Er – eine Erzählung

!Quand partirez-vous, monsieur,quand … quand …quand?“ Er lächelte. Sie sah von unten herauf, den Scheuerbesen in der Hand, klatschend fuhr der Scheuerlappen über die Steinfliesen der Küche.

Er griff ihr an die Taille und sie stemmte sich an ihn. „Bald, bald, Faustine … Sie müssen sich beeilen“…

„Quand?.“
„Montag.“
Es waren also noch sechs Tage.
Ihre heißen Augen überglänzten sich. Sie horchte in den Korridor.
„Personne n’est la. II faut profiter …“
„Also ? “
Aber sie hatte doch Angst.
„J’ai peur“. Wenn Monsieur käme – oder Madame“ …
„Sie machen ihre Promenade in Ouchy. Das dauert zwei Stunden mindestens, Faustine.II faut profiter de la solitude“.
„Aber Elise? Wenn sie plötzlich zurückkäme? Ich würde mich zu Tode schämen!“
„Elise promene le chien“.

Ja, aber sie ist nur bis zur Sallaz. Wegen der Milch. Um sie für Montag abzubestellen. Monsieur Georges (Georg) Leiserhoh trank jeden Tag einen Liter Kuhmilch. Auf Anordnung des Arztes. Wegen seiner angegriffenen Lungen. Faustine wusste von seiner Schwindsucht nichts. Sie dachte, er tränke sie nur so … zur Stärkung. Da er merkwürdig gut aussah, frische braune Gesichtsfarbe, gesunde weiße Zähne, große blaue Augen, strähnige braune Haare : der durchschnittliche „hübsche Junge“! Er kam von Gardone, wo er Kur gemacht hatte, im Februar und März – nach gut bestandenem Referendarexamen. Faustine nannte ihn le plus joli garzon de Lausanne. Aber nicht bloß sie: auch Elise dachte so. Sie war in ihn verliebt, nur zeigte sie es nicht. Denn sei war aus dem Pays Vaudois. Und die Waadtländerinnen beißen sich eher die Zunge ab, ehe sie ihre Liebe einem Manne zei­gen, der sie nicht erwidert.

„Monsieur ,,. ich komme eine Nacht ..um fünf Uhr früh in … Ihr Zimmer .. da hört mich  niemand.  .. Und der Herr neben Ihnen ist ausgezogen“ …

„Gut, Faustine, ich werde von jetzt ab … die letzten Tage das Zimmer nicht verriegeln. ..Sie können kommen, wann Sie wollen. „Aber denken Sie daran: Montag fahre ich! “

Er fing sie sich, küsste sie auf den Hals und ging in sein Zim­mer. Wenn sie kam, gut – aber wenn sie zu feige war und Angst hatte vor Monsieur, dass er sie verjage … oder auch nur die Schande, im Zimmer eines Mannes nachts ertappt zu werden. Wenn sie nicht kam: auch gut. Eine Liebelei mehr oder minder, es war ihm egal.

Faustine litt schwer die letzten Nächte vor seiner Abreise. Sie hatte Angst  … und ihre Sehnsucht war so groß, so tierisch sinnlos tief. Aber immer, wenn sie sich früh um 4 in den Kissen aufrichtete, dann seufzte Elise im Bette neben ihr im Schlaf oder Mademoiselle, die nebenan schlief, hüstelte – und sie wagte es nicht. So kam der Tag seiner Abreise – und sie hatte ihn nicht besucht, Er dachte schon kaum mehr an sie, und als er ihr das Trinkgeld in die Hand drückte, sah er sie ganz fremd an, wie jede andere.

„Lassen Sie sichs gutgehen, Faustine .Adieu. Voilä c’est pour vous ! “

Sie musste das Trinkgeld nehmen, weil es sonst Elise gewundert hätte. Aber es glühte in ihrer Hand, und den Abend, als sie Ausgang hatte, warf sie die sechs Franken in den Teich.

Durch Zufall, man sprach bei Tisch davon, hörte sie beim Servie­ren, dass Georg Leiserloh verlobt sei und dass er nach Hause gefahren sei, um die Hochzeit zu bereiten. Die Bratenschüssel schwankte einen Moment in ihrer Hand. Am Abend heulte sie, und heulte so ,dass Mademoiselle von nebenan kam, und ihr Kompressen machen wollte. denn sie hielt Faustine für hysterisch und be­hauptete, die Hysterie könne durch kalte Kompressen geheilt wer­den.

