Celestina

„Ein Buch das, was ich in den Alt-Crossener Geschichten bringe, ist ungewiss. subjektiv – und im strengen, historischen Sinne – leider – recht zweifelhaftes Gesindel!“

Klabund

Foto: Katharina Deckert Gießen

Dem Andenken Johann Joachim Möller’s (1659 – 1733)

Widmung

Hochgeschätzter Herr Archidiakonus, Sehr geehrter Herr College, verehrter Freund!

Gestatten Sie mir, dem um rund zwei Jahrhunderte Jüngeren, Ihnen in aller Bescheidenheit dies kleine Buch zu widmen. Zwei Jahrhunderte bin ich jünger als Sie — aber — ach! — nicht zwei Jahrhunderte klüger. Sie als bedeutender Kenner des hellenischen Altertums, werden mir gewiss beistimmen, wenn ich sage: Seit Plato hat die Welt sich nicht verändert. Und die guten Geister aller späteren Jahrhunderte können sich »in ihm« noch die Hände rei­chen.

Eine kleine Ewigkeit genießen Sie schon, nach einem aller Ar­beit und Mühe vollen, reich gesegneten Leben die wohl verdiente himmlische Ruhe, disputieren mit Aristoteles, Erasmus und dem von Ihnen, trotz Ihrer kindlichen Furcht vor Abgötterei, fast ver­götterten Doctor Martinus Lutherus über allerlei, der Betrach­tung würdige philosophische und theologische Principia – und haben auch die flüchtige Bekanntschaft, da Sie im März 1710 den kleinen, unansehnlichen, zerknitterten Prinzen Eugenius von Savoyen, in dem doch eine gewaltige Seele steckte, allhier in Cros­sen von weitem sahen, intensiver erneuert, indem Sie gewiss nicht ermangelten, in einem Diskurs mit dem erlauchten Herrn auch strategische Themata anzuschlagen – denn ein rechter Kämpfer für das Wort Gottes, wie Sie einer waren, weiß auch in Krieg und Kriegslist Bescheid.

Erlauben Sie mir noch einmal, Sie »Freund« zu nennen. Denn wenn wir das Glück gehabt hätten, in einer Zeit zu leben: wir wären gewiss Freunde geworden. Eint uns doch schon die schier unverständliche Freude an einer gänzlich nichts nutzigen und ma­teriell völlig uneinbringlichen Bestrebung, die wir uns geradezu (wie die Bäcker, Schneider und Amtsgerichtsräte die ihrige) sau­er werden lassen und uns nicht entblöden, sie als dem Kuchenbacken, Pillen drehen und Steineklopfen gleichwertige Arbeit zu betrachten – wenn wir auch keine rauhen Hände davon kriegen und uns bemühen, in einem äußerlich leidlichen Zustande herum­zulaufen. Einem solchen beschaulichen Tun, wie es das Chronikschreiben und -dichten darstellt, haftet nun vor der bürgerlichen, arbeitsamen Welt immer ein gewisser Makel an, den wir, verehrter Freund, schwerlich werden von uns tilgen können. Nicht einmal durch Höllenstein, nicht einmal durch das unauffälligste Dasein. Weil wir durch unsere Tätigkeit selten, ach gar nicht zu Gold und Ehren gelangen, gehören wir zu den sogenannten brotlosen Künstlern, wozu man abgesehen von unseren Kategorien, noch die Maler, Musiker und Schlangenmenschen rechnet. Aber trö­sten wir uns, lieber Freund, wir haben unsern Trost in uns selber. Man sieht an unsern „Werken“ (die man erst nach unserm Tode „Werke“ zu titulieren geruht) immer nur die glatte Vollendung, nie die ernstlich und oft verzweifelt aufgewandte Mühe. Was weiß man davon, dass Sie Ihr ganzes Leben an Ihre große Krößnische Chronika setzten, dass Sie, z. B., um nur Gewisses gewissenhaft zu bringen, nach einem Brief, der Ihnen für die Geschichte der Stadt von Wichtigkeit schien, in 200 Bibliotheken nachforschten? Ein in damaliger Zeit unerhört mühsames Beginnen. — Ich nun, sehr ver­ehrter Herr Collega, unterfange mich im Folgenden einer, Ihrem objektiven Streben geradezu entgegengesetzten Sache: das, was ich in den Alt-Crossener Geschichten bringe, ist ungewiss, subjek­tiv — und im strengen, historischen Sinne — leider — recht zwei­felhaftes Gesindel. Aber für den Mangel an äußerer Wahrheit der Geschichte entschädigt hoffentlich die Wahrheit der Geschichten, die ich zeige. Wenn diese sich nicht immer den ehernen Regeln kirchlicher Moral, wie Sie, hochgeschätzter Herr Archidiakonus, es für wünschenswert halten mögen, fügen sollten: nehmen Sie es nicht übel auf. Die Menschen, vorzüglich auch die Crossener, sind nun einmal so. Bunt ist die Natur, und es gibt rote, blaue, gelbe und violette Blumen. Also gibt es auch rote, blaue, gelbe und vio­lette Charaktere. Und welche Stadt erst Menschen hervorbringt: grau, steif, und langweilig, wie abgebrannte Präriegrashalme, einer wie der andere — diese Stadt verdiente, dass sie vom Erdboden ver­schwände. Denn die Varietät, wie Sie zu sagen belieben würden, erst macht die Welt zur Welt, und das Leben lebenswürdig. Da­rum, wenn Sie im Jenseits (Sie nannten es ehemals das »bessere«, vielleicht würden Sie Ihre Meinung jetzt, den Erfahrungstatsachen gemäß, korrigieren?) diese kleinen Geschichten beim Nektardämmerschoppen durchlesen und überträumen, in den Qualm Ihrer immensen Tabakpfeife mit dem turbangezierten Türkenkopf wie in einen Mantel gehüllt: lächeln Sie, mit dem Lächeln jener, die darüber hinaus sind und als unbeteiligte Zuschauer nur noch im Komödienhaus mitspielen. Aber vielleicht, wenn Sie wahrhaftige Einkehr in sich halten, vielleicht ist dieses Lächeln (wie jedes Lä­cheln) eine Art – Sehnsucht. Wenn man Mensch ist, weiß man nicht immer, wie schön es eigentlich ist, Mensch zu sein.

Lächeln Sie, und um Ihren gütigen alten Greisenmund werden die Grazien tanzen.

Ihnen in vorzüglicher Hochschätzung ergeben Alfred Henschke

Vorrede auch Prologus des Peter Puchner zu seinen „Merkwüedigen Begebenheiten“ (Croén 1738)

Nach Standes-Gebühr geehrter Leser!

Obwohlen viel Bücher jedermann vor Augen liegen, die auf denen Tituln viel rühmens von sich machen, in der Tat aber nichts als sentimentalische Possen oder grobe Anekdoten enthalten, worauf doch viele ihr Geld unnütz anwenden und im Durchlesen erst finden, daß mancher Autor mit einem Secret angezogen gekom­men und viel Geld dafür gefordert, welches doch aus tausend al­ten und neuen Büchern heraus abgeschrieben: So hast Du Dich doch, nach Standes-Gebühr Hochgeehrter Leser, dergleichen all-hier nicht zu befahren, allermassen Du in diesem Büchlein lauter reelle und wahrhaftige Begebenheiten, welche sich einst in und bei der schönen Stadt Crossen, im Märkischen nahe Schlesien an dem Oderstrom gelegen, zugetragen haben und noch nirgends publizieret worden, zu Deinem Vergnügen antreffen wirst. Und da dieses Werk vormals unter dem Titel: »Merkwürdige Begeben­heiten und historische Nachrichten, die Stadt Croßen betreffend«, wohlbekannt, auch in etlichen Jahren in keinem Buchladen mehr zu finden gewesen; als hat man selbiges nur mit verschiedenen nützlichen und sehr curieusen Stükken vermehren und den Numerum auf 13 setzen wollen, nicht zweifelnd, es werde jetzo um de­sto angenehmer und nützlicher seyn. Da es nun heutzutage usus geworden, die Bücher in einem Format und in einem Leibesumfang auftreten zu lassen, dermaßen eines größer als ein Kober und nur auf einem Handwagen zu expedieren ist: jeder auch, wann er es zu Ende lesen wollte, etliche Jahre bedürfte (sofern ihn nicht die Schlafkrankheit von seinen Leiden erlösete): sind wir nun sehr artig mit diesem kleinen Büchlein unter der Bank hervorgewischt, hoffend, es werde ein jeder, insonders Crößnische Bewohner das­selbe mit sich herumtragen und des öfteren studieren, auch seine innige Ergetzung haben an denen Kuriositäten, so in vorherigen Zeiten allhier passiret – vermeinend, daß die Posteritas uns den zünftigen Dank nicht vorenthalte. Sollte nun dem einen oder an­dern oder mehreren dies und das nicht gefallen, so werfe er nicht voreilig alle Schuld auf den Autorem, sondern beschaue sich erst einmal im Spiegel und richte danach. So schließen wir denn un­seren Prologus mit diesem Segenswunsche: „Omnipotens Magnus conservet Moenia Crosna a Flamma, Bello, Peste, Fama diu!“ Des nach Standesgebühr geehrten Lesers alleruntertänigster

Peter Puchner.

Croßen A. 1738 im Weinmond.

 Der Grünberger Feldzug

Foto: Katharina Deckert Gießen

Anno 1477, den 27.July, sind die Croßner den Grünbergern ins Land gefallen, und derselben 150 nach Croßen , gebracht worden.« Nichts als diese nackte Tatsache be­richten die Memorabilia Croßnensia in ihrer grauen Objektivität vom 27. Juli 1477. Weshalb aber dieser erschreckliche Einfall der Crossner ins Grünbergische stattgefunden (wahrlich, nicht min­der schrecklich als der Einfall der Tartaren anno 1241 in Schle­sien) – davon wissen die Memorabilia nichts, wollen auch nichts davon wissen, denn die schalkhafte Anmut, die dem Vorspiel zu diesem blutigen Feldzuge innewohnt, musste ihrem strengen histo­rischen Gewissen als überflüssiger Tand erscheinen, mit dem man die Nachwelt nicht belästigen dürfe. Ich nun, der ich die ganze Vorgeschichte des Krieges kenne (wohl als einziger der heutigen Lebenden), bin durchaus anderer Meinung. Mir erscheint gerade das, was die Memorabilia verschweigen, als das eigentliche Wis­senswerte, dem auch eine hübsche Moral nicht fehlt und somit Nutz und Frommen zu lesen ist von jedermann, insonderheit von den lieben Mädchen.

Lebte damals in Crossen ein Tuchmacher namens Joachim Dürr. Der hatte zwei Töchter, Margareta und Barbara, die waren am selben Tag geboren und in ihrer blonden Schönheit einan­der so ähnlich, daß nicht einmal der Vater, geschweige denn ein Fremder, wenn er sie sah, sie unterscheiden und sagen konnte: Du bist Barbara, und Du Margareta. Da sie von gleicher Gemütsart und unzertrennlich schienen, auf der Gasse immer Arm in Arm, zärtlich aneinander geschmiegt, spazierten — war man billig der Schwierigkeit enthoben, sie einzeln zu rufen, und nannte sie (denn in der Stadt fand man sonst nichts Ähnliches) einfach: Zwillinge.

Dies ging nun eine Weile so an und war jeder in seinem Teil zufrieden: die Eltern, die beiden Mädchen und die Bürger — denn für letztere waren die Zwillinge eine rechte blonde Augenweide. Gab es doch damals hier herum hauptsächlich noch slawische schwarze Wuschelköpfe. Die Zwillinge traten nun ins heirats­fähige Alter, und hätte manch junger Mann gern um ihre Hand angehalten, wenn er nur gewusst hätte, in wen er eigentlich verliebt sei: in die Barbara oder in die Margareta. Anno 1476 traf es sich nun, daß ein junger Tuchmacher aus Grünberg, ein Geschäfts­freund des Herrn Joachim Dürr, in Crossen weilte und dessen Gastfreundschaft einige Tage genoss. Grade als er nach Grünberg zurückkehren wollte, wurden ihm aber die Tore der Stadt vor der Nase zugeschlagen, denn es hieß, daß Herzog Hanns von Sagan im Anmarsch sei und Crossen bestürmen wolle, was sich auch als­bald bewahrheitete. Glaubte aber Hanns von Sagan, da eben Cros­sen an den Markgrafen Albrecht von Brandenburg gekommen war, gerechte Ansprüche darauf zu haben und gedachte sich mit Ge­walt in den Besitz der schönen Stadt zu setzen. Dieser Spaß wur­de ihm indessen durch die braven Crossener ordentlich versalzen, und gab auch der Grünberger Tuchmacher, einmal in den Mau­ern, seinen Senf dazu. Dabei erhielt er aber einen ungefährlichen Streifschuss an der rechten Wange, was ihm geziemenden Vor­wand gab, sich im Hause seines Gastfreundes von den Zwillingen liebreich pflegen zu lassen. Dabei geschah nun das Absonderliche, daß er sich verliebte – aber nicht, wie man erwarten sollte, in alle beide, sondern (und er behauptete es steif und fest) in Margareta allein. Und er könne sie wohl voneinander unterscheiden, an den Augen, darinnen ja die Liebe ihre Wohnung habe, und er bitte um die Hand Margaretas. So sprach er zu ihrem Vater, der flink die Mutter dazu rief, und beide waren sehr gerührt und gaben freudig ihr Jawort – denn war erst der eine Kobold aus dem Hause, wür­de auch der andere, ebenso hübsch und heiter, bald seinen Mann finden, da die Schwierigkeit der Wahl fortfiel.

Der Grünberger wurde nun beauftragt, Margareta herbeizu­holen, ging hinaus, traf auch zufällig im Flur einen Zwilling allein, und brachte ihn in die Stube, erwischte aber in seiner Aufregung den falschen, nämlich Barbara. Die nun ließ lächelnd sich gar nichts merken, bekam von den Eltern in den Armen des hübschen Grünbergers den Segen und war glücklich und zufrieden. Denn sie liebte den Grünberger – während Margareta sich garnichts aus ihm machte, ein rechter Schelm wie sie war, aber der Geschichte ihren Lauf ließ und sich abends in der Kammer samt Barbara vor Lachen ausschütten wollte. Der Grünberger zog den nächsten Tag als tüchtiger Bursch (regelmäßige Postkutschen gab es damals noch nicht), natürlich zu Fuß, von den Eltern und den Zwillingen bis vors Glogauische Tor geleitet, zurück gen Grünberg, mit dem Versprechen, bald wieder zu kommen und seine Braut nicht allzu lange seines munteren Wesens zu berauben. Was denn auch ge­schah und der Grünberger war anno 1476 und dann im Frühling 1477 öfter in Crossen drüben.

Auf den Sommer 1477, den 26. Juli ward die Hochzeit bestellt. In der Kirche am Markt fand die Trauung statt, und schlössen den ehelichen Bund fürs Leben Margareta Dürr und Heinrich Wenzel aus Grünberg. Aber unter der Maske der Margareta stand Bar­bara vorm Altar. Soweit hatten die Mädchen ihren Streich ge­trieben, — denn der Grünberger bestand wild und eitel, wie am Verlobungstage noch darauf, daß er Margareta liebe, und nur sie allein, und daß er Barbara nur die ihr gebührende brüderliche Zu­neigung entgegenbringe — während er doch gerade Barbara wacker küsste und wie toll nach ihr war. Nach der Trauung fand ein be­scheidenes Mahl, im Garten Joachim Dürrs, unter freiem Him­mel statt, und am nächsten Morgen, nach vollzogenem Beilager, fuhr das junge Paar nach Grünberg, geleitet von den treuen elter­lichen Segenswünschen und dem schelmischen Tücherschwenken Margaretas, die nun doch begann, sich allerlei ängstliche Gedan­ken zu machen. Am Abend desselben Tages kam Mutter Dürr in die Kammer Margaretas, gerade als Margareta ins Bett springen wollte. Und da man damals noch splitternackt, wie der Herrgott einen schuf, zu Bette ging, so blieb Mutter Dürr wie festgewach­sen in der Türfüllung stehen. Jene — die da in ihrer holden Nackt­heit vor ihr stand – hatte ein kleines, guldengroßes, braunes Mut­termal am linken Oberarm — und das war von je das Abzeichen Margaretas gewesen, nach dem sie die beiden Kinder überhaupt nur mit Sicherheit unterscheiden konnte!

Da fiel Margareta weinend in die Kissen, und nun begriff das entsetzte Mutterherz sofort – wenigstens glaubte sie, zu begrei­fen. Sie lief sofort zu ihrem Mann herunter, und war man sich denn bald einig, daß der Grünberger ihnen, und nicht nur ihnen, sondern der ganzen Stadt und der heiligen römischen Kirche dazu eine kaum tilgbare Schmach angetan. Man holte noch einige Nachbarn zusammen, beriet sich, und fasste schließlich den Entschluss, es nicht nur dem Grünberger, sondern den Grünbergern überhaupt, welche von jeher den Kopf recht steif trugen und sich wohl gar besser als die biedren Crossner dünkten, einmal tüchtig einzutränken. Am nächsten Morgen alarmierte man die ganze Bürgerschaft und zog mit Spieß und Beil und Schwert, an die 400 Mann stark, gen Grünberg. Dort feierte man nichtsahnend vor den Toren der Stadt, wohl eine halbe Meile vor den Mauern, ein Waldfest, zu Ehren weiß Gott welches Heiligen oder welches Grünbergers, und das neugebackene Ehepaar Heinrich Wenzel und Margareta alias Barbara geborene Dürr drehte sich lustig mit den anderen auf der Wiese im Tanze. Da brach es plötzlich aus den Gebüschen hervor, mit wildem Geschrei und Gejauchz. Und ehe die Grünberger sichs versahen (und konnten auch keinen Widerstand leisten, hatten ja gar keine Waffen bei sich) waren sie umzingelt. Die Frauen und Kinder ließ man laufen: mit Ausnah­me der einen, der widerrechtlich geraubten Helena alias Barbara alias Margareta, um derentwillen die Crossner den Grünbergern zu Leibe wollten. Von den Männern aber griff man 150 Mann, dazu noch die Kunstpfeifer und Musikanten, welche, nachdem sie eben noch den Grünbergern zum Tanze aufgespielt hatten, nun gezwungen wurden, an der Spitze mit zurück nach Crossen zu marschieren und wilde Siegesmärsche ertönen zu lassen.

