Jules Ferdmann & die Davoser Revue

Klabund – Philipp Modrow

Aus den Aufzeichnungen eines Sterbenden

Eines der zentralen Erlebnisse des westlichen Menschen ist der Tod. Er sieht in ihm seinen Gegner, seinen Feind, und versucht ihn durch Drehen und Nichtdrandenken zu besiegen. Der östliche Mensch lebt sein Leben und stirbt seinen Tod. Der Europäer erlebt auch seinen Tod. Nicht immer erlebt er ihn so rein, so klar, so schlackenlos, wie ihn der Bildhauer Philipp Modrow erlebte, der 43-jährig in Davos starb. Modrow, ein seltener Künstler — in Davos wird für eine kleine Ewigkeit sein Spengler-Denkmal „Der Atmende“ für ihn zeugen, zeugen wird für ihn seine plasti­sche Biographie, „Die Qual“, der Entwurf seines giganti­schen Goethe-Denkmals und viele Büsten und Statuetten – ein seltener Künstler, ein seltener Mensch, ein seltener Freund ging sehenden Auges in den Tod. Er war nach Locarno gefahren ins tessinische Paradies, weil er sich vom Klimawechsel Linderung seiner Leiden erhoffte. Die Hoff­nung trog ihn. Als er die Rückkehr nach Davos beschlos­sen hatte, fühlte er, daß er ein sterbender Mann war. Noch in Locarno schreibt er in sein Tagebuch: „Wie schön habt ihr’s, die ihr noch leben dürft Und noch vom süßen Tau des Daseins schlürft.“ Und nun, vierzehn Tage lang, bis zu seinem Tod, begleitet er in seinem Tagebuch sein langsames Erlöschen mit Aufzeichnungen und Gedanken, Versen. Von der Fahrt Locarno-Davos schreibt er:

„Meine ganze Fahrt war ein einziges, fortdauerndes Ab­schiednehmen — von jedem Baum — jedem Bach — von jedem Acker nahm ich Abschied. Bei jedem vorüberge­henden Menschen dachte ich: Glücklicher! Du darfst le­ben!“

Denn Modrow, der Lebendigsten einer, starb ungern. Er sah noch tausend Möglichkeiten in sich, und nicht eine durfte sich mehr vollenden. Aber er ringt sich durch: „Ich will nun nicht mehr um mein Leben betteln, damit ich Gott, der sich erfüllen muss, das Herz nicht schwer mache.“ Die letzte Eintragung im Tagebuch, kurz vor seinem Tode geschrieben, ist ein Gedicht:

„Ich werde stiller schon mit jeder Stunde,
In meiner Rede fehlt nun Wut und Groll,
Ich lächle schon mit qualbefreitem Munde
Und wenn ich lausche, tönt es wundervoll.
Nun bin ich ohne Schlaf und immer müde,
Und luftumrauscht quält mich die Atemnot,
Nicht einmal Hauch hab‘ ich zu einem Liede,
Und schlummre nur, wenn er ihn bringt?“ –

Der letzte Reim ist nicht mehr niedergeschrieben. Soll es heißen: der Tod — oder: der Gott? Der Tod, der Gott hat ihm den ewigen Schlummer in die Lieder geträufelt. Schla­fen Sie wohl, lieber Modrow. Wir, die wir Sie gekannt haben, haben Ihnen für vieles zu danken: für Ihre treue Kame­radschaft, Ihr fanatisches Künstlertum, Ihren unbeirrba­ren Lebensmut, Ihre heroische Tapferkeit. Sie gaben uns ein Beispiel, ein Vorbild: im Leben und Sterben. Sie wa­ren, als Künstler und als Kranker, einer der Unsern. Wir sind ein Volk, ein eigenes Volk, wir Kranken. Mit ei­genen Gesetzen, eigenen Rechten und Pflichten. Aus un­serer Aristokratie ist der Adeligsten einer dahingegangen. Friede, toter Fechter, deiner Asche.

(aus: Davoser Revue 1, 1925/26)

Klabund – Der Bücherkorporal

Ich hatte neulich auf der Staatsbibliothek zu tun. Im Ka­talogsaal wollte ich einen Bücherbestellzettel ausfüllen, als ich bemerkte, daß ich meinen Bleistift vergessen hatte. Auf einem Tisch stand ein Tintenfass mit Federhalter. Ich tauchte unbefangen den Federhalter ein, als ein kleiner bebrillter Mann zornfunkelnd auf mich losschoss. „Ich bin hier Beamter. Das ist mein Federhalter …“ – „Würden Sie mir vielleicht gestatten, ihn einen Moment zu benut­zen, ich habe meinen Bleistift vergessen …“ — „In der Nähe ist ein Papiergeschäft.“ — „Es handelt sich nur um eine kurze Notiz. … Sollte man nicht bestrebt sein einan­der zu helfen?“ — „Einander helfen? Das kommt hier nicht in Frage!“

Einander helfen – das kommt hier nicht in Frage. So sehen sie aus, so gebärden sie sich, so sind sie: die Beam­ten, die Deutschen, die Europäer, die Menschen. Die Löwen, die Elefanten, die Affen, die Seehunde: sie helfen einander, wo sie können (man lese Krapotkins „Gegenseitige Hilfe in der Tierwelt“). Die Menschen: Ausgeschlos­sen! Einander helfen — das kommt hier nicht in Frage. Eine klassische Formulierung. Es wäre oft so leicht. Kostete nichts. Eine Kleinigkeit. Eine Handreichung. Die Erlaubnis, einen Moment den Federhalter benutzen zu dürfen. Ausgeschlossen. Das kommt hier nicht in Frage. Der Federhalter ist sakrosankt, weil sein „Herr“, der Herr Bibliothekar, als Staatsbeamter sakrosankt ist. Wie dürfte ich, ein ganz gewöhnlicher „Benutzer der Bibliothek“, und den heiligen Räumen, welche ausschließlich für die Herren Bibliotheksbeamten erbaut wurden, nur geduldet, wie dürfte ich elender Untertan eine mir sozusagen vorge­setzte staatliche Solinger Stahlfeder auch nur den Bruch­teil einer Minute benutzen? Ha! Wie, wenn ich sie — ich wage es nicht auszudenken, geschweige auszusprechen -wenn ich sie … zerbräche? Zerbräche ich nicht das Fun­dament des Staates, und würde nicht das Reichsbudget des nächsten Haushalts infolge meiner Freveltat mit ei­nem halben oder gar ganzen Pfennig belastet werden müssen? Wahrlich, die Reparationsverpflichtungen, das Ge­bäude der Locarno-Politik geriete ins Wanken. Ein einfacher, simpler Mensch wagt einen simplen, einfachen Wunsch auszusprechen, er bittet einen Beamten um eine winzige Gefälligkeit. Er bittet, ihm zu helfen. Ausgeschlos­sen! Einander helfen — das kommt hier nicht in Frage. Wozu ist denn die Bibliothek da? Wozu werden die zahl­losen Bücher geschrieben? Um von staatlichen Beamten katalogisiert, registriert, in Ober- und Unterabteilungen eingeordnet und abgestaubt zu werden. Meinen Sie denn, diese Bücher wären zum Lesen da? Sie Einfalt Gottes! Diese Bücher brauchten überhaupt nicht geschrieben und gedruckt zu werden. Der Titel genügt, samt Verfasser­namen (Vor- und Zunamen), Erscheinungsort und Erschei­nungsjahr, Zahl der Bände, nähere Bezeichnung (Folge, Klasse, Band), Signatur, Friststempel … darum handelt es sich. Die Titelseite muss vorhanden sein — dahinter brau­chen nur weiße, leere Blätter zu sein. Es ist eine Unver­schämtheit sondergleichen, daß es Leute gibt, die den ge­ordneten Bibliotheksbetrieb dadurch stören, daß sie sich Bücher ausleihen wollen. Das hat ein unnützes Hin- und Hergelaufe zur Folge, ganze Regale stehen plötzlich leer, die Bücher sind ihrer Bestimmung, stramm wie Soldaten in Reih und Glied zu stehen, entzogen. Sie sind dem Be­fehlsbereich des Herrn Bücherkommandeurs für einige Zeit nicht zugänglich. Wie erlösend, wenn Goethe, Gesammel­te Werke, große Weimarer Ausgabe, wieder exakt ausge­richtet, vollzählig auf dem Brett steht. Wenn der Herr Bücherkorporal die Front abschreitet und der erste Band vorschriftsmäßig meldet: Erstes Regiment der Klassiker, Kompagnie Goethe, 243 Bände stark, zur Stelle. Da er­greift er den staatlichen Federhalter, dessen alleinige Be­nutzung durch Reichsgesetz ihm verbürgt, und in marki­gen Schriftzügen trägt er ins Präsenzbuch ein: Goethe zur Stelle …

(aus: Davoser Revue 2, 1926/27)

Klabund – Der Verlag Erich Reiss

Der Verlag Erich Reiss, der zum Bedauern aller Autoren und Literaturfreunde lange schwieg und schweigen muss­te, beginnt wieder zu produzieren. Da sei ihm von einem seiner leid- aber auch freudtragenden Autoren ein don­nerndes „Gut Buch!“ nach alter deutscher Sitte auf den dornenreichen und wechselvollen Pfad mitgegeben. Erich Reiss ist einer der mutigsten, aufrechtesten, ge­schmackvollsten deutschen Verleger gewesen – und er wird es wieder werden und sein. Er hat der „SchaubühneSieg­fried Jacobsohns den Weg geebnet. Er hat dem neuen Deutschland in „Das junge Deutschland“ eine Tribüne er­richtet, er hat die „Tribüne der Kunst und Zeit“ gestartet, hat Georg Brandes, Maximilian Haiden, Eduard Stucken, Unruh, den Schreiber dieser Zeilen gemanagt. Auch sein Verdienst um Max Reinhardts Werk ist nicht gering einzuschätzen: als Anreger und Beirat. Im Verlag selbst legt Siegfried Jacobsohns Schrift über Reinhardts Inszenierun­gen noch heute beredtes Zeugnis dafür ab. Viele, viele Bücher sind im Erich-Reiss-Verlag erschie­nen. Viele haben großen Erfolg gehabt (Hardens Köpfe, Stuckens Weiße Götter, Harichs Hoffmann-Biographie usw.). Heute sei einmal auf ein Dutzend ungewöhnlich herrlicher, fast vergessener Bücher des Verlages hinge­wiesen — mögen sie nicht allzu lange mehr vergessen blei­ben.

Da ist Hugo Balls Roman „Flametti“ — ein Roman aus dem Züricher Niederdorfmilieu – amüsant und nachdenklich zu lesen. Wer kennt die erschütternden Lebensdokumente von Emmy Hennings „Brandmal“ und „Gefängnis“? Wären sie französisch erschienen und dann übersetzt worden: sie hätten heute dreißig, vierzig Auflagen. So haben Sie die gleiche Anzahl Leser gefunden. Als Egon Er­win Kisch noch nicht der rasende Reporter war, schrieb er den Prager Zuhälterroman „Der Mädchenhirt“. Lest ihn, lest ihn! Lest auch (immer wieder) das schönste Kinder­buch deutscher Sprache, lest es, ihr Kinder, aber lest es auch, ihr Erwachsenen: „Carlos und Nicolas“ von Rudolf Johannes Schmied, Stuckens Gralsdramen und sein großer Roman „Die Weißen Götter“ haben ihren Ruf – aber den Roman „Larion“ hat außer Leo Perutz, der ihn für das grüßte epische Kunstwerk unserer Zeit erklärt, kein Mensch gelesen. Man hole die Lektüre schleunigst nach. Auch wird man gebeten, im „Tierkreis“ zu blättern, der vor dem Kreidekreis war und eine Anthologie der Tierdichtung aller Zeiten und Völker enthält. Der Mensch wird unmodern. Das Tier ist en vogue. (Vergleiche Seneca, Lao-tse, Benn). Gottfried Benns „Gesammelte Schriften“ ge­hören zum Bedeutendsten und Erregendsten, was unsere Epoche hervorgebracht. Sie sind in fünf Jahren über die erste Auflage nicht herausgekommen – ebenso wenig wie „Walter Unus“ Sammlungen „Die Lyrik des deutschen Ba­rock“. Und warum findet man des Goldschmieds Emil Lettre Aufzeichnungen über „Kleinodien“ nicht auf dem Tisch einer jeden Dame von Welt, die sich für Perlen, Smarag­den und Rubinen so lebhaft zu interessieren pflegt? Of­fenbar, weil die Dame von dem Vorhandensein dieses rei­zenden Büchleins keine Ahnung hat. Die Bücher sind in jeder besseren Buchhandlung zu ha­ben. Wo keine solche am Ort, sende man die Bestellung an Klabund.