Am nächsten Tage war Faustines Entschluss gefasst. Sie las in der Zeitung, dass in einer Woche in Genf die erste Prüfung für die Karriere der Sages-femmes stattfinden. „Bewerbungen sind ein zureichen.“ Sie schrieb sofort. Dann trat sie vor Madame. „Madame: ich tät für die nächste Woche um einen Tag Urlaub bitten nach Genf.

„Was hätten’s denn, Faustine?“

Sie zupfte an ihrer weißen Schürze.

„Madame .. ich bin schon über dreißig Jahre … und ich möchte doch bald eine feste Stellung haben“ (sie wurde feuerrot, denn sie war ungewohnt im Lügen) .. und da dacht ich, ich möchte ein Examen … und möchte, und weil es eine Kusine doch auch ist .. und sie hat eine gute Stellung … möchte ich .. Hebamme wer­den.“

Madame lachte, dass ihr die Tränen in Bächen in den Falten ihres gutmütigen dicken Gesichtes liefen.

„Mein Gott, Faustine .. wer hat Ihnen diese Idee eingegeben! … aber ich will nichts bereden. Es tut mir nur leid, dass ich Sie verlier .Wann wollen Sie denn den Dienst aufgeben?“ „Den ersten Oktober, dächt ich, Madame.“ Gott sei Dank, die Kündigung war heraus. Es tat ihr ordentlich weh, denn Madame war immer gut mit ihr gewesen.

Faustine fuhr nach Genf, zahlte ihre ganze Ersparnis 300 franc, in die Stadtkasse … für Prüfungsgebühren, und für den einjährigen Lehrkurs für Hebeammen, dem sie sich vom 1. Oktober an unterziehen wollte. Faustine bestand die ersten, die Vorprü­fungen vorzüglich. Man prüfte in Arithmetik und in Französisch, Komposition und mündlich – nur das Wichtigste und um sich zu vergewissern, ob die allernotwendigste Volksschulbildung vorhanden sein. Das Thema der französischen Komposition lautete: Moral, Man ging sehr glimpflich um mit den Examinanden und nach dem Examen reichte man ihnen Tee. Nur vier von 36 hatten nicht bestanden. Faustine war sehr glücklich .Sie hatte die Note 9. 10 war die höchste Note und wurde selten verliehen.

„Vous etes tognee“ sagte Elise beim Abschied lachend zu Faus­tine. Faustine erwiderte nichts. Mit einer Energie, die man ihr auf den ersten Blick nicht zutraute, ergriff sie ihren neuen Beruf. Als sei er ihr ein Heiliges, ein Lebensziel. Sie war eine von denen, die nicht vergessen, wo sie einmal liebten. Nach einem Jahr bestand sie auch die staatliche Hebammenprüfung.

Sie wusste, dass Georg Leiserloh in Zürich zu Hause war. Sie hat­te aus diesem Grunde die Neue Zürcher Zeitung abonniert und ver­schlang sie jeden Abend vorm Schlafengehen, denn mit fanatischer Energie war sie auch daran gegangen, Deutsch zu lernen. Sie woll­te ja nach Zürich in Stellung. Und eines Tages, ein halbes Jahr vor ihrer Hebeammenprüfung, entdeckte sie das Inserat, das sie schon lange suchte: “ Ihre stattgehabte Vermählung beehren sich anzuzeigen, Georg Leiserloh, Lizentiat der Recht und Frau Lilly, geborene Bosshardt. Diesmal weinte sie nicht. Sie faltete die Zeitung sorgfältig zusammen, und legte sie in eine kleine geerbte Mahagonitruhe, wo sich eine Haarlocke ihrer Mutter, ein Tabaksbeu­tel ihres verstorbenen Vaters und ein paar vertrocknete Blumen befanden, Blumen aus ihrem   Heimatgarten, oben auf der mittleren Höhe des Jura.

Nach bestandener Prüfung packte sie ihre paar Siebensachen und reiste nach Zürich. Sie mietete sich in der dunklen Kruggas­se ein – nicht weit von der Wohnung des Lizegtiaten Georg Lei­serloh, der unten mehr am Kai ein Stockwerk eines modernen, verstuckten Mietshauses bewohnte. Er gehörte also nun zu ihrem Re­vier. Und sie wartete.

Und nach einem Vierteljahr, in der Nacht um eins, es war stürmisches Wetter, und der Mond fuhr in silbernen Blitzen, von den Wolken bald verdunkelt, bald freigegeben über den See, läutete es zweimal scharf, angstvoll an ihrer Glocke. Sie wusste sofort, wer da läutete, zog sich zitternd vor Aufregung schnell an und stürzte herunter. Ihr Tag war gekommen.

