Davos – „das alte Davos“

Der Titel stammt aus einem Brief Klabunds an seine Schwiegereltern in Passau – Fredi schreibt am 30. Dezember 1925:

„… Liebste Eltern, ein gesegnetes neues Jahr wünsche ich Euch! Wie Ihr seht, bin ich mal wieder in dem alten Davos. Es ist das gleiche geblieben, – aber es hat sich auch manches geändert.“

Wikipedia:

„… Die Landschaft Davos in der walserdeutschen Ortsmundart Tafaas auch Tafaa, italienisch Tavate umfasst beinah das gesamte Landwassertal im Schweizer Kanton Graubünden. Die politische Gemeinde mit zahlreichen Siedlungen besteht aus den sechs Fraktionsgemeinden Davos Dorf, Davos Platz, Davos Frauenkirch, Davos Glaris, Davos Monstein und Davos Wiesen der Region Prättigau/Davos. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Davos zu einem bekannten Luftkurort und Wintersportgebiet; die Bevölkerung stieg von 1680 Einwohnern im Jahr 1850 auf über 11’000 im Jahr 1930 an.“

Seine zweite Heimat sei die Gemeinde gewesen, schreiben alle Chronisten. Stimmt das?

Im August 1916 kommt Klabund das erste Mal nach Davos und er kommt aus Crossen – jener Stadt die er auch in seinen Werken als seine (erste) Heimat beschrieb. Aber bedenke ich, was er in Davos bei seinen langen Aufenthalten schrieb, ist Davos künstlerisch sicher zu seiner ersten Heimat geworden.

In der Vorankündigung einer Klabund-Ausstellung 2014 schreibt Walter Labhart:

„… Unter dem Motto „Ich würde sterben, hätt ich nicht das Wort …“ zeigt das Heimatmuseum Davos eine Klabund gewidmete Ausstellung. (…)

1918 schrieb er in Davos Dorf in einer einzigen Nacht „Die kleinen Verse für Irene von Klabund“. Von 1920 bis 1925 entstanden am gleichen Ort die Prosatexte „Das Schreibmaschinenbureau“, „Denkmal im Schnee“, „Schwindsüchtige“, Davoser Elegie“ und die Gedichte „Mond über Davos“ und „Davoser Bar“.

Erste Station in Davos: Das Waldsanatorium des Dr. Jessen, in dem vier Jahre früher Thomas Mann Gast war. Aber nach wenigen Tagen „flog“ Fredi dort wieder raus, er wollte sich den sehr strengen Anordnungen seines Arztes nicht unterordnen. Uns so kam er in die „Pension Stolzenfels“ des Ehepaares Poeschel. Das sechsstöckige, Ende 1913 fertiggestellte Haus stand damals am Ende von Davos-Dorf, am Höhen­weg, dem Promenadenweg zu.

„Stolzenfels“? Am Mittelrhein geboren kam mir eine Erinnerung, es gibt dort eine Burg des gleichen Namens und Wikipedia schreibt darüber:

„… Schloss Stolzenfels ist ein Schloss im Mittelrheintal in Koblenz. Es thront auf der linken Seite des Rheins über dem Stadtteil Stolzenfels, für den es namensgebend war, gegenüber der Lahnmündung. Die erst Anfang des 19. Jahrhunderts vom preußischen Kronprinzen zum Schloss ausgebaute Anlage geht auf eine kurtrierische Zollburg aus dem 13. Jahrhundert zurück, die 1689 zerstört wurde. Das neugotische Schloss ist das herausragendste Werk der Rheinromantik.“

Und tatsächlich ist die Burg Namensgeber der Pension, las ich. Wie die Poeschels darauf gekommen sind – keine Ahnung, zumal Erwin Poeschel aus Kemp­ten im Allgäu stammte.

Schwindsüchtige

Sie müssen ruh’n und ruh’n und wieder ruh’n,
Teils auf den patentierten Liegestühlen
Sieht man in Wolle sie und Wut sich wühlen,
Teils haben sie im Bette Kur zu tun.
Nur mittags hocken krötig sie bei Tisch
Und Behlingen Speisen, fett und süß und zahlreich.
Auf einmal klingt ein Frauenlachen, ojaalreich,
Wie eine Aeolsharfe zauberisch.

Vielleicht, daß einer dann zum Gehn sich wendet
– Er ist am nächsten Morgen nicht mehr da
-Und seine Stumpfheit mit dem Browning endet …
Ein andrer macht sich dick und rund und rot.
Die Ärzte wiehern stolz: Halleluja!
Er ward gesund (und ward ein Halbidiot…).“

 Paul Raabe schreibt über Davos in seinem Buch „Klabund in Davos“:

„… Vor hundert Jahren hatte sich Davos, im Hochtal der Nordrhätischen Alpen in Graubünden gelegen, zu einem berühmten Schweizer Kurort, dem bekanntesten Luftkurort Europas, entwickelt. (…) Mit der Fertigstellung der Rhätischen Bahn, die das entlegene Davos über Landquart mit Chur und so mit dem Unterland verband, war aus dem ärmlichen Bergdorf nach und nach ein blühendes Städtchen geworden. Dank seines milden und sonnigen Höhenklimas suchten hier Lungen­kranke Heilung oder Linderung ihres Leidens, das damals noch schwer zu bekämpfen war. (…)

Davos ist durch Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ in die Literaturgeschichte eingegangen. Thomas Mann hatte 1912 drei Wochen seiner Frau Katja Gesellschaft geleistet, die im Waldsanatorium von dem Lungenarzt Dr. Jessen behandelt wurde. (…)

Unter den vielen anderen deutschen Autoren war jener, dem dieses Buch gewidmet ist und dem Davos zum Schicksal wurde in einer Zeit, als es noch keine Medikamente gab, die die Lungentu­berkulose eindämmen konnten. Dieser Schriftsteller war Klabund.“

Und über diesen Schriftsteller, der durch seine Krankheit angeblich zu einem „Schnell- und Vielschreiber wurde, schreibt Paul Raabe:

„… Stän­dig bedroht von der Krankheit, wurde Klabund von einer unbändi­gen Leidenschaft zum Schreiben erfasst, so dass er fortan Jahr für Jahr Bücher veröffentlichte: Verse, Grotesken, Romane, Erzählun­gen, Nachdichtungen. Die Muße der langen Liegekuren wurde zum Antrieb einer literarischen Produktion, der oft allerdings die letzte Ausgefeiltheit fehlte, was die Kritik nicht zu Unrecht bemän­gelte.“

Der Auffassung Paul Raabes will ich widersprechen, zumal sie auch in anderen Biographien auftaucht. Sicher hat diese Krankheit sein Leben stark geprägt, aber Klabund mit dieser unbändigen Neugier hätte sicher wesentlich mehr geschrieben, wenn er nicht immer wieder von ihr „ausgebremst“ worden wäre.

„Unterstützung“ bekomme ich von Matthias Wegner, der schreibt:

„… Das Ziel seines Lebens, in den Olymp der Dichter und Denker zu gelangen, hatte er schon früh bestimmt. Der Drang zu formulieren, zu erzählen und zu phantasieren, war so unstillbar wie der seiner Frau zur Schauspielerei. Über alle Gefährdungen und Enttäuschungen hinweg hatte ihm stets sein geradezu fanatischer Wunsch hinweggehol­fen, die Realität nur im Spiegel der Poesie zur Kenntnis zu nehmen. Diese Brechung seines Wahrnehmungsvermögens durch die Flucht in den Traum, die Begierde nach Schön­heit, Phantasie und kunstvoller Form, hatte ihm geholfen, die Krankheit über viele Jahre hinweg in Schach zu halten. Es fällt schwer, im ganzen Umfang zu ermessen, wie radikal die Flucht vor der Krankheit das Weltbild und die Dichtung Klabunds beeinflusst hat. Fest steht nur, dass er sich den Be­ruf längst vor Beginn und der Erkenntnis der tödlichen Ge­fahr gewählt hatte. Schon der Knabe, dem die Schule in al­len Fächern so leicht gefallen war, hatte zielstrebig die er­sten, tastenden Schritte in Richtung auf die Literatur unter­nommen.“

Siehe oben, „er wollte sich den sehr strengen Anordnungen seines Arztes nicht unterordnen“ heißt dann, Krankheit hin oder her, sie bestimmte eben nicht den Ablauf seiner Aufenthalte in Davos und seines „Lebens „in der Ebene“ und Klabund betonte dies immer wieder. Sich nicht unterkriegen zu lassen, bedeutet aber auch, man soll die Feste feiern, wie sie fallen und Fredi hat viele Feste gefeiert. Wäre dies nicht möglich gewesen in der „Einsamkeit“ des Dr. Jessen – das Klabundsche Werk wäre sicher ganz anders ausgefallen.

An Walter Heinrich schreibt er 1916:

„… Der Fasching ist vorüber. Hier haben wir ihn gefeiert; ich habe rasend getanzt. Ach, man sah wieder rote und gelbe und violette Pierretten und hielt sie in seinen Armen. Es gab wieder spaßhaft ernste Faschingsabenteuer mit Tränen und Gelächter.“

Programmgestalter Klabund und sein Umgang mit der Krankheit. In der Ankündigung der „Festivitäten“ heißt es:

„… Davos-Dorf, am 1ten März 1916.

Das diesjährige Stolzenfelser Faschingsfest findet am Sonn­tag den 5ten März ab 7 Uhr Abends statt. Es wird dringend ersucht, bereits zum Abendessen im Kostüm zu erscheinen. Nur Damen und Herren, bei denen Tuberkeln nachgewiesen sind, haben Zutritt. Der Infektion sind keine Schranken gesetzt. Schiit­telverbot! Es herrscht ein rauher, aber herzlicher Ton. Nu jrade!

i.A.   Klabuntata Klabore“

Als Programm ist folgendes geplant:

„… Bazillenwalzer Allgemeiner Rippenresektionsgesang (Chor.) Auftreten des Prestidigitateurs „Henri bleu“ sowie der verschiedensten Rasselgeräusche. (Liege) Sackhüpfen. (I. Preis: ein Thermometer) Elegabal Nachtschweiss, der Künstler am Trapez Das Tangofieber im Fiebertango Solisten: Fräulein Pneumo, Herr Thorax Temperaturenpolka

Eintritt: 5 Bazillen.                                                                      Eintritt: 5 Bazillen!