(aus: Davoser Revue 2, 1926/27)

Klabund – Die Blumensprache

Die Blumensprache ist vielleicht die älteste Sprache, die der Mensch sprach, noch ehe er seinen Schreien und un­artikulierten Tönen sinnliche und sinnige Begriffe unter­legte. Die Gedanken, die er dachte, fand er schon fertig ausgedrückt in der Natur vor. Er brauchte sie nur mit den Händen zu pflücken — um sie zu greifen, zu begreifen und weiter zu reichen. — In meiner Bibliothek befindet sich ein kleines Lexikon der Blumensprache: „Floras Stamm­buch“. Es stammt aus der Zeit, da unsere Großeltern jung waren, als es noch keinen Telegraph gab, als man noch ungeheuer viel Zeit hatte, als die Postkutsche noch von Berlin nach Dresden fuhr. Damals sprachen die Lieben­den, die heute durchs Telephon sprechen, noch gern „durch die Blume“. Dazumal chiffrierte man Buketts wie heutzu­tage diplomatische Noten. Das kleine Blumenlexikon deu­tet 460 der bekanntesten Feld- und Gartengewächse. Wer es aufmerksam durchliest und die gedeuteten Blumen und Gewächse sich genau vergegenwärtigt, der ist überrascht von der klaren Prägung der der einzelnen Pflanze inne­wohnenden „Idee“, wie im platonischen Sinne die Gestalt Gedanken wird, nachdem der Gedanke Gestalt geworden. Und man gewinnt die Überzeugung, daß diese Blumensprache eine mystische Sprache ist, aus Urgründen der menschlichen Seele, aus ihrer ursprünglichen Verwandt­schaft mit der schwesterlichen Pflanze herausgewachsen. Daß Menschenseele und Pflanzenseele in dieser Sprache sich noch erkennen. Daß dieses Spiel der Liebenden mehr als nur Spiel bedeutet.

Wie klar spricht die Balsamine: Verzeihe mir! Wie hell leuchtet der Stern der Aster: Auf Wiedersehn! Sagt die Distel umsonst: Du hast mich tief verwundet?, hält der Efeu nicht das einmal Erwählte fest?, brennt die Feuerli­lie nicht ihre Mahnung: Herz muß sich am Herzen entzünden? Der Farm verkündet: Kannst du verschwiegen sein, so will ich mich dir anvertraun! Die Feldrose schreit: Ich liebe die Freiheit! Ihr ist der gepflegte Park und das Staket verhaßt. Die Eiche trotzt, wie die wahre Treue, je­dem Sturm. Der Ehrenpreis gebührt der sanften Frau, der Inkarnation des Weibes. Wer eine Gardenie im Knopfloch trägt, der glaubt an die Schönheit, und wer an sie glaubt, der wird sie auch finden. Die Berberitze predigt: Ohne Glaube keine Liebe, ohne Liebe kein Glaube. Die Anemone fleht: Vergilt die Liebe nicht mit bitt’rem Hohn! Die gelbe Rose mahnt: Neid entehrt. Nacheifern aber ist rühmlich. Die weiße Rose:

Wer nur zu schauen dich kam, verläßt voll Liebe dich wieder:
Hätt‘ auch die Jugend ihn nicht, hätt‘ ihn die Schönheit besiegt.
Die rote Rose:
Mitten aus Dornen erwacht seliger Freudigkeit Glut. Die Skabiose trägt das Sinnbild der eigenen Würde.
Die Sonnenblume ist die Blume des Genies.
Rittersporn spornt den Ritter zum Ziel.
Die Passionsblume mahnt zur Geduld.
Die Päonie: Was dich erschüttert, regt sich in uns beiden, Was du nicht sagst, es ist mir doch bewußt.
Die Nachtviole: Wehe mir! Seitdem du schwandest, trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde.
Die Narzisse spricht: Dein Blick nahm mein Herz.
Mohn: Auf den Sturm folgt Stille.
Monatsrose: Nichts ist beständig als die Unbeständigkeit.
Mondviole: Der größte Fehler in der Liebe — ist Furchtsamkeit.
Der Schneeball: Wirst du gegen alle Freuden Immer kalt und fühllos sein?
D\e Schlüsselblume: Verschließe Mund und Herz! Treu ge¬liebt und still geschwiegen!
Von der poetischen Blumensprache zur prosaischen Pflanzensprache, von der Ode zur Parodie ist nur ein Schritt, Wenn du deiner Liebsten … Meerrettig schickst, so bedeutet das:

Den Genuß des Lebens zu erhöhen,
Schärft oft Leiden die Empfänglichkeit …
Wie wär’s mit Zwiebeln?
Jede Träne, die wir hier vergossen,
Wird zur Silberperle in jener Welt.
Ein Pfund Spargel zum Abschied?
Trennung ist unser Los,
Wiedersehn unsre Hoffnung.
Auch Karotten sind als Scheidegruß beliebt:
Ich muß dich lassen, und verlassen
Kann mein Herz dich nicht.
Wie aber steht es mit der Kartoffel?
Innere Würde geht über äußeren Glanz.
Die Endivie kommt als Salat und zur Anknüpfung in Frage:
Ahnst du nicht, was ich von dir erflehe?
Der Blumenkohl an eine Treulose:
Die Liebe, die vergeht, ist Liebe nicht zu nennen …

(aus: Davoser Revue 2, 1926/27)

Jules Ferdmann – Eine Biographie von Christian Schmid

Jules Ferdmann 1889-1962 Quelle: Davoser Revue

Der bekannte Unbekannte

Man kennt seinen Namen und weiß, dass er die „Davoser Revue“ gründete. Der eine oder an­dere hat vielleicht noch davon gehört, dass er aus Russland stammte und als kranker Emigrant nach Davos kam, und nur ganz wenige werden in seiner Ortsgeschichte gelesen haben. Das ist nicht viel. Es mag darum angebracht sein, das Leben dieses um das kulturelle Davos verdienten Man­nes darzustellen.

Das könne nicht schwierig sein, durfte man annehmen: denn wenn jemand über einen großen Bekanntenkreis verfügte und mit vielen kor­respondierte, muss doch eine umfangreiche Briefsammlung vorhanden sein. Diese Annahme erwies sich jedoch als falsch. Von Ferdmanns Kor­respondenz ist nur ein Bruchteil zum Vorschein gekommen. Trotz dieser Enttäuschung wagen wir es, Ferdmanns Leben darzustellen. Diese kurze Biografie muss notwendigerweise Fragment blei­ben. Wir lassen sie trotzdem erscheinen. So kann festgehalten werden, was man heule von ihm noch weiß; das Fragment wird einer späteren, ausführlichen Darstellung nicht im Wege stehen.

Der Verfasser dankt allen, die ihm über Ferdmann berichteten oder ihm Unterlagen sowie Bildmaterial zur Verfügung stellten. Der Dank geht auch an jene, die feile des Manus­kripts gegengelesen und überprüft haben.

Die russischen Anfänge

Alte Postkarte von Samara. Ferdmann verbrachte seine Jugend in einem der von ihm angekreuzten kleinen Häuser an der Predteschskaja Straße, die sein Vater 1895 erworben hatte. Bei dem großen Bau handelte es sich um eine Schuhfabrik Quelle: Davoser Revue

Kindheit

Dass persönliche Dokumente Ferdmanns aus sei­ner Jugend fehlen, ist begreiflich, aber außerordentlich bedauernswert; denn seine russischen Jahre waren für uns besonders interessant. So sind wir fast ausschließlich auf das angewiesen, was seine .zweite Ehefrau Helga darüber niederge­schrieben hat (DR 1961/62,9/10, 1968 und 1990,4, 18), Ferdmann äußerte sich nur andeutungsweise und zurückhaltend über seine russische Herkunft.

Geboren wurde Juli Michailowitsch Ferd­mann am 3. Marz 1889 in Samara an der Wolga in der Zeit des Zaren Alexander III. Sein Vater Michail war Kaufmann und Besitzer einer Ziegelfabrik auf dem Lande. Von seinen Geschäften sehr in Anspruch genommen, halte er für die Familie wenig Zeit. Sie wohnte nur im Winter in der Stadt. Die Sommer verbrachte man auf dem Lande in einer Datscha, wo Juli mit den Kindern der Bauern und der Ziegelarbeiter seines aufwuchs. Er schloss sich eng an seinen Großvater an, einem pensionierten Militär, der mehre Pferde besaß und seinem Enkel das Reiten beibrachte, auch den Grundsatz unbedingter Pflichterfüllung vorlebte. Einen schweren Schlag für den Knaben bedeutete der Tod der Mutter, die bei der Geburt der zweiten Schwester starb.

Die Eltern Ferdmann Quelle: Davoser Revue

Helga Ferdmann berichtet, dass ihr Mann von Privatlehrern unterrichtet worden sei. Es fällt auf, dass er neben Russisch die deutsche Sprache vollkommen beherrschte und auch mit dem Fran­zösischen vertraut war. Vermutlich waren seine Erzieher deutscher oder französischer Zunge, so-dass er mehrsprachig aufwuchs. Das war damals in Russland unter dem Adel und dem gehobenen Bürgertum üblich. Möglich auch, dass zu Hause deutsch gesprochen wurde; der Name Ferdmann und der der Mutter – Lieberman – ließen diese Annahme zu.

Die Familie Ferdmann war jüdischer Her­kunft. Helga Ferdmann schreibt, dass ihr Mann „der Enkel eines berühmten Rabbiners mütterli­cherseits“ gewesen sei, und Ferdmann bemerkte einmal, es habe ihm schon im Knabenalter geistig viel zu schaffen gemacht, „dass ich mich ganz und gar als Russe fühlte, aber einem Volk entstammte, dessen Sprache und Leben mir fremd war“. 1910 konvertierte er zur Russisch-orthodoxen Kirche, und in Davos wurde er in die Evangelische Kirch­gemeinde aufgenommen. Er blieb nach den Wor­ten seiner Frau Helga bis ans Lebensende ein überzeugter Christ.

Die deutschsprachige Seite aus Ferdmanns gefälschtem russischem Pass mit dem Decknamen Johann Arsajeff. Der Pass trägt das Datum vom 23. Februar 1911. Bereits drei Wochen später, am 14. Marz, überschritt Ferdmann die deutsch-russische Grenze bei Thorn (Stempel oben links). Welche Schliche und wie viel Rubel nötig waren, um diesen Pass zu erhalten, wissen wir nicht. Neben der politischen Unterdrückung könnte auch der rabiate Antisemitismus unter den Russen Ferdmann zur Flucht bewogen haben. Quelle; Davoser Revue

Revolutionär, Verbannter und Emigrant

Ferdmanns Ausweis des sozialistischen Zentralkomitees in Bern Quelle: Davoser Revue

Nach der privaten Vorbereitung bestand Ferd­mann die Aufnahmeprüfung in das Gymnasium Samaras, in dem die Schüler vor allem gedrillt und nicht zu selbstständigem Denken angehalten wurden. Russland befand sich damals – es hatte eben den Krieg von 1904/05 gegen Japan verloren – in einem revolutionären Aufbruch. Auch die Gymnasiasten von Samara begeisterten sich für freiheitliche und soziale Ideen. Ferdmann verließ ohne Abschluss Schule und Elternhaus (er vertrug sich mit seiner Stiefmutter schlecht), ging nach Orenburg und übernahm dort die Stelle eines Korrektors, später die eines Mitredaktors bei einem der vielen revolutionären Blätter, die da­mals entstanden. Es hieß „Prastor“ – die Weite und wollte Russland für westliche Kultur und De­mokratie öffnen. Das war brandgefährlich; denn das verunsicherte Regime von Nikolaus II. unter­drückte oppositionelle Bewegungen rücksichtslo­ser denn je. Wie viele andere wurde Ferdmann ge­schnappt und nach Jenisseisk in die sibirische Ver­bannung geschickt.

Alte Blockhäuser in Jenisseisk, dem Verbannungsort Ferdmanns am Jenissei Quelle: Davoser Revue

Wie lange diese dauerte und wie er sie über­lebte, erfahren wir nicht. 1911 jedenfalls gelangte Ferdmann mit dem falschen Namen Iwan Arsajeff inkognito über die Grenze nach Deutschland.

Die Unterstützung des Vaters ermöglichte ihm den Besuch des Technikums Midweida in Sach­sen, das er zwei Jahre später als diplomierter Elektro-Ingenieur verließ. 1913 kam er in die Schweiz, vorerst nach Zürich, einem bevorzugten Treffpunkt russischer Emigranten, und fand bald eine Stelle bei Brown Boveri in Baden.

Krank für immer

Hier begann Ferdmanns lebenslanges Elend. Er erkrankte, geschwächt durch die Jahre in Sibirien an einer Lungentuberkulose. Sein Zustand wurde besorgniserregend, und so brachten ihn Freunde nach Leysin, wo ihn die Ärzte als hoffnungslosen Fall in ein Tbc-Sanatorium am Genfersee abschoben. Dort erholte er sich erstaunlicherweise etwas und nahm alsbald wieder an sozialen und kulturellen Fragen Russlands, dessen Zusammenbruch und Neuanfang man allgemein erwartete. Er stand in Verbind mit russischen Sozialdemokraten, studierte mit Vorliebe Schriften des in Genf wohnenden G. Plechanow und verfasste „in „einem einsamen Krankenzimmer“ ein paar Abhandlungen. Diese  politische Phase war später für Ferdmann und seine zweite Frau Helga immer ein Tabu, denn wenn zu dem Emigranten, dem Patienten und Juden auch noch ein Sozialist Ferdmann gekommen wäre, hätte er in der freisinnigen  Hochburg Davos nicht die geringsten Chancen gehabt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Als Kurgast machte Ferdmann die leichten Spaziergänge der Lungenkranken. Rechts mit dem legendären Mantel, den er viel anhatte oder auf dem Arm mittrug., weil er sich vor Erkältungen fürchtete.

