Hunnenrede

aus Wikipedia:

Die „Hunnenrede“ hielt Kaiser Wilhelm II. am 27. Juli 1900 in Bremerhaven anlässlich der Verabschiedung des deutschen Ostasiatischen Expeditionskorps (China-Expedition) zur Niederschlagung des Boxeraufstandes im Kaiserreich China. Weltweite Bedeutung gewann sie wegen ihrer drastischen Aussagen. Aus der Rede leitet sich der Ethnophaulismus „the huns“ (die Hunnen) für Deutsche ab, den erstmals die Propaganda der Entente während des Ersten Weltkriegs gegen Deutschland verwendete.

Historischer Hintergrund

Im Frühjahr 1900 gipfelten Angriffe der Boxerbewegung gegen Ausländer und chinesische Christen in einer Belagerung des Gesandtschaftsviertels in Peking. Am 20. Juni wurde der deutsche Gesandte Clemens von Ketteler dort auf offener Straße erschossen. Der Versuch britischer Truppen, das Gesandtschaftsviertel zu entsetzen, schlug fehl, woraufhin eine Koalition von acht ausländischen Mächten – Japan, USA und sechs europäische Staaten – ein Expeditionskorps für eine Intervention nach China entsandte. Bei der Verabschiedung eines Teils der zu diesem Expeditionskorps gehörenden deutschen Truppen am 27. Juli in Bremerhaven hielt Wilhelm II. seine berüchtigte Hunnenrede. Sie war nur eine von mehreren Reden, die der Kaiser anlässlich der Ausschiffung der Truppen hielt.

Inhalt der Rede

Der Text der Rede ist in mehreren leicht voneinander abweichenden Variationen überliefert. Die zentrale, berüchtigte Passage lautete:

„Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, daß es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!“

Überlieferung und Versionen

Die Rede wurde von Wilhelm II. frei gehalten; ein Manuskript ist nicht überliefert und existierte vielleicht gar nicht. Noch am selben Tag kamen mehrere Textversionen in Umlauf:

Wolffs Telegraphisches Bureau verbreitete eine Zusammenfassung in indirekter Rede.

Der Staatssekretär des Auswärtigen, wenig später Reichskanzler, Bernhard von Bülow, autorisierte wenige Stunden später eine Variante, diesmal in wörtlicher Rede, die die inkriminierenden Passagen nicht enthielt: Der Verweis auf die Hunnen und die Aufforderung „Pardon wird nicht gegeben. Gefangene werden nicht gemacht“, fehlt. Diese Fassung stammt vermutlich von einem Redakteur des Berliner Lokal-Anzeigers, an der von Bülow nur unbedeutende Korrekturen vornahm. Indem Bülow diese „harmlose“ Variante der kaiserlichen Worte autorisierte, versuchte er zu vertuschen, zu welch brutalem und (völker)rechtswidrigen Vorgehen der Kaiser und Oberbefehlshaber die deutschen Truppen aufgefordert hatte. Von dritter Seite wurde diese Variante noch weiter entschärft und der kritische Satz in „Pardon wird euch nicht gegeben“ umgeändert.

Eine Reihe von Journalisten norddeutscher Zeitungen waren anwesend und stenografierten das gesprochene Wort mit. Abgesehen von kleineren Hör-, Aufzeichnungs- oder Setzfehlern, geben diese Mitschriften einen übereinstimmenden Wortlaut wieder, der heute als das authentische, vom Kaiser gesprochene Wort gilt. Damit kam das unmittelbare „gesprochene Wort“ des Kaisers in breiten Umlauf.

Interpretation

Wilhelm II. hat in seiner Hunnenrede die deutschen Truppen zu einem rücksichtslosen Rachefeldzug in China aufgefordert und das auch so gemeint. Hierfür gibt es weitere Indizien. So hat der Kaiser zur gleichen Zeit für mehrere Truppentransporter das nach seinem Entwurf von dem Maler Hermann Knackfuß ausgeführte Bild Völker Europas, wahrt eure heiligsten Güter gestiftet, eine Allegorie auf die Verteidigung Europas unter deutscher Führung gegen die angebliche „Gelbe Gefahr“. In mindestens einem Fall versah Wilhelm das Bild zusätzlich mit den Aufschriften „Pardon wird nicht gegeben“ oder „Kein Pardon“.