Dem Heinrich Wenzel erschien dies alles wie ein wüster Wein­rausch, und daß gar er der Urheber und Grund des Überfalls der Crossner sein sollte, wie er aus den Anspielungen und Gesprächen aufschnappte, während er so nach Crossen im Zuge trottete, das wollte ihm gar nicht in den Sinn.

In Crossen wurden die 149 Grünberger eingesperrt, Heinrich Wenzel aber samt seiner Frau, deren Schwester und den Eltern vor den Rat geladen.

Hier erfuhr er denn sein Verbrechen: daß er widerrechtlich Barbara Dürr, mit der er gar nicht vermählt sei, anstelle des ihm kirchlich angetrauten Ehegesponses Margareta, nach Grünberg verschleppt und entfuhrt habe. Heinrich Wenzel beteuerte fle­hend seine Unschuld. Diese (und er wies auf Barbara) sei das ihm vor Gott und aller Welt zugesprochene Ehegemahl, und er habe sie unter dem Namen Margareta kennen und lieben gelernt. Da­gegen stand das Zeugnis der Mutter der Zwillinge. Der Vater und auch die Richter krauten sich den Kopf, denn sie begannen schon wieder, da sie sie so nebeneinander sahen, die Zwillinge zu ver­wechseln. Da trat Margareta hervor und löste die Frage auf eine zwar sehr glückliche, aber recht zweifelhafte Art, der man indes­sen triftige Gründe nicht entgegensetzen konnte (noch wollte!). Saß ihr wieder der neckische Geist im Nacken und sprach sie fol­gendes mit ernster Miene: es sei schon recht, daß der Heinrich Wenzel mit dieser da (sie zeigte auf Barbara) getraut sei. Müsse sie es doch wissen, da sie sich keinesfalls besinnen könne, vor dem Al­tar gestanden zu haben. Diese da sei zwar immer Barbara genannt worden, wie man (d. h. wer sich die Mühe der Unterscheidung ge­macht hätte) sie, die Sprecherin, als Margareta bezeichnet habe. In der heiligen Taufe aber, und dass erinnere sie sich noch genau, sei sie Barbara und jene Margareta getauft worden. Hätte sie nur nie widersprochen, weil sie ja doch selten einzeln gerufen worden seien, und es sich nicht gelohnt habe, darum den Mund aufzutun. Nun aber offenbare es sich doch, daß jene, obwohl sie zwar Bar­bara geheißen, dennoch, der Person nach, Margareta sei und also zu Recht in der Kirche als Margareta Dürr sich dem Grünberger Tuchmacher Heinz Wenzel verehelicht habe. Die Richter (schon um keinen kirchlichen Skandal heraufzubeschwören) schlössen sich der salomonischen Weisheit Margaretas alias Barbaras an. Und alles atmete erleichtert auf ob des glücklichen Ausgangs der Affäre, das Ehepaar, die Schwägerin, die Eltern, die Bürger und nicht zuletzt die eingesperrten 149 Grünberger, die sofort freige­lassen und mit viel umständlicher Entschuldigung heimgesandt wurden.

Dies ist die wahrhaftige und merkwürdige Geschichte von dem Einfall der Crossner ins Grünbergische, die sich zugetragen den 27. Juli im Jahre 1477 nach Christi Geburt und im 629. Jahre nach Erbauung der Stadt.

Die Erscheinung der heiligen Hedwig

Foto: Katharina Deckert Gießen

Auf der hiesigen Rathsbibliothek befindet sich ein in Schweinsleder gebundner alter Folioband1, dessen Inhalt . wenig Neugier weckt, dessen Umschlag aber auf den er­sten Blick auffällt. Der Buchbinder (der so viele alte, wertvolle Ma­nuskripte verhunzt und vernichtet hat, indem er sie in Unkenntnis ihres Wertes zu Buchbindungskunststücken ausbeutete) hat meh­rere Seiten einer alten handgeschriebenen Vulgata verwandt, um das Schweinsleder zu sparen.

Diese Handschrift, die Handschrift eines Mönches, ist nun noch deutlich zu erkennen und zu lesen: sie betrifft Stellen eines Petrus- und eines Paulusbriefes, und die Porträts der beiden Apo­stel sind sehr fein und mit sorgsamer Kunst in Blau, Rot und Gold als Initialen eingefügt. Zuerst gefällt an den Bildnissen der Hei­ligen nichts weiter als ihre leibliche Schönheit (womit sie — als Apostel – fast zu reichlich begabt sind.) Sieht man nun näher zu, so gelangt man zu einer wunderlichen Entdeckung. Die Gesichter der frommen Gottesleute tragen das Signum einer so merkwürdig mädchenhaften Süße und Empfindung, daß der Schluss wohl be­rechtigt ist: auf den schlanken, kasteiten, stilisierten Leibern der Heiligen wiegen sich übermütig wie Lilienblüten auf dem Stengel zwei hübsche Mädchenköpfe …

Und wir gehen noch einen Schritt weiter: die Apostelbilder sind die Porträts eines und desselben schönen Mädchens. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts lebte im hiesigen Franziskanerkloster, das seinen Platz hatte, wo heute der Neumarkt steht, der from­me und gelehrte Bruder Theodorus. Er zählte erst 29 Jahre, aber seine Gelehrtheit war so beträchtlich, daß sie in hiesiger Gegend und bis ins Frankfurtische hinein sprichwörtlich wurde. Darum übertrug ihm auch der Prior die Abschrift einer Vulgatabibel, da das hiesige Kloster einer solchen bisher noch ermangelte. Bruder Theodorus machte sich mit Eifer an die Arbeit. Er schrieb fein mit spitzem Pinsel und schwarzer Tusche zuerst das Evangelium Matthäi, danach Marcus, Lucas, St. Johannes und so fort, überwand auch noch die Acta Apostolorumaber als er – nach einigen Mo­naten — an die Apostelbriefe kam (und es war inzwischen Frühling geworden), wurde er unruhig, die Arbeit stockte und schlich nur mühsam und langsam wie ein träger Bach weiter. Durch das Git­terfenster seiner Zelle flog sein Blick oft mit den Vögeln ins klare silberne Blau, und seine Lippen, ob sie gleich Gebete murmelten, schienen weltliche und frühlingsunheilige Lieder jauchzen zu wol­len. Eines Tages nun, als er grade das P des Apostel Paulus zierlich zu malen im Begriff stand, sein Auge aber für einen Moment vom Pergament sehnsüchtig hinaus durch das Gitter abirrte: schrak er zusammen. Denn er hatte Marja, das schönste Mädchen der Stadt, und eines Schiffers Tochter, draußen in der Morgensonne über die Wiese schreiten sehen – Marja, um derentwillen sich die Schiffer und Landsknechte mit ihren Messern Flüche in die Puppen stie­ßen – und dennoch keiner von ihnen sich auch nur der leisesten Gunst Marja’s rühmen durfte. Der junge Kleriker stand vom Schemel auf und begann ruhelos die enge, dumpfe Zelle zu durch­wandern. Denn er war Marja schon einmal auf der Gasse begegnet und jetzt eben – so schien es ihm – waren ihre braunen flinken Augen wie Eidechsen an der Klostermauer hochgeklettert — und hatten etwas — oder jemand — gesucht. Dem Franziskaner schoss das Blut purpurn ins bleiche kasteite Gesicht. Wenn er es wäre, nach dem die Augen Marja’s über die Klostermauer gesprungen wären! Entrüstet wies er den unheiligen Gedanken zurück – aber so heftig er ihn verscheuchte, hartnäckig kehrte er zurück. Er fiel ins Knie und rief sich die Mutter Gottes im Gebete ins Gedächt­nis – sie erschien ihm, aber ihr Antlitz strahlte wie das Antlitz Marja’s und lächelte verführerisch weh zu ihm hernieder.

Seufzend erhob er sich und ging wieder an seine Arbeit. Aber wie er den Apostel Paulus als Initiale recht schön in Rot, Blau und Gold vollendet hatte: siehe: da winkte ihm aus der blauen Kutte des Heiligen Marja’s sanftes Gesicht entgegen.

Bruder Theodorus betete die Nacht durch – aber die Nacht war sinnlich lau wie Frühlingsnächte zuweilen sind, in denen schon der Sommer zittert. Und mit Gewalt drängte sich ihm die Erinnerung an Marja auf, an ihren Gang, ihre schmalen Hände. Nie, nie war ihm ein Weib auch nur anschauenswert erschienen. Jetzt schickte ihm die Versuchung des Teufels Marja, das kleine Fischermädchen — sollte sich in ihr sein Geschick erfüllen? Er wollte nicht unterliegen. Er kämpfte … eine Woche … vierzehn Tage … und jeden Tag in diesen vierzehn Tagen ging Marja an dem Klo­ster vorbei und ihre braunen Augen kletterten flink wie Eidechsen an der Klostermauer hoch und suchten etwas …jemand …

Da, um ihr zu entgehen, ließ er sich vom Prior auf eine Predigtreise in die Dörfer schicken. Müde, zerschlagen an Leib und Seele kehrte er eines Abends nach Crossen zurück.

Wiederum waren zwei Wochen vergangen — aber noch im­mer leuchtete das Bild Marja’s in ihm. Er ging zwischen Weidenbüschen, durch die Oderwiesen, nahe schon der Stadt. Der Mond stand hinter Wolken. Plötzlich … er zuckte zusammen … wuchs vor ihm aus dem feuchten Wiesennebel die Vision einer Frau … Er wollte fliehen … Sie hielt ihn gepackt. Er wollte das Kreuz machen … Sie verhinderte es … Da ließ er sich willenlos in ihre Arme gleiten. —

„So ist es mit den Mönchen“, sagt eine damalige Chronik, „wenn sie erst einmal Blut geleckt haben (und sind sie vorher die zahmsten Haus- und Klostertiere) werden sie wie wilde Leute.“

Bruder Theodorus wagte sich sogar eines Nachts in den Gar­ten am Hause Marja’s. Sie standen in zärtlicher Umschlingung unter einer Linde – als plötzlich der Mond, und mit ihm, aus dem Hause, ein Haufen schreiender und gestikulierender Leute hervor­brach. Denn die Eltern Marja’s hatten längst Verdacht geschöpft. Mit Stangen und Keulen wollten sie auf den geistlichen Liebhaber eindringen, dem die Zunge vor Angst im Gaumen gefror. Da trat Marja vor und rief (wie denn die Frauen, wenn sie einmal geistes­gegenwärtig sind, es mit sehr viel Geist sind): „Fallet nieder und betet, denn sehet, die heilige Hedwig ist mir erschienen!“

Da nun fielen sie alle (wie die Dummheit immer nur ein ener­gisches Kommando braucht, um ausgeführt zu werden) auf die Knie: denn die Kutte des Franziskaners malte sich in der grauen Dämmerung wie ein Frauenkleid ab. (Wussten sie doch nicht, daß der Geliebte Marja’s grade ein Mönch sein sollte.) Er aber hob die Arme und segnete sie. Und öfter noch und unbehelligter ist die hl. Hedwig dem schönen Fischerkinde Marja erschienen.

1 Herr Professor Lüddecke – Crossen (um wenigstens einen zuverlässigen Zeugen zu nennen) und der Verfasser haben das Buch noch in Händen ge­habt. Es befand sich zuletzt im großen Schranke, der ehemals im Stadtverordnetensitzungssaale stand und jetzt in das Kassengebäude-Parterre geschafft worden ist. Das Buch ist jüngst auf rätselhafte Weise verschwunden, wenig­stens im Augenblicke nicht aufzufinden, so oft und angestrengt der Verfasser auch danach gesucht hat. Es wäre schade, wenn von dem Buche nichts anderes mehr bliebe, als die hübsche (ein wenig frivole) Sage von der »Erscheinung der heiligen Hedwig«, die der Verfasser hier aufzuzeichnen unternommen hat.

Der Astronom

Foto: Katharina Deckert Gießen

Ich fand das folgende, hübsche Märchen in einem kleinen lateinischen Schmöker, den ich auf dem Tandelmarkt der Auer Dult in München vor einigen Jahren erstand, betitelt: „Origines urbiutn oppidorumque Germaniae“ Nürenberg 1609 bey Johann Pfeiffer. Ich habe das Stück sehr frei aus dem Lateinischen übertragen und hier und da, der besseren künstlerischen Wirkung zu liebe, ein wenig modernisiert. Es ist nur, wie die Buchstaben ergeben, von einer Stadt Croßen die Rede. Ob damit Crossen an der Elster – oder doch etwa Crossen an der Oder gemeint sei: dies zu entscheiden, überlasse ich den Historikern und Philosophen (und halte die Untersuchung einer Arbeit zwecks Erlangung des philosophischen Doktorgrades nicht für unwürdig. Reflektanten erkläre ich mich zu jeder möglichen Auskunft über Quellen usw. gern bereit.) – Ich erzähle das Märchen, einfach und schlicht wie es sich gibt – und bitte, der Tatsache stets eingedenk zu bleiben, daß es eben – nur ein Märchen ist.

In jenen alten Zeiten, da die Menschen sich noch alle duzten und die Träume wie goldene Apfel auf den Bäumen wuchsen, lebten sechs Zwerge.

Klein waren sie wie dreijährige Kinder, hatten aber jeder ein riesengroßes Maul wie ein Ochse. Sie behaupteten, ihre Seele sei nicht wie bei andern Menschen eine Maus, sondern eine Ratte und diese brauche eine so große Öffnung zu ihren Spazierfahrten. Die andern Leute aber meinten, ihr Mund hätte sich wegen ihres törichten Gefasels so breit gezogen.

Diese sechs Zwerge gründeten, da sie zu klein waren, die Träu­me auf den Bäumen zu pflücken und keine bessere Beschäftigung fanden, einen Skatverein. Ihre Namen waren Buchstaben, man hatte damals keine Lust, stundenlang an einem Wort zu würgen.

Der erste, den ein rothaariger Kopf zierte und der immer nachdenklich befunden wurde, hieß darum n; Der zweite, der sich über alles wunderte, und eine Glatze hatte, o; Der dritte ß, denn er scheuchte ß die Eidechsen an der son­nigen Mauer;

Der vierte r, weil er beim Sprechen das r schnurrte; Der fünfte e, er lachte meckernd e wie eine Ziege; Den letzten endlich nannten sie c, weil er ewig an einer schlim­men Zeh litt.

Ein Jahr lang spielten sie Skat von Sonnenauf- bis Untergang. Dann wurde es dem c langweilig, der o pflichtete ihm bei und sie beschlossen um sechs Frauen zu werben von ebensolcher Gestalt und ebenso großem Maul. Diese sechs Frauen taten sich, nachdem sie mit den Zwergen vermählt waren, zu einem Damenkränzchen zusammen und die sechs Familien gründeten eine Stadt. Sie musste an einem Fluss liegen, weil c Wasser in der Nähe haben wollte, seinen schlimmen Zeh zu kühlen. In diese Stadt geriet eines Tages ein Mann mit einem schwarzhaarigen blauäugigen Knaben. Das verblüffte und ärgerte die Zwerge: sie waren samt und sonders mit blauen Augen und blonden Haaren geschmückt und hielten den fremden Mann für einen Revolutionär.

Der Fremdling hatte einen riesigen Körperbau und riesige Ohrfeigenhände, so fürchteten sie ihn und schmähten nur im ge­heimen.

Solange der Knabe klein war und mit ihren Kindern vergnügt und kindlich spielte, ging es noch an. Aber der Knabe trat in das reife Alter und wollte Astronomie studieren.

Und da er immer den Kopf hoch trug, die Sterne zu sehen, schalten sie ihn bald hochmütig. Von dem vielen Sternegucken wurden dem Knaben auch die Augen weitsichtig, sodass er die Nähe schlecht erkennen konnte und verabsäumte, die Zwerge zu grüßen. Da fühlten sie sich innerst in ihrer Ehre getroffen und schrien, wenn sie untereinander waren: „Er ist hochnäsig, wir sind ihm zu gering, zu zwergig. Ja, ja, die jungen Leute heutzu­tage, wenn sie auf die Universität kommen, werden sie borniert und kennen unsereinen nicht mehr.“

Und sie trachteten, wie sie ihm ihren Hass zu fühlen gäben.

… Eines Nachts hatte der junge Mann einen Stern vom Him­mel geholt – als Zeichen seiner tiefsten Kunst. Er hatte seine Seele als Schwalbe ausgesandt, die hatte ihn von der Himmelswiese gepickt.

Und er stellte den Stern im Rathaus aus und zeigte ihn gegen Entree.

Da liefen sie daher, die c und o und ß und r und wunderten sich, daß sie nur ein Sandkorn sahen. Und sie schmähten ihn einen Betrüger.

Ihre schmutzigen Reden schmerzten den Jüngling und er be­griff, daß ihre Seelen und Augen anders geformt waren und daß sie ihn nicht verstünden.

„Wir können besser Sterne fangen“ sagten sie und wollten ihn beschämen und sich großtun, „wir schießen sie herunter.“

Einer aber verfiel auf den Gedanken: „Seht doch unsere Au­gen, leuchten sie nicht eben so gut wie die Sterne?“ Da schössen sie sich gegenseitig in die Augen und kamen so in ihrer eigenen Dummheit um.

Der Astronom aber zog in eine andere Stadt, wo man ihn besser würdigte.