Quelle: Davoser Revue

Ais am 15. März 1917 Zar Nikolaus II. ab­dankte und eine bürgerlich-sozialistische Regie­rung die Macht in Russland übernahm, trat Ferd­mann in Verbindung mit dem „Sozialistischen Zentralkomitee zur Heimschaffung der politischen Emigranten“ in Bern. Diese sollten im neuen Russland Militärdienst leisten. Für Ferdmann kam das nicht in Frage. Ein ärztliches Zeugnis vom 17. Mai 1917 bestätigt, dass sein linker Lungenflü­gel von der Tuberkulose befallen und er deshalb nicht reisefähig sei; er müsse mindestens noch ein Jahr in der Schweiz kuren.

Nach Davos

Allein die Jahre vergingen, ohne dass eine Hei­lung eintrat, vielmehr wurde die Krank­heit chronisch. Nur in der Höhe, so seine Hoff­nung, könne er ein einigermaßen normales Le­ben führen und etwas arbeiten. Deshalb entschloss er sich im Sommer 1920, nach Davos zu gehen.

Hier machte ihm anfänglich die Akklimati­sation Schwierigkeiten. Er erlebte einen Rückfall mit Blutstürzen, erholte sich jedoch langsam und stetig und fühlte sich besser. Dieser „Heilung“ wegen wurde Ferdmann zu einem zutiefst dank­baren und leidenschaftlichen Verehrer von Da­vos Materiell ging es ihm denkbar schlecht; denn nach dem kommunistischen Umsturz in Russland waren die Geldsendungen des Vaters ausgeblie­ben. Er war mittellos wie alle russischen Patien­ten in Davos. Das Rote Kreuz unterstützte sie mit fünf Franken pro Tag.

Ferdmann versuchte, etwas dazuzuverdie­nen, indem er, besonders auf der Schatzalp, Kur­gästen Privatunterricht in Russisch und Schach­spiel erteilte. Seine geistige Regsamkeit, sein Ta­lent und sein missionarischer Eifer drängten ihn jedoch mehr und mehr in den Beruf eines freien Schriftstellers. Was sonst hätte er mit seinem Bildungshintergrund in Davos machen können? Als freier Schriftsteller war er ständig gefordert, er­lebte interessante Begegnungen und erreichte einen bestimmten Bekanntheitsgrad. Materiell aber blieb seine Existenz ständig gefährdet. Er besaß nicht einmal den Schutz einer Krankenkasse und wusste oft nicht, wie er die Medika­mente bezahlen sollte.

Die Davoser Revue

Die Gründung

Wenn der Name Jules Ferdmann heute noch nicht vergessen ist, so der „Davoser Revue“ wegen, die er gründete und als Herausgeber und Re­daktor jahrelang publizierte. Von seiner Krank­heit gezeichnet, konnte er den angestammten Be­ruf nicht mehr ausüben, es blieb ihm nur das Schreiben, und das machte er leidenschaftlich gern. Wo aber sollte er seine Texte veröffentlichen? Die Frage brachte ihn auf den Gedanken, eine Zeitschrift zu gründen, ein Forum zum Ge­dankenaustausch zwischen den Kurgästen, unter denen die Zahl der Intellektuellen und kulturell Interessierten bemerkenswert groß war. Er fand viel Lob für seinen Plan, nüchtern Denkende hielten ihn allerdings für verstiegen und warnten den mittellosen Emigranten vor finanziellen Abenteuern. Aber Ferdmann war optimistisch. „Davos steht wieder im Zeichen wirtschaftlichen Aufschwungs“. Er glaubte an die Zukunft des Kurortes, der sich daneben mehr und mehr auch zu einem führenden Sportplatz entwickelte. Den­noch blieb er Realist: „Wir verfallen in keine Schwärmerei und sind aller Phraseologie durchaus aus feindlich gesinnt. „Unsere Zeitschrift wird sich demnach selbst mit einem bescheidenen Erfolg zufriedengeben.“ Am 15. Oktober 1925 die erste Nummer der „Davoser Revue“ die „Zeitschrift für Literatur, Wissenschaft  und Sport“ in einem altrosafarbenen Umschlag, 30 Seiten stark und ohne Illustrationen. Einen Monat später druckt Ferdmann in der Nummer 2 einige Zuschriften ab und ist beglückt über das Echo, das „unsere Erwartungen nicht nur bestätigt, sondern weit übertroffen“ hat. Nach dem glücklichen Start wendet er sich „noch einmal an die intellektuellen Kreise von Davos mit der Bitte, uns moralisch und tatkräftig zu unterstützen.“

Richtlinien für die neue Zeitschrift

Zum Geleite

Angesichts dieser Tatsachen und aus der Erwägung heraus, dass bisher in Davos ein Organ fehlte, das als Sprachrohr literarisch-wissenschaftlicher und künstlerischer Interessen anzusehen war, scheint es uns am Platze, die vorliegende Zeitschrift her­auszugeben. Durch und durch unpolitisch, allen Streitigkeiten der Personen und Parteien fremd, will sie nur Fragen der Literatur, Kunst, Wissenschaft sowie Sportangelegenheiten behandeln. Eine an­ziehende, abwechslungsreiche und zugleich beleh­rende Lektüre will sie sowohl den Kurgästen wie der einheimischen Bevölkerung bieten. Sie wird Artikel in deutscher, französischer und englischer Sprache aufnehmen. Außer ihrer allgemeinen hat unsere Zeitschrift noch eine spezielle Aufgabe zu erfüllen: An vielseitig begabten und schöpferischen Intelli­genzen unter unsern Kurgästen mangelt es durch­aus nicht. Sie finden aber häufig keinen Weg zuein­ander und bleiben daher auf sich selbst angewie­sen. Sich einander zu nähern, ihre geistigen Inter­essen auf einen gemeinsamen kulturellen Boden zu lenken, ihre literarisch-wissenschaftlichen Arbeiten, die sonst oft verloren zu gehen pflegen, zu sam­meln und der Allgemeinheit nützlich zu machen, ist eine der hauptsächlichsten Bestrebungen der vor­liegenden Zeitschrift.

Themenvielfalt

Zeitschriften stehen in der Zeit und sind ihr Spiegel. Die Vielfalt der Themen in Ferdmanns „Revue“ könnte nicht grösser sein. Wir zitieren m Reihe von Titeln: Geisteserbe der Schweiz- Ursprung der Schrift – Javanische Märchen – D» Frau in der Problematik der Kultur – Okkultismus und Wissenschaft – Handschrift und Persönlichkeit – Autonomie als Bildungsziel – Sport Als Thema im deutschen Schrifttum – Autonomie als Bildungsziel – Kropfprophylaxe – Gestalt und Idee des dorischen Tempels – Das Werk von la‘ Corbusier – Das irdische Gesicht der Literatur – Die psychologische Tendenz unserer Zeit –

Dass das Thema Gesundwerden aufgegriffen wird, ist naheliegend: Die Vorzüge des Hochgebirgsklimas – Die Methode Coue’s und die Lungentuberkulose – Spinozas Krankengeschichte – Musik als Heilfaktor – Goethe und die Tuberkulose –  Kant über die Heilkräfte der geistigen Arbeit. Und Skepsis gegenüber aktuellen Entwicklungen darf nicht fehlen, zum Beispiel: Können wir das Tempo unserer Zeit noch beherrschen – Schädigen Radio und Grammophon unsere Musikkultur? Wird Europa amerikanisiert werden?

Es war der Ehrgeiz Ferdmanns, ein anspruchsvolles Organ für Intellektuelle und Kunstfreunde zu publizieren. Seine „Revue“ trägt so elitäre Züge und versteigt sich gelegentlich ins Hochgestochene. Man habe ihm vorgeschlagen, schreibt er am Ende des 1. Jahrgangs, „eine billi­gere Kost zu geben und damit: unserer „Revue“ zu einer rascheren Entwicklung zu verhelfen“, Ferd­mann wehrte sich aber gegen eine „Verflachung“ des Inhalts. „Wir wollen aus unserer „Revue“ kein Magazin von der heute so beliebt gewordenen leichten Art“ machen.

Die damalige „Davoser Revue“ hätte ir­gendwo erscheinen können. In jeder Nummer gab es eine lokale Chronik, aber in den Beiträgen ist von Davos selten die Rede, und wenn, nur als Kurort. Es dauerte lange, bis in der 9. Nummer des 7. Jahrgangs erstmals ausführlich über „Volk und Gemeinde von Davos“ berichtet wird. Vor­erst war Davos für Ferdmann das Gebiet zwi­schen Wolfgang und Platz mit seinen Sanatorien, Hotels, seinem kulturellen Leben und den sport­lichen Veranstaltungen. Das bäuerliche Hinter­land entdeckte er erst später.

Wer waren die Autoren?

Im Schlusswort zum 1. Jahrgang betont Ferd­mann, er habe neben Kurgästen auch Einheimi­sche zur Mitarbeit gewinnen können, ebenso «tüchtige Kräfte von auswärts herangezogen». Von manchen Autoren – wohl Patienten – kennt man nur den Namen. Die ansässigen Autoren sind besser bekannt, zum Beispiel Professor von Rohden, Lehrer am Fridericianum, der künstle­risch begabte Kurdirektor Walter Kern, die Pia­nistin und Klavierlehrerin Klara Zappler und last but not least Erwin Poeschel. Wenn eine Be­kanntheit in Davos weilte und Ferdmann davon erfuhr, suchte er diese heim und erbettelte einen Beitrag (denn ein Honorar konnte er ja nicht be­zahlen?). Auch unter den Referenten der Kunstgesellschaft wusste er einige zu schnappen. Mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit war Ferdmann bei der Werbung von Mitarbeitern sehr erfolg­reich. Jeder damalige Redaktor wäre glücklich gewesen, wenn bekannte Autoren wie Klabund, Stefan Zweig, Heinrich Lersch, Else Laster Schüler oder Rene Schickele für ihn geschrieben hätten. Auch eine ganze Reihe von Schweizer Dichtern, die in den Jahrzehnten zwischen Kette und Meyer und Frisch und Dürrenmatt nicht in Schatten eines Großen standen, und darum entsprechend geschätzt oder überschätzt wurden, ließen sich von Ferdmann zur Mitarbeit überreden; zu ihnen gehörten. Jakob Schaffner, Ernst Zahn, Hermann Hiltbrunner, Alfred Graber, Hans Roelii, Albert Steffen und Hugo Marti. Einen eigentlichen Glücksfall für Ferdmann bedeuteten die vier Davoser Hochschulkurse, die 1928 -1931 jeweils drei Wochen im Frühling stattfanden. Die ihnen gewidmeten Hefte weisen ein sehr anspruchsvolles Niveau aus.

Ferdmann (rechts) erteilt zwei Kurgästen Schachunterricht Quelle: Davoser Revue

Kino und Gedichte

Es ist bezeichnend, dass Ferdmann die erste Nummer mit einem Gedicht von Gertrud Bürgi eröffnet. Gedichte gehörten damals in Kulturzeitschriften, man sagte gar, deren Qualität verrate das Niveau einer Publikation. So stößt man denn in den früheren Jahrgängen praktisch in jedem Heft auf Lyrik. Es wurde eben viel gedichtet und gereimt damals, von Gesunden und Kranken. Meistens handelt es sich um gedämpfte Naturschwärmerei, ehrlich empfunden, aber hilflos in Sprache und Form. Die Produkte entsprachen zu sehr dem Zeitgeschmack, als dass sie von Dauer hätten sein können und uns noch etwas zu bedeu­ten vermöchten.

Es mag überraschen, dass Ferdmann sich von allem Anfang an zur Kunst des Films be­kannte. 1926 schreibt er: „Die bei manchen noch vorhandenen Vorurteile gegen Kinematographie müssen heute einer Revision unterzogen werden; der Film ist zu einem mächtigen Kulturträger herangewachsen.“ Unter dem Titel „Kinematographisches“ berichtet er in vielen Nummern über das Programm der Lichtspieltheater und emp­fiehlt den Lesern den Besuch künstlerisch wert­voller Streifen, sicher nicht nur. weil das Kurhaus-Kino und das Select-Cinema zu den getreuen Inserenten gehören, bringt er das Lon eines holländischen Kameramanns auf den russischen Film, der mit seinen echten Menschen die glatten Filmstars Amerikas von der Leinwand fege.

Dass sich Ferdmann nicht nur ideologisch sozial engagierte, sondern auch zu persönlichen Opfern bereit war, zeigt das folgende Schreiben an Land­ammann Erhard Branger vom 18. November 1926.

Sehr geehrter Herr Landammann! Bereits vor einem Jahr teilte ich dem Schweizerischen Roten Kreuz mit, dass ich auf der Suche nach einer Beschäftigung dazu kam, eine Weile monatlich erscheinende Zeitschrift herauszugeben. Diese Zeitschrift entwickelt sich nur langsam so, dass ich immer noch nicht in der Lage bin, mir da­mit ein Existenzminimum zu sichern. Auch in mei­nem gesundheitlichen Zustand ist keine wesentliche Änderung eingetreten: Ich leide immer noch an beiderseitiger Lungentuberkulose und an chroni­schem, mit zeitweise schweren Blutungen verbundenem, Darmleiden.

Trotz allem bitte ich Sie, bei den bevorstehenden Unterstützungs-Kürzungen für die kranken Russen bei mir beginnen zu wollen, damit die andern Rus­sen, die sich eventuell in einer noch schwierigeren Lage befinden, die Hilfe weiter erhalten können. Da jedoch die Wintermonate stets erhöhte Ausgaben mit sich bringen, würde ich Ihnen sehr dankbar sein, wenn mir für diese Monate die Unterstützung noch weitergewährt werden könnte. Für die mir bisher vom Schweizerischen Roten Kreuz erwiesene Hilfe spreche ich ihm heute erneut meinen innigsten Dank aus.