Unten an der Schelle stand Georg Leiserlob.

„Um Gotteswillen kommen Sie schnell zu meiner Frau“.

Er erkannte sie nicht, Er zerrte sie gepeinigt und die Schreie seiner leidenden Frau gellten ihm noch in den Ohren – an ihrer Bluse. Er stürzte vorauf, sie atemlos hinterdrein. In wenigen Minuten standen sie vor seinem Hause. Oben im zweiten Stock brannte Licht. Der Arzt vom Dienstmädchen geholt, traf mit ihm am Hauseigang zusammen.

Als Faustine vor dem Weibe ihres Geliebten stand – kam ihr eine solche überströmende Liebe auch zu ihr, die ihm das Glück ge­bracht hatte, dass sie ihr die Hand küsste.

„Das werden wir bald haben, gnädige Frau. Das ist gar nicht so arg schlimm. Und es wird ein Buberl“ summte sie leise.

Lilly Leiserloh lächelte ihr zu: „Ja, ein ‚Buberl“ …

Geschickt und mit vorsichtiger Zärtlichkeit waltete Faustine und um zwei Uhr, nach verhältnismäßig kurzer Zeit, trat der junge Leiserloh – und es war ein Buberl – in die Welt, wurde vielmehr getragen von den sanften Händen (von) Faustine und empfing quickend sein erstes Bad.

„Sein Sohn“ lächelte Faustine, „ich habe ihm das Leben gege­ben“ …

Faustine blieb 14 Tage. Die kranke Frau und den urgesunden Knaben zu pflegen. Am dreizehnten Tage, als Georg von der Advoka­tur kam, wo er gearbeitet hatte, und er Faustine in der Küche sah, erkannte er sie wieder.

„Ah – Faustine … dass ich sie aber nicht gleich erkannt habe“.

Er wunderte sich nicht weiter, dass sie etwa Hebamme war, dach­te auch gar nicht an ihre früheren Beziehungen, er hatte sie längst vergessen…

„Was für eine schlechte Gesichtsfarbe der Herr hat“ sagte Faustine zur Köchin.

„Ja“ flüsterte die Köchin, „ich mein, und ich habe mal den Doktor reden gehört mit dem Herr, er hat die Tuberkulose, wie der Doktor sagt und hat die Auszehrung. Der macht nimmer lang. Bei einer so hübschen Frau“.

Faustine ging, den kleinen Leiserloh, der in der Taufe den sonderbaren Namen Athos, noch einem der drei Musketiere Dumas‘ empfangen hatte( das war ein Gedanke der hübschen phan­tastischen Frau Lilly ) – zu baden,

Die Schwindsucht! Wenn er sie hatte und er hatte sie gewiss   – dann machte er nicht mehr lange, -Denn sie hatte so viele ärztliche Kenntnis, um zu wissen, dass die Schwindsucht die Liebesillusionen steigert, indem sie die physischen Kräfte zer­stört; Dasy eine jungen Ehe – mit einer geliebten Frau -also einen Schwindsüchtigen rapide dem Grabe zu treibt.

Konnte sie ihn retten?   Das Herz schlug ihr im Halse„ Da blickte sie auf den kleinen Athos Leiserloh, den sie eben über die dampfende Badewanne hielt: er, er würde leben.

Und Faustine war so gut und geschickt zu dem kleinen Athos, und machte sich so unentbehrlich, dass Lilly Leiserloh sie als Kinderfrau behalten wollte. Es sei doch auch ein großer Vor­teil, dass Faustine auch französisch könne und Athos könne von ihr zugleich deutsch und französisch lernen. – und sie setze es bei ihrem Manne auch durch.

So wechselte Faustine zum zweiten Mal den Beruf.

Zwei Wochen danach musste Georg Leiserloh unverzüglich an die Riviera. Er kehrte nicht zurück. Nach knapp 6 Wochen starb er.

In träumerischen Schmerze fuhr Faustine den kleinen Athos im gelben Korbwagen am Kai entlang. Die Sonne tauchte in den See und blendete die Luft, die sich wie ein Silbernetz um das Massiv des Rütlibertes (?) spannte.

„Er ist tot“ und ihr Schmerz war zu tief, als dass sie weinen konnte – „aber in dir“ und sie beugte sich über Athos, ihm die Kissen zurecht zu schieben, „in dir habe ich ihn mir gerettet“ …