Celestina

Foto: Katharina Deckert Gießen

Ist nicht gar lange Zeit, nachdem Crossen bis auf den Grund gantz und rein ausgebrennet, daß auch nicht ein Häuslein, ausgenommen die Sakristey, welche mit dem Blute eines Kalbes, so gelaufen kommen, gelöscht worden, übrig und stehen blieben, Johannes Sultano aus dem fernen Lande Venezia in die Gegend gekommen und, nachdem er rings in andern Städten Bau­werke in einem schönen und frembden Styl aufgeführt, anno 1538 vom Rate zu Crossen bestellet worden, ein Kaufhaus am Markte auf- und herzurichten. Und hat selbiger ein Mägdlein mit sich ge­bracht, Celestina geheißen, und sie als seiner in Gott verstorbenen Schwester Kind bezeichnet, deren Schönheit ist wie ein seltner Stern über uns aufgegangen, also daß ihr der Name Celestina, in unserer Sprache die Himmlische genannt, zu Recht und Selig­keit gegeben schien. Schwarz ist sie gewesen an Haar und Augen, schwarz wie die dunkle Nacht, wann sie sich im Weiher spiegelt, und ist doch immer ein Leuchten von ihr hergegangen. Schritt sie über die Gassen, stolz und fein als ein junger Hirsch, haben Fenster geklirrt und Thüren und Herzen, und hat Jung und Alt die Köpfe gesteckt, sich an ihrem Anblick zu ergetzen. Aber in unsere Weiber ist der bleiche Neid und rote Hass gefahren und haben hinter ihr getuschelt, daß sie der Männer Blicke und Ge­danken von ihnen kehre. Der ich jetzt diese Zeilen der Posteri-tati zum Gedächtnis schreibe, während des Alters weiße Strähnen spärlich mir über die Stirn fallen, sehe ich meine goldene Jugend und höre der Venetierin italisches Lachen wieder wie Schwalben meinen Weg umzwitschern. O meine Jugend! Requiescat. — Wir junge Fante, inprimo mein Freund Christianus Licht, Christiani Gerichts-Assessorii Sohn, candidatus juris zu Frankfurt und ich machten der Venetierin verwegne Cour. Aber sie lachte nur und spottete unser: „Wags Euch nicht, blondes Gesindel!“ Schnitt uns der Spott der geliebten Frau wie mit Messern in die Seele, also daß wir manche Nacht, unser hitziges Blut zu betäuben, in den Sauff- und Branntweinhäusern lagen, den literis und moribus und auch den civibus zu Trotz. Die Weiber aber hatten nicht Ruhe und Freude, bis sie ihr gar schlimme und abscheuliche Dinge anhingen. Und war die erste die Frau des Ratsherrn Gottwald, welche, als eines Tags Celestina deren Kind auf der Gasse liebkosete (denn wenn sie uns Alten schon verachtete, liebte sie doch die Kinder sehr) – es gewaltsam aus ihren Armen Riss, und wehklagte und schrie, Celestina sei eine unehrliche Person und, wie man wohl wisse, dem Henker verfallen, dessen Knecht sie wahrlich kennen müsse, und welcher von ihr berührt sei, der werde unrein und sei obligiret, sich in den Kirchen zu reinigen. Lachte Celestina und ahnete schier nicht, Wess eines Verbrechens sie schuldig war, und sagte: „Ob des Henkers Knecht nicht auch ein Mensch sei, und ein stattlicher dazu?“ Von diesem Tage an wichen die Weiber und notgedrungen auch die Männer ihr aus, ob auch manch verliebter Blick noch zu ihr sprang, heimlich, wie die Maus aus dem Loche. Denn es ward offenbar, daß sie allein und jeglicher Begleitung bar, vor das Glogauische Thor spazierete und erfuhr man auch warum. Lag dort das Gebäude, wo der Henker und Abdecker samt seinem jungen Knechte Martin wohnete. Sind Henker und Ab­decker ein unehrlich und missachtet Volk, und wer sie je berührt, oder unvermutet mit ihnen zu Tische saß, muss öffentlich Buße leiden. Und aus welchem Becher ein Henker trank, der ist ihm verfallen, denn niemand möchte nach ihm drauß trinken. – Cele­stina aber liebte des Henkers und Abdeckers Knecht Martin. Der war schwarz und wild an Aug und Haaren wie sie und ein wüster Gesell. Brachte nun dieses Jahr eine curieuse Erscheinung der Natura. Es wurde nämlich eine Arth unbekannter Vögel hier gefan­gen, in der Größe einer Drossel, mit einem dicken Schnabel wie die Seidenschwäntze, am Leibe aber gantz und gar umb und umb schön scharlachroth. Es gelang nun, den obstinaten Weibern (wie ja Weiberlist kein Ende hat), eine accusatio beim Rathe zu erwir­ken gegen Celestina, daß man ihr den Hexenprocessus mache. Da sie kraft ihrer höllischen Künste und Talente jene unbekannten Vögel herbeigerufen, die Stadt zu verängstigen. Haben viele, mit ratione begabte Männer (ermangeln die Frauen, quod inter omnes constat, ja gänzlich der Vemunfft) dagegen protestiret. Quorum in numero auch ich, denn war meine Liebe, trotz wilder Ausschwei­fungen in Baccbo, so ich in Melancholie begangen, nicht gestorben. Half alles nichts und wurde das Judicium gegen sie gefällt und das Datum bestimmt, an welchem sie öffentlich und vor allem Volk auf dem Marktplatz sollte verbrennet werden. In strahlender Son­ne und italischer Bläue zog der Tag ihrer Hinrichtung herauf. Von früher Stunde an war ein Gewimmel von Menschen auff dem Markt wie von Heuschrecken in schlimmen Jahren. Um 10 Uhr fuhr der Henkerkarren, mit einem Esel bespannt, daneben der Henker und sein Knecht Martin schritten, durch das Glogauische Thor. Sie selber stand darin, die zarten Knöchel gefesselt, und nur mit einem weißen Hemdlein bekleidet. Und sah ich nie ein Weib (und werde wohl keines mehr sehen mit meinen siebenzig Jahren), dem, trotz aller Tollheit ihrer Liebe, die reine Schönheit so anmu­tig und fast heilig im Gesicht und der holden Schlankheit ihres Körpers geschrieben stand. Der Karren hielt auf dem Markt. Das Volk ward vom Schweigen wie bedrückt. Ein Diener Theologiae ging aus dem Kreis auf sie zu. Sie sah ihn, schüttelte den Kopf und lächelte. Und wie dies Lächeln auf ihren bleichen Wangen schim­merte, da trat des Henkers Knecht Martin – welcher in seiner Ein­falt dem Judizium geglaubt und sie als Hexe geachtet und ihre erst genossene Liebe geflohen hatte – hervor, packte ihre gefesselten Hände und schrie: »Sie ist mein Weib, mein Weib!« und hob sie mit seinen starken Armen wie ein Kind zu sich herab. Das zischte wie ein Peitschenhieb über die Menge, also daß jeder verlegen sei­nen Nachbarn anblickte, nicht allerletzt die Richter. Ward man doch nun gezwungen, das uralt Recht des Volkes zu respektieren und zu honorieren, nach welchem eine Hexe frei und ihrer Bande ledig würde, falls ein Mann sich fände und ihrer zur Ehe begehr­te. Der Richter Oberster also gab den Befehl, sie zu lösen. Des Henkers Knecht Martin fiel wie vor einer Heiligen in die Kniee, und Thränen funkelten wie Dolche in seinen Augen: „Bin auch ein Mensch! Ein Mensch! Kein Vieh!“ Dann hob er Celestina, die in Ohnmacht gesunken war, wieder auf seine Arme und trug sie, ohne ihrer Last inne zu werden, hinaus, durch das Glogauische Thor, auf die Schanze, wo des Henkers und Abdeckers Gebäude standen. Und gilt davon noch heutigen Tages im Volk das Wort: „Wann sich Henker und Hexe begegnen, muss der Teufel die Ehe segnen.“

Die Nottaufe

Foto: Katharina Deckert Gießen

Um das Jahr fünfzehnhundertsoundso lebte in hiesiger Stadt der Kämmerer

Jacob Häberle. Seine Vorfahren stammten, wie das ja schon der Name besagt, aus dem Schwäbischen. Und ein gut Stück schwäbische Gemütlichkeit hat­te auch er sich bewahrt. Nur in einem verstand er keinen Spaß: in dem, was die Religion betrifft. Nachdem sich die reine und unver­fälschte evangelische Lehre, wie sie Luther gepredigt hatte, auch in Crossen durchzusetzen begann — war er sofort mit Feuer und heiligem Eifer dabei und wurde im Handumdrehen aus einem gefügen Katholiken ein wilder und wüster Protestant. Aber seine Frau blieb still bei der ihrem schwärmerischen Herzen vertrauten alten Lehre, und wie sehr er sich bemühte, sie auf seine Partei zu ziehen, er kämpfte vergebens gegen ihren frommen Starrsinn. Da wurde ihnen nach siebenjähriger Ehe ein Kind, ein Knabe gebo­ren. Die Eltern waren außer sich vor Freude, und er sollte, wie der Vater jubelte, in der heiligen protestantischen Taufe natürlich, den Namen Martin empfangen. Seine Frau, um ihn nicht zu reizen, haderte nicht gegen den Namen. Während er an Luther dachte, konnte sie den Namen Martin vom heiligen Martin von Tours ableiten. Aber die protestantische Taufe! Sie lag ja im Wochenbett und war zu schwach, seinem ungestümen Willen ernstlich und ins Gesicht Widerstand zu leisten. Da sie sich aber innerlich und ge­treu als Anhängerin des Papsttums bekannte und seinen Segen auch ihrem Sprössling vermitteln wollte — beschloss sie, heimlich ihrem Mann entgegenzuwirken, und so versah sie eines Tages, als er außer Hause weilte, den Knaben, ehe er protestantisch getauft war, mit der katholischen Nottaufe, wie sie ja jeder erwachsene Katholik in der Not zu vollziehen befugt ist. Und ließ dann ru­hig die reguläre protestantische Taufe über sich und den Knaben ergehen, hielt sie diese doch nun in ihrem einfältigen Gemüt für wirkungslos.

Der Knabe wuchs munter und gesund heran und wurde ein kluger und geweckter Kerl. „Der Bube muss mir Pastor werden“, sagte Jacob Häberle, als er ihm eines Tages die Ovidvokabeln ab­hörte. „Ja“, bestätigte sie träumerisch. Und dachte jedes an seine Kirche.

Als der Bursche 14 Jahr alt war, achtete die Mutter es an der Zeit, ihn über seinen wahren Glauben aufzuklären. Der Knabe wurde sehr verlegen, spielte mit den Knöpfen seiner Jacke und wusste ihr nichts zu erwidern. Selbstverständlich erfuhr nun Jacob Häberle von dem Streich seiner Frau, fluchte nicht schlecht und brav lutherisch, wie Martin Luther, der ja nie ein Blatt vors Maul genommen. An der Nottaufe jedoch war nichts zu ändern – aber sie galt natürlich nicht (meinte Jacob Häberle). In dieser Meinung entließ er seinen Sohn, als der 17 Jahre alt geworden war, an die Universität Frankfurt an der Oder, wo derselbe dem „Studium Theologiae“ obliegen sollte. Dort aber erhob die Fakultät Beden­ken, ihn zu inscribieren. Denn Frau Fama hatte ihr die Sache mit der katholischen Nottaufe zu Ohren getragen. Als sie aber Sperenzchen und Winkelzüge machten, und unter Androhung des ewigen höllischen Schwefelfeuers allerlei Unterschriften von ihm forderten, die er zu geben nicht gesonnen war — da machte er kur­zerhand dem Kuhhandel ein Ende – und schüttelte den Staub Frankfurts von seinen Sohlen und den Schwalm protestantisch­theologischer Flüche aus seinem Gehirn. Denn er hatte die Ener­gie vom Vater, das schwärmerisch Verzückte aber von der Mutter geerbt. Als er sichs so in der kahlen Gasthofskammer überlegte, entdeckte er plötzlich sein katholisches Herz, und da er nicht pro testantischer Geistlicher werden konnte, wollte er es wenigstens im Katholischen versuchen. Klopfte also in Ansbach beim Bischof an und wurde ihm bereitwillig aufgetan. Natürlich habe die von der Mutter an ihm vollzogene Nottaufe volle Geltung … So wurde Martin Häberle nach und nach, und indem sein Vater aus der Fer­ne vergeblich protestierte, seine Mutter aber der Madonna Segen auf ihn herabflehte, katholischer Vikar und kam als Pfarrer nach Augsburg ins Bairische.

Jahre gingen ins Land. Als Martin Häberle seinesteils an das fünfunddreißigste gekommen war, nahm ihn die verwitwete Grä­fin von Brühl, die ihren Witwensitz in Augsburg hatte, als Beicht­vater an. Sie war eine reiche, stattliche und noch immer schöne Dame, trotzdem sie ihrem Beichtvater, was das Alter anbetrifft, wohl die Stange halten konnte.

Dieser hatte jahrelang an seine halb protestantische Her­kunft nicht mehr gedacht, nur in schweren Träumen legte sie sich manchmal wie ein Alp über ihn – jetzt aber, da er Abends nach der Mahlzeit behaglich im Sessel, der Gräfin gegenüber, am Ka­min saß, und die Scheite in roten und gelben Zungen am Gitter leckten, kamen ihm im trauten Beieinander Gedanken, wie sie wohl einem protestantischen Geistlichen, keineswegs aber einem katholischen Beichtvater zu gestatten sind. Melancholisch seine schwarze Soutane streichelnd, wie das Fell eines dunklen Tieres, erzählte er, halb im Ernst, halb scherzhaft, wie ein Bonmot, seine katholische Not- und seine protestantische Haupttaufe.

Die Gräfin hörte ihm aufmerksam zu, und sagte (und sah ihn unschuldig lächelnd mit ihren großen blauen Augen an) „Aber dann sind Sie ja — Protestant! Dann dürfen Sie ja heiraten!“ Er blickte überrascht auf. Dann lächelte er (der als Beichtvater die Frauen wohl kennen gelernt hatte.) „Ist das Ihr Ernst, gnädigste Gräfin?“ Sie spielte mit einem Ring am Finger: „Vollkommen.“ Er erhob sich. „Der heutige Disput, gnädigste Frau, hat mich nachdenklich gestimmt. Ich bitte um Urlaub, ihm weiter nach den strengen Regeln der Logica nachsinnen zu dürfen.“ Und er küsste ihr die Hand und ging. Als die Portiere hinter ihm zusammen­schlug, klingelte die Gräfin ihrer Zofe.

„Ich fürchte, Madeleine, wir werden die alte zweischläfrige Bettstelle wieder vom Boden holen lassen müssen. Tu m’as compris? 

Martin Häberle schlief drei Tage nicht. Endlich hatte er die Abhandlung fertig, die er einem hochwürdigen Erzbischof zuge­hen ließ, und worin er mit jesuitischer Spitzfindigkeit und mes­serscharfer Logik bewies, daß er – eigentlich Protestant sei. Und (sozusagen) gar nicht zum Protestantismus überzutreten brau­che — wenn er etwa die Absicht hegen sollte, sich in den heiligen Stand der Ehe zu begeben.

Dies ist die wunderbare und erbauliche Geschichte des Martin Häberle, welcher, nachdem er schon in früher Jugend die Nottaufe erlitten hatte, diese noch einmal im besten Mannesalter an sich selber vollzog, unter dem heiligen signum der allmächtigen Venus.

Der traurige Prinz

Foto: Katharina Deckert Gießen

Es lebte einmal zu der Zeit, da Crossen noch Herzogtum war, ein Prinz namens Conrad im Schlosse zu Krakau. Der krankte wie alle Prinzen gefährlich am Leben. Aber während die andern Prinzen sich über ihre Krankheit hinweg­täuschten, -tanzten, -liebelten und -lachten, blühte in ihm eine un­endliche Traurigkeit, deren giftige Süße nicht zu bannen war. Aus seinen Augen strahlte verführerisch weh das unbezwinglichste Leid. Und die Mädchen, die sie sahen, wo es immer war: im Saal, auf der Straße oder wenn von einem Fenster des Schlosses sei­ne Blicke wie zwei dunkle Falken sich in die huldigende Menge senkten — die Mädchen fingen sogleich an bitterlich zu weinen und hätten ihm allesamt gern die Traurigkeit von Aug und Mund geküsst, wäre er nur froher geworden. Der Prinz aber wusste nicht um den Grund seiner Schmerzen. Er ließ sich ein Zimmer bauen, rund wie ein Pavillon, das wurde innen ganz mit Spiegelglas tape­ziert. Da saß er stunden — nachmittage lang, in seine eigenen Blicke qualvoll versunken, bis auch ihm die Tränen über Wange und Kinn stürzten. Tränen, die ihm keine Erleichterung verschafften.

Was soll ich auf der Welt, ich ein Prinz, philosophierte er, es gibt so viele Prinzen, an jedem Königshaus drei Dutzend. Und wenn sie lustig und lebensmutig sind, geschieht es deshalb, weil sie nicht fühlen, wie überflüssig sie sind. Die Arbeit, die ich tue, könnte mein Kammerdiener, von seinen kammerdienlichen Funk­tionen abgesehen, noch nebenher verrichten. Und wenn ich als einfacher Mensch noch einen Wert darstellte oder gestaltete! Aber meine Triebe und meine Begabung sind auch 10 000 andern in ganz gleichem Maße zu eigen. Denke ich – der Verstand der 10 000 denkt genau das Gleiche — unter gleicher logischer Zwangsjacke — küsse ich, — küsse ich mit fremden Lippen. Das einzige, was mich vor ihnen auszeichnet, ist meine große Traurigkeit. Trauert sie um zwecklose Zwecke, um ziellose Ziele? Ach — ich weiß ja nicht, was Zweck und Ziel bedeuten: wie mißtönige Blechschellen tönen mir diese Worte, die ich nie und nimmer zur Harmonie stimmen wer­de. Ich habe nur meine Traurigkeit. Und er ging hin und setzte sich in sein Zimmer und starrte in das Spiegelglas, das sein Bild wollüstig in sich hineinsog.

„Man muss ihm eine Geliebte assistieren,“ stammelte der alte hagere Hofmedikus. „Eine Geliebte“ echote der närrische Kreis der Höflinge. „Eine Geliebte…“ — klang es ins Volk und sang es unter den lieben Mädchen fort, die jede insgeheim sehnsüchtig sich linker Hand des schönen melancholischen Prinzen durch die hohen kühlen Säle des Palastes schreiten sah. Aber der Staatsrat wählte sie alle nicht, die sich zu tausenden an die Tür des prinz­lichen Schlafgemaches drängten – vernarrt in seine schwarzen wehmütigen Augen – keine ja dachte im tiefsten Grunde ihn hei­ter und fröhlich zu machen, jede nur wollte den Zauber seiner Traurigkeit auf sich wirken lassen und weinen und blicken lernen wie er.