Anerkennend fügt er hinzu: „Der Tonfilm hat be­kanntlich die Tendenz, sich dem Theater in jeder Hinsicht zu nähern (…) und so kann man sagen, dass wir zum ersten Male seit langer Zeit in Form des Tonfilms ein regelmäßig spielendes Theater besitzen.“ Das eine Anspielung auf die endlosen Bemühungen und Querelen um ein eigenes Thea­ter in Davos.

Zur Vervollständigung dieser Übersicht über die ersten sieben „Revue“-Jahrgänge noch ein paar kurze Bemerkungen.

Eiserner Bestand eines jeden Heftes war die Davoser Chronik, in der er nicht von Tag zu Tag (wie heute) über das Leben in Davos berichtete, sondern die wichtigsten Sport- und Kulturereig­nisse in knappen Worten charakterisierte.

Als leidenschaftlicher Schachspieler – schließlich stammte Ferdmann aus Russland – publizierte er in vielen Nummern eine „Schach-Ecke“ mit Losungsaufgaben oder der Aufzeich­nung berühmter Spiele.

Ferdmann bringt ab und zu französische Beiträge, gelegentlich auch einen englischen Text.

Bei den Buchbesprechungen handelt es sich um konventionelle Hinweise ohne kritische Wer­tung. Mit der Ausschreibung von Wettbewerben mit Preisen sucht er das Interesse für seine „Re­vue“ wachzuhalten und neue Abonnenten zu werben.

Ferdmann und die beiden großen Deutschen

Rund um den „Zauberberg“

Als die erste Nummer der „Davoser Revue“ her­auskam, war Manns „Zauberberg“ bereits erschienen, hatte in der literarischen Welt Aufsehen erregt und Davos verärgert. Die Ärzteschaft fühlte sich diskreditiert und bloßgestellt, Behör­den und Politiker befürchteten wirtschaftliche Nachteile für den Kurort, die Intellektuellen wa­ren beleidigt, weil in dem Roman das geistige Leben geringschätzig dargestellt sei. Dabei hätten doch das Kulturleben und die Existenz der wis­senschaftlichen Institutionen bewiesen, schreibt Professor Carl Dorno, „wie unberechtigt und auf Unkenntnis beruhend die „Zauberberg“-Vor­würfe in Wirklichkeit waren“. Ferdmann hielt später einmal fest, er habe bei Erscheinen der „Revue“ den umstrittenen Roman noch nicht ge­lesen, „dafür aber schon volle zehn Jahre Kur­leben in Davos und andernorts hinter mir“. Aber obschon der „Zauberberg“ am Ort Tagesge­spräch ist und Ferdmann sonst alles gierig auf­greift, was Davos betrifft, schweigt er beharrlich. Nur in einem „Gruß an die Teilnehmer des Feri­enkurses für Ärzte in Davos“ polemisiert er, ohne den Autor zu nennen, aber für jeden Eingeweih­ten verständlich: „Es ist eine äußerst bedauerli­che Tatsache, dass Auswüchse mehr individueller Natur, wie sie in jedem städtischen Sanatorium oder Spital zu beobachten sind, grotesk übertrie­ben und ungerechterweise zu spezifischen Davo­ser Erscheinungen gestempelt werden.“

Entwurf Kirchners zu einem Titelblatt der Zeitschrift, Den Ferdmann jedoch nicht verwendete Quell: Davoser Revue

Erst im September 1927 nennt Ferdmann den Stein des Anstoßes mit Namen, wobei er sich jedoch verdeckt hält, indem er über einen Vortrag des Dramatikers Otto Zarek referiert, dessen Kritik er genüsslich wiederholt und zudem in ei­ner Fußnote aus einem Aufsatz von Dr. Karl Tur­ban zitiert, der als Arzt zu einem negativen Urteil kommt, bei Thomas Mann medizinische Irrtümer ausmacht und in seinem Roman die Psychoana­lyse des Tuberkulosekranken verfehlt findet.

Ein Antizauberberg

In einer Notiz vom 15. August 1950 hält Ferd­mann fest, schon bei Erscheinen des Romans von Thomas Mann sei in ihm der sehnliche Wunsch aufgekommen, „nach vorbereitenden Einzelstudien einen Antizauberberg zu schreiben, und zwar nicht in Form eines schöngeistigen, für niemand beweiskräftigen Werkes, sondern in Form eines groß angelegten historischen Re­chenschaftsberichtes, welcher der Vielfalt des Davoser Lebens gerecht wird und die nötigen Vorlagen bietet für eine objektive Beurteilung un­seres Kurortes“.

Es vergehen mehr als zwei Jahre, ehe Ferd­mann sich Manns Werk wieder vornimmt, und zwar im Januar 1930 in einer Sammelbesprechung „Neue Schriften über Davos“, die mit dem Satz beginnt: „Wer die zahlreiche Literatur über Da­vos im Laufe der letzten Jahre verfolgt hat, konnte feststellen, wie oft und wie kritiklos nach dem Muster von Thomas Manns „Zauberberg“ gearbeitet wurde.“ Nun glaubt Ferdmann eine Wendung feststellen zu können; die Autoren wür­den selbständig prüfen und beobachten, was die Probleme eines Krankenlebens ausmachten. Beweis dafür ist die Broschüre des Davoser Kurgastes Dr. Rudolf Diederichs; „Zauberbergkrankheit?“ Der Verfasser wirft Mann vor, eine „einseitige, ausschließlich negative Seite der Krankheit zu sehen, er raube dem Leser den Glauben an eine Wiedergesundung. Dabei – darin ist sich Ferdmann mit Diederichs einig – ergibt es die Möglichkeit, am Leiden zu wachsen zu überwinden oder wenigstens mit ihm zu leben. Ein Kranker muss nicht notwendigerweise in Passivität und Interesselosigkeit dahindämmern.

Hier ist es angebracht, aus einem undatierten Brief Ferdmanns zu zitieren: „Das Bild von Davos, welches Thomas Mann entwirft und das schon damals nur einen verzeichneten Ausschnitt aus dem weit vielfältigeren Davoser Leben bot, hat sich der Wirklichkeit entfernt. Dies zu sehen, tut mir aufrichtig weh. Ich kam schwerkrank nach Davos, und doch lebe und arbeite ich heute noch. Das verdanke ich Davos, seinem Klima. Seinen Ärzten und meiner eigenen Einstellung zur Krankheit.,. In den vielen Jahren habe ich gerade in Davos ungezählte Menschen kennengelernt, die diesem Ruf zum Aufstieg aus dem Abgrund des Elends gefolgt sind.“

Ferdmann als Kunstkritiker

Christian A. Laely (1913-1992) war der letzte Schiller Kirchners und lebte als Maler viel im Ausland, vorwiegend in Frankreich (DR 1993, 1, 17). Während der Kriegsjahre hielt er sich in Davos auf und traf dort den Maler Paul Martig (DR 2003,2.26). mit dem er sich anfreundete und kor­respondierte. In einem Brief vom 31. Juli 1940 schreibt Laely:

Mein Lieber, ich möchte Ihnen noch schnell zwei Beobachtungen, die ich hier machte, mitteilen, da ich’s sonst vergesse und die Sachen wichtig sind; Vorgestern traf ich Ferdmann. Gleich zog er los: „Was macht eigentlich der Martig? Kern hat ihn, glaub‘ ich, kritisiert, er sei festgefahren.“ -Worauf ich antwortete, dass Sie so viel ich’s ver­stehe, gar nicht von dem mit viel Arbeit Erreich­ten loswollen, sondern zufrieden seien, da wei­terzumachen, wo Sie sich einen Platz errungen, Worauf der (wie Kirchner sagte: wanzige) Ferd­mann adieu sagte. Die Sorte „Freund“ ist also mit Vorsicht zu genießen, da er einen ziemlichen Einfluss hat bei der Davoser Intelligenzia durch seine „D.-Revue“. Interessant ist er, wenn er sein Herz mal ausschüttet, dann kommen wahre Bandwürmer mit ihren Familien ans Tageslicht. So hat er mir über die Beweggründe zu Kirchners Tod einmal eine Stunde stehend vorgejammert, ob K. nicht gefühlt hätte, am Ende seiner Schaf­fenskraft zu stehen etc. etc. (…) Ferdmann ist übrigens immer der gleiche, er versucht alles zu vermäkeln. Von mir ist er auch nicht eingenom­men, so hörte ich ihn mich einmal gegenüber sei­ner Frau und Freunden damit „vernichten“, dass er mich «halt in guter Gesellschaft» nannte. Alors ä bientot, mon vieux. Laely.

Zudem fühlte sieh Ferdmann übergangen, weil Thomas Mann die wohlhabende bürgerliche Gesellschaft darstellte und keine Notiz von den vielen Mittellosen unter den Patienten nahm, die nicht in einem Sanatorium am Wohlleben teil­haben konnten, sondern sich elendiglich durchschlagen mussten, wenn sie nicht in einer Volksheilstätte Aufnahme fanden. Schließlich konnte Ferdmann dem großen Dichter nicht verzeihen, dass dieser sein Davos, mit dem er sich bedin­gungslos identifizierte, schlecht gemacht hatte. Die Empörung darüber wirkte unter den Davosern lange nach. Noch ein Jahrzehnt später schreibt Landammann Branger in einer Ablehnung des Gesuchs Erika Manns, mit ihrer „Pfeffermühle“ in Davos auftreten zu dürfen: „Schließlich darf gesagt werden, dass Davos der Familie des Herrn Thomas Mann keine besondere Dankespflicht schuldet, da dessen „Zauberberg“ durch die darin enthaltene tendenziöse Schilderung des Kurlebens zweifellos eine Schä­digung des Kurortes zur Folge gehabt hat.“ Ferd­mann hätte es sich übrigens bei der prekären fi­nanziellen Basis seiner „Revue“ gar nicht leisten können, in dem allgemeinen Protest der Davoser für Thomas Mann einzutreten. Das Beste war. man schwieg den Roman tot. Obschon Ferdmann sicher die literarische Bedeutung des „Zaubergergs“ erkannte, erwähnte er diesen in der „Re­vue“ mit keinem Wort mehr. Erst 1966 – vier Jahre nach seinem Ableben – setzte mit einem Beitrag „Davos und der Zauberberg“ von Chris­tian Virchow eine entspanntere Betrachtungs­weise ein.

Distanz zu Kirchner

Der zweite große deutsche Künstler neben Tho­mas Mann, der Davos in der weiten Welt bekannt gemacht hat, ist Ernst Ludwig Kirchner. Viel lässt sich über sein Verhältnis zu Ferdmann nicht sagen, weil es an Quellen fehlt; auch in seinen Tage­büchern erwähnt ihn Kirchner nicht. In den An­fängen bestand offenbar eine gewisse gegenseitige Sympathie; wenigstens fertigte Kirchner einen ausdrucksstarken Holzschnitt als Titelbild für die „Davoser Revue“ (vgl. DR 1990, 3, 9). Ferd­mann verwendete diesen allerdings nie, mögli­cherweise weil er sich inzwischen mit Kirchner überworfen hatte. Es wäre ja auch erstaunlich, wenn zwei so schwierige, ichbezogene Charak­tere lange in Harmonie hätten verbleiben kön­nen, Kirchner sprach vom „wanzigen“ Herrn Ferdmann. während dieser den Maler in seiner Zeitschrift sehr stiefmütterlich behandelte. Im Juni 1938 – der Monat, in dem Kirchner freiwillig aus dem Leben schied – erschien in der „Revue“ zufällig eine Würdigung seines Werkes durch Dr. Erhard Branger, den früheren Landammann. In der folgenden Nummer meldete Ferdmann in der üblichen Davoser Chronik auch den Tod Kirch­ners und stellt fest, dass aus der Würdigung Brangers ein Nekrolog geworden sei – den er nun nicht mehr schreiben musste! Die Wertschätzung, die Kirchner verdiente, brachte ihm die „Revue“ entgegen, nachdem Helga Ferdmann die Redaktion übernommen hatte.

Marie Ferdmann-Meier 1895-1931 Quelle: Davoser Revue

Marie und Helga

Man kann nicht sagen, dass das Schicksal es mii Ferdmann gut gemeint habe. Als Gymnasiast wurde er verbannt, später sah er sich gezwungen. Russland zu verlassen, mit 26 erkrankte er für ein Leben lang an Tuberkulose, und nun verlor er noch seine Frau.