Ein weiteres „Fest“ folgt, der Regisseur ist der gleiche:

„… Schon schmilzt der Schnee. Schon blühen (in Gedanken) die weißen Anemonen, die zärtlichen Veilchen. Der sogenannte Frühling naht! Bald zwitschert es aus Millionen Frauen- und Vogelkehlen nach der allbekannten Melodie von Eugen Hildach: Der Lenz, der Lenz ist da! Angesichts dieser bevorstehenden Tatsache, die sich nicht länger verheimlichen lässt, laden die weiblichen Insassen der (Familien-)Pension „Stolzenfels“, will sagen: die Stolzenfelser Nymphen und Dryaden, ihre männlichen Tischgenossen, will sagen: die Stolzenfelser Faune und jungen Götter auf Sonntag den 19ten dieses zum althergebrachten und sagenhaften

Fest der Schneeschmelze

geziemend und errötend ein. Für kulante Bedienung von zarter Hand und dementsprechende Getränke ist eifrig Sorge getragen. Man munkelt von!! Punsch!! die griechische Kapelle „Grammo­phon“ wird ihre heiteren Weisen erschallen lassen.

Exsudatum est: das Komitee“

Die Quittung folgt: „Ich bin wieder ein wenig elend. Alle paar Tage krieche ich mal ins Bett. Da sind aber auch die … Frauenzimmer dran schuld.“

An anderer Stelle hat er schon früher über seine Krankheit geschrieben:

„… Die Krankheit ist ein besonderes Kapitel. Ich führe in meinem Leben doppelte Buchrechnung. Auf der einen Seite nimmt zwar die Krankheit erheblichen Raum ein; aber sie ist nur notiert, zur Kenntnis genommen. Der Teufel soll mich frikassieren, wenn sie Einfluss auf die andere Seite, auf mein wirkliches Leben gewinnen sollte … Ich möchte doch noch leben, eine Weile wenigstens noch“

Nach der Saison ist erst mal Schluss mit Davos und Stolzenfels, unter anderem, weil mal wieder das Geld ausgeht. Mit einem Anschlag verabschiedet er sich, am schwarzen Brett ist zu lesen:

Achtung!                                         Obacht!                                         Attention!

Infolge plötzlichen Kurssturzes und durch den Krieg verursach­ter Verhältnisse ist unser, in Stolzenfels wohnhafter, verehrter Mitbürger, Herr Schriftsteller

Klabund 

in große unverdiente Not und Nahrungssorge geraten. Er sieht sich deshalb genötigt, seinen letzten materiellen Besitz (bis auf das Hemd – welches er gegen entsprechendes Ehrenhonorar abzulegen ebenfalls bereit ist) zu veräußern. Er bittet, Interessen­ten, Mäzene und Kunstverständige: sich mit ihm in geneigte Verbindung zu setzen. Es kosten beispielsweise: Ein alter Hut 3,-frcs, Ein abgelegter Kneifer (ohne Glas) 1,75 frcs, Eine Grammo­phonplatte (nicht mehr spielbar) 2,30, Eine Photographie 4.- fr (mit Autogramm 10.-) Autogramme jeder Art und Größe, schon von 1,50 bis zu den teuersten Preisen. Gefälliger Unterstützung sieht entgegen, gramgebeugt,

der Unterzeichnete Zimmer 4.

Ende März 1916, reiste Klabund ab. Die „Davoser Blätter“ druckten am 25. März 1916 fünf Gedichte Klabunds ab, etwas Kleingeld hat es also sicher gegeben. Aus Zürich gehen am 1. April zwei Briefe an die Poeschels und die „Davoser Verse:

„… Sehr verehrter Herr Poeschel,

Grüßen Sie um Gottes willen niemand in der Pension von mir. Empfehlen Sie mich sehr Ihrer Frau Gemahlin. Und nehmen Sie das Manu­skript beifolgender Verse zum Andenken an Ihren ergebenen Klabund.“

Davoser Verse

1.

Ich bin in einer winterlichen Frühe
Auf dem bezaubernden Balkon erwacht.
Im Morgenschlaf dehnt sich die weiße Mühe,
Umnebelt noch vom Schleiergeist der Nacht.

Ein Schlitten klingelt vor verhangnen Fenstern;
Und eine Wolke schwebt und ist ersehnt.
Es werden ferne Glocken von Gespenstern
Geläutet, deren Sichel mondwärts lehnt.

Bin ich der Ewige, der ich gewesen?
Die Sonne bricht aus meinem Mund mit Schrei,
Und vor der Pforte schwingt ein Stern den Besen
Und macht den Weg für meine Schritte frei.

2.

Ich bin von Menschen so verlassen, daß
Zwei milde Mäuse nun mein Spielzeug sind,
Aus grauem Stoff ersonnen, und von Glas
die schwarzen Augen, funkelnd aber blind.
In sich beschränkt ist rings die Welt so tot
Wie diese Mäuse sind: des Unseins Raub,
Aus grauem Stoff verfertigt, blind und taub,
Erkennet eines nicht des andern Not.
Verstehet eines nicht des andern Wort;
Fühlt eines nicht des andern Herzens Schlag.
Und also ist ein jegliches verdorrt;
Und alles ist nur eines: Nacht und Tag.

3.

0 ich liege weit
Außer Raum und Zeit
In der Sonne lieg ich still und weiß.
Schnee bekränzt mich licht.
Himmel mein Gedicht;
Und die Wälder läuten laut und leis.
Aus der Tiefe steigt Blond ein Haupt und neigt
Seiner Locken liebliches Gespenst. Seele, du der Schnee, Seele, du der See,
Seele, Seele, Sonne, – wie du brennst!

Die „Davoser Erzählung“ erscheinen im gleichen Monat in der „Neuen Züricher Zeitung und Fredi schreibt an Erwin Poeschel:

„…Die Davoser Erzählung wird nun, freilich ohne Ortsangabe, um niemanden zu kränken und niemandem zu schmeicheln, in der Neuen Zürcher Zeitung erscheinen. Vor eineinhalb Monaten aber kaum. Ich bin über Davos intuitiv „auf dem laufenden“. Teils lässt man sich die Haare färben, teils schreibt man sonderbare und überflüssige Briefe. Man beschuldigt sich gegenseitig des Betruges, der Hochstapelei und der Vergewaltigung. Es wirkt alles lächerlich. Aber das Lächerliche erschüttert. Das hat schon Cervantes, der wie der Osterhase ebenfalls Zeitgemäße, gewusst. Um meinen Kredit in Davos wieder zu heben, der durch meine Lustfahrt nach Lugano schwer gelitten hat, sende ich Ihnen inliegend die zehn Frank Desinfektionsgebühr und bitte um Mitteilung weiterer Schulden. Empfehlungen an Ihre verehrte Frau Gemahlin.“

Und damit wissen wir, während seines ersten Aufenthaltes in Davos schrieb Klabund im Februar und März 1916, „auf dem Liegestuhl sitzend“ „Die Krankheit“. Paul Raabe:

„… In Sylvester und Sybil, den Hauptfiguren der Erzählung, erkennt man unschwer den Dichter und jene Freundin wieder, in Pneumo und Thorax Frieda und Erwin Poeschel, in Profes­sor Ronken den Chef des Waldsanatoriums, Dr. Jessen, Thomas Manns Geheimrat Behrens im „Zauberberg“, in Alfons Hein den heute längst vergessenen Schriftsteller Paul Apel. Klabund schrieb keinen „Zauberberg“, sondern eine realistische, humoristische und zugleich todtraurige Geschichte, in der er das Leben in Davos auf eine treffende und zugleich sehr direkte Weise schilderte und sicherlich bei manchen Mitpatienten Verärgerung hervorgerufen haben wird.“

Der zweite Davoser Aufenthalt 1916/17

Paul Raabe überschreibt diesen Aufenthalt mit: „Irene – Liebe und Tod“ und weiter: „Im Sommer 1916 erschien Klabunds Roman „Moreau“.

Die „Davoser Blätter“ berichteten am 26. August darüber, „zustimmend und ablehnend zugleich“, so Raabe.

„… Was heute als „Roman eines Soldaten“ vorliegt, ist ein Ding mit falscher Flagge. Was Klabund wesentlich wurde, waren lose gereihte, wirkungsvolle Bilder und Szenen; dazwischen rollt die Handlung mit Kinoschnelligkeit, und eine flammende Aufschrift und drei Zeilen Text stellen die Verbindung her. Dennoch ist dieser „Roman“ mehr als ein Libretto zu einem Kinofilm (was auch an sich schon etwas Gutes sein könnte). Er ist erfüllt von einem wundersamen Lyrismus der Sprache, einer im Sinne und Geiste Flauberts gesteigerten Situationskunst, einem toll und frisch jagenden, balladenhaften Erzählertalent. Aber nicht einem Er­zählen in geduldiger epischer Breite, sondern in flackernden, ab­gerissenen, heftigen Worten, die nur manchmal eine prachtvoll ausgebreitete Landschaft, das Ergreifende eines Zusammentref­fens einhalten lässt, um alsdann ein paar Seitenlängen bei der Ge­staltung solchen Affekts zu verweilen… Die Sensation, die so Vieles in Klabunds Werken verdirbt, macht auch dieses reifere, in Partien wunderbare Buch in Partien für ernsthafte Leser schwer genießbar.“

Und weiter:

„… Für Klabunds zeitraffenden Stil hatte der Davoser Rezensent keinen Sinn. Positiver dagegen hatte Erwin Poeschel das Buch in der Frankfurter Zeitung besprochen.“

Für diese Besprechung bedankt sich Klabund:

„… Sehr verehrter Herr Poeschel,

Sehr überrascht und erfreut hat mich Ihre Bespre­chung des Moreau in der Frankfurter Zeitung, für die ich Ihnen dankbar die Hand drücke. Sie ist von einer menschlichen Wärme, die mich beglückt, und die mir zeigt, dass ich Ihnen in den paar Wochen, die ich im Winter in Ihrem Hause verlebte, als Mensch und Dichter etwas sein durfte. Darüber bin ich sehr froh. Ich hoffe, bald mit Ihnen über meine neuen Pläne sprechen zu können: ich bin beladen und fast erdrückt von ihnen. Im Herbst sollen 4-5 neue Bücher erscheinen: bei Reiß, in der Insel und in einem Münchner Verlag. Die Davoser Erzählung wird mich hoffentlich in Davos nicht unmöglich machen: die Beziehungen zwischen Stoff und Dichtung werden einem laienhaften und noch dazu hysterischen Publikum wie dem Davoser nicht leicht klar wer­den. Man wird beides verwechseln. Nun: ich sehe den Davoser Folgen gefasst entgegen.