Der Staatsrat griff aus der Schar des königlichen Theaterbal­letts ein Mädchen, das war von ausgezeichneter Schönheit und leuchtender Jugend. Nie war ein gleichvollendeter Körper gesehen worden, der die Schönheit von Blume, Himmel, Meer, Fels, Baum und Tier in sich vereinte.

In diesem wundervollen Körper aber wohnte keine Seele. Sie war geflohen, weil sie ihre zwiespältige Macht fürchtete, und trieb sich wesenlos auf Heide und Wald, in Städten und Wolken herum. Deshalb war dieses schöne Mädchen auch das einzige, welches sich über den Prinzen nie Gedanken gemacht hatte. Ihr Gefühl glich einem leeren Gefäß, welches nur dröhnte, wenn man mit einem Klöppel daran schlug.

Der Prinz nahm die Geliebte ohne Verwunderung entgegen und betrachtete sie kaum so neugierig – wie man einen geschenkten Ring, ehe man ihn an den Finger steckt, betrachtet. Dann lachte er, ein biegsames, zitterndes Lachen, das wie ein Vogel zur Kuppel des Zimmers emporflatterte, um jäh und tot herabzustürzen. Alle, die es hörten, schauderten — nur die kleine Balletteuse lächelte, hilflos und dumm.

Als der Prinz eines Tages in seinem Spiegelpavillon saß und sich quälerisch bestaunte, bemerkte er plötzlich, daß mit seinem Gesicht im Glase eine seltsame Veränderung vorging: ins grau­weiße und grünliche begann es zu schillern und die Augen kro­chen in ihre Höhlen hinein – so daß sie unendlich langen und dünnen Trichtern ähnelten — und die sonst störrischen braunen Haare wurden von unsichtbarer Hand wie unnütz Unkraut aus­gejätet. Da freute sich der Prinz zum ersten Mal in seinem Leben. Das musste der Tod sein. Er grübelte dem Wunder nach – und je mehr er grübelte, desto herrlicher malte er seine Zukunft; seine Augen würde er ja nicht mehr sehen: sie, der Urgrund seiner hei­ßen Traurigkeit. Und er gab Befehl zum Bau eines Mausoleums. Hundert Klafter tief unter der Erde wurde es gebaut, zehntau­send schwarzmarmorne Stufen führten in die erleuchtete Halle, aus schwarzem Marmor errichtet, in der ein schwarzmarmorner Sarg stand, dessen Wände viele Meter dick maßen. Im Sarg be­fand sich eine winzige schwarzmarmorne Truhe. In diese sollte man, wenn er einst gestorben wäre, seine beiden Augäpfel bergen. So gedachte der Prinz, den Schmerz seiner dunklen Augen auf ewig, ewig stumm zu machen. Denn er besorgte, daß diese Augen, wenn sie nicht gänzlich in die Erde versänken, noch über das Grab hinaus Elend stiften und das Volk verheeren könnten. Der Leibmedikus schmunzelte: „Ja, ja — eine Geliebte, das hilft immer, ein probates Mittel. Seine Hoheit sind jetzt von einer entzückenden Lustigkeit.“ Und der närrische Kreis der Höflinge echote: „… ent­zückende Lustigkeit.“ „Entzückende Lustigkeit,“ klang es im Vol­ke fort und man brannte Freudenfeuer auf den Bergen wie zur Jo­hannisnacht, Raketen stiegen, gelbe, rote und violette, künstliche Sonnen und Sterne zerplatzten und drehten sich wie wildgewor­dene Wagenräder und die Bierschenker und Weinwirte machten ein gutes Geschäft. Der Prinz trug einmal seine Geliebte in den Spiegelpavillon. Blendend und lichtprunkend warf der Spiegel die helle Schönheit ihres Leibes zurück. Er sah ihr ins Antlitz — und erschrak heftig. Durch ihre Körperlichkeit hindurch grinste ihm sein Spiegel-Ich als platter, hässlicher Totenkopf entgegen.

Und er küsste sie und sann bei sich, ob der Weg zum Tode durch das Weib ginge. Öfter rief er sie nun in den Pavillon. Dahin — in das Spiegelglas — verirrte sich auf ihrer Wanderung, fast zu­fällig und doch von seinen unbewussten Trieben gelenkt, die Seele des schönen Weibes. Sie war des Vagantendaseins und der Gast­freundschaft von Baum und Fluss und Wolke und Tier herzlich überdrüssig. Sie wollte sich selbst wieder empfinden: nicht über die Welt verstreut, sondern die Welt in sich gesammelt. Der Prinz und die Geliebte traten abends in den Pavillon. Als die Seele ih­ren Leib erkannte, tauchte sie, Sorge und Furcht missachtend, selig in ihm unter. In demselben Augenblicke, wo höchste Schönheit Leibes und der Seele sich verbanden und in den silberblauen Au­gen des Mädchens offenbar wurden, fiel der Prinz tot zu Boden. Er starb mit einem Lachen der Erlösung. Als sie ihn unter Rausch und Pomp begraben wollten, und der Leibmedikus und die Toten­weiber den Leichnam wuschen und balsamierten, fanden sie, daß er keine Augen hatte. Sie wunderten sich höchlich: können Augen verloren gehen? Nein, im schlimmsten Falle gestohlen werden! Sie rieten hin und her auf den Dieb, bis die Pfaffen eines Tages das Mädchen, seine Geliebte, vor das Tribunal schleppten. Und in der Tat — aus ihren Augen sah der Prinz: nur war die Trau­rigkeit verschwunden, wo sie aber leise durchschimmerte, war sie von Güte und reiner Anmut ganz verklärt. Die Priester wollten ihr die Augen ausstechen, sie, um das Gebot des Prinzen zu erfül­len, in der kleinen marmornen Truhe beisetzen. Die Richter und Geschworenen jedoch widersetzten sich der klerikalen Forderung. Sie ahnten, daß diese Frau die Seele des Volkes in ihren Augen trage.

Die Odernixe

Foto: Hannelore & Hartmut Deckert

Im Jahre 1659, gegen den Herbst zu, wurde der Bau des Röhr­kastens auf dem Markte vollendet. An dem Bau war auch der Steinmetzmeister Hanns Erdmann beteiligt, welcher die scheußlichen Köpfe, so da Wasser speien, schön und mit künst­lerischer Bedachtsamkeit gemeißelt hatte. Zur Feier der Voll­endung zog er samt einigen Gesellen und guten Freunden hinaus nach Hundsbelle und tat sich in einem dortigen Weinschank wacker an 1658er, welches Jahr vorzüglichen Weinwachs gehabt hatte, gütlich — gegen den Willen seiner grämlichen Frau, welche ihn nur nach langem Keifen und Räsonnieren hatte laufen lassen und überhaupt ein rechter Satan war (wie sich im Gange dieser Geschichte noch erweisen wird.) Dort in Hundsbelle saß er nun procul negotiis und – er seufzte selig auf – fern auch von seinem zänkischen Weibe, im kühlen Schatten einer Linde am Holz­tisch und ließ den Becher voll goldenem 1658ers tüchtig kreisen. Seine Blicke hingen zärtlich an den Rebenhügeln, auf denen der 1659er verheißend in schweren Trauben in der Abendsonne fun­kelte. Hanns Erdmann war im Nebenberuf und Innenleben (und wenn es seine Frau nicht sah) so eine Art Künstler, und Künstler haben immer für die Natur und deren Reize, wozu unzweifelhaft der Wein gehört und ziemlich an erster Stelle zu nennen ist, eine passionierte Vorliebe gehegt. Dieser seiner begeisterten Naturver­ehrung gab Hanns Erdmann bis tief in die Nacht hinein entspre­chenden Ausdruck und die Glocke von Crossen herüber kündete die 11. Stunde, als man endlich an den Heimweg dachte. Arm in Arm, eine schwankende Kette, marschierte man aus Hundsbelle und gröhlte das halbe Dorf aus dem Schlaf mit dem schönen Liede: „Da ham’mersch, da ham’mersch, da ham’mersch ja!“

Wie das gekommen ist, davon hat keiner der Festteilnehmer Kunde geben können — aber, kurz und gut: als man in Crossen eintraf, war Hanns Erdmann verschwunden, fehlte das Mittelglied ihrer Kette, die sich, nachdem er hinausgefallen sein musste, von selbst wieder geschlossen hatte. Wie aber diese Nacht für ihn ver­laufen, das hat er am nächsten Morgen, als er bleich, hohlwangig und sehr leise, von seiner Frau aber dennoch abgefasst, zu Hause ankam, dieser treuherzig gebeichtet. Und wir können nichts, als diese Beichte hier wiedergeben, obgleich begründete Anzeichen vorhanden sind, die darauf hinweisen, daß die Geschichte doch wesentlich anders abgerollt ist. Was sich auch noch, im Laufe der Historie, dem einsichtigen Leser offenbaren wird.

Dieses aber erzählte Hanns Erdmann seiner missgünstig dreinschauenden Ehehälfte:

Da ihm, wie ihr wohl bekannt sein müsse, (tückisches Kopf­schütteln der Frau) ein Hang zur Einsamkeit innewohnt, der ihn manchmal mit plötzlicher und stürmischer Gewalt erfasse, so habe er auch gestern Abend sanft sich von den Genossen losge­macht, um auf dem Heimweg seinen Träumen und seiner Philo­sophie ungestört nachhängen zu können. Da sei ihm nun eine son­derbare und dem rationalistisch verdorbenen Geiste nicht fassbare Erscheinung zugestoßen.

Er ging den Fußsteig, unten an der Oder, entlang und wie er gerade so recht innig an sein teures Weib daheim gedacht habe (grimmig ungläubiges Lächeln der Frau) – hätten plötzlich die Fluten vor ihm gerauscht und ein wundervolles Weib sei von ih­nen emporgetragen worden, von einer Schönheit, wie er sie noch nie erblickt (Stirnrunzeln der Gattin), ganz wie eine richtige Frau anzusehen bis unter die Brüste, aber von da an geschuppt und ge­schwänzt wie ein Fisch. Die habe geruht, ihn, der vor der Erscheinung wie verdutzt stand, liebreich anzusprechen (die Frau: »Na warte!«), und habe ihre Rede also gelautet: »Fürchte dich nicht, o Mensch, der du gewürdigt bist, meinen Weg zu kreuzen. Ich bin die Odernixe, so wenige geschaut, ohne ihren Tod in meinem Arm davongetragen zu haben. Ich aber begehre nicht dich, – sondern deine Kunst! Betrachte mich recht und ordentlich (die Frau ballt die Fäuste), und danach gehe hin-und mache ein Bild von mir in Stein, und laß es errichten in meiner lieben Stadt Crossen, auf daß die Bürger mein Angesicht ewiglich vor Augen haben, und mir die schuldige Verehrung erweisen.« In diesem Augenblicke sei der Mond hinter die Wolken gegangen, und da er wieder erschienen und die Weiden beleuchtet habe, sei die Nixe verschwunden ge­wesen, und ob er gleich gerufen (Warte Du, Erzschelm, hast sie gar zurückhaben mögen!), habe sie sich ihm nicht wieder gezeigt. Er aber sei gesonnen, ihren Auftrag auszuführen, da er gleichsam von einer überweltlichen Kraft dazu gezwungen werde. In der Tat begab sich Hanns Erdmann, blass und hohlwangig wie er war, aber mit feurigen Augen, alsbald in die Werkstatt und ruhte nicht eher, als bis einem ungefügen Sandsteinblock die Linien und Glieder eines Weibes sich entrangen, bis unter die Brust wie ein mensch­lich Wesen, von da aber schuppig und geschwänzt wie ein Fisch anzusehen. 14 Tage arbeitete er ununterbrochen, dann war der Brunnen fertig und er bot ihn dem Magistrate an, der die hohe Kunst, die sich in ihm kristallisiert hatte, nicht verkannte, ihn für die Stadt ankaufte und ihn vor das Steintor setzen ließ.

Aber Hanns Erdmanns ehelich Weib war eifersüchtig auf die schöne Nixe, die ihrem Manne derartig den Kopf verdreht hat­te, daß er von nun an jeden Abend außer Hause verbrachte, ihrer Schmähreden auch gar nicht mehr achtete. Und sie sann, wie sie ihn (und die Nixe) einmal erwischen könnte.

Da bot der Zufall ihr willige Hand. Eines Tages, als sie auf der Fischerei weilte, sah sie ein hübsches Mädchen an sich vorübergehen, mit einem Netz voll Fische in der Hand. Sie sah zufällig in ihr Gesicht, und blieb überrascht stehen.

Wo hatte sie dies Gesicht nur schon gesehen, nicht ganz so, aber — ähnlich? Und sie zermarterte sich den Kopf. Und, nach ei­nigen Minuten, gab ihr die Eifersucht die Lösung.

Sie ging zum Brunnen vorm Steintor. Wahrhaftig, die Nixe, die Odernixe wars, die ihr auf der Fischerei begegnet war! Sie be­hielt die Entdeckung für sich, aber am nächsten Fischmarkt war sie wieder auf der Fischerei und, wahrhaftig, da war auch die Odernixe wieder, die eben ein Gericht Fische eingehandelt hatte und sich zum Gehen wandte. Sie folgte ihr unauffällig – bis zum Sichdichfür, wo sie in einer Garküche verschwand. Da ging ihr das Licht endlich auf: die Odernixe, das war die Schenkin einer (und noch dazu berüchtigten) Garküche im Sichdichfür! Sie hat ihren Mann mit den Gründen, die sie gegen sein Märchen von der Odernixe vorbrachte, geradezu zu Boden geschmettert. We­nigstens ging er Tage lang mit verbundenem Kopfe herum.

Um aber den öffentlichen Anblick ihrer Schande auf immer los zu werden, intrigierte sie gegen den Magistrat so lange, und nannte es eine Schimpf für die Stadt, daß eine unanständige Gar­köchin der Nachwelt überkommen solle, bis es der Magistrat auch einsah und die Odernixe an einen Privatmann verkaufte, der schon um der lustigen Historie willen, die sich daran knüpfte, danach gieperte, außerdem aber auch den ehrenden Titel eines Kunstken­ners genoss. In dessen Garten nun stand sie lange Zeit, bis weniger kunstfreudige Nachfahren, von einer prüden Nachbarin gezwun­gen, die Odernixe verleugneten und sie im Garten vergruben. Im Garten des Herrn Koch nun ruht sie heute noch, und wer tiefer nachgrübe, würde sie wohl ans Licht ziehen können — ein amü­santes document humain der Crossener Vorzeit.

Das Gleichnis

Foto: Katharina Deckert Gießen

Im Folgenden will ich das Gleichnis aufzeichnen, das der Cros­sener Bürgermeister Augustin Heinrich Krause den 7. März 1675 dem schwedischen Rittmeister Ernst Garzken, der unter Versicherung schwedischen Schutzes und schwedischer Freund­schaft die Öffnung der Stadttore forderte, als Antwort gab.

»Also, Herr Hauptmann, würde es uns ergehen, wann wir, Euch zu Willen, unser Heil dem Schweden vertraueten: Ein Fuchs, ein Karpfen und ein Adler trafen sich eines Abends zufällig an einer Bucht des Flusses. Der Karpfen wollte vor dem Schla­fengehen noch ein wenig frische Luft schnappen. Er steckte seine ovale Schnauze aus dem Wasser und schnaufte mit seinen Kie­men. Der Fuchs kam zur Tränke und nahm seinen gewöhnlichen Abendschoppen.

Der Adler aber hockte auf einem knorrigen Weidenstumpf und ruhte von einer langen Reise.

Als die drei sich höflich gegenseitig bekomplimentiert hatten, begann der geschwätzige Karpfen bald ein Gespräch:

„Ich möchte zu gern einmal die Welt sehen“, schnaufte er und klappte mit seinen Kiemen hin und her, so daß Luftblasen wie zierliche silberne Kugeln an die Oberfläche des Wassers stiegen. „Ihr, Herr Fuchs, und Ihr, Herr Adler, habt es ungleich bequemer als wir bedauernswerten Karpfen. Ewig sind wir an unser Element gebannt und an den Verkehr mit Fröschen und Enten gebunden, wenn wir von der Welt hören wollen. Mein Gott, Enten und Frö­sche aber sind ein ungebildet und überlaut Volk. Und schließlich will man doch auch etwas für seine Bildung tun!“

„Ihnen kann geholfen werden,“ sagte bedächtig der Fuchs, „was meinst du, Freund Adler, wenn wir drei uns zu einer Welt­reise zusammentäten? Einzeln kommen wir schlecht durch die Welt; du kannst nicht schwimmen, ich kann nicht fliegen und Genosse Karpfen nicht laufen. Zu dreien aber sind wir ein vollkommnes Wesen: Der Karpfen trägt uns beide auf seinem breiten Rücken sicher über Fluss und Meer, du, Freund Adler, ruhst dich nach anstrengenden Flügen auf meinem braunen Privatdivan aus und fährst samt dem Karpfen herrlich und angenehm wie in ei­ner Staatskarosse übers Land, und bei Bergtouren hältst du den Karpfen und mich in deinen starken Fängen und bringst uns über Täler und Schrunde.“ Der Adler, der die Einsamkeit liebte, und seine Reise gern allein fortgesetzt hätte, blickte verwundert und indigniert drein. Schließlich erklärte er sich jedoch mit dem Plane einverstanden und man beschloss mit dem nächsten Morgengrau­en aufzubrechen.

Der Karpfen konnte vor Aufregung nicht schlafen, und als er endlich einschlief, schnarchte er so laut, daß alle Frösche der Nach­barschaft ärgerlich zu quaken begannen. Pünktlich mit Sonnen­aufgang trat man zur Beratung der ersten Route zusammen. Die sollte, da Fuchs und Karpfen große Neugierde danach bezeigten, der Adler als der weltgewandteste, am weitesten gereiste, Fluss und Ebene, die Gebiete seiner beiden Reisegefährten, wenigstens ober­flächlich kannte, vorerst ins Hochgebirge gehen. Der Adler also nahm den Fuchs in seine Klauen, der Fuchs den Karpfen in sein Maul und alle drei erhoben sich in die Lüfte.

Den fernen Alpen strebte der Adler mit mächtigen Schwingen entgegen.