Marie Meier stammte aus dem solothurnischen Obergösgen, hatte sich in der Pflegerinnenschule in Zürich zur Krankenschwester ausbilden lassen und kam über verschiedene Stationen in Krankenhäusern nach Davos. Hier lernte sie Ferdmann kennen und ging 1926 31-jährig mit ihm die Ehe ein. Die Trauung fand in Frauenkirch statt. Da das Brautpaar eine Kutsche nicht bezah­len konnte, ging die kleine Gesellschaft zu Fuß dorthin. Marie war von stillem, introvertiertem Wesen, anspruchslos und hilfsbereit. Dass das Le­ben mit dem heimatlosen Kranken nicht leicht sein würde, musste sie wissen. Zwei Briefsteilen Ferdmanns verraten etwas von dem sorgenvollen Alltag des Paares. Am 12. Juni 1927 schreibt er ei­nem seiner Autoren: „Während des Winters hatten wir schwer für unser tägliches Brot zu kämpfen gehabt, gegen den Frühling bekam meine tap­fere Frau eine Arbeit, die uns erlaubte, etwas leichter aufzuatmen. Meine zerrütteten Nerven brauchten inzwischen etwas Ruhe, und da ich aus finanziellen Gründen nach dem Tieflande nicht gehen konnte, machte ich mir hier eine Art Ferien, indem ich mich nur auf die allernotwendigste Arbeit beschränkte. Zur Zeit fühle ich mich besser, komme aber immer noch sehr leicht aus dem Gleichgewicht. Unter meinen Füssen fühle ich immer noch keinen festen Boden, und das ist peinlich.“ Ein Jahr später, am 29. Juni 1928. tönt es etwas optimistischer: „Seit dem l. Juni wohnen wir im Dachstock des Hauses Bode. Engl. Viertel; wir haben da eine kleine Wohnung bestehend aus zwei Zimmern. Küche und Badezimmer. Meine Frau ist sehr zufrieden, dass sie endlich „für sich“ leben kann, und ich pflanze mit Begeisterung Ra­dieschen. Spinat, Salat. Karotten und Erbsen im Garten des alten gemütlichen Herrn Bode.“

Sobald es finanziell ging, gab Marie ihren Beruf wieder auf und wurde Ferdmanns zuverläs­sige Stütze bei den administrativen Arbeiten für die Zeitschrift. Am 4. November 1931 schenkte sie einem Mädchen das Leben, aber schon am 9. starb sie an Eklampsie, jenen bei Wöchnerinnen blitzartig auftretenden Krämpfen, die man da­mals noch nicht heilen konnte. Das bedeutete für Ferdmann einen herben Verlust (DR 1932, S. 110 ff.‘). Seine ganze Sorge galt nun der kleinen Halb­waise Marieli, die er in einer liebenswürdigen Skizze schilderte.

Das Brautpaar Ferdmann Quelle: Davoser Revue

1933 vermählte sich Ferdmann in zweiter Ehe mit Helga Schmiederer. Sie war 1919 aus dem Saarland für ein paar Wochen zur Erholung nach Davos gekommen – und blieb ein Leben lang. Helga übernahm nach der Heirat die Mutter­pflichten für Marieli. Sie war von fröhlicher Na­tur, sprachgewandt, im Gespräch unterhaltend und von schlagfertigem Witz. Auch sie half Ferd­mann bei der Herausgabe der „Revue“, fing bald selber zu schreiben an und führte diese nach Ferdmanns Tod von 1962 bis 1979 als Redaktorin und Herausgeberin weiter. Sie überlebte ihren Mann um mehr als 30 Jahre. Sie gehörte zu jenen Witwen, die es für ihre Pflicht halten, das Anden­ken an ihren Gatten wachzuhalten und zu för­dern. (DR 1994,4,11)

Helga Ferdmann mit ihrem Stiefkind Marieli. Ferdmann Tochter heiratete später ins Unterland und starb 1989. Quelle: Davoser Revue

Ein engagierter Wahldavoser sucht eine Heimatgemeinde

Vielleicht hätte Ferdmann nicht so lange die Last der „Revue“ getragen, wenn er nicht von einer großen Liebe zu Davos erfüllt gewesen wäre. Der Flüchtling aus Russland fand hier eine neue Heimat, in der er sich als Kranker besser fühlte als sonst wo. Noch und noch rühmt er in Artikeln das «wundervoll gelegene Hochtal», die Heil­kraft seines Klimas, das Sportprogramm mit in­ternationalen Wettkämpfen, ebenso die vielen kulturellen Veranstaltungen. Er bewundert den Eifer und die Unternehmungsfreude der Davo­ser. «Überall merkt man, dass trotz der wirt­schaftlichen Depression, unter der alle zu leiden haben, keine Mühe und keine Ausgaben ge­scheut werden für Neuerungen, Erweiterungen und Verbesserungen.» In einem fingierten „Brief über Davos“ verteidigt er den Kurort gegen kli­scheehafte Vorwürfe, wie sie enttäuschte Patien­ten vorbringen, insbesondere gegen die völlig un­begründete Furcht vor Ansteckung in Davos; denn man treffe hier alle denkbaren Vorkehrun­gen, von der Desinfektion der Krankenzimmer, über das Spuckverbot bis zum Sprengen der staubigen Straßen, das alles sei besser als im Unterland.

Ferdmanns bezogen am 1. Juni 1928 eine Dachstockwohnung im Haus Bode. Dieses war 1916 gebaut worden und wurde im Mai 1967 abgerissen. Quelle: Davoser Revue

Wer so begeistert von einem Ort ist, muss es als besonders schmerzlich empfinden, dass er als Staatenloser, als „Sans-Papiers“, wie wir heute sa­gen, nicht richtig dazugehört. Es wäre nahelie­gend gewesen, dem russischen Emigranten das Bürgerrecht zu ermöglichen. Dazu ist kein Schriftstück zu finden. Seine Bekannten werden Ferdmann wohl wissen lassen, dass so etwas Kost­bares wie das Davoser Bürgerrecht für ihn nicht infrage kam. Er wandle sich darum an die Behör­den des solothurnischen Obergösgen, der Heimatgemeinde seiner ersten Frau, die auf sein Gesuch um Aufnahme wegen Ferdmanns prekären wirtschaftlichen Lage aber nicht einging, Glücklicherweise gab es damals in Graubünden arme kleine Gemeinden, die gewiss nicht aus humanitären, sondern finanziellen Gründen Heimat­lose gerne ins Bürgerrecht aufnahmen.

Zu ihnen gehörte auch Wiesen (das übrigens 1855 schon den Landschaftsarzl Alexander Spengler einbürgerte, weil Davos ihn nicht wollte!).

Am 11. April 1934 richtete das Advokatur­büro Bätschi im Auftrag Ferdmanns ein Gesuch um Aufnahme ins Bürgerrecht an den Gemeindevorstand Wiesen, ebenso seiner zweiten Ehefrau Helga geb. Schmiederer. Da Ferdmann 21 Jahre in der Schweiz lebte (wovon 14 in Davos), einen ta­dellosen Leumund besaß, sich und seine Familie ernähren und die Einkaufsumme aufbringen konnte, entsprachen die Wiesner schon am 16. April 1934 dem Gesuch und verlangten dafür eine Taxe von 3000 Franken. (Das Advokaturbüro Bätschi hatte „Fr. 1500.- bis maximum Fr. 2000.-„ vorgeschlagen.) Ferdmann muss der Entscheid der Wiesner angesichts der antisemitischen Hetze in Hitlerdeutschland wie eine Erlösung vorge­kommen sein.

Aufschlussreich sind die verschiedenen Re­ferenzen für Ferdmanns Gesuch. In ihnen er­scheint er in einem so guten Licht, dass man sich schon fragen muss, warum die Davoser ihn nicht ins Bürgerrecht aufnahmen. Pfarrer Hans Domenig, der den Übertritt des ehemals Russisch-Orthodoxen in die Evangelische Landeskirche vermittelt hatte, bestätigt, Ferdmann sei „als feiner Mann überall sehr geachtet“. Kurdirektor Hans Valär schreibt: „Er begehrt nichts als ruhig seiner Familie und seinem Berufe zu leben und zu wirken. Geschäftlich ist er ebenso energisch wie tüchtig und außerordentlich arbeitsam. Wenn die materiellen Erfolge ihn nicht zum reichen Mann machen, so liegt das an seinem Idealismus, an sei­ner Zufriedenheit und an seiner außerordentli­chen Bescheidenheit.“

Und wie steht es um die politische Gesin­nung des ehemaligen Russen? Polizei Vorsteher Badrutt loht seine Einstellung zur Schweiz und ihren Institutionen. „Er denkt und fühlt schweizerisch, sodass man ihn assimiliert bezeichnen kann“, seiner Gesinnung nach gehörte er „zur gut bürgerlichen Richtung“. Pfarrer Domenig erinnert an das Flüchtlingsschicksal Ferdmanns: „Als in Russland die Bolschewiki zur Herrschaft gelangten, da hat er sich als deren heftigster Feind ganz der freien Demokratie der Schweiz zugewendet und dadurch natürlich sein altes Vaterland eingebüßt. Nach persönlichem Charakter wie auch nach seiner politischen Einstellung verdient er es wie selten einer, ein Schweizer zu werden.“

Ferdmann sah sein Russland nicht mehr, der familiäre Kontakt brach nach 1930 ab. Quelle: Davoser Revue

Vom lieben Geld

Das Geld war für Ferdmann eine lebenslängliche Sorge. Laum hatte er mit der Berufsarbeit als Ingenieur begonnen, erkrankte er und musste sich als Patient irgendwie durchsehlagen, Vom Finan­ziellen aber lässt sich der „Revue“ selten etwas vernehmen. Erstmals hört man davon im September 1935 im letzten Heft des 10. Jahrgangs, Ferd­mann veröffentlicht darin zum Jubiläum der „Re­vue“ eine Sammlung von Leserbriefen mit viel Lob und Anerkennung für seine Zeitschrift, die aber an deren finanziellen Misere nichts ändern, in zwei Zuschriften wird reichlich naiv der Wunsch geäußert, es sollte der Umfang der Hefte vergrößert werden. Dazu fehlten ihm die Mittel, entgegnet Ferdmann und schildert seine Lage: „Von Anfang an hatte ich mit den größten finan­ziellen Schwierigkeiten zu kämpfen, denn die „Revue“ ergab zuerst ein Defizit, das ich mit dem Ertrag von Privatunterricht – damals waren in Davos noch gut bezahlte Privatstunden zu finden – decken konnte. Erst nach und nach hat sie mir und meiner Familie eine bescheidene Existenz, er­möglicht. Wie es auch heute noch damit steht, ist daraus zu ersehen, dass ich im letzten Jahrgang bei 10869 Franken Gesamteinnahmen 6703 Fran­ken für Druck, Honorare, Porti und sonstige Spe­sen gebraucht habe. So ist es mir bei aller Einschränkung leider nicht möglich, die „Revue“ un­ter den gegenwärtigen Verhältnissen zu erwei­tern.“
Damals befand sich auch Davos lief in der Wirtschaftskrise. Offensichtlich konnten sich im­mer weniger Patienten Privatstunden leisten. So musste Ferdmann mit Tagesjournalismus etwas dazuverdienen, auch mit dem Ablassen von Firmengeschichten, denen man gelegentlich anmerkt, dass es sich dabei für ihn um Kärrnerar­beit handelte. Es ist sicher so. dass Ferdmann mit seiner Familie (und später auch seine Witwe) von der Hand in den Mund nur knapp über den Existenzminimum lebte.

Ein Vermögen anhäufen konnte Ferdmann schon gar nicht. In dem Gesuch um Einbürgerung in Wiesen (11. April 1934) wird sein monatlicher Erwerb mit Fr. 360,- beziffert. „Er besitzt eine Wohnungseinrichtung mit einer Bibliothek im Wert von etwa Fr. 10000. .“ Der Wert „der gut eingeführten Zeitschrift“, der „Davoser Revue“, wird auf 10000 Franken geschätzt – falls jemand Lust hätte, sie zu kaufen. Ein Sparkonto wird nicht erwähnt. Auch nach dem Kriegstand es um Ferdmanns Finanzen nicht besser. Gemäß seinen ADV-Akten betrug sein durchschnittliches Jah­reseinkommen 1950/51 Fr. 4672.50 und 1954 Fr. 5183.-.

Die „Revue“ in den Krisen- und Kriegsjahren 1935-1945

Zu den finanziellen Sorgen während der Depres­sion kamen für Ferdmann noch andere Nöte hinzu. Am Anfang hatte er mit dem Interesse und Wohlwollen vieler deutscher Patienten und Kur­gäste rechnen können. Das änderte sich nach 1933 unter dem Nationalsozialismus. Das Geld wurde für sie mit dem Valutaregime der Nazis knapp. Zudem war für die zahlreichen Sympathisanten Hitlers eine strikt neutrale und unpolitische Zeit­schrift, die überdies noch von einem Juden her­ausgegeben wurde, ein Ärgernis. (Es soll aller­dings auch Deutsche gegeben haben, die weiter­hin die „Revue“ hielten, um damit gegen das neue Regime still zu protestieren.) Ferdmann hatte schon immer alles Politische ausgeschaltet. Mochte Hitler an die Macht kommen, die deut­sche Judenhetze sich ins Maßlose steigern, moch­ten Österreich und die Tschechoslowakei unter­gehen und in Europa schließlich ein Krieg toben – all das lässt in der „Revue“ so gut wie keine Spuren zurück. Unbekümmert um das Gesche­hen in der Welt bietet sie das Bild einer alpinen Idylle. Es ist bezeichnend, dass der Ausdruck „Drittes Reich“ und das Kürzel „NSDAP“ erst nachdem der grauenhafte Spuk vorbei war, im Juni 1945 erstmals erscheinen, und zwar im Zu­sammenhang mit den sogenannten Säuberungen, der Abrechnung mit Nazis und Sympathisanten in Davos. Wenn Ferdmann einerseits jeder Aus­einandersetzung mit dem Naziregime auswich, so haben wir anderseits auch kein Wort gefunden, das man als Anbiederung an die bedrohliche Macht Hitlers hätte auslegen können.