Empfehlen Sie mich bitte Ihrer verehrten Frau Gemahlin und seien Sie herzlich begrüßt von Ihrem ergebenen Klabund.“

August 1916 bis April 1917 verbringt Klabund acht Monate oben in Davos – an Walter Heinrich schreibt er „Fünf Wochen bin ich nun schon wieder in dieser abenteuerlichen Einöde und fühle mich unendlich wohl“ und dazu hatte er allen Grund, denn er lernte Irene Heberle kennen, Und auch Paul Raabe übernimmt den Einfluss, den die 20 jährige auf Klabund gehabt haben soll und durch den er zum Kriegsgegner wurde, er schreibt:

„…Er erlebte in der Begegnung mit ihr eine innere Wandlung: Aus dem kriegsbegeisterten Klabund wurde ein radikaler Pazifist. Er legte seiner Freundin den Vorna­men Irene, d. h. Friede, zu, und unter dem Eindruck ihrer Gegen­wart entstanden nicht nur die kleinen Romane „Franziskus“ und „Mohammed“, sondern ein Gesang in 43 Gedichten „Irene oder die Gesinnung“, eine lyrische Selbstkritik, die aus dem Gesamtwerk Klabunds herausfällt.“

Frühjahr 1917, Klabund verlässt Davos. An seinen Freund Fredy Kaufmann gehen die Zeilen:

„… Ich fahre demnächst nach Locarno. Mit einem sehr, sehr schönen blonden Geschöpf. Ich schicke Dir ein Bild. Seit Jahren war ich nicht so hin. Irene – ist ihr Werk“

Und Erwin Poeschel geht dieser Brief:

„… 6. V. 1917.

Lieber Herr Poeschel,

Ich habe die erste Zeit in Locarno, wie immer nach einem Ortswechsel (damals hatte ich auch die Schlafkrankheit noch nicht: jetzt bin ich überhaupt nur eine halbe Stunde des Tages wach), allerlei gearbeitet: ich habe den in Davos schon projektierten Mohammed beendet, der nun sofort, in Stil und Ausstattung genau wie der Moreau, erscheinen soll. Im Juni wahrscheinlich schon. Die Korrekturen sind bereits gelesen. Ich sende Ihnen in den nächsten Tagen ein Exemplar der zweiten Korrektur: ich werde mich freuen, Ihre Meinung zu hören. (Nur bitte ich Sie, es nicht weiter zu geben als an Ihre Frau Gemahlin, Frl. Meinhardt, und höch­stens Modrow – den ich bestens zu grüßen bitte.) – Wir leben hier ganz sommerlich und ländlich. Wenn wir nicht schlafen, so segeln oder angeln wir. Das Angeln ist eine unerhörte Beschäftigung: weil es hier gratis gestattet wird, nehme ich an, dass es überhaupt keine Fische im Lago Maggiore gibt. Ich habe jedenfalls noch keinen gesehn. (Schwanting hat eine Kaulquappe gefangen. Er ist sehr stolz darauf und hat uns alle auf sein Gut eingeladen „zum Angeln“ … Wenn nur dieses Gut nicht auch so eine Fata Morgana ist, wie die Fische im Lago…)

Mit den ergebensten Grüßen, auch an Ihre verehrte Frau Gemahlin der Ihre Klabund.“

Klabund und Brunhilde Heberle heirateten am 8. August 1918 in Locarno, den „Rest“ dieser Geschichte habe ich schon erzählt, Nach einer Frühgeburt stirbt Irene und sie hat „ihre Tochter zu sich geholt“, schreibt Fredi, das Davoser Glück währte nur kurz.

Auch schon erzählt, nach dem Tode der Tochter bleibt Klabund oben in Monti, denn hier schrieb er bereits am 3. Juni 1917 seine offenen Briefe an Kaiser Wilhelm II., an den amerikanischen Präsidenten Wilson aber auch die Bußpredigt, eine „Anklage und Aufruf, Er erlebte in der Begegnung mit ihr eine innere Wandlung: Aus dem kriegsbegeisterten Klabund wurde ein radikaler Pazifist“, schreibt Paul Raabe.

Im Frühjahr 1919 kehrt Fredi nach Berlin zurück und seine bestimmt produktivste Phase beginnt. Hilfreich die vielen Kabaretts und Theater in der Stadt und natürlich ein großer Freundes- und Bekanntenkreis und seine unterdessen gewachsene Popularität.

Davos war damals weit entfernt, aber Paul Raabe schreibt: „Vier Briefe hat Erwin Poeschel aus diesen Jahren aufbewahrt, aus denen man erfährt, dass er aus alter Anhänglichkeit neben der „Crossener Zeitung“ auch die „Davoser Blätter“ las und sich dem Ort seiner Not und seines Glücks verbunden fühlte. Im letzten undatierten Brief kündigte er dann seine bevorstehende Ankunft im November 1923 an.

„Sehr geehrter Herr Poeschel,

mit der größten Teilnahme habe ich von dem Unglück gele­sen, das Davos betroffen hat. Bitte, unterrichten Sie mich doch, ob Sie und Stolzenfels wohlauf sind. In den sehr spärlichen Berichten der deutschen Blätter war vom Bergsanatorium und vom Sanato­rium Davos-Dorf die Rede. So hoffe ich herzlich, dass der Kelch an Stolzenfels vorbeigegangen ist. Ich fühle mich ja immer noch mit Davos verbunden: ich lese zwei Lokalblätter: die Crossener Zei­tung und die Davoser Blätter.

Wenn ich von mir kurz berichten darf: ich bin für ein Jahr in den Reinhardkonzern als eine Art Mittelding zwischen Drama­turg und Varietedirektor getreten. Gottseidank: ohne die Verpflichtung übernommen zu haben, in dem Hexenkessel Berlin zu bleiben. Wenn die verfl… Valuta nicht wäre, wäre ich längst wieder in der Schweiz. Die Amerikanisierung Berlins macht erhebliche Fortschritte. Geist gilt im allgemeinen so viel wie er sich in Geldwerten ausdrücken lässt. Man kauft Ideen oder die paar Menschen, die welche haben. Sie werden sich schwerlich eine Vorstellung machen, was für glänzend dotierte Posten in den verschiedensten „Branchen“ mir schon angeboten worden sind. Würde ich in Berlin mich festlegen wollen, könnte ich jeden Tag eine Stelle mit 40000 bis 50000 Mark im Jahr „beziehen“.

Mein lyrisches Hauptwerk „Dreiklang“ erscheint dem­nächst. Ich lasse es Ihnen schicken.

Seien Sie bestens gegrüßt von Ihrem ergebenen Klabund

Der zweite Brief:

„…20. 6. 20. Passau, Ludwigspl. 1

Lieber Herr Poeschel, ich wollte Ihnen schon längst mal wieder guten Tag sagen und mich erkundigen, wie es Ihnen und Ihrer Gattin geht. Hoffentlich gut. Ich denke mir, dass Sie Ihr Leben von Griechen, Türken und Polynesiern fristen werden, denn Deutsche kann es doch in Davos kaum noch geben: wer hat bei der Valuta die Möglichkeit? (…)

Ich bin seit einigen Monaten wieder ein wenig aufgewacht. (…) Ich arbeite viel. Der „Dreiklang“, mein principiellstes Gedichtbuch erscheint. Ich sitze über Heiligenlegenden. Von meiner Literaturgeschichte, die Korrodi so unnobel behandelt hat, erscheint, überarbeitet, das 10. bis 20. Tausend. (…)

Ich hab große Sehnsucht nach dem Hochgebirge. Ich hätts nötig. Ich werde wohl nach Mittenwald gehen. Schönsten Gruß und Empfehlung. Ihr Klabund.