Nach einer kleinen Viertelstunde schon begann der Karpfen zu jappsen und gestand dem Fuchs, er fühle sich sehr unwohl und werde, wenn die Kongestion anhalte, wohl einen schlechten Genuss von der Reise haben. Dem Fuchs, der heute Morgen im Eifer des Pläneschmiedens die Frühmahlzeit vergessen hatte, wurde hungrig zu Mute und kurz entschlossen fraß er den Karpfen auf.

Der Adler hörte von dem Zwiegespräch der beiden nichts, denn seine volle Aufmerksamkeit war auf das Ziel gerichtet, dem er sich mehr und mehr näherte. Der Fuchs war nach der Mahlzeit sehr zufrieden mit sich und der Welt und besah sich interessiert die Landschaft aus der Vogelfuchsperspektive.

Abends landete der Adler auf einem kahlen, steinernen Gipfel.

„Wo hast du den Karpfen, Freund Fuchs?“ sagte erstaunt der Adler.

„Er ist unterwegs, als er einen Fluss erblickte, hineingesprun­gen; er hielt es nicht mehr aus vor Durst, wie er mir stöhnend gestand, da ließ ich ihn laufen. Überhaupt — bei Leuten seines Schlages liegt immer die Gefahr nahe, daß sie bei der ersten un­gewohnten Anstrengung versagen. Sie können sich nicht beherr­schen.“

„Da hast du Recht,“ sagte der Adler, jetzt müssen wir aber noch über eine kleine Schlucht zu unserm Nachtquartier. „Du er­laubst …“ und er packte den Fuchs und trug ihn mit seinen starken Fängen seiner jungen Brut ins Nest — zur Abendmahlzeit. —

„Der Karpfen, das ist das schlesische Volk, der Fuchs – seid Ihr. Der brandenburgische Adler frisst uns beide — auch wenn Ihr zuerst uns verschlingen solltet.“ „Sapperment,“ lachte der schwe­dische Hauptmann, „ich verspüre wenig Neigung, dem bran­denburgischen Adler als Hors döeuvre vorgesetzt zu werden…“ … half ihm alles nichts. Derselbe Hauptmann fiel im November gleichen Jahres bei Eroberung der Stadt Wollgast durch die Brandenburger.

Der Einbrecher

Foto: Katharina Deckert Gießen

Der alte Hieronymus Sporn, welcher, nach Hundsbelle zu, an der Oder ein kleines Anwesen hatte, fürchtete sich vor Gott, Teufel und den Schweden nicht. Die Leiden des Lebens, die Schlechtigkeit der Menschen, die Not der Zeit hat­ten ihn frühzeitig zu einem Erzfatalisten geschmiedet, dem Krieg, Plünderung, Misshandlung, Raub, Diebstahl und Schwedentrunk‘ nichts anhaben konnten, ihn nur umso sicherer in sich selber und zu seinen Büchern zurückscheuchten, von wo er lächelnd all die Gemeinheit und Torheit, die sich um ihn herum abspielte, duldete. Seine ironische Gelassenheit hatte ihn schon oft vor dem Schlimm­sten — der Brandschatzung seiner Bibliothek — bewahrt. So drang einmal ein französischer Korporal mit mehrerer Soldateska, die fluchend nach Gold und Silber zu stöbern begann, bei ihm ein! Der Korporal setzte ihm die Spitze seines Degens auf die Brust: „Votre richesse…?“ Gelassen fasste Hieronymus Sporn die Degen­spitze mit zwei Fingern der rechten Hand und führte sie sich an die Stirn: »Voilä, monsieur!« Der Franzose, wie alle seines Stammes für ein schlagfertiges Bonmot empfänglich, senkte den Degen, sa­lutierte und empfahl sich höflich mit seinen Spießgesellen.

Am 16. März anno 1675 begab sich Hieronymus Sporn wie im­mer furchtlos auf seinen Abendspaziergang – obgleich die Schwe­den, die am 7. März an Crossen ein Ultimatum (entweder die Stadt zahle Subsidien oder werde berannt werden) gestellt hatten, sich auf Berg vor Crossen häuslich eingerichtet hatten und aller­lei Vagantenvolk: Raub- und Mordgesindel, in der Hoffnung auf Beute ihrem Zuge folgte.

Der alte Hieronymus Sporn, der sich nun schon den Siebzig näherte, humpelte, nur mit seinem Eichenstock bewaffnet, ohne daß ihm etwas zugestoßen wäre, seinen gewohnten Spaziergang zu Ende. In melancholische Träume versunken, die ihn über die bösen Zeiten seiner Jugend in jenes grauenvolle Jahr 1631 führten, wo die Kaiserlichen seine Mutter, die sich ihren widerlichen Wün­schen widersetzte, mit den Brüsten an einen Baum genagelt und darauf wie eine Katze in der Regentonne ersäuft hatten, trat er in sein Haus und öffnete die niedrige Tür zu seinem Studierzim­mer. Ein scharfer, unangenehmer Geruch schlug ihm entgegen. Er machte Licht. Da sah er, daß das Fenster offen stand. Er hielt die Nase zum Fenster heraus. Eine kühle, reine Brise wehte ihm ent­gegen. Der Geruch blieb in der Stube. Irgendwo aus der Stube klang plötzlich ein leises, sägendes Geräusch.

Er packte den Eichenstock fest und sah sich aufmerksam um.

Dann humpelte er geradewegs auf den Vorhang zu, der sein Studierzimmer vom Schlafzimmer trennte und schlug ihn zurück.

Er zuckte unwillkürlich mit der Nase, bezwang sich aber, beugte sich vor und lächelte einem schnapsduftenden, schnar­chenden Vagabunden ins Gesicht, der am Türpfosten lehnte.

Der Vagabund trug eine zerschlissene Soldatenuniform, war mit einem Holzbein behaftet, und zählte, nach seinem schmut­ziggrauen Bart zu urteilen, mindestens 50 Jahre. In seiner Rechten funkelte ein kurzes, dolchartiges Messer.

Hieronymus Sporn betrachtete ihn einige Sekunden und schüttelte missbilligend den Kopf, als ihm die Dolchklinge in die Augen leuchtete. Dann puffte er ihn kräftig und trat, die Wirkung erwartend, einen Schritt zurück. Der Vagabund schrak zusam­men, blinzelte mit den vom Trunk verquollenen Augen unruhig ins Licht — und erwachte. Das Erstaunen, den kleinen alten Mann da vor sich zu sehen, war so groß in ihm, daß er unbeweglich und beinah ängstlich in seiner bisherigen Stellung beharrte. „Was will Er denn hier in meinem Hause?“ begann Hieronymus Sporn das Verhör.

Der Vagabund, den seine eigne Trunkenheit, aber auch die energischen Augen des Alten einschüchterten, traute sich gar nicht zu lügen. Er stotterte: „Seh… seh… seh… stehlen.“ „Was wollte Er denn – stehlen? He?“ Hieronymus Sporn hatte so viel Mitleid mit der menschlichen Dummheit, die sich für ihn im Augenblick in jenem betrunkenen Strolch verkörperte, daß er seinen anfangs strengen Ton ins gemütlich-gleichgültige herabmilderte. „G… Gold.“

„Aber Er kann ja nicht einmal davonlaufen!!“ Hieronymus Sporn zeigte mit dem Eichenstock auf das Holzbein. „N… Nein“ sagte der Vagabund und fiel torkelnd nach der andern Seite, wo ihn der andere Türpfosten freundlich stützte.

„Ich habe kein Gold, versteht Er?“

Hieronymus Sporn tippte ihm mit dem Eichenstock auf den Kopf.

„Ich habe ein … ein Messer“ sagte der Vagabund. „Meinte Er, ich habe Furcht vor seinem – Messer?“ Der Vagabund grunzte: „Nein“. „Also geb Er mir doch mal sein Messer!“ Der Vagabund machte Anstrengungen, aber es gelang ihm nicht. Er lastete mit seinem ganzen Körper auf dem rechten bewaffneten Arm, der sich an den Türpfosten presste. „Laß Er das Messer nur fallen“, be­stimmte Hieronymus Sporn. „Ich hebe es dann schon auf.“ Klir­rend fiel das Messer zu Boden. Hieronymus Sporn nahm es auf.

Der betrunkene Strolch verfolgte mit blöden Blicken seine Be­wegungen.

„Ah!“ in Hieronymus Sporn wurde der Kunstkenner wach, „seh Er einmal an. Der Griff ist ja eine ganz vorzügliche Elfen­beinarbeit.“ Er humpelte an seinen Studiertisch, lächelnd. „Er ge­stattet mir doch, sie einmal bei Licht in Augenschein zu nehmen?“

„Ihr dürft es schon, Herr“. Der Strolch nickte gnädig, wobei er beinah aus dem Gleichgewicht gekommen wäre. „Ich will Ihn nicht länger inkommodiren“. Hieronymus Sporn wandte sich ihm wieder zu. „Weiß Er was? Damit Er keinen Unfug mit dem Ding da stiftet, so laß Er es bei mir. Er selber mag sich zum Teufel scheren. Er versteht mich doch?“

Der Betrunkene hörte das Wort „Teufel“ kaum, als er zu zit­tern begann und beinahe nüchtern wurde. „Oder, wenn Er nicht ehbaldigst und freiwillig geht, bearbeite ich Ihn mit seinem eige­nen Messer anatomisch kunstgerecht und preparire Ihn wie Jenen da!“ Er zog einen zweiten Vorhang zurück. Ein gelbliches Ske­lett grinste dem Vagabunden geil entgegen. Der wurde es kaum ansichtig, als er, vollständig ernüchtert, sich schreiend blitzschnell vom Türpfosten löste, mit drei Sätzen durch das Zimmer sprang, daß sein Holzbein dreimal klappernd auf die Diele aufschlug, und sich durch das offene Fenster hinaus in die Dunkelheit schwang. Hieronymus Sporn schloss lächelnd das Fenster. Dann trat er zu­rück an den Tisch, betrachtete noch einmal kunstgenießerisch den Dolchgriff und holte aus dem Schrank ein kleines ledergebun­denes Büchlein, in dem er seine allerlei Sammlungen und Kuriosi­täten verzeichnete. Und er schrieb:

„Den 10. Mart. Anni 1675 eyn kunstreich Venetianiscb Messer erworben …“ Er lächelte noch einmal, als ihm die groteske Silengestalt des Vagabunden in Erinnerung kam. Darauf schritt er zum Bücherbrett, hob ein riesiges Buch heraus und trug es mit beiden Händen auf seinen Arbeitstisch. Schlug es auf und begann zu le­sen. Der Titel des Werkes aber lautete: Offenbarung der Natur und Natürlichen Dingen (auch mancherley wunderlichen und sub­tilen Würkungen) durch den hochgelehrten und weitberümpten Herrn Hieronymus Cardanum / der Artzney Doctorem I zu Meyland in Latein beschrieben / in die verständliche Teutsche zungen gebracht durch Hulderichum Frölich von Plawen / Gedruckt zu Basel A. MDXCHII durch Sebastianum Henricepetri.

1 Der „Schwedentrunk“, eine Erfindung der schwedischen Soldaten, wurde auf folgende Weise bereitet:

Man warf den Betreffenden, dem man den Trunk zukommen lassen wollte, auf den Boden, schob ihm einen Trichter in den Mund, und goss so viel Maß Was­ser hindurch, bis der Leib anschwoll. Darauf trat man mit den Füßen auf sei­nem Körper herum, um das Wasser wieder herauszutreiben – und wiederholte die Prozedur.

Der „Schwedentrunk“ ist nicht mit dem heute gern getrunkenen »Schweden­punsch« zu verwechseln. Letzterer ist, in mäßigen Quantitäten genossen, recht bekömmlich. Ersterer hatte fast immer den Tod oder langes Siechtum zur Folge.

Crossen

Foto: Katharina Deckert Gießen

(Aus den »Kuriosen Monaten« des Herrn von Schelmuffsky‘, einer lügenhaften Reisebeschreibung des 17. Jahrhunderts. Bisher unveröffentlicht)

Darauf gelangte ich nach Güntersberg, einem, der Tebel hol mer, sehr artig am Oderstrom gelegenen Dorfe, welches durch seine Störzucht weit und breit berühmt ist, in dem man die Störe dort wie anderswo das Rindvieh als Hausgetier hält und sie derart gezähmt hat, daß sie einem, der Tebel hol mer, wie ein Hündlein nachlaufen, mit dem Schwänze wedeln und um ein Stück Brot betteln. Güntersberg hat nun eine admirabel schöne Kirche2, ganz aus Holz gebauet, und curiositätenhalber mit zwei ganz gleichen hohen Türmen an beiden Enden versehen. Nachdem ich das Hemd gewechselt, in dem es, der Tebel hol mer, nicht allzu sauber aussah, sintemalen ich es vierzehn Tage auf mei­ner sehr beschwerlichen Reise nicht vom Leibe gezogen, und die Karthäuser mich mit einem Regiment Kostgänger beschenkt hat­ten, lud ich meinen Kober auf den Puckel und wanderte stracks über die Rabenberge und am Galgen vorbei, an dem ein Dieb wie ein Strohwisch im Winde wehte, gen Crossen zu. Da muss ich nun sagen, daß die Stadt Crossen von weiten ein recht proppren As­pekt bot. Sie lag wie ein Kloß in der Brühe, indem rings die weite Fläche ganz mit Wasser bedecket war, da der Oderstrom dort in einen großen See mündet, welchen man die Aue benennt. Dieses deutsche Wort Aue ist aber als eine Verstümmelung des latei­nischen Wortes »Ave« zu betrachten, und ist der Name für jenen See so zu verstehen, daß die Leute in alter Zeit das Ave Maria beteten, wenn das Wasser zu steigen und in ihre Häuser zu kriechen begann.3 Als ich nun den Berg hinabschritt und auf der artig in Holz aufgeführten Brücke stand, o Sapperment, wie fiel mir das Herz in meine Pluderhosen. Denn unter der Brücke rauschte und quoll der Oderstrom wie ein Kataraktus, daß sie schwankte, und ich fürchtete, sie möchte jeden Augenblick davonsegeln. In den Gassen und Straßen der Stadt nun, auf dem Damm, in der Land­gasse, in der Fleischergasse sah es, der Tebel hol mer, kurios genug aus, daß ich es nicht beschreiben kann. Bottiche, Wannen, Flöße, aus ausgebrochnen Dielen zusammengestellt, schwammen, mit lustigem Mannes- und Weibervolk besetzt, die da sangen, schrien und soffen, durch die Gassen. In einem Fasse, das er, der Tebel hol mer, mit seinem Spazierstöcklein admirabel dirigierte, fuhr der Herr Bürgermeister galant an mir vorüber, der ich, meinen Kober auf den Puckel, durch die wütenden Wasser watete.

Ich zog nun sehr artig meinen Hut, worauf er mir mit der gleichen Reverenz erwiderte, auch Backbords bei mir anlegte und mich befragte, ob ich nicht jene vornehme Standesperson wäre, welche unter dem Namen Schelmuffsky reiste, und welche ihm schon aus Frankfurt durch einen reitenden Boten gemeldet wor­den. Ich erwiderte nun sehr artig, wie, daß ich derselbe wäre, und ob er ein passendes Quartier für mich hier in der Stadt wüsste. Da ich kein groß Gaudium verspürte, noch länger wie eine Ente bis an den Bauch in dem kalten Wasser herumzupantschen. Der Bür­germeister nun legte seine Hände wie einen Trichter an das Maul und brüllte hindurch, daß es sich, der Tebel hol mer, anhörte, als stäche man einen Ochsen ab. Alsbald aber kam eine artige Barke, ganz mit rosa Samt ausgelegt, um die Ecke, welche ein Schiffer mit einer wohl 12 Ellen langen eisernen Stange durch den Strom lenkte. Derselbe hielt bei mir und lüftete seinen breitkrempigen Hut, in­dem er eine anmutige Rede vorbrachte, wie, daß die vornehme Standesperson, welche hinter dem Namen Schelmuffsky ihre hohe Geburt verberge, geruhen möchte, die ihm vom Senate der Stadt Crossen für die Dauer hiesigen Aufenthaltes zur Verfügung gestellte Prunkbarke zu besteigen. O Sapperment, wie behende schwang ich mich samt meinem Kober in den Prachtkahn und saß alsbald behäbig in die rosasamtenen Kissen zurückgelehnt. Unten aus den Hosen aber lief mir der halbe Oderstrom in die Barke, indem ich schon über 8 Stunden im Wasser herumgestiegen.

Die Barke brachte mich nun eiligst an das große Rathaus, wo mich der gesamte Senat in vollem Ornat an der Freitreppe empfing. Die hatten nun, der Tebel hol mer, eine gar sonderbare Kleidung am Leibe. Alle trugen sie violette Spitzbärte, ihre Visagen waren wie mit Gips geweißt und auf der Nasenspitze, sowie auf beiden Backen leuchteten kreisrunde feuerrote Flecken. Als Gewand aber diente ihnen ein schwarzer, mit gelben Punkten bestreuter Sack. O Sapperment, wie verwunderte ich mich, als ich die Menschen so absonderlich daherstolzieren sah. Hatte ich, als ich ganze 14 Tage am Hofe des Großen Mogul in Indien verweilte, doch nichts ähn­liches gesehen. Der Älteste vom Senate, welchen eine spitze blaue Kappe auf dem Kopfe zierte, hielt eine wohlgesetzte Rede, welche er aber, ob seines Alters, nur stotternd hervorbrachte. Dabei wa­ckelte ihm als ein perpetuum mobile der Kopf, daß ich, der Tebel hol mer, fürchtete, derselbe möchte ihm herab aufs Steinpflaster rollen. Ich erwiderte nun sehr artig, wie, daß ich mit einer von den bravsten Kerlen von der Welt wäre und verfehlte auch nicht, die Geschichte meiner wunderlichen Geburt und die Historie von der großen Ratte zu erzählen. O Sapperment, wie sperrten die Kerle da die Mäuler auf und spürten wohl, daß mir was Rechtes aus den Augen funkelte. Der Älteste aber hob wieder an, nahm seine Kappe ab und lud mich ein, ihm zu folgen. Er wolle mir die Prunk­gemächer weisen, welche der hochwürdige Senat mir für die Dau­er hiesigen Aufenthaltes zur Verfügung stelle. Dieselben nahmen nun den ganzen ersten Stock des Rathauses ein und gab es darin einen Schlaf-, einen Wohn-, einen Trink-, einen Ess-, einen Bade-, einen Arbeits- und einen Vorsaal. Zu meiner Aufwartung aber waren 33 Jungfrauen bestellt in der Tracht des Landes. Hüte saßen ihnen auf dem Kopf groß und schwer wie Postwagenräder, daß man, wollte man einer in die blauen Augen schauen, erst den Hut abschrauben musste. Ihre Kleider aber waren oben breit und unten an den Füßen eng wie eine Männerhose, so daß sie sich nur wie die Kröten hüpfend fortbewegen konnten. Die Mädchen tanzten nun vor mir, der Tebel hol mer, sehr galant. Ich kann‘s nicht sagen, wie artig sie die Knochen setzen konnten. Dieselben Jungfrauen verliebten sich nun aber dermaßen in mich und seufzten ein über das andere Mal: »Anmutiger Jüngling!«, daß der Senat sie zu ihrer eigenen Sicherheit von meinem Service nehmen und für die Dauer meines Aufenthaltes ins Ratsgefängnis sperren musste, sintemalen sie sich sonst in der Aue aus Liebesgram ersäuft hätten.