Indessen lässt sich ein Wandel im Inhalt der Hefte feststellen: In den Zwanzigerjahren stand die „Revue“ für Themen aller Art offen, gele­gentlich auch sehr ausgefallenen. Für spezifisch Davoserisches blieb wenig Raum. In der allge­meinen Verunsicherung nach 1929 und erst recht nach 1933 erwachten Heimatgefühl und Patriotis­mus neu. Jetzt entdeckte auch der Redaktor Ferd­mann Davos; denn die ursprüngliche Leserschaft, Patienten und Kurgäste, kamen ihm als Leser mehr und mehr abhanden, er musste die Einhei­mischen für seine Zeitschrift gewinnen. Lokal­historische Beiträge nehmen nun viel Raum ein. Zwei Ereignisse sind in diesem Zusammenhang bemerkenswert. 1936 feierte Davos mit Stolz und Begeisterung 500 Jahre Zehngerichtenbund in einem großartigen Fest, das der Verfasser als Schulbub miterlebte und nie vergessen wird. Dazu brachte Ferdmann eine 70 Seiten starke Sondernummer heraus, wohl das bedeutendste Heft in der langen Geschichte der „Revue“ über­haupt. Im Oktober 1936 erscheint die Zeitschrift mit einem neuen Hinweis zum Inhalt: „Bringt Be­richte aus der Gegenwart und Vergangenheit von Davos und Graubünden nebst weiteren Beitrü­gen zur Unterhaltung und Belehrung.“ Wichtig war sodann die Gründung des Heimatmuseums anno 1935. Eine Anregung dazu in der Presse griff Ferdmann begeistert auf; er gehörte zu den Förderern eines Trägervereins, wurde Mitglied von dessen Vorstand und schrieb jahrelang ausführli­che Sitzungsprotokolle. Der Aufbau der Samm­lung, der Kauf des stattlichen Pfrundhauses und die Entwicklung des Heimatmuseums kommen ausführlich zur Darstellung. Es war eben das erste und für lange Zeit das einzige Museum in der Landschaft. Heute besitzt Davos deren sechs und es ist für die Redaktion der „Revue“ nicht immer einfach, allen die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie verdienten.

Wenn – wie betont – vom großen Weltgeschehen selbst nichts zu lesen ist, die Auswirkungen von Krise und Krieg haben Spuren hinterlassen. So berichtet ein Gast über seine Ferieneindrücke im Sommer 1940: „Jetzt ist es still in unserem großen Kurort, der auf den freundschaftlichen Verkehr zwischen den Nationen in gleicher Weise angewiesen ist wie der Fisch aufs Wasser. Manche der sonst gastlichen Hotels haben ihre Fensterläden verdrießlich geschlossen, und ein Hauch schmerzlicher Leere liegt über allem, sodass ein Gang über die sonst so bewegte Promenade, an der sich ein großstädterisches Geschäft an das andere reiht, melancholisch stimmt. Aber den­noch klagen die Leute verhältnismäßig wenig. „Gewiss, es geht uns nicht gut, aber es könnte viel, viel schlimmer sein; es könnte alles in Trümmer Hegern, ist der resignierte Refrain, den man im­mer wieder hört.“

Unter solchen Umständen wollte die „Re­vue“ den Lesern Mut machen. Sie nahm teil an der damals geförderten geistigen Landesverteidi­gung und begrüßte es. wenn das Cabaret Cornichon (es war ein eigentlicher Rückenstärker) zu Gastspielen nach Davos kam. Auch von der großartigen Landi von 1939 ist gelegentlich zu le­sen. So bringt Ferdmann die gehaltvolle Festan­sprache zum Bündner Tag des zürcherischen Regierungsrates Karl Hafner, die der Verfasser als blauuniformierter Kantonsschüler mitanhören musste und damals furchtbar lange und langwei­lig fand. (1939, 10,215)

Obschon die Gegenwart schwer genug war, stellte man mit Besorgnis die Frage „Wie weiter mit dem Kurort?“ nach dem Krieg. Man müsse eine Sommersaison aufbauen, hieß die Antwort, und Schweizer Gäste gewinnen; denn im Krieg und für längere Zeit danach wären Ferien im Aus­land nicht möglich. Dass kurz darauf die Chemo­therapie gegen die Tuberkulose entdeckt und damit Davos als Kurort überhaupt überflüssig würde, konnte noch niemand wissen.

Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten zwangen Ferdmann als Herausgeber der „Revue“ zu einer Notmaßnahme. Schon im September 1940 klagte er über Preissteigerungen, die beim Druck 10 Prozent, beim Papier gar 20 Prozent ausmachten. Er litt wie der Handel und das Gewerbe. Da „eine Erhöhung des Abonnementpreises nicht ratsam“ erschien, blieb ihm nichts anderes übrig, als die Zahl der jährlich erscheinenden Hefte von zwölf auf zehn zu reduzieren; damit hoffte er. –„das mühsam aufgebaute Werk in eine bessere Zeit hinüberzuretten“.

Der unermüdlich arbeitende Jules Ferdmann an seinem Schreibtisch Quelle: Davoser Revue

Finanziell war Ferdmann sehr übel dran. 1938/39 konnte er mit der „Revue“ Fr. 5155.17 herauswirtschaften, 1941/42 waren es nur noch Fr. 1083.66.1943/44 ging es wieder etwas besser; er erreichte einen Gewinn von Fr. 3674.59, wovon noch Geschäftsspesen in Abzug gebracht werden mussten. Damit kam er auf einen Monatsdurch­schnitt von Fr. 260.-. mitten im Krieg eine jäm­merlich kleine Summe. Knapp über Wasser hal­ten konnte er sich nur mit Zeilenschinderei für die Tagespresse und mit dem, was seine Frau Helga dazuverdiente.

Ferdmanns Opus Magnum: eine Davoser Geschichte

Der erste Band

Mitten aus dem ersten Abenteuer, der „Davoser Revue“, stürzte sich Ferdmann in ein zweites: Er wollte eine Geschichte von Davos und des Kur­vereins schreiben. Darüber gibt ein Vertrag vom 12. April 1934 zwischen Ferdmann und dem Kur­verein Auskunft. Ferdmann verpflichtete sich darin, bis zum Herbst 1936 ein Manuskript und eine geordnete Dokumentation dazu abzuliefern. Der Kurverein seinerseits bezahlte dem Verfasser für seine Arbeiten mitsamt dem Verlagsrecht den Betrag von 2500 Franken „als totalen Vorschuss“. Damit begann eine Leidenszeit, die sich über mehr als ein Jahrzehnt hinzog.

Obschon Ferdmann seiner Ausbildung nach Ingenieur und nicht Historiker war, traute er sich die Arbeit zu. Mit ihr wollte er eine Art Dank an die Landschaft Davos abstatten, die ihm «die Wiedererlangung meiner Gesundheit» geschenkt hatte, wie er im Vorwort schreibt. In den Artikeln für die «Revue» zur Kürze gezwungen, kann er in seinen zwei Bänden zur Davoser Vergangenheit nicht weit genug ausholen. Fast 150 Seiten braucht er allein für „Die Anfänge des Kurortes Davos“. Vier Jahre, von 1934 bis 1938. habe er daran gearbeitet. Er beginnt mit einem Kapitel über Heilquellen und Bäder; denn nach seiner Meinung ist die ganze Kurortsentwicklung von den doch sehr kümmerlichen Bädern ausgegan­gen. In ausführlichen Kapiteln ist sodann vom Klima nach dem Volksmund und alten Chronis­ten die Rede. Breit wird auch der Anfang eines Sanitätswesens im Landwassertal dargestellt. Schließlich widmet Ferdmann auch noch dem Volkssport einen Exkurs, der auch nicht zwin­gend nötig wäre; denn der moderne Wintersport – abgesehen vom Schütteln vielleicht – war etwas ganz Neues.

Wer soweit ausholt – dafür gibt es viele Bei­spiele -, kann keine Termine einhalten. Im Herbst 1936 hätte Ferdmann seine Geschichte abliefern sollen, aber erst 1938 war er mit seiner Arbeit fer­tig, die zudem nur bis 1853 reichte, dem Jahr, in dem Alexander Spengler als Landschaftsarzt nach Davos kam. Die Enttäuschung war ziemlich allge­mein. Man hatte die Geschichte des Kurortes er­wartet und bekam nun nur dessen Vorgeschichte, die zwar leicht zu lesen, aber nicht das war. was die Leute interessiert hätte. In seinem Vorwort beschwichtigt Ferdmann das Publikum: In zwei Jahren (es sollten deren neun werden) werde der zweite Band für die Zeit von 1853 bis 1890 folgen. Das Buch war wenig erfolgreich. Die große Poli­tik und der Kriegsausbruch beschäftigten Menschen mehr als die undramatische Davoser Vergangenheit. Ein Jahr nach dem Erscheinen waren von den 1000 gedruckten Exemplaren trotz intensiver Werbung nur 400 verkauft; davon fiel ein Einnahmenüberschuss von Fr. 452.81 für Ferd­mann ab. Das Buch erschien im Verlag Davoser Revue, das heißt im Selbstverlag des Verfassers.

Der lange Weg zum zweiten Band

Wenn die Arbeit am „Aufstieg von Davos“, der Portsetzung seiner Geschichte, zu einer eigentlichen Leidenszeit wurde, so hatte das drei Ursachen: der Krieg, die finanzielle Notlage des Autors und schließlich dessen schwieriger Charakter.

Im Krieg haben es kulturelle Bemühungen bekanntlich noch schwerer als sonst. Es gab in dem für alle mühsamer werdenden Alltag Wichti­geres, als den zweiten Band einer Ortsgeschichte. Männer und brauen hatten bei zunehmenden Einschränkungen größere Leistung zu erbringen, was zu einer allgemeinen Nervosität und Gereizt­heit führte. Hinzu kamen die unerfreulichen Um­triebe der Nazis in Davos und eine reale Furcht vor dem anfänglich überstarken Deutschland Hitlers, die dem Juden Ferdmann besonders zu­setzen musste.

Lange wohnten Ferdmanns an der Promenade 47, im Rätushof, der später in Haus Motosani umbenannt wurde. Quelle: Davoser Revue

Was die wirtschaftliche Lage Ferdmanns be­trifft, so war diese bedenklich. Seine Hauptsorge galt Monat für Monat dem Erscheinen der „Re­vue“. Es wurde sehr schwierig, Inserenten und Abonnenten bei der Stange zu halten, und über­dies kündigte ihm die Druckerei den Vertrag, weil sie die Preise erhöhen wollte. „Der Zeit und Ner­ven verbrauchende Existenzkampf lässt ihm die nötige Ruhe und Sammlung nicht. (…) Irgend­welche Möglichkeit konzentrierter Arbeit sollte er haben“, schreibt am 8. April 1940 Zahnarzt Dr. Paul Müller sen. dem Kurverein; Müller war neben Dr. E. Branger ein getreuer Helfer Ferd­manns. Im Frühjahr 1943 endlich erklärte sich der Kurverein bereit, ihm monatlich Fr. 200.- zu ent­richten. Das entsprach dem Lohn, den seine Frau als halbtags beschäftigte Sekretärin im Architekturbüro Graberel verdiente. So konnte sie ihrem Mann die administrative Last der „Revue“ ab­nehmen. Das war ein Lichtblick, der aber verdüs­tert wurde, weil es dem ewigen Patienten Ferd­mann. der immer viel Geld für Medikamente brauchte, wieder einmal sehr schlecht ging und er sich einer Operation unterziehen musste. Wohl kaum einer hat damals in Davos unter schwieri­geren Umständen sein Geld verdienen müssen als Ferdmann.

Die Verhandlungen mit dem Kurverein als Herausgeber des Bandes waren mühsam; denn Ferdmann war kein einfacher Partner. Dr. Müller bat um Verständnis für einen Mann, der sich nur mit Mühe über Wasser halten könne. Dr. Branger suchte zu vermitteln. Am 27. Juni 1945 schrieb er dem Kurverein. Ferdmann sei schwierig, weil „er etwas umständlich und in den letzten Jahren auch sehr empfindlich geworden ist, da er immer Angst hat. seine Arbeit werde nicht anerkannt, und man übe Kritik an den Ausgaben des Kurvereins“ für sein Buch. Etwas später versuchte er in einem Brief. Ferdmann zu beruhigen; man beabsichtige nämlich, seine „ökonomische Existenz nach Mög­lichkeit nicht nur sicherzustellen, sondern zu bes­sern“. Allerdings: „Dabei wird jedoch auch von Ihrer Seite auf das notwendige Verständnis und die Beiseitestellung von Misstrauen und Emp­findlichkeit gezählt werden müssen.“ Aber Ferd­mann blieb  rechthaberisch-hartnäckig. Seine Briefe wurden in ihrer Umständlichkeit zu wah­ren Abhandlungen (die ihre Empfänger eher überflogen denn gelesen haben). Schließlich teilte Kurdirektor Häsler Ferdmann am 18. April 1946 kurz und bündig mit, dass der 2. Teil der Kurortsgeschichte gedruckt werde. Das war für Ferdmann eine beruhigende Nachricht. Weniger erfreulich war die Feststellung, „dass eine Fort­setzung des Werkes nicht in Frage komme“. Man hatte genug von dem „Gestürm“ mit Ferdmann. dem Feilschen um Honorare, dem Festsetzen von Terminen, die doch nicht eingehalten wurden, und einer uferlosen Korrespondenz. Der Beschluss halte allerdings eine unerfreuliche Aus­wirkung: Noch immer endet die Davoser Kurortsgeschichte mit 1889. Die letzten 120 Jahre sind – von einzelnen Oasen abgesehen – eine historiographische Wüste geblieben. Der Kurverein sagte Ferdmann ein Schlusshonorar von Fr. 2600.– zu und von jedem verkauften Exemplar einen Franken.