Wieder in Berlin:

„… 21/3/22. Berlin S.W. Halleschestr. 21/1 r Lieber Herr Poeschel, ich freute mich von Ihnen zu hören. Ihre Frage nach meinem vorjährigen Anfall kommt grade zu meinem diesjährigen zurecht: ich liege mal wieder seit einigen Wochen mit Temperatur (über 39), aber jetzt scheint es ja langsam zurückzugehen. (…)

Ich bin seit einiger Zeit sehr arbeitsunlustig. Ich hatte aus Geldgründen eine Kuliarbeit übernehmen müssen, und die hat mich so angeekelt, dass ich mir auch den Appetit auf meine eigene Arbeit für einige Zeit verdorben habe. Es ist dieser Tage im Rolandverlag eine Zeitsatire „Kunterbuntergang des Abendlan­des“ erschienen. Im Frühling erscheint (bei Reiss) ein neuer Gedichtband: hauptsächlich Balladen und Mythen enthaltend. -Ich freute mich, von Modrow zu hören. Sagen Sie ihm doch einen herzlichen Gruß von mir. Ich denke überhaupt oft an Davos. Oft bin ich in Gedanken nachts im Mondschein im Schlitten nach Clavadel gefahren. Das winterliche Davos nachts im Mondschein: das ist das eindrucksvollste Bild, das ich von der Davoser Land­schaft mitgenommen habe. Ich liebe den Mond ja so sehr, gegen die heiße Mittagssonne habe ich immer eine gewisse Antipathie gehabt. Sonst sind es vor allem die Davoser Menschen, die sich mir eingeprägt haben: Sie, Ihre Gattin, Modrow voran. Seien Sie und Ihre Gattin herzlich gegrüßt von Ihrem Klabund.“

„… Berlin S.W. (Oktober 1923)

Lieber Herr Poeschel,

in etwa 14 Tagen bin ich oben in Davos und werde mich freuen, Sie und Ihre Gattin wieder zu sehen. Leider wird es mir wohl nicht möglich sein, bei Ihnen zu wohnen, so gerne ichs täte, aber ich bin ein armseliger Proletarier geworden, wie wir Deutschen alle bis auf einen geringen Prozentsatz, über 8, 9 frcs kann ich nicht hinausgehn, und auch das nur kurze Zeit. Ich komme ja hauptsächlich wegen meines Kehlkopfes, ich will Dr. Rüedi konsultieren, auf den ich baue. Auf jeden Fall aber hoffe ich, dass wir öfter mal zusammen sind. – Hier rast die Lawine immer schneller zu Tal, je mehr sie sich der Tiefe nähert, desto rasender geht es, und desto mehr reißt sie mit sich. Ein Schweizer Frank kostet schon eine Milliarde! Die Einkünfte sind lächerlich gering: 3-5 Schweizer Franken die Woche!! Auch mir geht’s natürlich nicht anders. Ich erhielt von der Frankfurter Zeitung für einen Romanabdruck 50 (fünfzig) Franken! (Früher das gleiche für einen Artikel!) Die Preise in den Geschäften sind Gold, die Löhne Papier – das (todmüde) Volk hungert und friert und lässt sich alles nur gefallen, weil es eben so todmüde ist. Armes Deutschland. Nun muss es leiden, so zertreten, ausgeplündert, im Sterben, wie es liegt. –

Herzlichen Gruß, auch an Ihre Frau Gemahlin, Ihr Klabund.

„Davos… ist optisch und psychisch ein unvergess­licher Eindruck“ schreibt Klabund und diese Eindrücke sind in seinen Texten zu finden.

Wieder in Davos – Winter 1923/24

Am 13. November 1923 schrieb er eine Postkarte an Hermann Hesse:

Davos-Dorf, Stolzenfels Lieber Herr Hesse, ich bin seit einigen Tagen in der Schweiz, komme auch in den Tessin, hoffe, Sie zu sehen. Es sieht böse, chaotisch, anarchisch in Deutschland aus. Hunger, Verzweiflung, Misstrauen gegen Gott, die Welt, sich selbst. Hier ist noch Leben, Da-sein, Wahrhaftigkeit. Drüben ist alles irreal, phantastisch, wie in mittelalterlichen Höllenbildern. Herzlichen Gruß, auch an Ball und Emmy Hennings, Ihr ergebener Klabund.“

Anders als erwartet, kommt er doch bei den Poeschels unter und Guido von Kaulla schreibt über die anstehende Operation:

„… Der Operation sieht Klabund mit Skepsis entgegen.. .Es gelingt aber Dr. Rüedi, durch recht schwierig zu vollziehende Eingriffe — dreimaliges Ausglü­hen: am 12.11. am 3. und 29.12. – die Geschwüre zur endgültigen Vernarbung zu bringen und dem Patienten seine gute laute Stimme wiederzugeben, wenn auch ein Heiserwerden bis zum Flüstern nach Anstrengungen unvermeidlich ist. Diese frappant gute Dauerheilung – trotz ausgiebiger Inanspruchnahme der stimmlichen Funktion – spricht (so Dr. Rüedi zum Biographen) wiederum für die große Heilungstendenz von Klabunds geschlos­sener Tuberkulose.“

Es geht im wieder besser und sein unverwüstlicher Witz zeigt sich in zwei Gedichten, die er „Familie Poeschel auf den Weihnachtstisch gelegt und gewidmet von Klabauzke, privilegiertem Dichter“ schreibt.

Bürgerliches Weihnachtsidyll

Was bringt der Weihnachtsmann Emilien?
Ein‘ Strauß von Rosmarin und Lilien.
Sie geht so fleißig auf den Strich.
O Tochter Zions, freue dich!
Doch sieh, was wird sie blau wie Flieder?
Vom Himmel hoch da komm ich nieder.
Die Mutter wandelt wie im Traum.
O Tannebaum! O Tannebaum!
O Kind, was hast du da gemacht?
Stille Nacht, heilige Nacht.
Leis hat sie ihr ins Ohr gesungen:
Mama, es ist ein Reis entsprungen.
Papa haut ihr die Fresse breit.
O du selige Weihnachtszeit!

Davos am 21. Dezember 1923 und einen Tag später:

Trauercarmen in memoriam
unserer so plötzlich in Gott
eingegangenen Katze, gewidmet
der untröstlichen Herrin Elfriede Poeschel

Unsere alte Katze ist verschieden,
War so sanft und gut.
Ach, sie war des Hauses Trost und Frieden,
Und nun liegt sie da in ihrem Blut.
In Gestalt des Liftes kam geschlichen
Lautlos, tückisch, flink: der Tod,
Bis sie unter seiner Eisenfaust verblichen,
Und das ganze Treppenhaus war rot.
Nimmer wirst du mehr im Schoß der Herrin schnurren, schnarren,
Und der Herr, er krault dich nicht von Zeit zu Zeit.
Unterm Schnee wird man dir eine Grabstatt scharren,
Nur zwei Schuhe breit.
Aber einst wird die Posaun ertönen,
Wenn der Katzengott zur Auferstehung bläst,
Und du wandelst dann mit vielen schönen
Katern zum erkornen Fest.
Wie behaglich wirst du in des Himmels Bett dich schmiegen!
Mäuse gibt es ohne Zahl und keinen Hund.
Jeden Tag wirst dutein anderes Junges kriegen:
Weiß und schwarz und scheckig oder bunt.
Aber unsre Tränen tropfen und wir raufen
Uns die Haare sonder Ruh.
Zwar man könnte eine andre Katze kaufen,
Aber das wärst doch nicht du.
Was auch Darwin oder Haeckel sage:
Eine Seele hattest du gewiß.
Und so rinnt denn unsere Totenklage
In die Uferlose, in die Finsternis.

Unter den Gästen an diesem Weihnachten befinden sich der deutsche Schriftsteller Jakob Wassermann (geboren am 10. März 1873 in Fürth, gestorben am 1. Januar in Althausee) mit seiner Frau Martha Karlweis einer der produktivsten und populärsten Erzählern seiner Zeit und der Berliner Vortragskünstler Ludwig Hardt Geboren am 16. Januar 1886 Neustadt-Gödens (Ostfriesland, gestorben am 17. März 1947 in New York).

Und auch diesen Mitpatienten widmet er eine Kostprobe seines Humors:

Seemanns Los

Von allen Menschen so lebensfroh
Keiner dem graus’gen Tod entfloh.
Dort unten auf dem Meeresgrund
Schlummern sie friedlich mit bleichem Mund.

Als einzig geretteten spülte an Land
Die Woge den Zahlmeisteraspirant.
Doch sollte er sich seiner Rettung nicht freun,
Er fiel in die Claun einem westindischen Leun.
Was war er so auf das Weltmeer erpicht?
Trink einen Bittern und weine nicht.
Hätt er wie sonst auf dem Podium gesessen,
Hätt ihn der Löwe nicht gefressen.

Herrn Zahlmeisteraspiranten Hardt in Ehrfurcht gewidmet von Klabautzke, Poesie für alle Lebenslagen, diskret – reell – koulant.

Am 11.11. beginnt die „fünfte Jahreszeit“ und die wurde auch in diesem Winter kräftig gefeiert – „Mit Spott und Scherz sorgte – wie schon vor Jahren – Klabund für „High life“, montierte Plakate, schrieb Verse, inszenierte Auftritte und flirtete und tanzte und sang und trank. Die Zwanziger Jahre in Davos!“ (Paul Raabe)

Liegekuren, wandern und Wintersport und Klabund arbeitet, an Hilde Jung nach Monti schreibt er am 9. März 1924:

„Liebe Frau Hilde, ich freute mich sehr, von Ihnen zu hören: leider, ja anlässlich einer an sich gar nicht erfreulichen Gelegenheit: Sie sind krank! Hoffentlich sind Sie, wenn dieser Brief Sie erreicht, schon wieder gesund, das wünsch ich von Herzen. Ich selber war schwer krank, hatte die Stimme ganz verloren, bin 3 mal im Kehlkopf operiert worden, aber jetzt geht‘s schon wieder recht gut, vor allem kann ich wieder sprechen. Ich bekam im letzten Jahr die Kehlkopf Tbc – sonderbarerweise gerade die gleiche Form und an den gleichen Stellen wie weiland meine Frau. – Ich denke oft an sie und auch an Sie. Es war eine schöne Zeit. Vielleicht gehe ich in 3 Wochen in den Tessin, ob allerdings nach Locarno, weiß ich nicht. Es ist zu viel schmerzlicher Erinnerungen. Wie schade, dass Sie nicht die Villa Neugebauer haben, ich käme sofort zu Ihnen. Sie wären dann doch auch da. – Hesse ist z. Z. in Basel, Hotel Krafft, am Rhein. Er hat mich hier besucht.