Nachdem ich nun ganze 8 Tage in Crossen verweilt und der Senat mich mit einem riesigen Stück purpurnen Tuches, welches allda fabriziert worden, im Werte von 100 Goldgulden, beschenkt hatte, lud ich meinen Kober auf den Puckel und wanderte zum Glogschen Thore hinaus gen Grünberg zu …

1 „Schelmuffky’s Wahrhafftige Curiöse und sehr gefährliche Reisebeschrei­bung zu Wasser und Lande“ (erschienen 1696/97) ist eines der genialsten Werke auf dem Gebiete der deutschen komischen Literatur. Es bleibt nur zu bedauern, daß sie dem heutigen Leser so wenig bekannt ist. Einen Neudruck haben kürzlich der Inselverlag Leipzig sowie Martin Mörikes Verlag München herausgebracht. Eine Bearbeitung von Karl Pannier ist in Reclams Universal­bibliothek (Nr. 4343) für 20 Pfennige zu haben.

2 Diese Sehenswürdigkeit von Güntersberg ist leider beim letzten Umbau der Kirche (1909) zerstört worden.

3 Eine recht verunglückte Deutung des Wortes „Aue“

Die Tänzerin

Foto: Katharina Deckert Gießen

Ich habe mich, weiß Gott, nie um die Narren, meine Mit-und Nebenmenschen bekümmert. Sie aber scharwenzelten schon in meiner frühen Jugend um mich herum, leckten mir, waren’s Frauenzimmer, das Maul ab und meckerten, als Männer, von den großen Pflichten, die das Leben auferlege, und wie, daß ich einmal ein brav Kerl werden müsse — und daß ich es mit mei­nen bedeutenden Talenten gewiss einmal zum Stadtschreiber oder gar Diaconus bringen werde.

War dazumalen ein Bub von zehn Jahren, sah ihnen aber hin­ter die schmeichlerisch plinkenden Fett- und Triefaugen, und was für Geschmeiß sie waren, und wie sie ihren dreckigen Spott mit sich selber hatten, wussten es aber nit, wann sie mit den vom Saufen gichtigen Knochen zitternd auf ihre Wänste zeigten und krächzten: Ha, seht, was für ein Mann ich bin, und wie ich‘s zu was Rechts in der Welt gebracht! — Immer waren sie zufrieden mit sich selber und kannten nicht jene Unruhe des Geistes, aus der alle Ju­gend und alles Leben quillt. Da sonderte ich mich bald von ihnen und hasste sie und lief hinaus in die göttliche Natur, welche ge­waltiger ist denn alle Vernunft, und ich sah in ihrem Spiegel mich und meine Ziele. Stundenlang lag ich auf der Aue, von einem Wei­denbusch gedeckt, im Grase, und sah und hörte die blaue Him­melsglocke über mir schwingen. Oder stand auf den Kienbergen und zeichnete mit seligem Finger die sanften Linien der Rusdorfer Hügel in den violenfarbenen Abendhimmel. Da wusste ichs, was in mir so stark schrie: ich, ich muss die Welt noch einmal erschaffen aus dem dunklen Chaos, das mich umrauschte – wenn ich überhaupt am Leben bleiben sollte. Das Leben hatte für mich nur Sinn, wie ich es ordnete und deutete. Ich wollte ein Künstler, ein Ma­ler werden wie Holbein und unser Albrecht Dürer einer gewesen. Als ich diese Erkenntnis gewann (ich zählte 17 Jahre und war zum Studium der Universitär litterarum reif) durchfuhr es mich stolz und schrecklich zugleich. Anders war ich als die andern. Und ih­rem Grimm und der Rache ihrer-Majorität ausgeliefert — wenn ich meine Lehre von der Heiligkeit der Kunst predigte. Denn ich gedachte an das grauenvolle Schicksal jenes zum Tode verurteilten polnischen Edelmannes Casimir Lynzynchski Podsedek Brzeski, welchen sie den Atheisten nannten. Dieser wurde den 21. Octobris 1689 zu Warschau vom Wilnischen Bischöfe in gefängliche Haft gebracht, weil man unter andern entsetzlichen Gotteslästerungen diesen in dem höllischen Schwefelpfuhl abgefasseten Lehrsatz in seinen verteufelten Schriften antraf: Deus non est Creator hominis, sed homo est Creator Dei: Gott ist nicht des Menschen Erschaffer, sondern der Mensch ist Gottes Erschaffer. – Was aber (glaubte ich damals) predigt die Kunst anderes? Und bin ich ein Atheist, wenn ich Gott in mir suche? Mir im Blute lag ein Widerwillen gegen jede verbaute und überdachte Gottesehrung, wie sie die Kir­chen darstellen. Wenn ich beten wollte, ging ich zu den Tannen im Walde, zu den Schmetterlingen auf der Wiese. Und meine Abnei­gung gegen Kirchengebäude wurde mir erst benommen, als ich in Nürnberg und München gothisch herrliche Bauwerke erfasste wie die Sebalduskirche und die Kirche unserer lieben Frauen. Denn ich rang hart mit meinen Eltern, denen das Ungewohnte und Un­gewöhnliche meiner Veranlagung nicht in den Kopf wollte, daß sie mich sollten nach Nürnberg ziehen lassen und nach Cöln, wo ich die Zeichenkunst und den Kupferstich zu erlernen gedachte. Setzte es auch wider ihren Willen durch. Denn ich wusste wohl Bescheid in der Bibel, und daß es da heißt: Man muss Gott mehr gehorchen denn den Menschen. Und ich vertraute meinem Gott.

Also sah ich mich wacker in Nürnberg, München, Augsburg, danach in Cöln und Lübeck um, und nachdem ich was Rechts ge­lernt, kehrte ich im Herbst 1711 nach Crossen zurück.

Das Heimweh liegt uns Nordischen wie eine Krankheit im Geblüte.

Da empfing man mich nun sogleich mit den neusten Neuig­keiten: wie, daß das Schießhaus auf dem Graben nach dem Bober zu abgebrochen und vors Steinthor gesetzet worden — daß im Junio ein Maurergeselle Samuel Klopsch bei Abputzung des Simses an des Eustachii Möllers Stadt-Musici Hause am Markt, 3 Etagen hoch heruntergefallen, und beim Leben blieben, daß er nach wie vor arbeiten kann — daß ein Bauerweib zu Rußdorf drei lebendige Kinder, welche andern Kindern gleich und ganz vollkommen ge­wesen, zur Welt gebracht – und was dergleichen Sonderbarkeiten mehr sind. Auch sei König Augustus von Polen den 27. July mit 3 Wagen durch Crossen passiert, und die größte Merkwürdigkeit und Ehrung stehe noch bevor, indem der Moscovitische Czar Peter, welcher am 18. September mit 5 Wagen hier durch nach Dres­den gegangen, in den ersten Tagen des November nach hier zu­rückkehren werde. Zu seinem Empfange treffe schon morgen der brandenburgische Kronprinz Friedrich Wilhelm hier ein. Am Tag meiner Rückkunft aber zählte man den 28. Oktober.

In der Stadt herrschte große Aufregung, gleich als wolle man das Königsschießen feiern. Fahnen hingen aus den Häusern in brandenburgischen und russischen Farben und die Türen der Gasthäuser waren mit Tannenreiser umkränzt. Denn die Ansage, daß der Moscovitische Czar ganze drei oder vier Tage in Cros­sen verweilen werde, hatte viele Fremde und Neugierige herbeige­lockt. Ich schlenderte gemütlich und beschaulich durch die Gas­sen, begrüßte den einen oder die andre Bekannte und hatte meine Lust an dem bunten Tumult, wie sie uns Künstlern ja eingeboren ist. Am Abend begab ich mich auf den Salzplatz, wo es wie auf einem Jahrmarkt zuging. Bier- und Branntweinwirte hatten ihre Zelte aufgeschlagen, auf einem holprigen Tanzboden drehten sich unter des Himmels sternbesäter Samtdecke vergnüglich junge Paare, daneben gab es allerlei Schaubuden, in denen eine Blut­sauger- oder Vampyrfamilie, das Rad der Welt, ein Bär, Ratten so groß wie Hunde, ein chinesischer Mensch, ein indianischer Feu­erfresser und dergleichen mehr zu sehen war. Nachdem ich hie und da einen Blick hineingetan, blieb ich vor einer Bude stehen, auf derem Schild in karmoisinroten Lettern folgendes zu lesen war: Nadja, die schönste Tänzerin der Welt — Tanzpoesey. Dieses Wort: Tanzpoesey, welches ich vorher noch nie gehört, gefiel mir nun außerordentlich, und obgleich die Ausruferin, eine dicke, in einem silbernen Panzer flimmernde Person, wenig Vertrauen er­weckte, gab ich meinen Batzen und trat hinter den schmutzigen Vorhang, welcher die Außenwelt vom Schauplatz trennte. Ein mittelmäßiger Musicus spielte als Introduction einen fremdlän­dischen Kriegsmarsch. Außer mir harrten noch etwa 2 Dutzend Zuschauer, darunter besonders einige feine junge Leute, Söhne angesehener Bürger, der Vorführung. Dieselben vergnügten sich damit, aus einem mitgebrachten Kruge Wasser in den Mund zu nehmen und sich damit gegenseitig zu bespeien.

Die Musik schlug ein geschwinderes Tempo an, das bald in einen rasenden Galopp überging, eine mißtönige Glocke erscholl, und plötzlich und ohne daß wir gewusst hätten woher sie gekom­men, wirbelte in dem Schaurund in der Mitte ein schwarzes mit hellgrünen Bändern geschmücktes Gewand, aus dem ein blassgelber Kopf aufsprang und wieder verschwand, zwei bleiche Arme ruckweise wie Blitze durch den Raum zuckten. Die Musik ver­langsamte den Rhythmus, die Bewegungen der Tänzerin wurden sanfter, lieblicher, sinnlich bezwingender. Erst jetzt erkannte man ihre blassen weichen Gesichtszüge, das mahagonibraune Haar, die kindliche Schlankheit ihrer Figur, die tödliche Zartheit ihrer Hände – und als sie, wie es der Kriegstanz, den sie getanzt hatte, erforderte, den rechten Arm steif wie ein Schwert erhob und ein Dolch zwischen ihren Fingern blitzte, da war nicht einer im Pu­blikum, der nicht unter ihren Händen hätte sterben mögen. Ihre Augen schienen dabei wie zwei Glühwürmer aus ihrem Kopf he­rauszufliegen. Sie schössen grade auf mich zu und summten im Nu mir im Gehirn herum.

Der Tanz übermannte mich so, daß ich aus der Bude, wie aller Kräfte beraubt, in die kühle Nacht taumelte, aber erst auf weiten Umwegen nach Hause in die Steinstraße zurückkehrte.

Ich brachte die Nacht kein Lid zu.

Die Augen der Tänzerin blickten, wohin ich sah, aus der Nacht.

Ich hatte den folgenden Tag nun für nichts Interesse, ob der Kronprinz kam und der Moscovitische Czar, es ließ mich gleich­gültig. Mit unbeugsamer Gewalt zog es mich zur Tänzerin auf dem Salzplatz.

Ich fand sie am Morgen draußen, an den Wagen der Vaganten gelehnt. Ihre Blicke schweiften über die Oder. Als sie meine zö­gernden Schritte hörte, wandte sie sich vorsichtig um und lächelte.

Ich trat wie selbstverständlich heran, fragte nicht erst, ob sie sich etwa meiner erinnere oder überhaupt erinnern könne, und gab ihr die Hand. Hätte mich auch nicht verstanden. Sprach kei­nes die Sprache des andern. Sie war Russin. Sie nahm meine Hand, hielt sie einen Augenblick in der ihren und drehte sie plötzlich um, daß der Handteller nach oben lag. Darauf beugte sie ihr blasses, zärtliches Gesicht darüber und versuchte angestrengt mit ihren blauschwarzen Blicken darin zu lesen. Sie las mein Schicksal. Als sie ihr Gesicht erhob, mich dünkte, es wären inzwischen Jahre ver­gangen, sah sie mich noch einmal in die Augen, lächelte traurig und schüttelte den Kopf… Ich habe kein anderes Mädchen seitdem lie­ben können. Die Augen der fremden Tänzerin, die ich nur ein paar Minuten gesehen hatte, ließen mich mein ganzes Leben nicht los.

Ich warf mich wild auf meine Kunst. Aber auch sie wurde ihr geweiht. Ich habe wieder und immer wieder die Tänzerin als Ma­donna malen müssen.

Das ist meine Geschichte, die Geschichte meines Lebens. Dem einen wie dem andern werden die Lose geworfen: dem wird ein Schwert, jenem ein Buch, diesem eine Tänzerin Schicksal.

Wir müssen alle um unser Tiefstes bluten. Die Hauptsache, daß wir bluten.

Der Kammerdiener

(Eine Geschichte aus der Wende des 18. Jahrhunderts)

Foto: Katharina Deckert Gießen

Im Gefolge des Grafen R. – er besaß bei Crossen ein Ritter­gut — dem sein außerordentliches Vermögen die kostspie­ligsten Marotten und Vaganzen gestattete, befand sich ein junger Mann, der, anfangs von wenigen beachtet, im Lauf son­derbarer Geschehnisse, die sich erst von rückwärts gesehen, als sonderbar herausstellten, für einen Tag wenigstens das Gespräch nicht nur der engeren Umgebung des Grafen, sondern der ganzen Welt bilden sollte. Der Graf hatte ihn auf Grund vorzüglicher Zeugnisse, die er vorwies, darunter eines von Baron F., seinem Schwager und Freunde, als Kammerdiener engagiert. Albert er­warb sich in den ersten Tagen durch seine feinen und stillen Ma­nieren das weiteste Vertrauen des Grafen. Er las ihm seine Wün­sche von Blick und Gebärde ab und verrichtete seine Dienste mit fanatischem Eifer, der den Grafen in nicht geringe Verwunderung versetzte, bis er sich allmählich daran gewöhnte, ja die Behutsam­keit und Unaufdringlichkeit seines Wesens nicht mehr entbehren und immer um sich haben mochte. Albert war etwa 22 Jahre alt. Er trug das schwarze, leise bläulich schimmernde Haar in der Mitte gescheitelt, seine hellen Augen wurden von sehr langen Wimpern beschützt, so daß sein scharfer, blitzender Blick zuweilen wie eine Lanze aus dem Dickicht hervorbrach. Die Nase war ein wenig gehöckert: das Gesicht erschien nicht verunstaltet, seine sonst wei­chen Züge energischer dadurch gezeichnet. Auf der Oberlippe lag ein schwach bläulicher Glanz. Das Schönste an ihm waren seine schmalen kleinen Hände. Der Graf enthielt sich manchmal nicht, sie zu streicheln. »Du bist ein Aristokrat, Albert« sagte er lächelnd. »Es ist als wären sie von den Erinnerungen an ihre Väter so krank und blass.« »Von ihrer Hoffnung«, erwiderte Albert. Der Graf sah ihn erstaunt an.

Der Graf vertraute Albert auch seine mannigfachen Liebesan­gelegenheiten. Er gab ihm alle Aufträge mündlich, brauchte nur wenige andeutende Worte zu machen, so begriff ihn Albert völ­lig. Er war so nicht nur längerer Auseinandersetzungen, sondern auch längeren Nachdenkens, das ihm Albert vordachte, enthoben. Die Maitressen des Grafen sahen den jungen seiner selbst so bewussten Mann, der wenig redete und immer viel erreichte, nicht ungern. Manch eine verliebte sich in seinen schlanken Gang, der in seiner Gemessenheit etwas Berechnendes, etwas Koketterie of­fenbarte, und gab ihm verstohlene Winke. Er sah es und lächelte still abweisend und melancholisch. Eines Morgens, als Albert in das Schlafzimmer des Grafen trat, ihm beim Ankleiden behilflich zu sein, rief ihn der Graf zu sich heran. Er hatte auf der Bettdecke ein rotsamtnes Kästchen liegen, öffnete es durch einen Druck auf einen verborgenen Knopf und entnahm ihm einen goldnen, mit einem riesigen wunderbaren Türkis geschmückten Ring. Ohne et­was zu sagen, griff er nach Alberts Hand und steckte ihn an. Albert zitterte, seine Augen öffneten sich erschreckt, sein Atem keuchte. Dann fiel er vor dem Grafen nieder, Tränen stürzten ihm hervor und er küsste seine Hände. Dann wieder sprang er plötzlich empor, sah auf den Grafen mit einem entsetzten Blick und stürmte zur Tür hinaus.

Dem Grafen wollte dieser Vorfall einige Tage nicht aus dem Kopf. Derartige überströmende Gefühlsergüsse war er bei seinen Dienern nie gewohnt gewesen, deren Dank für erwiesene Wohl­taten sich stets nur äußerlich und kalt gezeigt hatte. War es bei Albert Dankbarkeit, Verwirrung über das kostbare Geschenk, die ihn so aus der Regelmäßigkeit seiner beherrschten und abgezirkelten Bewegungen und Gefühle warf? Er dachte daran, Albert zu befragen. Er dachte, es wäre psychologisch doch sehr interessant… aber er wagte es schließlich nicht, aus Furcht, ihm unbekannte Wunden seiner Seele ohne Willen aufzureißen. Denn dieser war der erste Diener, der ihm so etwas wie eine Seele zu haben schien. Nach einer Woche hatte er die, wie er endlich meinte, gering­fügigen Schmerzen seines Dieners in neuen Abenteuern und Ver­gnügungen vergessen.