Ein Gutachten

Damit war die Angelegenheit für den Kurverein allerdings nicht erledigt. Der Vorstand wollte vor der Drucklegung wissen, was das Geschichts­werk überhaupt tauge, und (ohne Ferdmann davon zu informieren) ein Gutachten einholen. Man bat Fritz Pieth, den damals führenden Bündner Historiker, um eine Überprüfung des Manuskripts. Er lehnte ab, weil er mit der Drucklegung seiner Bündner Geschichte be­schäftigt war. Deshalb wandte man sich an Pro­fessor Oskar Vasella in Freiburg, den damals ein­zigen Bündner Historiker, der an einer Hochschule unterrichtete.

Vasella hatte sich bis anhin vorwiegend mit der Geschichte der Reformation befasst und betonte eingangs, dass er zwar kein besonderer Kenner des Themas Kurort sei, aber prüfen möchte, was die Darstellung Ferdmanns einem zukünftigen Leserkreis bieten könne. Das Ma­nuskript, das Vasella vorlag, ist nicht mehr auf­findbar. Man darf aber annehmen, dass der Text nicht wesentlich von der gedruckten Endfassung von 1947 abweicht.

Vasella machte sich die Sache nicht leicht. Er studierte den Text gründlich und wertete ihn sehr kritisch. Am Ende seines zwölfseitigen Exposés kommt er zum Schluss, „dass das Manuskript nie­mals als druckreif bezeichnet werden könnte“; es müsse überarbeitet und umgestaltet werden. Er anerkennt das gründliche, umfassende Quellen­studium, sieht aber den Hauptmangel an der Anhäufung von Quellenauszügen, die oft viel zu lange seien und historisch nicht ausgewertet wur­den. „Von einer Verarbeitung des Materials kann jedenfalls in keiner Weise die Rede sein.“ Vasella verlangt einen logischen Aufbau der einzelnen Kapitel, möchte diese vereinfachen und hält Kur­zungen für notwendig. Er stößt sich an stilisti­schen Formulierungen und ist mit den vorge­schlagenen Illustrationen nur zum Teil einver­standen.

Für Ferdmann bedeutete diese Kritik einen schweren Schlag. Alle Personen, denen er das Manuskript bisher vorgelegt hatte, beurteilten es als Laien unverbindlich wohlwollend, nicht nach wissenschaftlichen Kriterien. Er ließ sich jedoch nicht irremachen. Laut einer Aktennotiz (26. 9. 45).die ein Telefongespräch mit Kurdirektor Häs­ler festhält, sagte Ferdmann „die Kritik sei sach­lich wertlos, weil Vasella den Inhalt nicht ver­stehe“, und es genüge nicht, „dass ein Universitätsprofessor das Buch beurteile“. Es ist für ihn typisch, dass er schließlich ostentativ beibehält, was Vasella korrigiert haben wollte Dazu zwei Beispiele, die sich nachweisen lassen. Auf den Buchtitel „Der Aufstieg von Davos“ folgt der Zusatz „nach den Quellen dargestellt“. Vasella meinte, das müsse man streichen (denn es ist ja klar, dass eine seriöse Geschichte auf Quellen fußt und nicht auf Fantastereien).Ferdmann lässt seinen Untertitel unverändert stehen. Wenn Vasella sodann vorschlägt, das Gedicht über den Kurort Gais (Seite 47) zu streichen, hält Ferd­mann trotzig an ihm fest, obschon es für Davos nicht viel hergibt. In einer ausführlichen Stellung­nahme zu Vasellas Exposé bleibt Ferdmann völlig uneinsichtig. gibt sich dem Vorstand des Kurvereins gegenüber aber ausnahmsweise konziliant und ist bereit, das Manuskript „nochmals aufs Genaueste zu überprüfen, verschiedene Zitate zu kürzen oder zu verarbeiten und einige Stellen durch neue, im Laufe des Sommers gefundene Angaben zu ergänzen“ (20.9.1945). Viel geändert hat er dabei gewiss nicht.

„Von den Randbemerkungen des Herrn Prof. V. konnte ich beim besten Willen nichts verwenden“, heißt es am 31. Dezember 1945.

Man war nur massig begeistert

Das Erscheinen des Buches löste wenig Begeiste­rung aus; denn man merkte bald: Ein Lesever­gnügen war es nicht. Was Vasella vor Jahrzehnten daran aussetzte, gilt noch immer. Ferdmann be­tonte ständig sein gründliches Quellenstudium (was nie jemand bestritten hatte). Er schreibt kei­nen Satz, den er dokumentarisch nicht hätte bele­gen können. Auf seine Darstellung ist unbedingt Verlass, wofür ihm bis heute alle dankbar sind, die sich mit der Davoser Geschichte beschäftigen. Nun ist das Sammeln der Quellen eines, ein ande­res ist die Gestaltung des Stoffes Nicht alles, was man findet, lässt sich und muss man verwerten. Es gilt auszuwählen. Ferdmann hätte gut daran ge­tan, sich an das Hebbel’sche „Wirf weg, damit du nicht verlierst“ zu halten. Möglich, dass er in der Unsicherheit des Dilettanten, der er war, den Vor­wurf fürchtete, er habe etwas übersehen.

Ferdmann einmal vergnügt unter dem Volk Quelle: Davoser Revue

Im Unterschied zur Antike zählen wir die Geschichte nicht mehr zu den Künsten. Trotzdem sollte ein Geschichtswerk auch gestaltet sein. Das ist bei Ferdmann trotz seiner enormen publizisti­schen Erfahrung merkwürdigerweise nicht der Fall. Dem Stubengelehrten Ferdmann gelingt es nicht, die Vergangenheit lebendig werden zu las­sen. Es ist, als ob er an den Menschen vorbei­schriebe. Auch der berühmte rote Faden lässt sich bei ihm nicht finden. Er kommt vom Hundertsten ins Tausendste und sieht wirklich vor lauter Bäu­men den Wald nicht. Er zählt zum Beispiel die Mitglieder eines Vereinsvorstandes auf und be­richtet detailliert über Tätigkeit und Finanzen des Verschönerungsvereins, als ob es sich um ein Sit­zungsprotokoll handelte. Zutreffend meinte ein­mal Jakob Kessler, der ehemalige geistreiche Wirt vom Wolfgang, Ferdmann schreibe mit einer „kaum zu ertragenden Akribie“. Seine Vorliebe gilt Kurzbiografien, die ihm auch gut gelingen, je­doch mit zwei oder mehr Druckseiten den allgemeinen Rahmen sprengen. Man stößt übrigens auf eine Unmenge von für den Kurort wenig rele­vanten Personen, die Ferdmann möglicherweise meinte, aufführen zu müssen, weil deren Kinder oder Enkel noch lebten. Ihm den Vorwurf zu ma­chen, er berichte kaum über das, was uns heute im Unterschied zu damals besonders interessiere -Strukturen, Soziales und Soziologisches näm­lich -, wäre ungerecht. Wie der erste Band ver­kaufte sich auch der zweite nicht gut. Nach Jahr­zehnten erst aber war er vergriffen, und der Ver­lag der Davoser Revue publizierte 1990 eine zweite Auflage.

Kampf um den dritten Band

Jahrelange Arbeit unter belastenden Bedingungen, Ärger und viele Enttäuschungen und am Schluss nur ein nur massiger Erfolg. Manch einer wäre entmutigt gewesen. Nicht so Ferdmann. Er möchte unbedingt noch einen 3. Band für die Zeit von 1889 bis 1914 unter dem Titel „Davos im Aus­bau“ schreiben. Es schmerzte ihn, dass er sein Hauptwerk nicht zum Abschluss bringen konnte. Da er beim Kurverein abgemeldet war, wandte er sich an die Gemeinde, das heißt den Kleinen Landrat. und entwickelte in einem umfangrei­chen Exposé sein Vorhaben (15. 8, 1950). Daraus ist bekanntlich nichts geworden.

Es mag aufschlussreich sein, aus diesem Schreiben eine Stelle zu zitieren, in der der 61-jährige Ferdmann sich als missverstandenes Opfer darstellt: „Was habe ich verschuldet, wenn mein Werk, in dem ich die Leistungen von Davos vor aller Welt würdigen wollte und für dessen Abschluss ich dem Kurverein verpflichtet bin. ein Torso geblieben ist? Habe ich den Auftraggeber durch flüchtige Arbeit enttäuscht? Habe ich über­triebene materielle Forderungen an ihn gestellt? Das wird wohl niemand, sofern er nur genau ori­entiert ist und keine ungleich unterschiedlichen Maßstäbe an die Honorierung geistiger Arbeit anlegt, behaupten wollen. Worin besteht denn mein Verschulden? Wohl einzig darin, dass ich uneigennützig bestrebt war, die mir anvertraute Aufgabe möglichst würdig, möglichst umfassend und genau zu lösen, selbst auf die Gefahr hin. vorübergehend nicht mehr recht verstanden zu werden.“

Und immer wieder die „Revue“

Wie bitter enttäuscht Ferdmann auch war kapitulieren wollte er nicht. Unverdrossen widmete er sich seinem Hauptgeschäft, der „Davoser Re­vue“. Diese konnte eben damals ein Jubiläum feiern. Im September 1950 schreibt er: „Die „Davoser Revue“ blickt nunmehr auf 25 Jahre ihres Erscheinens zurück; sie steht somit im besten Mannesalter, gereift in bestandenen Prüfungen und bereit, den weiteren Lebenskampf aufzuneh­men. So ist sie nicht geneigt, sich geruhsam auf die Bank der Alten niederzusetzen und ihre Me­moiren zum Besten zu geben.“

Die Zeitschrift bleibt ein Ein-Mann-Unternehmen. Ferdmann ist stolz darauf, dass er bei der Gemeinde nie um eine Subvention anhielt. Es sei eben eine Tatsache, „dass hier in allen Schichten der Bevölkerung viele aufgeschlossene und geis­tig regsame Menschen zu finden sind. Wie sonst hätte eine ernsthafte Zeitschrift wie die „Davoser Revue“ sich 25 Jahre halten können“. (DR 1950, 301)

Ferdmann arbeitet weiterhin mit Bienenfleiß und ungemein exakt. Der Redaktor bleibt der wichtigste Autor. Um die Hefte zu füllen, bringt er allerdings bereits erschienene Aufsätze bekannter Wissenschaftler oder Abdrucke aus Neuerscheinungen. Auch damals bekannte, inzwi­schen vergessene Autoren – zum Beispiel Werner Bergengrün, Hans Roelli oder Felix Möschlin – kommen zu Wort. Der Anteil an literarischen Texten aber wird gegenüber früher kleiner. Es dominieren Beiträge zur Davoser Vergangenheit. Etwas bemühend wirken Ferdmanns Kompli­mente nach links und Bücklinge nach rechts und die Kränzlein, die er windet. Bedenkt man aber, wie prekär die Situation des Redaktors und Un­ternehmers war. sieht man darüber gerne hinweg. Bewundernswert bleibt, dass Ferdmanns Tätig­keit auch nach Jahrzehnten nie zur Routine wurde Am Ende des 35. Jahrgangs wendet – ein Jahr vor seinem Tod – er sich mit einem Gruß an die Leserinnen und Leser und schreibt: „Die Lust zu schaffen, die Freude, ein jedes Heft mit einem neuen Inhalt /u betrachten und individuell zu ge­stalten, habe ich nicht verloren.“ Es liege noch viel von ihm gesammeltes Material bereit, „das auf Gestaltung wartet“.

Ferdmann mag sich in der „Revue“ opti­mistisch und schwungvoll geben, privat erscheint er oft deprimiert, verbittert gar, und sieht sich als einen, der „das Meer pflügt“. Drückend bleiben die finanziellen Sorgen. „Wie soll man die mehr als 1000 Franken pro Heft aufbringen‘?“, fragt er einmal. Das sei nur mit Annoncen möglich. Des­halb müsse er neben der Abonnentenwerbung immer wieder auf die demütigende Inseratensu­che gehen. „27 Jahre gebe ich die „Revue“ heraus, aber sie bietet mir immer noch – trotz unendli­cher Arbeit, die sie verschlingt – keine rechte Existenz, der am wenigsten bezahlte Kurvereins­arbeiter verdient ungleich mehr als ich. So ist es.“

Walser Forschungen

Spätestens seit den Zwanzigerjahren war jeder­mann klar, dass die Walser vom Wallis her in Graubünden eingewandert waren, von den Ale­mannen abstammten und ihre verschiedenen Dialekte zum Höchstalemannischen gehörten. Nicht so Ferdmann. Für ihn waren sie Nachfahren der Burgunder, die im 4. Jahrhundert, das Schanfigg besiedelt haben sollten und anschließend auch Davos, was er mit Ortsnamen zu belegen versuchte. Und die Burgunder waren es auch, die gemeinsam mit den Römern Graubünden vor den Angriffen der Alemannen schützten.