Jene Nacht im Hospiz Santa Maria ist mir einmal im Traum erschienen. Es war sehr sonderbar und sehr schön. .—‘

Alles, alles Gute, hoffentlich begegnen wir uns noch einmal im Leben. Ihr Klabund“

Daneben schließt Klabund eine ganze Reihe an Bekanntschaften und Freundschaften, Paul Raabe schreibt:

„… Im Übrigen gab es ein reges geselliges Leben in Davos, an dem Klabund teilnahm. In der Villa Helvetia verkehrte er in literarisch und künstlerisch interessierten Kreisen. Mit dem Maler Philipp Bauknecht und dem Bildhauer Philipp Modrow schloss er engere Freundschaft. Auch unter den Davoser Zugereisten und Einheimi­schen hatte er viele Bekannte, so Martin Platzer, den Redakteur der „Davoser Blätter“, oder den aus Russland stammenden Journalisten Jules Ferdmann, den auch die Lungenkrankheit in Davos eine neue Heimat hatte finden lassen. Die beliebte Pianistin Klara Zappler organisierte das musikalische Leben. Der Theatersaal des Kurhauses bot Raum für Konzerte, Rezitationen, Lesungen und Theateraufführungen. Hier lasen Jakob Wassermann und Her­mann Hesse, Ludwig Hardt und viele andere, auch natürlich Klabund.“

Nach 1918 bezieht Carlo Graf Seilern mit seiner Familie die Villa Helvetia in Davos hinter dem damaligen Kurhaus. Mittelpunkt ist die Hausherrin, Ilse Gräfin Seilern. Auch Klabund verkehrte in der Villa Helvetia und führt weitere Gäste ein.

„Davos-Dorf Stolzenfels 26. I. 24

Sehr verehrte gnädige Frau,

einen herzlichen Gruß sende ich Ihnen! Hoffentlich geht es Ihnen schon besser? Mitte nächster Woche besucht mich auf ein paar Tage ein guter Freund mit seiner Gattin. Er ist nicht nur mein Freund, sondern auch einer der bedeutendsten Deutschen, die heute leben. Freilich auf einem ganz andern als meinem Gebiet. Er ist der Chef der Telefunken, der Gesellschaft für drahtlose Telegraphie und Telephone. Es ist der Graf Arco. Wenn Sie gestatten, würde ich Gräfin und Graf Arco zum Tee einmal mitbringen. Sie gehören zu einer Art Menschen, deren Bekanntschaft Sie nicht anstrengen würde. Und falls Sie einmal nach Berlin kommen würden, würden sie Ihnen in jeder Beziehung dienlich sein können.

Mit ergebenstem Gruß Ihr Klabund“

Und bei dieser Gelegenheit kann auch etwas nützliches getan werden, Klabund schreibt an die Gräfin:

„… Kurhaus Davos-Davos 21. III. 24.

Liebe Gräfin,

ich höre eben, Sie wollen eventuell das Frl. von Otwil model­lieren: ich fände das sehr hübsch, denn sie ist, bildhauerisch gesprochen, gewiss ein äußerst reizvolles Geschöpf. Sie würden aber auch ein gutes Werk tun. Lassen Sie sich von ihrem Stolz aber auf keinen Fall abhalten, sie zu honorieren. Denn es geht ihr sehr, sehr schlecht. Und sie ist ein sehr, sehr anständiger Mensch. (Eine durch die Zeitverhältnisse deklassierte russische Adlige.)

Ergebensten Gruß, auch an Ihren Herrn Gemahl, Ihr Klabund“

Zu diesen Freundschaften zählt aber auch der Maler Philipp Bauknecht, der seit 1920 in Davos eine Blockhütte bewohnt – auch er Lungenkrank.

Über einen weiteren Gast in Davos schreibt Paul Raabe:

„… In Klabunds Briefen an Erwin Poeschel taucht hin und wieder der Name Philipp Modrow auf. Er war ein aus Frankfurt am Main gebürtiger Bildhauer, der 1910 von der Lungenkrankheit heimge­sucht wurde und sich von einem Daueraufenthalt in Davos Hei­lung versprach.“

Die Freundschaft mit Modrow führte zu der berühmten Büste Klabunds. Matthias Wegner:

„… 1923 hatte in Davos der Bildhauer Philipp Modrow eine Büste von Klabund angefertigt – die dann später einer der Pseudokenner als „Totenmaske“ bezeichnen wird (die nie abgenommen wurde). Der „Verein ehemaliger Crossener Gymnasiasten“ erwarb die Büste, um sie im Juni 1925 in der Aula seiner alten Schule (jetzt: Real­gymnasium) an der Wand zum Direktorzimmer aufzustel­len. Eine Genugtuung für die Eltern und Bruder Hans, denn Klabund ist bei sehr vielen Crossenern missliebig. Sie wollen wegen seines „Kaiserbriefes“ nichts von ihm wissen und di­stanzieren sich von ihm, weil er zur politischen Linken ge­hört und weil er (irrtümlich) für eine Art von Salonbolschewist und Konjunkturkommunist gehalten wird.“

Über das Schicksal dieser Büste ist zu lesen:

„… 1925 ist er schon bei deutsch-völki­schen Landtagsabgeordneten wegen angeblicher Gotteslä­sterung im Gedicht „Die heiligen drei Könige“ ein Stein des Anstoßes. So kann es nicht überraschen, wenn im „Dritten Reich“ seine Büste auf einen Abstellplatz verbannt wird. Für seine Anhänger – denn auch sie gibt es – bedeutet es aber Anfang Januar 1926 einen Höhepunkt, als das Landestheater Bunzlau im Schützenhaussaal von Crossen ein Gastspiel mit dem „Kreidekreis“ gibt. Der Autor – gerade wieder ein­mal in der Heimat – überreicht nach Stückschluss auf der Bühne die ihm gewidmeten Rosen der Hauptdarstellerin, hält eine kleine Dankesrede zum Publikum und vereint an­schließend die Ensemble-Mitglieder (zu denen auch der nachmals als Kabarettist sehr berühmte Werner Finck gehört) als seine Gäste im Hotel „Drei Kronen“ am Markt. Die „Haitang“ hat den Ehrenplatz zwischen Klabund und seinem weißhaarigen Vater, dessen kluges Gesicht in Freude leuchtet.“

Die Pianistin Klara Zappler veröffent­licht 1960 einen Artikel in der „Davoser Revue“, der das Leben in der Villa Helvetia wiedergibt.

Der bedeutendste Künstler in Davos war Ernst Ludwig Kirchner. Paul Raabe meint, er habe sich aber von den Kranken ferngehalten und in der Biographie des Brücke-Malers kommt Klabund nicht vor. Aber schreibt Raabe:

„… Dagegen darf man annehmen, dass Klabund mit dem erwähn­ten Schriftsteller Rudolf Utzinger Umgang pflegte, auch wohl den von Sibirien nach Davos verschlagenen, heute vergessenen Maler Emmerich Haas kannte, der den Geige spielenden Albert Einstein gezeichnet hat. Einstein selbst war mehrfach in Davos, und es ist nicht auszuschließen, dass auch er, der Gelehrte, ihm, dem Dichter, begegnet ist.“

Carola Neher – Klabunds zweite Ehefrau 

Zur Erinnerung, im Sommer 1924 lernte Klabund Carola Neher in München kennen. Im Winter 1924/25 nimmt sie ein Engagement am Breslauer Theater an und Klabund zog ebenfalls nach Breslau.

Im Dezember begleitet sie ihn erstmals nach Davos. „Herr Klabund, Berlin… Frl. Neher, Breslau“, heißt es in der Davoser Fremdenliste. Anfang 1925 kehren die beiden gemeinsam nach Breslau zurück und heiraten am 07. Mai 1925, in der Zeit, in der Klabund mit seinem Theaterstück „Der Kreidekreis“ die größten Erfolge seines bisherigen Lebens feiert.

Am 21. April 1926 in Frankfurt – spielt Carola Neher in der Uraufführung die Marusja in Klabunds „Brennende Erde“. Zwei Kritiken erscheinen in der „Davoser Revue“, in der von Kasimir Edschmid heißt es:

„… Klabund ist eine der wenigen sehr sympathischen Erscheinungen in der jüngeren Literatur. Ihn verlässt nie eine gewisse poetische Anmut, ein bänkelsängerischer Charme, ein liebenswürdiger Geist. Er besitzt in hohem Maße jene Grazie, die aus unaussprech­lichen Dingen eine himmlische Note macht. Er fürchtet den Tod und liebt die Engel und bewegt das ganze Instrumentarium der Literatur mit einer angenehm spielerischen Hand, die nichts weiter als Lyrik ist.

Offenbar hat ihn die Idee einer Rolle gereizt, die die einzige Frauenrolle seines Stücks ist. Diese Frau, die eigentlich eine Art Vogel ist, die von Mönchen am Rand der russischen Revolution aufgezogen wird, die nicht weiß, was ein Revolver und was ein Mann ist, wird in die Flutungen der Revolutionsmassen hineinge­zogen. Sie hat das Unglück, eine frigide Konstitution zu sein, was Klabund oft mit ihrer Heiligkeit verwechselt. Sie ist, im Gegen­satz zu Shaws Heiliger, völlig passiv, sie wird von aller Welt begehrt und gejagt und schließlich umgebracht, aber sie lächelt nur. Tatsächlich ist für die Menschen Klabunds dieses Lächeln eine Art Sonne und die Widerlegung ihrer politischen Leiden­schaft, und in der Tat ist dieses Lächeln von großer Poesie und schöner dichterischer Verzücktheit. Allerdings genügt es drama­tisch in keiner Weise, es ist Stimmung, aber nicht Tragödie, wie das ganze Stück.