Albert trug den Ring mit einer heiligen Scheu, die ihn nicht aus der Hand gab und auch nicht nachts von den Fingern löste. Vom übrigen Dienstpersonal, von dem er sich, so weit es anging, bisher schon ferngehalten hatte, trennte er sich nun gänzlich, da sie, eifersüchtig auf seine bevorzugte Stellung beim Grafen, in groben und gemeinen Worten hinterlistig auf unsittliche Bezie­hungen zwischen ihm und dem Grafen anspielten. Es tat ihm weh um des Grafen willen, den er so schnöde verdächtigt sah, und er errötete jedes Mal heftig, wenn ihm aus dem Hinterhalt wie ein vergifteter Pfeil ein solches Wort zuflog, aber er schwieg dem Gra­fen gegenüber, um ihm Zorn und Schmerz zu ersparen.

Inzwischen knüpfte der Graf eine Liebschaft an, die ihn in auch bei ihm ungewöhnliche Verschwendung seines Geldes und seiner Kräfte trieb. Er, dessen Alter nun schon auf vierzig ging, steigerte seine Leidenschaft zu solcher Raserei, daß er seiner Sinne nicht mehr mächtig schien und, um ihre Gunst zu gewinnen, hundert­tausende zu opfern bereit war. Vergebens, daß ihm seine Freunde Vernunft zuredeten, vergebens, daß sein Schwager, zugleich sein bester Freund, Baron F. herzureiste und ihn zu besänftigen und ihn mit allen logischen Mitteln von der Torheit zurückzuhalten suchte. Er ließ kein Argument an sich herankommen, und wie ein unreifer kindisch zum ersten Mal verliebter Jüngling hatte er, der in allen Listen und Lüsten der Liebe Umhergetriebene, keine an­dere Waffe gegen sie, als ein monotones: ich liebe sie, ich werde sie ewig lieben und ich gehe ohne sie zu Grunde. Albert vermittelte auch in diesem Falle die Korrespondenz und die fast täglichen Zusammenkünfte zwischen dem Grafen und seiner Dame. Er machte auch die größten Anstrengungen, das materielle Interesse seines Herrn zu wahren, was ihm nicht nach seiner Hoffnung gelang. Die Dame, Witwe eines mittleren Beamten und aus nie­derem Stande (ihr Vater hatte eine kleine Brauerei betrieben) war ebenso schön wie leichtsinnig. Sie sah sich durch die Freigebigkeit und willenlose Hingabe des Grafen plötzlich in den Stand gesetzt, alle, auch die unsinnigsten und überflüssigsten Wünsche zu be­friedigen, und obgleich sie ihrem Gatten in ihrer sehr kurzen Ehe eine sparsame Hausfrau gewesen war, verlor sie jetzt jegliches Maß und Übersicht und ließ die Goldstücke zu tausenden durch ihre kleinen Hände rollen. Ein scheinbar unerschöpfliches Vermögen kann so verrinnen wie ein Fluss in der Wüste.

Albert sah, wenn dem Treiben der Dame nicht Einhalt gebo­ten wurde, den Ruin des Grafen voraus und sann, ihn zu retten. Sein Einfluss bei dem Grafen war in diesem Falle sehr gering. Lo­gik verfing nicht. Er sagte: gehe ich zu Grunde, so gehe ich mit ihr zu Grunde. So musste er ein Mittel finden, auf die Dame irgendwie einzuwirken. Der Zufall brachte ihm hier erwünschte Hilfe. Die Dame, der überspannten Liebkosungen des Grafen müde — ihre Liebe zu ihm war ja immer nur recht oberflächlich und durch sein Vermögen sehr mitbestimmt gewesen — verlangte nach Zerstreu­ungen und Abenteuern, die alle Theater- und Varietelogen, die ihr der Graf zur Verfügung stellte, nicht gewähren konnten. Da sie täglich Gelegenheit hatte, Alberts sicher bescheidenes, aber un­beugsames Auftreten zu bewundern, das durch die verkniffene Selbstzucht, die er übte, noch gesteigert wurde, argwöhnte sie in ihm, was Bildung in den Dingen der Welt anbetraf, einen ihr ver­wandten. Der Graf dünkte ihr hin und wieder von einer beängsti­genden Feinheit des Geschmacks in Sachen der Kunst, der Musik zum Beispiel, und so fühlte sie sich bald zu Albert im rechten Sinne des Wortes hingezogen. Er hielt ihres Schicksals Fäden in seiner Hand gespannt.

Sobald Albert diese Stimmung der Dame erkannte, war er da­rauf bedacht, sie zu erhalten und klug zu schüren. Er sah, wenn er mit ihr sprach, ihr gerade und forschend ins Gesicht, und sie sog eine dunkle Wollust aus seinen Blicken, daß sie oft in der Rede stockte und nicht weiter wusste. Er achtete darauf, zufällig ihre Hand zu berühren, was ihre Lippen zittern machte, und trieb sie also in eine Leidenschaft, nicht weniger glutvoll und schrankenlos als die, welche der Graf zu ihr fühlte. Ihre Augen umränderten sich, häufige Übelkeiten befielen sie, und der Graf war sehr be­sorgt und schickte ihr mehrmals des Tages den Arzt. Als Albert die Dame sich fügsam genug glaubte, trat er eines Nachmittags in ihr Boudoir und ohne weitere Vorrede sagte er ihr mit seiner Festigkeit, die die weiche Traurigkeit seiner Blicke milderte: er wolle ihrer Liebessehnsucht zu Willen sein, sofern sie sich ihm eid­lich verpflichte, er sagte das Wort eidlich zweimal, während er auf seine Hände sah, die die Dame mit bangem Entzücken anstarrte, eidlich verpflichte, das Vermögen des Grafen fürder zu schonen und über eine bestimmte Summe monatlich nicht hinauszugehen, indem er ihr die notwendigen Folgen einer weiteren Verschwen­dung in schwarzen Bildern vor die Augen führte. Die Dame, ob­gleich sie das Erniedrigende ihrer Lage dumpf ahnte, war dennoch von Begierde so geschwächt, daß sie ohne weiteres einwilligte, den ihr vorgesprochenen Schwur nachsprach und weinend in einen Sessel sank. Albert trat auf sie zu, küsste sanft ihr Haar und ver­sprach in einer der nächsten Nächte ihr seine Liebe zu schenken. »Gib mir ein Pfand« sagte sie unter Tränen, da sie fühlte, daß er ihr vielleicht noch entgleiten könne. Er ließ ihr den vom Grafen ihm geschenkten Ring zum Pfand und verabschiedete sich. Der Graf erinnerte sich nicht, seinen Diener je so aufgeräumt und fröhlich gesehen zu haben wie diesen Abend beim Auskleiden. Albert er­zählte ihm die lustigsten Schnurren von der Umgebung, von den Freunden des Grafen, und porträtierte einige in ihren mensch­lichen Schwächen und Albernheiten so gut, daß der Graf aus dem Lachen nicht herauskam. Am Ende aber wurde Albert ernst und als er ihm gute Nacht wünschte, war er von heftiger Unruhe be­fallen. Er zögerte, dann packte er wild die Hand des Grafen und bedeckte sie mit vielen Küssen. Der Graf, dem die Hitze und Inbrunst der Küsse unheimlich vorkam, zog seine Hand schnell zurück. Am nächsten Morgen trat Albert, der den Grafen noch im Schlafzimmer vermutete, ohne anzuklopfen in sein Arbeits­zimmer. Wie Loths Weib blieb er erstarrt am Türpfosten stehen. Er hatte den Grafen und die Dame in einer intimen Liebkosung überrascht. Die Dame, glutrot vor Scham, von ihrem wirklichen Liebhaber sich so bloßgestellt zu sehen, verbarg schluchzend ihren Kopf in den Kissen des Diwans. Der Graf aber fuhr empört auf, und indem er in seiner Verlegenheit und Wut, daß Albert noch immer in der Tür stand, keine Worte fand, wies er ihn mit hastiger zorniger Handbewegung, in der der Ekel zitterte, hinaus. Albert aber stand steif und erstarrt, die Augen gläsern und leer wie zwei tote Kugeln auf den Grafen gerichtet. Dann begann sein Leib zu beben und sich zu krampfen, seine Nasenflügel vibrierten, er riss mit beiden Händen an der Portiere und mit einem entsetzlichen Schrei Biss er sich in sie hinein, um mitsamt der Portiere, die sich von ihrer Stange löste, polternd zu Boden zu fallen. Der Graf trug die ohnmächtig gewordene Dame in das Nebenzimmer und gab den inzwischen vom Lärm herbeigerufenen Leuten Anweisung, Albert in sein Zimmer zu bringen und sofort den Arzt zu holen.

Albert lag wie tot auf der Matratze. Vor seinen Lippen schim­merte bläulichweiß ein Anflug von Schaum, die Farbe der Hände und des Gesichtes war gelblichgrau. Der Arzt kam. Bei der Unter­suchung war nur der Graf noch zugegen. Als der Arzt Albert das Hemd aufriss, wandte er sich plötzlich mit einem verwunderten und fragenden Blick an den Grafen.

»Es ist ein Mädchen«, sagte er leise. Da schlug Albert die Au­gen auf, und als er den Grafen sah, lächelte er ein wehmütiges Lä­cheln, das um Verzeihung bat: »Der Ring …«

Es war ihr letztes Wort. Am Abend starb sie. Sie hatte den An­blick, den Geliebten leiblich in den Armen eines andern Weibes ruhen zu sehen, nicht überleben können. Für eine Woche bildete das Schicksal dieses Mädchens, von den Zeitungen phantastisch aufgeputzt, das Tagesgespräch der ganzen Welt. Der Graf aber wurde in seinem Tiefsten erschüttert und verfiel in eine Melan­cholie, aus der ihn kein Weib mehr zu retten vermochte. Er gab ihr den Ring mit ins Grab und mit dem Ring sein eigenes Leben.

Geiger Heinrich

Quelle: Stiftung Brandenburg http://www.stiftung-brandenburg.de/

Draußen vor der Stadt, die Oder abwärts, an den Wein­bergen, besaß er ein kleines Anwesen. Jeden Tag kam er in die Stadt, der alte Heinrich, das faltige Bauerngesicht mit dem vorgeschobenen struppigen Kinn und den braunen lusti­gen Auglein ewig grinsend. Auf den ehemals strohblonden, jetzt schmutziggrauen Haaren trug er eine verschossene Mütze, deren braune Farbe ins Grünliche und Schwarze spielte. Sein grober Anzug wies mancherlei Flicken und Flecken auf. In der rechten Hand stützte er sich auf einen Weidenknüppel, die Linke schlepp­te einen Leinwandsack nach, der die Erzeugnisse seiner kleinen Bauernwirtschaft:, Kohl, Früchte, die er in der Stadt verkaufte, -und eine Geige beherbergte. Diese Geige war sein Ein und Alles. Immer trug er sie mit sich herum, und er konnte keinem größere Ehre antun, als wenn er sie ihm zeigte oder gar ein Liedchen auf ihr vorspielte. Seiner zärtlichen Liebe für die gar nicht einmal be­sonders gute Geige – er hatte sie von seinem Vater geerbt, der sie seinerseits einem fahrenden Musikanten für ein paar Taler abge­kauft – hatte er seinen Beinamen Geiger Heinrich zu verdanken, unter dem er weithin bekannt war. Wenn er sich auf der Straße sehen ließ, liefen ihm Buben und Mädels entgegen und schrieen: „Geiger Heinrich, Geiger Heinrich, spiel uns etwas, etsch, Du kannst nicht spielen, etsch, etsch!“ Geiger Heinrich kehrte sich nicht daran und humpelte ruhig weiter, er nahm es den Kindern nicht übel, sein Gesicht hatte denselben grinsenden Ausdruck wie immer. Daß er ein wenig schwachköpfig war, wusste man, ebenso, daß seine Verwandten, deren Besitz an den seinigen stieß, ihn aus nutzten und mancherlei, was ihm eigentlich zukam, schon einst bei der Erbschaftsregulierung durch einen schlauen Advokaten an sich gebracht hatten. Sie ließen es aber nicht dabei bewenden und immer wieder strengten sie Prozesse um den oder jenen Streifen Landes gegen ihn an, die sie auch meistens gewannen. Die Ver­wandten hätten zu gern sein ganzes Grundstück, das guten Boden aufwies und bei einer rationellen Bewirtschaftung — Geiger Hein­rich verstand das nicht, er ließ alles wachsen und gedeihen, wie es der Herrgott wachsen und gedeihen ließ — gewiss sehr guten Er­trag geliefert hätte, sie hätten zu gern sein ganzes Grundstück an sich gebracht, was ihnen zufallen müsste, wenn es gelang, Geiger Heinrich wegen Schwachköpfigkeit oder Verschwendung zu ent­mündigen. Denn mit Geld wusste er nicht im Geringsten umzu­gehen. Er verfuhr mit großer Unbekümmertheit einen beträcht­lichen Teil seines ererbten Vermögens auf der Eisenbahn. Er war schon in Berlin, in Frankfurt, in Leipzig und Dresden gewesen, ohne daß man eigentlich gewusst hätte, warum. Hin und wieder setzte er sich auf die Eisenbahn und fuhr mit seiner geliebten Geige davon. Wenn er wieder kam, erzählte er allen Leuten, die es hören wollten, wie viel tausend Mark man ihm in Berlin oder Leipzig für seine wunderschöne Geige geboten, und wie man ihre Tonfülle bewundert und sein Spiel gelobt hätte. Mehr war aus ihm nicht herauszuforschen. Einmal, als er aus der nächsten grö­ßeren Stadt kam, an deren Landgericht er gerade einmal zufällig den Prozess gewonnen hatte, erzählte er eine besonders rührende Geschichte. Er erzählte sie auch der Köchin und dem Dienst­mädchen der Adlerapotheke, denen er rote Rüben für den Mit­tagstisch gebracht hatte – zum Gänsebraten, denn der Herr Apo­theker liebte zum Gänsebraten die roten Rüben. „Ja, Freilein, das sind scheene, das sind feine Rüben, akkurat wie sie der Herr Apo­theker liebt“, sagte er zur Köchin. Dann wandte er sich zum Dienstmädchen, das am i. April — jetzt schrieb man den fünften oder sechsten — neu eingetreten war, und das er noch nicht kannte. „Ach, ein neies Freilein, ein scheenes Freilein, jaa, ja, na, scheen guten Dag auch,“ und damit reichte er ihr seine schwielige Hand. Das Mädel schlug lachend ein. Es war ein hübsches, lusti­ges Ding von 17 Jahren, dem die Köchin von dem sonderbaren alten Kauz schon erzählt hatte. „Ja, Herr Heinrich, ich hab von Ihnen schon gehört, Sie sollen so wunderschön Geige spielen.“ „Ja, ja, ja,“ sagte Heinrich und grinste. „Und was mir neilich passiert ist, ja“. „Was is denn los, Herr Heinrich, was haben Sie Neues erlebt, kramen Sie aus“, ließ sich die Köchin vernehmen, die sich auf eine neue verliebte Geigengeschichte freute. „Ja, ja, also, ich war in Cottbus, im Wartesaal aufm Bahnhof, jetzt, wo ich prozessiert habe, missen Se wiss’n, und ich ha noch Zeit, eh mein Zug geht und setz mer also ruhich hin, dritter Klasse natierlich, mit meiner Geige natierlich, ja, ja. Und da sitzen am Nebentisch ein paar junge Leite, die reden immer, und sehn mer immer so an und pietzlich steht eener uff und kommt zu mir und macht e Verbeigung und sagt „Entschuldigen Sie, wenn ich störe, aber sind Sie nicht der berühmte Geiger Heinrich“, der berühmte Geiger Heinrich sagte er, ja, ja. „Und wollen Sie uns nicht etwas vorspie­len, ich bin,“ seinen Namen habe ich vergess’n, aber er war, ganz jung war er und doch schon Professor am musikalischen Konser­vatorium. Ich hab mer gewundert, woher er mer kannte, aber ich sagte „Zu Dienen, Herr Professor, wenn es Ihnen und den andern Herrn da Vergniegen bereitet“, und da hab ich meine Geige ge­nommen und hab gespielt, ja, ja. In einem kiehlen Grunde und im Grunewald ist Holzauktion und Heil Dir im Siegerkranz und noch manches, ja, ja. Und wie ich zu End war — inzwischen warn noch andere Leite herzugekommen und hatten mit zugeheert -da kam der Herr Professor auf mer zu und dankte mer och im Namen der andern und bat mer, als Andenken e Taler anzuneh­men. Ich wollt erseht nich, aber er bat mer so, und er sagte, ich war e Kinstler und mei Geige sei sehr viel wert, ja, ja, ja, mei Gei­ge“, schloss Heinrich und blickte zärtlich auf den Leinwandsack, auf dem sich die Konturen der darin verborgenen Geige scharf abzeichneten.

Die Mädchen konnten sich das Lachen schwer verhalten, dem jungen Ding standen die Tränen in den Augen. Schließlich sagte sie und wäre beinahe losgeprustet: „Ja, Herr Heinrich, Sie sind ein Künstler, aber bitte, wollen Sie uns nicht etwas vorspielen. Sehn Sie, ich habe Sie noch gar nicht gehört“ und damit sahen ihre schönen braunen Augen ihn mit gewollter Treuherzigkeit an. Den alten Mann trafen ihre Blicke, er sah verlegen zu Boden und musste ihr doch wieder in das hübsche Gesicht schauen. „Ja, ja,“ sagte er verlegen und kramte die Geige aus dem Sack. Er strich ihr über die braune Politur, wie man einem Kinde das Haar streichelt, und zupfte an ihren Saiten, wie man einem Kinde in die Wangen kneift, liebevoll zärtlich.