In seinem letzten Lebensjahrzehnt zwischen 1953 und 1961 beschäftigte sich Ferdmann verbissen mit seiner Burgunder-These. In rascher Folge erschienen in der „Davoser Revue“ lange Aus­führungen zum Thema. Unermüdlich sucht er in jedem ihm erreichbaren Wörterbuch nach etymo­logischen Beweisen, sowohl im Sanskrit wie in den verschiedensten europäischen Sprachen. Dilettantisch spekuliert er mit den Spekulation anderer und biegt, was er findet, seinen Vorstellungen entsprechend zurecht. Wenn Verbindung stücke fehlen, hilft ihm die Fantasie, die Lücke auszufüllen. Immer ist er sicher, dass seine Burgunder-These zutrifft, alle andern aber, für die d alemannische Herkunft der Walser eindeutig ist, auf dem Holzweg sind. In Briefen wird er ausfällig gegen die Anhänger der Alemannen-These und ärgert sich über die doktrinären, phantasielosen Leute, „die an den Universitäten altes Stroh dreschen und eine neue Idee nicht mehr aufnehmen können“. Fachleute wie Rudolf Horzenköcherle, Manfred Szadrowski oder Hai Kern sind bei ihm abgemeldet.

Ferdmann bleibt ein verirrter Einzelkämpfer. Kein bedeutender Forscher hat ihn ernst genommen. Als 1968 Paul Zinslis Meisterwerk „Walser Volkstum“ erschien, fand sich darin kein einziger Hinweis auf Ferdmanns abenteuerliche Publikationen. Unerklärlich bleibt, wie der Mann, der sonst äußerst gewissenhaft und vorsichtig arbeitete, bei der Walserfrage jede kritische  Haltung abhandenkommen konnte.

Wie kann man auf eine gesunde Art krank sein?

Davon, dass Ferdmann seit jungen Jahren ein Opfer der Tuberkulose war, unter Atemnot litt und keinen gesunden Tag erleben konnte, erfährt der Leser der „Davoser Revue“ kaum etwas. Dabei machte ihm die Krankheit mit zunehmendem Alter mehr und mehr zu schaffen, wie kurze Bemerkungen da und dort in Briefen zeigen. Da heißt es etwa: „Ich bin immer noch Rekonvaleszent u darf die Wohnung nicht verlassen.“ Oder: „Der Föhn setzt mir seit einigen Tagen schwer zu. bin gar nicht zwäg.“ Oder: „Eine böse Grippe hat  mich gepackt, und das anhaltende Husten hat mich ganz ermattet und meiner Lunge nicht gut getan.“ Schließlich: „Ich bin leider dauernd in ärztlicher Behandlung, muss immer Pillen schlucken und Einspritzungen erhalten – das Herz will nicht mehr schaffen, und ich darf mich, so möglich, nicht aufregen.“ Die Frage, wie man „auf eine gesunde Art krank“ sein könne, hat Ferdmann bis zu seinem Tode beschäftigt, aus­führlich in seiner Schrift „Höhenluft“ (1954), aus der wir zitieren:

„Niemand liebt das Leben so glühend wie der Kranke, der es schwinden sieht. Der Gesunde weiß es gewöhnlich nicht zu schätzen. Der Voll­besitz seiner Kräfte ist ihm eine Selbstverständlichkeit. Erst eine Erkrankung erinnert ihn an das köstliche Vermögen, atmen zu können, sich bewegen, seine Sinne betätigen zu können. Die Gesundheit, die er früher unbedenklich und gleichgültig genoss, wird ihm nun zu einem sehnsüchtig erstrebten Ziel. Leidenschaftlich klammert er sich an das gefährdete Leben, und mit Aufbietung aller Kräfte kämpft er um das bloße Dasein. Wenn irgendwo das Wort vom stil­len Heroismus angebracht ist, so in diesem Rin­gen mit schwachen Kräften gegen einen tücki­schen Feind.“ (S. 16)

Aus diesem Kampf kann als Sieger nur her­vorgehen, wer seinem Leben einen Inhalt gibt, wie Ferdmann sich ihn mit seiner Zeitschrift und mit seinen Forschungen zur Ortsgeschichte gab. Er nahm die Krankheit an und betrachtete sie als Bestandteil seiner Existenz, wollte mit ihr leben, sich aber nicht von ihr bestimmen lassen. Er klagte nicht über sein Leiden: denn stark bleiben könne nur, wer sich nicht von „wehleidiger Eigenliebe“ aushöhlen lasse.

In seinem letzten Lebensjahr verschlim­merte sich sein Zustand zusehends. Die von der Tuberkulose vernarbte Lunge war nicht mehr imstande, das Herz mit dem nötigen Sauerstoff zu versorgen, wodurch dieses überbeansprucht wurde und sich vergrößerte. Man hielt es für richtig, Ferdmann in die Tiefe nach Chur ins Kan­tonsspital zu verlegen, wo er jedoch sehr unglück­lich war. Er wollte nach Davos zurück und wurde in der Zürcher Hochgebirgsklinik in Clavadel hospitalisiert, die seit Kurzem von Dr. med. Peter Braun geleitet wurde (DR 2010, 4, 12). Für Dr. Braun war Ferdmann ein angenehmer Patient, weil er, obwohl todkrank, nicht vom Sterben spre­chen wollte, sondern Pläne entwickelte, was er noch erforschen und wie er die „Davoser Revue“ in Zukunft gestalten wollte. Am 12. März 1962 aber starb er an einem durch die lange Lungentuberkulose verursachten Herzversagen. Seine Asche wurde auf dem Waldfriedhof beige­setzt.

Ferdmann als graue Eminenz im Hintergrund links an der Vernissage einer Ausstellung im Winter 1959/60 Quelle: Davoser Revue

Von der Einsamkeit des Emigranten

Mit der „Revue“ stand Ferdmann im Zentrum des kulturellen Lebens in Davos und gehörte doch zweimal nicht dazu: als Kranker nicht zu den Gesunden, als Emigrant nicht zu den Einheimischen. Neben dem mehrfach erwähnten Lungen-und Asthmaleiden machte ihm auch seine Her­kunft zeitlebens zu schaffen. Zwar war ihm äußerlich die Integration gelungen, er war gar Schweizer Bürger geworden, wusste so viel wie ir­gendwer über Davos und liebte seine zweite Hei­mat bedingungslos. Aber seine russisch-jüdische Herkunft konnte er nicht abschütteln. Hier ist ein Hinweis auf die herausragende Schweizer Jour­nalistin Laure Wyss (1913-2003) angebracht. Sie kam im Krieg nach Davos, lernte Ferdmann ken­nen und würdigte ihn in ihren „Wahrnehmungen(2003) liebevoll. Er wies der jungen Frau, die sich damals in einer Sinn- und Lebenskrise befand, den Weg zum Journalismus, der für sie zu einer Berufung wurde. Sie schildert, wie Ferdmann am Kuchentisch mit den Seinen in der Nähe arbeitete (S. 42). Hier lernte sie „ein neues Handwerk: größte Genauigkeit des Schreibens, das richtige Wort finden, fremde Manuskripte mit Respekt gegenü­ber dem Autor behandeln“. Sie blieb ihm immer dankbar, weil er ihr Auge und Ohr für Geschrie­benes öffnete, und weil der verschlossene Ferdmann „sie als Zuhörerin auswählte und erzählte und erzählte“, ihr damit sein Leben und Russland vertrauter machte. Bemerkenswert ist die erste Begegnung der beiden auf der Promenade: Ferd­mann hielt an, um Atem zu holen, während Laure Wyss mit geschulterten Skiern zur Parsennbahn eilte. Sie hörte Ferdmann sagen: „Wenn ich so über die Promenade schleiche, weiß kein Mensch, dass ich auf ungesattelten Pferden über samarische Erde ritt.“ Die Szene ist bemerkens­wert: Ferdmann steht auf der Promenade, die Leute eilen an ihm vorbei, wissen nichts von ihm und wollen von dem kümmerlichen Mann auch nichts wissen; dabei hat er viel mehr erlebt und er­fahren als alle um ihn herum. Der Emigrant bleibt letztlich allein. Das ist erst recht schmerzlich, wenn dieser wie Ferdmann aus einer wohlhaben­den Bürgerschicht stammt, die seinerzeit in Sa­mara etwas galt, und im neuen Land ganz unten auf der sozialen Stufe in ärmlichen Verhältnissen landet. Dass ein Emigrant diese Demütigung mit einem Überlegenheitsgefühl kompensiert, ist be­greiflich.

Ferdmann wollte etwas gelten und kämpfte ständig um Anerkennung. Er erstrebte nicht materiellen Wohlstand. Das kleinste Lob für seine Arbeit registrierte er überglücklich, reagierte aber empfindlich auf jede offensichtliche oder auch nur vermutete Geringschätzung seiner Anstrengungen, besonders im Bereich der „Davoser Revue“. Er duldete keinen Zweifel an seiner Kompetenz. Er wusste um seine intellektuelle Begabung und sein Wissen und fühlte sich oft ge­nug andern überlegen. Das bekamen auch welche unter seinen Autoren zu spüren. Pedantisch schulmeisterte er an ihren Aufsätzen herum. Ob­schon er in der Kritik nie verletzend war, verzich­tete doch der eine oder andere auf eine weitere Mitarbeit. Das Gegenstück zur Pedanterie war seine Exaktheit, Er brachte ganze Jahrgänge sei­ner Zeitschrift ohne einen Fehler heraus. Auch sonst konnte Ferdmann gelegentlich anecken. Wenn er zum Beispiel vor der Glastüre einer Buchhandlung an der Promenade erschien, flüch­tete das Bedienungspersonal in einen Neben­raum und machte dort unter sich aus, wer Ferd­mann diesmal bedienen sollte: denn seine Frage­rei war gefürchtet, und seine Belehrungen „von oben herab“ empfand man als peinlich.

Wer unablässig um Geltung und Anerken­nung kämpft, kann sich gelegentlich auch überschätzen. Das geschah Ferdmann in Sachen Kunst: seine Urteile über Malerei bleiben unbe­darft-konventionell. Man gewinnt überhaupt den Eindruck, er sei in seinen späteren Jahren der Meinung gewesen, dass in Davos nur dort Kultur stattfinde, wo er als Vertreter der „Revue“  zuge­gen war.

Dabei war er im täglichen Umgang ein lie­benswürdiger Mann. Die Mitbewohner im Rätushof, wo die Ferdmanns lange wohnten, schätzten ihn als betont rücksichtsvollen Hausgenossen. Er grüßte stets freundlich und lüftete den Hut dabei. Gerne sprach er mit Kindern, erkundigte sich nach ihren Schulerlebnissen oder ihrem Fort­schritt im Musikunterricht. Nie hätte er sich des Kinderlärms wegen beschwert.

Schicksal und Charakter haben Jules Ferd­mann das Leben nicht leicht gemacht Trotzdem hat er mit unermüdlichem Fleiß eine Leistung erbracht, die ihresgleichen sucht. Wo fände sich heute jemand, der mit seiner Anspruchslosigkeit und auf sich allein gestellt ein so uneigennütziges Werk zustande brächte, wie er es zustande brachte?

Sonderdruck aus der Davoser Revue vom März 2013

Ferdmanns „Revue“ erscheint auch heute noch. Die „neue“ Revue „firmiert nun:

Davoser Revue

GESCHICHTE

In Davos verdichtet sich, in vermeintlicher alpiner Abge­schiedenheit, die europäische Kulturgeschichte auf kleins­tem Raum. Präsent sind Themen wie die frühe Alpwirtschaft und die Entwicklung eines transalpinen Handelsnetzes, die Herrschaftsabhängigkeiten und Autonomiebestrebungen im Mittelalter oder die neuzeitliche Entwicklung einer Agrar- zu einer Dienstleistungsgesellschaft. Themen sind auch: die modernen Ausprägun­gen von Davos als künstlerische und literarische Wirkungsstätte, als Tourismusdestination und als Tagungsort des World Eco­nomic Forums.

Die Geschichte von Davos wird somit durch loka­le, regionale und weltgeschichtliche Ereignisse und Entwicklungen gleichermassen geprägt. Das macht Davos zu einem einzigartigen Laborraum der Geschichtsbetrachtung, zu einem Archiv historischer Phänomene, zu einem unmittelbaren Konfrontationsort mit der Ge­genwart und allem, was Gegenwart ausmacht.

Die «Davoser Revue» widmet sich seit der Gründung im Jahr 1925 die­ser Geschichte in all ihren Facetten und stellt durch die Forschungs- und Publikationstätigkeit wichtige Beiträge zum Verständnis der Ge­schichte des Ortes und der Geschichte an sich zur Verfügung.

REDAKTION

Die Redaktion der «Davoser Revue» wird wahrgenommen von Thomas Kaiser, der das Büro für kulturelle Recherchen und Konzeptionen wortwert betreibt.

VORSTAND

Träger der „Davoser Revue“ ist die gleichnamige Genossenschaft, deren Vorstand gebildet wird durch den Präsidenten Severin Gerber (Rektor der Schweizerischen Alpinen Mittelschule Davos), Irma Wehrli (literarische Übersetzerin), Martin Flütsch (Hauptschulleiter der Davoser Volksschulen), Thomas Gadmer (Sekretär der Walservereinigung Graubünden), Nicole Bertsch-Schiessl (Juristin) und Pius App («Schatzalp»-Hotelier).

Verantwortlich für die Geschäftsführung und das Sekretariat ist der dipl. Treuhandexperte Marco Lang.