem Weidenbaume trafen
Sich Leiseklug und Lockenlind.

Kaum weiß ich noch, warum ich lebe.
Vereist mein Blick. Mein Blut verstürmt.
Wenn ich die Brust im Atem hebe,
Sind Felsen über sie getürmt.

Die Schwester auch am Nebelhafen,
Sie bietet süße Brust dem Wind.
Vor klingender Taverne trafen
Sie Leiseklug und Lockenlind.

Den Sternen, die am Himmel pochten,
Warf Köcher ich und Becher hin.
Ich bin mit Mohn und Tod verflochten
Und weiß nicht mehr, ob ich noch bin.

Die Tänzerin

Da wieder ging ich. Sanft erschüttert.
Da wieder fiel der weiße Schnee so weiß.
Und meine Stirne brandete im Wunsch:
Möge doch dieser Ton der letzte sein.

Der eben in deinen hohen Händen verklang.
Möge doch diese lächelnde Bewegung:
Zusammensturz, Auferstehung:
Des sich vollendenden Menschen lrtze >Bewegung sein!

Der Mensch vollende sich und entschwebe schön
Durch den schwarzen Vorhang, der sich leise teilt.
Von seinem Tanz durch den Traum verbleibt die schönste Figur:
Arabeske des Geistes: dem Himmel eingezeichnet.

Zuspruch

Alles, was geschieht,
Ist nur Leid und Lied.
Gott spielt auf der Harfe Trost sich zu.
Welle fällt und steigt.
Ach wie bald schon neigt
Sich dein Haupt im Tod. Dann lächle du.

Das Schreibmaschinenbureau

„Geflügelte Hand“, Bureau für Schreibmaschinen-Arbeiten, stand unten an der Tür auf schwarzumrändertem Porzellanschild.

Ich läutete.

Lautlos öffnete sich die Tür, und ich stand im Bureau. Es war völlig schwarz tapeziert. Die Fensterläden waren geschlossen. Auf einem Schreibtisch brannte eine grüne elektrische Lampe.

Ein äußerst schwindsüchtiger Herr, der sich in dem grünen Lichte wie ein längst Gestorbener ausnahm, trat, hohl hustend, auf mich zu. Seine Lunge rasselte. Aus seinem Munde kroch fast körperlich, wie eine quallige Masse, fauliger Atem.

„Sie wünschen?“ flüsterte der Schwindsüchtige.

„Ich möchte jemandem diktieren. Haben Sie Angestellte, die Sie mir empfehlen können?“

Der Schwindsüchtige schüttelte den Kopf.

„Ich habe keine Angestellten“ –

„Und die geflügelte Hand?“ –

„ – bin ich selbst“ …

Er verneigte sich zeremoniell.

Ich sah unwillkürlich auf seine Hände; sie waren zart und schlank wie die Hände von Frauen. Sie allein schienen noch von Blut durchpulst, das bis zum Kopf nur noch in spärlichen Fasern und Rinnen gelangte.

Es war eine sonderbare Situation. Unleugbare Sympathien zogen mich zu diesem Verwesenden, dessen Gegenwart mich dennoch peinvoll bedrückte.

„Ich möchte Ihnen mein … Leben diktieren,“ sagte ich zögernd.

„Radiotelegraphisch. Werden Sie folgen können? Ich bin noch jung. Ich stehe fiebernd in allen Flammen. Selbst meine Ruhe rast. Sehen Sie meine Augen! Sie prüfen die Dinge tausendstrahlig wie mit den Armen eines Polypen. Meine Fäuste zerschmettern die Sterne und die Türen, die sich mir nicht öffnen wollen. Ich glaube glücklich, etwas zu gelten. Den Enkeln soll mein Leben noch lebendig sein. Ich werde kurz vor meinem Tode bei Ihnen vorsprechen und das Manuskript korrigieren. Schreiben Sie! Ich zahle mit meinem Blut“ …

Der Dürre verbeugte sich, und ich ging. Das Leben wurde bunter mit jedem Tag. Die Jahreszeiten schaukelten wie Schmetterlinge an mir vorbei: silbern, grün, rot und golden. Eine Kette von Frauen schlang sich um meinen Schlaf.

Taten türmte ich. Mein Wille wirkte. Bis an den Thron scholl mein Ruhm. Orden bewiesen, dass ich für Ordnung warb. Geld, dass ich galt. Ruhm, dass ich rühmte. Das Volk klatschte den Herren und Helden, die meinem Griffel entgeistert über die Bühne schwankten, begeistert zu. Schon lasen ehrfürchtig er starrte Schüler in den Schullesebüchern meine moralischen Geschichten, meine göttlichen Gedichte. An den Universitäten begann man Vorlesungen über meine Werke zu halten. Ich alterte zusehends.

Als ich meine letzte Stunde nahen fühlte, begab ich mich, mühselig am Stocke dem Auto entsteigend, in das Bureau der „Geflügelten Hand.“

Der Dürre empfing mich gemessen lächelnd und heiser hustend.

„Die Arbeit, die ich Ihnen aufgab“, sagte ich und sank mühselig in einen Stuhl.

„Ich habe wenig Arbeit mit Ihnen gehabt. Weniger als ich vermutete. Hier ist das Manuskript.“ Und er reichte mir einen winzigen Zettel, darauf standen diese Worte: „Er war ein Mensch, nicht weniger, nicht mehr. Er starb, bevor er starb. Möge er leben, nachdem er lebte.“

Ich schrie, zermalmt von den wenigen Worten: „Siebzig Jahre bin ich alt geworden und schrieb siebzig Bücher: ist dies das Resultat meiner Rechnung? der Wert meines Wesens?“

Da strich der Dürre mit knochiger Hand über meine Stirn: „Beruhigen Sie sich, bitte, mein Bester. Millionen gehen mit einem leeren, weißen Zettel zu Grab. Bleibt nur ein Wort von Ihnen für die Ewigkeit, so leben Sie unsterblich im Liede des menschlichen Leides“…

Ich lehnte den kahlen Kopf an das Polster des Stuhles: „Was habe ich zu zahlen, bitte?“ –

Maßlos übermüdet fiel ich, weinend wie ein Kind, trostlos erschüttert in den letzten Schlaf.

Ich bemerkte noch, wie der Dürre mir das Herz aus dem Leibe, die Augen aus dem Kopfe schnitt und wieder eintönig auf seiner Maschine zu klappern begann.