Die Menschen Klabunds sind nicht Heroen, sondern Gefühle. Sie sind nicht eiserne Ausrufer ihres Schicksals und ihrer Epoche, sondern Schemen.“

Über Carols Neher schrieb Bernhard Diebold: 

„… Die wahre Muse dieses Abends erschien in der Gestalt der Gattin des Dichters, Carola Neher, der Stück und Rolle ganz legitim „auf den Leib geschrieben“ worden waren – wie man zu sagen pflegt. Die knabenhafte, irgendwie an die Bergner erinnernde Gestalt dieser jungen Schauspielerin, ihre seltene Naivität und berücken­de Uninteressiertheit, das Gerade und Spontane ihres Wesens -strömten das poetische Fluidum über die Szene. Zugegeben: sie hatte es leicht zu wirken als einziges Weib unter zwanzig bis dreißig Männern. Aber sie wirkte nicht durch die Rolle allein, die wenige Treffer liefert – sondern durch ihr Geschöpf und Wesen. Sie sprach die Sätze der Bergpredigt so ohne falschen Gesang und doch so innig durchbebt, dass dieses Instrument von Mensch von sich aus Seele geben musste. Es klang nicht fertig und ausgelernt – es klang schön und gut – als wär’s ein Stück von Klabunds bester Lyrik.“

Und am 15. August 1927 veröffentlicht Walther Harich in Davos einen Aufsatz über Carola Neher:

„… Carola Neher ist eine Dichtung ihres Gatten Klabund. Er ent­deckte sie, zuerst für die Öffentlichkeit, dann für sich. Den einfühlsamen Übersetzer chinesischer Lyrik zog ein verwandtes exotisches Element an, dem er die erste Richtung gab. Auch wenn man in Crossen in der Mark oder in Wien geboren ist, kann man exotisch in einem ganz bestimmten Sinne sein. Wie Mozart die ganze Chinoiserie des Rokoko in sich barg. Carola Neher ist in Wien geboren und in München aufgewachsen. Dort entdeckte Klabund sie. Ein halbes Jahr später war sie in Breslau und spielte fünfundsiebzigmal die heilige Johanna. Wenn ein Allerweltslustspiel es in solchen Städten auf zwanzig Aufführungen bringt, ist das viel. Carola Neher spielte Shaws Johanna fünfundsiebzigmal. Dann kam der Welterfolg des „Kreidekreis“. Dem Manne inspi­riert von der Schauspielerin, die Schauspielerin getragen von dem eigentümlich kühlheißen Atem dieser Dichtung, in der sich ein uralter, fremder Kulturkreis der neuen Sprachbeschwörung ergab. Eigentümliche Durchdringung der Elemente: die Welt des „Kreidekreis“ ist nicht China, die Haitang Carola Nehers ist keine Chinesin. Aber Dichtung und Gestalt lösten die Vorstellung aus, die der gewöhnliche Europäer von dem Wunderlande China hat. Darauf beruhte der Erfolg des Stückes. Nicht auf dem historisch Echten, sondern auf dem Unhistorischen. Die Haitang der Neher ist unser Traum von China. Siebzigmal spielte sie die Haitang in Breslau, über dreißigmal in andern deutschen Städ­ten, wie Frankfurt a. M. und Chemnitz. Man sieht, die Zahlen des oben angeführten Klabundschen Gedichts sind längst überholt. Seit der letzten Saison wirkt Carola Neher in Berlin. Sie gilt heute als eine der „prominentesten“ Schauspielerinnen.“

War Davos für Klabund erste oder zweite Heimat? Für Carola Neher jedenfalls war „Stolzenfels“ und das Ehepaar Poeschel, das sie sehr liebevoll aufgenommen hatte, ein besonderer Rückzugsort. Die enge Beziehung zeigen die erhaltenen Briefe und sie vermitteln eine Carola Neher abseits des Rummels, der um sie gemacht wurde und bei dem sie mitgespielt hatte.

Breslau, 4. März 1925

Wir danken Euch für das Gedenken,
Das Ihr uns tatet wiederum schenken,
Ihr wollt dasselbe uns bewahren
In neuen wie in alten Jahren
Es leuchte Früh-, auch Abendröte
Euch immerdar! Altmeister Göthe.

Trau
Schau
Wem

Carola von Levetzow grüßt auch,   zu Breslau, den vierten hujus.

Im Mai 1925 – Klabund ist in Lugano und schreibt nach Davos:

„… Lugano poste restante 16. 5. 25

Lieber Herr Poeschel, Ich denke, ehe ich nach Österreich gehe, ein paar Tage nach Davos heraufzukom­men. – Endlich ist es warm geworden. Ich beginne, mich wohl zu fühlen. Es sind viele nette Leute hier: Hesse, Emmy Hennings, Hugo Ball. Wir strolchen in der Landschaft herum, tanzen in den Grotten und Osterien nach den automatischen Klavieren und leben ein wenig. – (…)

Ich habe hier einen Vortrag gehalten, in einem Grandhotel, es war eine Catastrophe. Nur das Erdbeben von Messina kann etwas ähnliches gewesen sein. Ich las im Vestibül, wo im Hintergrund eine Pokerpartie stattfand. Begann ich z. B. „Er ward von einer armen Magd empfangen“, so schrie gleich einer Füll dazwischen. Abgesehen von den 4 Pokerern waren 8 Damen und 1 Herr anwesend. Der Herr wunderte sich, dass ich nicht sang. Er hat mich mit Kamsky verwechselt, der auch hier herumgeistert. Eine der Damen sagte: „Machen Sie das alles selbst?“ (wörtlich). Der Direktor meinte, der Erfolg wäre größer gewesen, wenn ich bei der Table d’höte gelesen hätte. Da hätten alle zahlen müssen und keiner wäre mir ausgekommen. – Er hat Recht.“

Wie angekündigt, kommt Klabund in’s Haus Stolzenfels – allein. Über diesen Aufenthalt schreibt Guido von Kaulla:

„…Ende Mai 1925 fährt er wieder in die rettende Davoser Höhenluft. Seine Lebensweise ist gegen früher nun vorsichtiger geworden. Er raucht nicht mehr, und er trinkt selten Kaffee. Als er sich etwas erholt hat, geht er gleichwohl nicht mehr wie sonst fast jeden Abend aus. Er spielt abends noch etwas Bridge, wenn er nicht arbeitet; er geht zeitig zu Bett, schläft aber dennoch bis in den Morgen hinein. Er arbeitet dann im Bett oder auf dem Liegestuhl und geht am späten Nachmittag zwischen 5 und 7 Uhr ins Cafe, Zeitungen zu lesen, die er auf das aufmerksam­ste verfolgt.“

Breslau, 1. 12. 1925, Klabund kündigt an, die Wochen zum Jahreswechsel wieder in Davos verbringen zu wollen, natürlich diesmal nicht allein:

„… Lieber Herr Poeschel, Ihnen und Ihrer Gattin einen herzlichen Gruß! Was macht die Saison? Wie ich hörte, schon in voller Blüte. (Auf meine Blüten fiel ein Reif in der Novembernacht: Altvater Zweig hat die Lauge seines kritischen Spottes über den Kreidekreis ausgegossen, und der Kreidekreis ist im Züribiet mit Päukli und Trompetli durchgefallen…) – Hier im heile Usland, in Berlin, Breslau kreidekreiselts unentwegt weiter. Meine Frau spielt den Kreidekreis schon im dritten Monat und schleudert grässliche Flüche gegen die arme unschuldige Haitang. Zwischen­durch hat sie mit „Scampolo“ einen großen Erfolg gehabt. Dieses freche unverschämte Jöhr liegt ihr naturgemäß besonders gut…

Davos! Davos! Du Alpenparadies!
Es wird nicht allzulang mehr dauern, bis
Wir Deiner werden ganz und auch teilhaft
Zwecks Stärkung unsrer Lung- und Lebenskraft.

Achtungsvoll Henschke’s aus Breslau.

„Tausend Grüße an Sie liebste Frau Poeschel, Ihre Neherchen“ schreibt Carola Neher in einem Brief wahrscheinlich Ende 1925 und darin die folgenden Zeilen:

„… Ich liebe meinen Mann so sehr, wie nichts auf der Welt, aber wenn ich wieder zurückkomme, wird er doch wieder unglücklich und er braucht Ruhe und Frieden.“

Und am 17, Januar 1926 aus Breslau:

„… Liebste Frau Poeschel,

tausend Dank für Ihren lieben Brief, das Geld ist auch gekommen – und schon wieder gegangen, ich kann nichts dafür.

Klabund, der reizendste Mensch der Welt, „wenn er nicht mein Gatte wäre“, lebt zur Erholung bei seinen Eltern. Auch gut. Gestern wollten wir uns zum 150. Male scheiden lassen, ist aber nichts daraus geworden. Ich liebe ihn doch. (…)

Ich spiele jetzt nochmal den leidlichen Kreidekreis, dann nochmals neu „heil. Johanna“ dann „fröhl. Weinberg“ von Zuck­mayer, dann Caesar und Cleopatra, die schönste Rolle des Jahrhunderts! Pippa wurde abgesetzt. Bitte tun Sie mir doch einen großen Gefallen. Schicken Sie doch zum Atelier Himmelsbach nach Herrn Hilz, telefonieren Sie mit ihm, er soll doch dringend meine Bilder schicken, ich brauche sie, er hat sie doch verspro­chen! Es ist zum Verzweifeln. Bitte, bitte tun Sie mir den Gefal­len. Der Brief gilt eigentlich Ihrem Manne, denn er hat den letzten geschrieben, aber Sie sind ja doch eins!! „Glückliches Volk“

Durch das folgende Gedicht erfahre ich, dass Klabund im Juni 1926 in Mainz auftrat, vielleicht war meine Verwandtschaft anwesend und von Fredi auch so angetan:

Ich hawwe d’Leute in Mainz nich gefalle,
Ich war ihne zu uhnverständlich vor alle,
Auch hawwe sie sich mich nich vorgestellt
Als n Hund mit Hornbrille, welcher bellt.
Erst als ich des nachts mit ihne gesoffe,
da wäre sie plötzlich ganz betroffe.
Und es sprach Herr Notar und Justizrat Bing:
Mit dem Kla‘-bund, des isch doch n eigen Ding.
Und es sprach Herr Druckereibesitzer Dr. jur. Baum:
Es war wie im Traum und man glaubt es kaum.
Den Schlußpunkt setzte (im Hotel) das Dienstmädchen dann:
Der Kla‘-bund, das isch doch n großer Mann,
Der Kla‘-bund, der hat mir in mei’m Lewe
Das allergrößte Trinkgeld gegewe…

Im echt Mainzer Dialekt verfertigt von Henschke, steht darunter!