Wilhelm II. fühlte sich zu dieser Aufforderung berechtigt, besonders nach der Ermordung des deutschen Gesandten in China, Klemens Freiherr von Ketteler, am 20. Juni 1900 in Peking. Dass er damit gegen internationales Recht verstoßen haben könnte, hat er nicht beachtet. Er bewegte sich voll im Duktus des Kolonialkrieges, der dem Gegner keinerlei Rechtsposition zugestand. Die bereits 1899 vom Deutschen Reich unterzeichnete Haager Landkriegsordnung ächtet ausdrücklich die Aufforderung, im Krieg kein Pardon zu geben. Allerdings war unter den Zeitgenossen umstritten, ob dieses Abkommen auf China anwendbar sei, denn China hatte zwar an der Haager Friedenskonferenz teilgenommen, gehörte jedoch nicht zu den Unterzeichnern der Landkriegsordnung. Ein Teil der moralischen Entrüstung des Kaisers geht möglicherweise auch auf die Mitte Juli zunächst in der britischen Daily Mail und später in der deutschen und internationalen Presse verbreitete, mit grausigen Details ausgeschmückte Falschmeldung zurück, das Pekinger Gesandtschaftsviertel sei erstürmt und ausnahmslos alle Ausländer seien umgebracht worden.

Politiker und Journalisten in anderen europäischen Staaten, die sich an der Niederschlagung des Boxeraufstandes beteiligten, riefen ebenfalls zur Rache für die Ermordung westlicher Ausländer in China auf, etwa The Times in London. In einer damals weit verbreiteten kolonialen Attitüde waren sie empört, dass ein als zu kolonisieren betrachtetes Land es wagte, den sich überlegen fühlenden Europäern – zunächst relativ erfolgreich – Widerstand entgegenzusetzen. Allerdings ging niemand in seiner Ausdrucksweise so weit wie der deutsche Kaiser. Mit seiner drastischen Rhetorik trug er dazu bei, dass der internationale Militäreinsatz in China tatsächlich mit äußerster Grausamkeit geführt wurde – wobei es allerdings nicht allein die deutschen Truppen waren, die kein Pardon gaben.

Die Peinlichkeit der Ausführungen des Kaisers spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass in alle Redensammlungen des Kaisers bis in die Mitte der 1970er Jahre ausschließlich die „entschärften“ Varianten der Rede aufgenommen wurden.

Reaktionen und Folgen

Unmittelbar

Die nach China abgehenden Soldaten nahmen den Kaiser wörtlich. So berichtet der Kavallerist Heinrich Haslinde in seinem Tagebuch:

„(Der Kaiser) hielt eine zündende Ansprache an uns, von der ich mir aber nur folgende Worte gemerkt habe: »Gefangene werden nicht gemacht, Pardon wird keinem Chinesen gegeben, der Euch in die Hände fällt.“

Soldaten versahen die Eisenbahnwagen, die sie an die Küste transportierten, mit Aufschriften wie „Rache ist süß“ oder „Pardon wird nicht gegeben“.

Mit der Hunnenrede stieß Wilhelm II. im In- und Ausland auf Zustimmung, aber auch auf Kritik. Dabei wurde der Vergleich mit den Hunnen auch in Deutschland als Metapher für die grausame Kriegsführung herangezogen. In deutschen Zeitungen abgedruckte Soldatenbriefe, die über Ausschreitungen während des Einsatzes in China berichteten, wurden als „Hunnenbriefe“ bezeichnet. Und der Reichstagsabgeordnete Friedrich Naumann erhielt wegen seiner Verteidigung der Militärintervention in China den Spitznamen „Hunnenpastor“. Der freisinnige Abgeordnete Eugen Richter verurteilte dagegen am 20. November 1900 im Reichstag das Vorgehen der deutschen Truppen in China, das durch die Bemerkungen des Kaisers angestachelt worden war.

In der Realität war das Verhalten der deutschen Truppen während der Intervention in China nicht besser oder schlechter als das von Truppenteilen der anderen beteiligten Nationen. Alle beteiligten Mächte machten sich nach heutigem Verständnis schwerer Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen schuldig. Die Hunnenrede ist allerdings insofern bemerkenswert, als in ihr ein Staatsoberhaupt seine Soldaten in aller Öffentlichkeit zu solchem Verhalten auffordert.

Spätfolgen

Große Wirkung entfaltete die „Hunnenrede“ während des Ersten Weltkriegs, als britische Kriegspropaganda die „Hunnen“-Metapher aufgriff und als Synonym für die Deutschen und ihr als barbarisch bezeichnetes Verhalten verwendete. In Großbritannien prägte die Rede den Begriff The huns für die Deutschen. Von Großbritannien requirierte deutsche Handelsdampfer wurden als „Hunnendampfer“ bezeichnet.

Tonaufnahme

Eine Anfang des 20. Jahrhunderts aufgenommene Phonographenwalze mit der leicht gekürzten zweiten Fassung der Rede wurde 2012 rekonstruiert. Die Walze wurde von Norman Bruderhofer digitalisiert. Ob es sich beim Sprecher der Wachswalze jedoch tatsächlich um Wilhelm II. handelt, ist offen. Ein vom Landeskriminalamt Bayern durchgeführter Stimmvergleich konnte die Echtheit nicht eindeutig bestätigen. Laut Experten spräche aber mehr dafür als dagegen, da es unüberhörbare Ähnlichkeiten mit einer von Wilhelm II. besprochenen Edison-Wachswalze aus dem Jahr 1905 gibt.