Erst im Dezember 1926 kamen Klabundes wieder nach Davos und Fredi bleibt nach Carola Nehers Abreise Ende Januar drei Monate “oben“.

Sie schreibt am 31. Januar 1927 nach Davos: „Von hier, wo der Himmel schon trübe und kein Schnee Sendet Ihnen viele herzliche Dankesgrüße Ihre Carola Neher. Es war doch wunderschön und Klabund ist doch bezaubernd.“

Noch 1927 erscheint das „Das Kirschblütenfest, Spiel nach dem Japanischen“. In ein Exemplar, das Klabund Erwin Poeschel schenkt, schreibt er als Widmung:

Lebe liebe wandle handle

Und in diesen Tagen muss er auch wieder in der Pension „Stolzenfels“ eingetroffen sein – nur lange ausgehalten hat er es oben auf dem Berg nicht, denn bereits im März ist er wieder in Berlin.

Am 8, Juli 1928 gehen diese Zeilen nach Davos:

„… Lieber Herr Poeschel,

da es möglich ist, dass ich in den nächsten Tagen nach Davos komme, bitte ich, Post vorläufig nicht mehr nachzuschicken, sondern dortzubehalten.

Herzliche Grüße Ihnen allen Ihr Klabund

Mitte Juli trifft Klabund dann in Davos ein, er stirbt am 14. August 1928, zusammen mit Erwin Poeschel hat Carola Neher diesen Tod miterlebt.

Paul Raabe schreibt über die Tage danach:

„… Ihre Briefe, die sie nach der Rückkehr aus Berlin nach Davos schrieb, sind auch ein Abschied von dem Ehepaar Poeschel, das am Ende des Jahres die Pension Stolzenfels aufgab und Alfred Giger überließ, dessen Enkel Andreas Jenny das Haus als Hotel heute fortführt. Nach Davos ist Carola Neher nicht mehr zurückgekehrt.“

Was Davos für Klabund war, beschreibt Paul Raabe so:

„… Klabund in Davos – das bedeutet ein Doppeltes: ein Kapitel deutsch-schweizerischer Kulturgeschichte und einen Abschnitt in der Zeitgeschichte von Davos. (…)

Verknüpft bleibt Klabunds Schicksal mit Davos, dem Ort, an dem er immer wieder Hilfe und Linderung gefunden hat. Klabund und seine Leidensgefährten haben durch ihre Werke, ihren Le­benswillen und ihre Lebenskraft bewiesen, dass Davos nicht nur die irreale Welt des „Zauberbergs“ war, sondern ein unvergesslich gebliebener Tatort der Geschichte, an dem das damals noch unheilbare Leiden durch die Kunst und den Geist überwunden wurde.“

Carola Neher muss zurück ans Theater, nach ihrer Abreise aus Davos schreibt sie am 18. August 1928.

„… Liebe Poeschels,

es ging heute so schnell, als ich wegfuhr, aber es war nicht so flüchtig gemeint. Ich bin Ihnen so verbunden mit ganzem Herzen und der Dank den ich Ihnen aussprechen kann ist nur ein kleiner Teil meines Gefühles zu Ihnen.

Sie sind so gut und gütig und einfach verstehend mit mir und meinem Schicksal, dass ich Gott danke, dass ich Sie gefunden habe und dass mein Monilein das Glück hatte so viel bei Ihnen zu leben und jetzt (o Gott) zu sterben.

Liebe Poeschels ich umarme Euch in Dankbarkeit Eure  Carola Neher

(Ich muss „Euch“ schreiben – weil ich Sie ganz gleich beide meine.)

Und an Irene Heberle schreibt sie; „Innigsten Dank für Ihren liebevollen Brief. Sie haben mir sehr zu Herzen gesprochen. Ich bin sehr unglücklich und zuinnerst einsam. Der einzige Mensch, der mich kannte und verstand, den ich liebte und verehrte, ist fort. Nichts mehr in meinem Leben kann diesem Glück gleichkommen, das ich durch ihn empfunden.“

Davos ist „Geschichte“ und Gedichte wie das folgende wird es nicht mehr geben:

Sanatorium

Die Spatzen singen und der Westwind schreit
Sacht umarmend rollt der Regen seine Spule.
Der weiße Himmel blendet wie verbleit.
Verrostet krümmt er sich im Liegestuhle.

Auf der Veranda. Neben ihm zwei Huren
Aus der Gesellschaft, syphilitisch eitel
Sie streichen zärtlich seinen Schuppenscheitel
Und sprechen von Chinin und Liegekuren.

In ihren grau verhängten Blicken duckt er
Der Morphiumteufel hinter Irismasche.
Er hüstelt, hustet, und zuweilen spuckt er
Den gelben Auswurf in die blaue Flasche.

Sie schenken ihm freundschaftlich Angebinde
Als er zum ersten Male in den Garten stieg,
Je eine Liebesnacht – als drüben in der Linde
er Kuckuck einmal rief (für alle drei) und schwieg.

Das letzte Werk Klabunds war der Roman „Borgia“ und er erschien noch zu seinen Lebzeiten. Kurt Wafner schreibt über diesen:

„… Das letzte Werk, an dem Klabund schrieb, war „Borgia“, der Ro­man der verbrecherischen Renaissance-Familie. Das Buch, das noch zu seinen Lebzeiten erschien, wurde in viele Sprachen übersetzt.

Der Stoff hatte den Dichter bereits seit langem beschäftigt, aber seine Krankheitsanfälle und Kuraufenthalte die Edition immer wieder ver­hindert. Anlässlich einer Neuausgabe seiner Romane schrieb die Presse am 3. November 1998:

„Mit List und stilistischer Tücke hat Klabund einen Weg zwischen zwei Erfolgsgenres der zwanziger Jahre gefun­den, den weit ausladenden Roman auf der einen und die Biographie auf der anderen Seite. Die Kürze seines Romans und sein federnder Stil bedingen einander. Auf jede historiographische Anstrengung ist de­monstrativ von vornherein verzichtet … Der Papst sitzt in einemSpiegelkabinett der Bosheit und der Lust, von dem aus keine Türen in die Realgeschichte führen …“

Im Portrait über Carola Neher habe ich geschrieben: „Das Leben einer berühmten Schauspielerin. Aber war es das wirklich und in dieser Darstellung?

Carola Neher hat immer dafür gesorgt, dass sie Gesprächsstoff war, die Medien sind ihr „gefällig“ gewesen – aber es gab die andere Carola Neher, die private und ich denke, sie hat diese „Privatperson“ ganz gut verborgen“.

Klar, sie lässt keinen Fototermin aus – heute würde man schreiben – sie kam an keinem „Rotlicht“ einer Kamera vorbei und kein Photograph nachte sich Sorgen, er bekomme kein Bild. Beispiele:

Zu Beginn der Theatersaison kletterte sie im Beisein der Presse auf den 168 Meter hohen Funkturm in Berlin – natürlich gibt es ein Bild.

In Wien 1927 lächelt sie auf einem Motorrad sitzend in die „Linsen“, hinten drauf als „nette Beigabe“ den Ehemann Klabund. So wie dieser den Sozius markiert, fuhren die Beiden keinen Meter.

Und im selben Jahr die „Neher“ mit einem Papagei auf der Titelseite der Zeitschrift „Die Bühne“.

Auch 1927 – Modeaufnahmen in Wien, man zeigt, was man hat, sicher zur Freude der Medienvertreter. Aber und ein dickes Aber ist angebracht, zum einen kostet ihr Lebensstil Geld und zum anderen waren die Ausgaben für die medizinische Versorgung ihres kranken Mannes sehr hoch.

Das Bild mit dem Geparden hatte ich schon, Josephine Baker fand es Jahre später so toll, dass eben auch sie mit einem Geparden …

Anfang 1927, Klabund sitzt mal wieder in Davos fest, Matthias Wegner schreibt:

„… Zu Beginn des Jahres 1927 findet sich Klabund wieder in der Pension Stolzenfels in Davos ein. Seine Frau begleitet ihn für einige Tage, reist dann jedoch wieder nach Berlin zurück, weil das Theater dort auf sie wartet. Klabund verbringt den Winter wieder mit Liegekuren, kurzen Spaziergängen und Schreiben. Erst im März kann er wieder nach Berlin zurück­kehren, und wieder reißt ihn ihre Nähe in ein Wechselbad der Gefühle. „Denken Sie das Neueste“, schreibt er sogleich an die Davoser Pensionswirtin und mittlerweile enge Vertraute, Frau Poeschel, „meine Frau überraschte mich nach meiner Rückkehr … damit, dass sie Auto fahren gelernt hatte. Sie fährt jetzt jeden Tag wie irrsinnig in Berlin herum -natürlich im tollsten Verkehr, Friedrichstraße, Alexander-, Potsdamer Platz. Sie will sich ein Auto kaufen und damit nach Wien fahren!

Sicher wird sie mich einmal in einer Eifer­suchtsszene absichtlich gegen einen Baum fahren. Mein Le­ben ruht künftig wirklich ausschließlich in „Gottes Hand.“ Es ist natürlich nicht irgendein Auto, das sich die kapriziöse Dame ausgesucht hat: „Nach ihrem Grundsatz: vom besten und teuersten hat sie sich einen Mercedeswagen ausgesucht, soviel ich weiß. (Ich kenne den Wagen noch nicht. Erst hatte sie sich für einen Steyr entschieden).“

Sprecht für den armen Kaspar ein Gebet!
Priez pour le pauvre Gaspard!
Herzlichen Gruß an Sie, Ihren (…) Gatten e tutti quanti

Zeilen eines ängstlichen Ehemannes? Quatsch, es war der stolze Ehemann und er fügt hinzu: „Das nächste mal werden wir also vermutlich im Auto in Davos anrücken. (Was Wassermann kann, können wir auch.)“

„Auch ihre Flirts haben wohl weit weniger gewogen, als es ihr ihre Verehrer nachge­sagt haben“, so Matthias Wegner.

Und weiter:

„… Billy Wilder, damals angehender Dreh­buchautor und Journalist in Berlin, erzählt in seinen von Hellmuth Karasek aufgezeichneten Erinnerungen von seinen Erlebnissen als „Eintänzer“ im „Eden“ in der Budape­ster Straße und erwähnt dabei auch, dass er mit „der großen Schauspielerin Carola Neher … gegen Entgelt getanzt“ habe.

Bei ihrer meist betörenden Wirkung auf die Männer­welt kann man freilich kaum glauben, dass sie es nötig ge­habt haben sollte, ihre Tänzer zu bezahlen – zumal Wilder berichtet (und mit einem Brief Klabunds auch belegt), dass er mit ihrem Ehemann befreundet gewesen ist. Die beiden hatten sich im „Romanischen Cafe“ kennengelernt, und Klabund hatte Wilder geraten, sich für seine Tätigkeit als Eintänzer ein Zeugnis ausstellen zu lassen.

Eigentlich wollte Wilder nur eine Reportage für seine Zeitung verfassen. Wie dem auch sei – da Carola alles andere als ein Kind von Trau­rigkeit war, haben sich die beiden wohl einfach beim ge­meinsamen Tanz miteinander amüsiert. Auch wenn sie sich nach außen hin den Männern zu unterwerfen vorgab – ihre Souveränität und Freiheit hat sie unter allen Umständen verteidigt. Dabei half ihr übrigens auch die veränderte Rolle der Frau in den zwanziger Jahren. Mit Bubikopf und androgyner Kleidung war inzwischen ein neuer Frauentypus mo­dern geworden, der auf dem Berliner Parkett mit selbstbe­wusster Dominanz auf sich aufmerksam machte und so gar nichts mehr mit dem Frauenklischee der Vorkriegszeit zu tun haben wollte. Bert Brecht insbesondere konnte von Ca­rola Nehers Drang nach Selbständigkeit ein Lied singen. Zu keinem Zeitpunkt hat sie sich in die Reihe seiner ergebenen Verehrerinnen und Mitarbeiterinnen eingliedern lassen. Schließlich hatte sie ja auch von Kindesbeinen an lernen müssen, sich zu wehren, ihren Weg ohne fremde Hilfe alleine zu gehen.“

Dem könnte ich noch hinzufügen … und schließlich heiratete sie Klabund und nicht Bert Brecht.

Eine übertriebene Eitelkeit in Bezug auf ihre Figur? Sie treibt Sport „um schlank zu sein. Ich habe nämlich 10 Pfund zugenommen und bin eine „ausgespro­chen dicke Nudel geworden“.

Matthias Wegner:

„… Für Figur und Fitness hat die disziplinierte Schauspielerin schon in Berlin viel getan. Bei einem Türken, der eine Boxschule leitet, hat sie sich mit vie­len prominenten Kollegen regelmäßig zum Training getrof­fen. Das Bild, das sie mit ihm bei einem Boxkampf zeigt, dürfte für Fotografen gestellt sein – Carola Neher versteht es, für Medienwirksamkeit und Publicity zu sorgen —, aber in der Boxschule in der Passauer Straße übt man sich ja auch im Seilspringen und der Gymnastik. Leinwandstars wie Mar­lene Dietrich oder Vicki Baum gehen dort ein und aus. Hin­terher trifft man sich im berühmten Theaterrestaurant „Schwanecke“ mit Schriftstellern und Kritikern, Malern und Mäzenen. Das Künstlerleben kocht in dieser Stadt, und Ca­rola, die nun endlich auch zu den ganz Großen gehört, will immer mitten im Gewühl stehen. Die Bande zu Bert Brecht werden bei solchen Gelegenheiten wieder enger geknüpft, er steckt voller ansteckender Pläne – und berauscht die um­schwärmte Schöne mit seiner verführerischen Brutalität, die Klabund so sehr stört.“

Dazu passt dann das von Carola Neher geschriebene Gedicht vom August 1927

Sport

Ich liebe den Sport
Tous les sports d’ete et d’hiver
Eishockey
Eiscremsoda
Bob mit Bobby
Germans
Playing Golf in Germany Und Polo in Brioni!
Ich ritt in Baden-Baden
Um fünf Uhr früh die Oos entlang
Ich fuhr einen kleinen Steyrwagen
In Wien zuschanden
Ich segelte auf dem Wannsee
Schwamm am Lido
Und bin sogar (wenn auch widerstrebend) Den Watzmann hinaufgeklettert.
Ich kann Spagat
Rad fahren
Rad schlagen,
Ich lauf gern Eis
Aber noch lieber: Gefahren
Ich flog
Aus meinem ersten Engagement
Und mit dem Wasserflugzeug
Von Triest nach Venedig.
Motorrad rasselte ich den Feldberg hinunter
An einer scharfen Kurve
War es beinah schief gegangen
Ich tanz
Black and White bottom
Und manchem auf der Nase herum

Ich spiele
Klavier
Poker
Wasserball
Erdball
Und Theater.
Ich habe etliche Herzen
Knock-outgeschlagen.
Ski-heil!

Und um die Klischees komplett zu machen: Sie verkehrte im Haus des Außenministers Stresemann und ließ sich vom preußi­schen Kronprinzen Wilhelm zu Galadiners ins Schloss Cecilienhof einladen.

War sie deswegen ein verwöhnter Star, gedankenlos in jede Fotolinse lächelnd und am Morgen die Zeitungen durchsuchend nach Bildern und Zeilen über sie?

Und die Heirat mit Klabund? Kalkül – oder? …

Gründe gab es genug, aber wie den Briefen von Carola Neher zu entnehmen ist, sie liebte nicht den bekannten Dichter sondern Alfred (Fredi) Georg Hermann Henschke.  

Tita Gaehme beschreibt es ganz einfach:

„… Bei aller Leichtigkeit und Lust am oberflächlichen Flanieren bekam sie früh eine Ahnung vom Schrecklichen. Sie liebte einen Todkranken unter der Gefahr der Ansteckung und heiratete ihn gegen alle Warnungen, über die sie lachte: „Und wenn ich in zwei Jahren tot bin, ich heirate ihn doch.“

„Vielleicht war es auch die ihr wie ihm wesent­liche innere Unruhe gewesen, die sie reizte, ihn zu halten. Außerdem verband beide die Unruhe zum Wort“, so Guido von Kaulla.

In einem Interview, abgedruckt in der Abendausgabe des Berliner Börsen-Couriers vom 3. September 1927 sagt sie – und das drückt sicher ihre Einstellung richtig aus:

„… Es gibt keine schauspielerische Größe ohne menschliche Größe. Keinen Theaterraum ohne Tiefe. Keinen Vordergrund auf der Bühne ohne Hintergrund. Was von der Szene sofort auf das Publikum über­springt, ist der Funke der Persönlichkeit. Die großen Schauspieler sind Persönlichkeiten. Sie bedeuten an sich und in sich etwas – aber ihre Bedeutung wird ins Riesenhafte gesteigert durch das Medium der Rolle, deren sie sich bedienen, um sich vollkommen darzustel­len, um vollkommen zu sein.

Private Wirkungen von der Rampe herunter gibt es gar nicht. Eine Frau, die auf der Bühne schön wirkt, ist schon etwas. Sie kann sogar im Leben hässlich sein. Man nehme eine beliebig schöne Frau und lasse sie über die Bühne gehen. Sie wird über ihre eigenen Beine und Gedanken stolpern. Sie ist aus ihrem Element gekommen, ein Fisch auf dem Land. Aber wir Schauspielerinnen sind erst auf der Bühne in unserem Element – wir stolpern nur im Leben“

Und eine Geschichte muss natürlich noch erzählt werden, die sich nach ihrer Verurteilung in Moskau am 16, Juli 1936 ereignete.

Guido von Kaulla:

Vor zehn Tagen führte man Carola vor die gleiche „Kommission“ (…) Dann aber fragte der eine Offizier ganz unvermittelt: „Wollen Sie für uns ar­beiten? Wollen Sie für den NKWD arbeiten? Russische Spionin werden?“ – „Nein, niemals! Wo denken Sie hin, ich komme aus dem Zuchthaus!“ lehnte sie erregt ab. „Bitte, beruhigen Sie sich, Bürgerin Neher! Vielleicht überlegen Sie sich’s doch noch einmal?“ Man führte sie hinaus in irgend­eine unbekannte Abteilung der Butirka und sperrte sie in eine Einzelzelle, in der die Zentralheizung abgestellt war.

Sie erhielt kein Essen, keine Matratze, keine Decke. Nach drei Tagen heizte man, brachte gute Speisen und reichte ihr ein Daunenkissen herein. So ging es bis zum zehnten Tag. Da wurde sie wieder vor die beiden NKWD-Offiziere geführt, die die gleiche Frage wiederholten. Carola lehnte ab: „Ich eigne mich nicht für solche Tätigkeit.“

Carola Neher war klar, was diese Ablehnung bedeutete: „Für mich ist alles verloren. Nachdem ich dieses Angebot ab­geschlagen habe, werden sie mich nie mehr herauslassen, ganz bestimmt nicht ins Ausland schicken.“

Sie sollte recht behalten.

Wenn ich nach diesem Kapitel „vom Berg“ herabsteige und damit Davos verlasse, ist hoffentlich klar geworden, dass ich mit den zahlreichen Briefen – die u.a. im Staatsarchiv Graubünden aufbewahrt werden – eine andere Carola Neher darstellen wollte. 

Carola Neher ist eine der besten Schauspielerinnen der Weimarer Republik gewesen – und Carola Neher war eben auch ….Katharina Karolina Neher!