Endlich setzte er sie an, stimmte die Saiten und fuhr mit dem Bogen darüber, daß sie grell aufkreischten. Die Mädchen lachten sich verstohlen zu. Geiger Heinrich merkte es nicht, seine Augen glänzten. Und nun spielte er. Volkslieder, Walzer, wie er sie irgend gehört hatte; alles durcheinander, meistens richtig, nicht immer wohltönend, da sein Bogen zu sehr kratzte. Als er fertig war, sagte er und verzog sein Antlitz noch mehr: „Ja, ja, mei Geige“. Dann packte er sie wieder sorgsam ein, indem er sie erst in ein großes, buntes seidenes Halstuch wickelte. Das Dienstmädchen sagte: „Das haben Sie schön gemacht, Heinrich. Sie sind wirklich ein Künstler, aber hoffentlich hat‘s die gnädige Frau nicht gehört,“ setzte sie mit zuckenden Lippen hinzu. Sie musste sich das La­chen mit Mühe verbeißen. Geiger Heinrich grinste vergnügter: „Ja, ja, mei Geige, na adjes Freiland, Ades“. „Adjeö, Herr Heinrich, und kommen Sie bald wieder“.

Er war schon ein paar Stufen hinabgestiegen, als er sich noch einmal umkehrte und herauffragte: „Wie heiß’n Sie denn, scheenes Freilein?“

„Anna, Herr Heinrich, na adjö“. Die Mädels schlugen die Tür zu und drinnen in der Küche ließen sie sich auf die Bank fallen und lachten, daß sie sich die Tränen mit der Schürze abtrocknen mussten. „Ach, Gott, ich kann nicht mehr, is das ein oller Quatschkopf“ stöhnte vergnügt das junge Dienstmädchen. Geiger Heinrich aber ging mit verklärtem Antlitz nach Hause und achtete der Gassen­jungen noch weniger als sonst. „Anna, ja, ja, Anna“, murmelten seine trockenen Lippen, „mei Geige, ja, ja.“

Fast jeden Tag, auch wenn er nichts für den Haushalt zu bringen hatte, kam Geiger Heinrich jetzt in die Apotheke, und wenn es ein paar Minuten waren, um Anna guten Tag zu sagen und ein kurzes Liedel auf der Geige zu spielen. Mit ebensolcher Zärtlichkeit wie seine Geige, betrachtete er nun das junge hüb­sche Ding, er, der sechzigjährige Mann, der in seinem ganzen Le­ben dem andern Geschlecht nie große Aufmerksamkeit gewidmet und nur seiner Geige gelebt hatte. Die Anna fühlte bald, weshalb der Geiger Heinrich so oft kam, machte sich auch insgeheim über ihn lustig, sie hatte ja ihren Sergeanten, aber sie zeigte ihm ihren Spott nicht, und aus reiner Freude am Theaterspielen tat sie, als ob sie ihn recht gern hätte und warf ihm verliebte Blicke zu. Gei­ger Heinrich überrieselte es wohlig, wenn sie ihm die Hand gab oder ihn ansah, und seine Augen bekamen einen hellen Schim­mer. Er brachte ihr kleine Geschenke, seidne Brusttücher, zier­liche Dosen, besonders schöne Früchte aus seinem Garten. Sie nahm sie dankbar an, lachte aber doch heimlich seine Narrheit aus. Da blieb er ein paar Tage aus, und die Mädchen dachten, er hätte vielleicht ihren Spott gefühlt und wäre beleidigt; aber er trug sich mit einem großen Entschlüsse. „Anna, ja, ja, Anna,“ murmel­te er vor sich hin, während er durch seinen verwilderten Garten humpelte. Endlich war er mit sich im Klaren. Er zog sich seinen besten Rock an, steckte sein rotseidnes Schnupftuch, auf dem die Schlacht von Sadowa abgebildet war, zu sich, nahm die Geige und den Leinwandsack und ging in die Stadt. Er traf Anna allein an, die Köchin war Einholen gegangen; er bat, mit ihr in die Küche gehen zu dürfen. „Nanu, Herr Heinrich, Sie sehen ja so feierlich aus?“ „Ja, ja, scheenes Freilein,“ Heinrich stotterte mühsam seine Rede zusammen, „sehn Sie, ich bin e Mann, ich hab mei Lebtag nich nach de Frauenzimmer geguckt, und ich bin, sehn Se, Ich hab mei Blüte nich verloren; ich bin anständig, wie mich mei Mutter geboren hat, so bin ich. Und sehn Se, wenn es och schon bis an de sechzig geht, ich bin noch kräftig und kennte es mit manchem jungen Mann aufnehmen. Und ich hab och mei Auskommen, und es reicht scho für zwei, und da wollt‘ ich halt fragen, ob Se mich zum Manne nehmen mechten, ich bin kein schlechte Partie, ja, ja, scheenes Freilein, und ich hab Se gern, sehr gern, ja, ja,“ und damit sah er sie mit zärtlichem Blicke an …

Anna wusste nicht, was sie sagen sollte, sie ahnte, daß er es ernst meine; da ihr jedoch stets der Schalk im Nacken saß, antwortete sie: „Ja, Herr Heinrich, Ihr Antrag ehrt mich sehr, und ich hab Sie ja auch sehr gern, und da hätt ich ja nichts dawider, wenn Sie man noch ’ne Weile warten wollten“. „Scheenen Dank, Freilein Anna, scheenen Dank, ich bin kei schlechte Partie, ja, ja, im Som­mer kennen merja Hochzeit machen“. „Naja, Herr Heinrich, im Sommer. – Nu hab ich aber keine Zeit. Sie müssen schon ent­schuldigen. Na adjö, Herr Heinrich, auf Wiedersehen.“ „Adjes, Freilein Anna, adjes, ja, Anna“. Glücklich und mit zufriedenem Grinsen humpelte er davon. Als Anna nachher der Köchin von dem Antrag erzählte, wollte die sich ausschütten vor Lachen.

Wer in diesen Tagen an dem Grundstücke des Geiger Heinrich vorbeikam, der sah durch den baufälligen Zaun, wie jener Tänze fiedelnd durch den Garten stolzierte und mit seiner krächzenden Stimme dazu sang: „Hochzeit, ja, ja, Hochzeit mit einem scheenen Freilein.“ Inzwischen war es Mai geworden und Geiger Heinrich brachte Anna jeden Tag Maiglöckchen. Eines Tages lud er sie ein, ihn zu besuchen, sie müsse doch sehen, in was für eine Wirtschaft sie käme. „Ja, Herr Heinrich, ich werde nächsten Sonntagnachmittag, wenn ich frei habe, kommen.“ Sie freute sich auf diesen neuen Spaß. Heinrich räumte die zwei Stuben und die Küche auf und zog sich seinen Feiertagsrock an. Anna kam wirklich. Bis zur Ecke, wo der Fußpfad über Wiesen und an Hecken vorbei zu dem Heinrichschen Grundstück führte, begleitete sie ihr Sergeant. Heinrich stand am Gartentore und hielt Ausschau. Als er sie um die Ecke biegen sah, den zierlichen Gang, die schlanke Gestalt, das feine etwas blasse Gesicht, und die weiße Bluse, die sie entzückend kleidete, hellten sich die vorher bange dreinschauenden Gesichts­züge auf und er humpelte ihr ein paar Schritte entgegen, in der ei­nen Hand die Geige. »Guten Dag auch, Freilein Anna«. Mit einer linkischen Verbeugung überreichte er ihr einen Strauß Maiglöck­chen. „Guten Tag, Herr Heinrich, ich dank auch schön.“ „Ja, ja, Freilein Anna, es ist heute recht scheenes Wetter“. Er blickte zum blauen, wolkenlosen Himmel empor, der schon eine beträchtliche Wärme niedersandte. „Na, dann woll’n mer mal unsern Garten anseh’n“. Er öffnete das Tor und ließ sie vorangehen. Die Wege waren vom Unkraut überwuchert und auf den Blumenbeeten wuchsen neben und zwischen den Maiglöckchen friedlich Löwen­zahn, Vogelmiern und fette Henne. Er führte sie auf eine kleine Anhöhe, die zum Teil schon den Nachbarn, seinen Verwandten, gehörte. Dort auf dem Hügel hatte sich Geiger Heinrich um einen Nußbaum eine Bank gezimmert. Er ließ sich darauf nieder und lud auch Anna dazu ein. Sie setzte sich neben ihn. Man hatte hier eine schöne Aussicht über Wiesen und Weidengebüsche bis zur Oder, auf der gerade ein Schleppdampfer mit einem Dutzend Kohlen­kähnen schnaufend und qualmend gegen den Strom arbeitete. „Ja, ja, hieris hibsch, Freilein Anna, so ’ne Aussicht hab’n Se von Ihrer Kiche nich“. „Es ist sehr schön,“ sagte Anna, der die Lust zum weiteren Scherzen vergangen war, sie begann sich zu langweilen.

Geiger Heinrich setzte die Geige an und spielte „In einem kühlen Grunde“. Er spielte leiser und zarter als sonst. Die Töne zitterten durch die Stille und vermischten sich mit den fernen Ge­räuschen des Flusses und der Stadt. Anna wurde es weich zu Mute, sie hatte Mitleid mit dem Alten. Er hörte auf. „Sie haben sehr, sehr gut gespielt, Herr Heinrich.“ „Ja, mei Geige“. Er grinste vergnügt. Von der Oder tutete hohl und tief der Dampfer. Er stand auf und holte sein Taschenmesser hervor. „Was wollen Sie denn damit?“ Anna zeigte auf den Genickfänger. „Ja, ja, Freilein Anna“, und er lächelte verlegen. Sie blickte erstaunt zu ihm empor. Er aber beugte sich über die Bank und schnitt fein säuberlich in die Rinde des Nußbaums ein Herz, und in das Herz hinein A. R. darunter K. H. Sie hieß Anna Rutschke, sein Vorname war Karl. Sie musste laut auflachen, als sie das Herz sah. „Ja, Freilein Anna, zum An­denken“. Sie stand auf und strich sich das Kleid zurecht. „Ich muss jetzt gehen, Herr Heinrich“. „Ja, ja,“ sagte er. Er war sehr traurig, er hatte doch für sich und sie im Hause den Kaffeetisch gedeckt, die beiden Tassen mit Goldrand, die von seinen Eltern stammten: auf der einen war der Kölner Dom abgebildet, auf der andern las man „aus Liebe“, sie beide hatte er aus dem Spinde geholt, wo sie arg verstaubten, und ordentlich gesäubert. In Ermangelung eines Tischtuches war der Tisch mit der Geigenhülle ziemlich reinlich gedeckt. Und Kuchen hatte er gekauft. Nun ging sie. Er gab ihr mit seiner Geige bis zum Gartentore das Geleit. „Na adjes, Frei­lein Anna, und lass’n sichs gut bekommen, ja, ja“. „Adjö, Herr Heinrich, und auf Wiedersehen,“ sie gab ihm ihre kleine weiße Hand. Er stand an der Tür und sah ihr die Hand über die Augen nach, bis die weiße Bluse um die Ecke verschwand. Dann machte er kehrt und schloss ab. „Ja, ja, Anna, Anna,“ raunte er vor sich hin. — Die Sommerferien waren da. Anna reiste mit ihrer Herrschaft und den Kindern ins Bad. Geiger Heinrich verabschiedete sich am Tage vor der Abreise von ihr. Er dachte daran, daß sie ja versprochen hatte, im Sommer sollte die Hochzeit sein. Aber er wagte nicht, sie daran zu erinnern. Wenn sie wiederkommt, trö­stete er sich. Nun saß er alle die warmen Sommerabende auf der Bank unter dem Nußbaum mit seiner Geige im Arm, betrachtete schmunzelnd die Inschrift im Herzen und spielte hin und wieder einen Tanz. Dann stand er auf, trat den Rhythmus mit den Füßen dazu und sang: „Hochzeit mit einem scheenen Freilein, ja, ja“.

Die Ferien neigten sich ihrem Ende zu. — Inzwischen hatten die Verwandten das Wiederaufnahmeverfahren wegen Entmün­digung gegen den Geiger Heinrich durchgesetzt. Diesmal mit besserem Erfolge: die Entmündigung wurde ausgesprochen. Die Verhandlung hatte vor dem Landgericht in Cottbus stattgefunden. Geiger Heinrich ließ durch seinen Anwalt beim Reichsgericht Berufung einlegen. Sie hatte keinen Erfolg. „Ja, lieber Heinrich, es tut mir leid, aber es ist nichts mehr zu ändern, Sie müssen sich schon drein fügen,“ sagte der Advokat achselzuckend. Geiger Heinrich meinte: „Ja, ja,“ und fuhr nach Berlin. Viel Bargeld würden sie überhaupt nicht mehr bei ihm finden. In seinem armen zerquälten Hirn kreuzten sich die unsinnigsten Gedanken.

Er ließ sich den Weg zum königlichen Schloss zeigen, er wollte zum Kaiser. Wenn Anna wiederkam, was würde sie sagen? Sie würde ihn nicht heiraten. „Anna“, murmelte er in sich hinein, als er um das Schloss schlich und nach einem geeigneten Eingang suchte. Endlich fragte er einen Posten: „Entschuldigen Se, Herr Soldat, aber kennte ich nicht mal den Kaiser sprechen?“ Der sah ihn von unten bis oben an, „Scheren Sie sich weiter“. Er zog sei­ne Mütze und humpelte von dannen. Nun fragte er ein paar Vo­rübergehende, wo er wohl den Kaiser sprechen könne. Sie sahen ihn mitleidig lächelnd an und ließen ihn stehen. Da wusste er sich keinen Rat mehr. Bis zum späten Abend stand er vor dem Schloss und wartete auf ein Wunder, wartete, daß der Kaiser kommen würde. Dann ging er zum Bahnhof zurück, sein faltiges Gesicht nahm einen harten Zug an. Die tiefste Trostlosigkeit lag darin. Er setzte sich in den Wartesaal, die Geige auf dem Schoß. Der Zug ging erst am frühen Morgen. Die beiden letzten Tage hatte er nichts gegessen, er aß auch jetzt nichts. Am Nachmittag langte er auf dem Bahnhof der kleinen Stadt an. Er hatte von da eine halbe Wegstunde bis zum Gehöft. Als er in seine Wohnung trat, sah er, daß seine Verwandten schon dagewesen waren. Sie hatten die Tür erbrochen und wohl weniger nach ihm als nach seinem Gelde gesucht. Er setzte sich auf die Bank und starrte auf den Boden. Ihm war schwach und elend. Der Hunger wurde quälender. Er aß nichts. Am Abend schleppte er sich hinauf auf die Anhöhe und setzte sich unter den Nußbaum. Eine schwüle dunkle Som­mernacht lastete auf dem Lande. In den Odersümpfen quakten unaufhörlich die Frösche. Einige wenige Sterne blinkten durch finstre Wolken. Ein verspäteter Vogel schwirrte durch die Lüfte. In den Kronen der Bäume rauschte es. Es war, als atmeten die Zweige im Schlafe. Geiger Heinrich saß unbeweglich, die Geige mit beiden Händen an sein Wams gedrückt. Die Lippen murmel­ten: „a, ja, Anna, Anna, nu werd ich kei Hochzeit machen mit einem scheenen Freilein, ne. Nu hab ich nur noch mei Geige, ja, ja, mei Geige“. Er presste sie fester an sich und legte seine fieberheiße Wange an das kühle Holz. So saß er stundenlang.

Der Morgen dämmerte durch die Zweige, da versuchte er sich aufzuraffen. Er war zu schwach. Er wandte sich mit Anstrengung um und sah noch einmal mit einem heißen Blick nach dem Her­zen und seiner Inschrift. »Ja, ja, Anna«. Dann hob er die Geige. Mit Mühe konnte er sie nur halten – und fuhr mit dem Bogen da­rüber. Durch die morgendliche Stille klang es zitternd und heiser: In einem kühlen Grunde … Kaum waren die letzten undeutlichen Töne verhallt, da fiel die Geige klirrend zu Boden. Geiger Hein rieh wollte sich nach ihr bücken. Er sank neben seiner Geige ins taufeuchte Gras, seine Hände umspannten krampfhaft im Todes­kampf die Geige, während die ersten Sonnenstrahlen auf seinen weißen Haaren leuchteten. — Sie konnten die umklammernden Hände nicht von der Geige lösen. Sie mussten ihn mit seiner Geige begraben.

Der Flieger

Foto: Katharina Deckert Gießen

Georg Henneske war der erste Fliegerunteroffizier der deutschen Armee. Als er, der Sohn eines märkischen Bauern, nach Hause auf Urlaub kam, stand sein Heimatdorf — nicht weit von Crossen gelegen — schon einige Tage vorher Kopf. Bei seiner Ankunft lief alles, was Beine hatte, ihm halber Wege, einige Beherzte sogar in 1/2 Stunden bis zur Bahn­station Baudach entgegen, und die Kinder und die halbwüchsi­gen Mädchen saßen auf den Kirschbäumen, welche die Straße säumten, die er kommen musste. – Nun war er da. Das ganze Dorf drängte sich eng um ihn, daß er kaum Luft holen konnte, seine Mutter weinte: „Georgi, mein Georgü“, und der Pastor sagte: „Welch eine Fügung Gottes!“ „Kinder“, lachte Georg Henneske „Kinder, ich habe einen Mordshunger!“ Da stob man auseinander, um sich gleich darauf zu einem Zuge zu gruppieren, der ihn würdevoll zur Tafel leitete. Sie war unter freiem Himmel aufge­schlagen. Das Dorf nahm sich die Ehre, ihm ein Essen zu geben. Man zählte ungefähr sieben Gänge, und in jedem kam in irgendei­ner Form Kalbfleisch vor. Dazu trank man süßen, heurigen Most. Nach dem Essen, als der Wein seine Wirkung tat, wurde man keck. Man wagte Georg Henneske anzusprechen, zu fragen, zu bitten. »Georgi« staunte zärtlich seine Mutter „Du kannst nun fliegen!“ „Wollen Sie uns nicht einmal etwas vorfliegen?“ fragte schüchtern die kleine Marie. „Oss“, lachte Georg Henneske, „das geht nicht so ohne weiteres. Da gehört ein Apparat dazu!“ „Er hat ihn sicher in der Tasche“ grinste verschmitzt der Hirt „er will uns nur auf die Folter spannen.“ „Ein Apparat, das ist so etwas zum Aufziehen, gell?“ fragte seine jüngste Schwester Anna. Denn sie dachte daran, daß er ihr einmal aus Berlin einen Elefanten aus Blech mitgebracht hatte. Eine Stange lief unbarmherzig durch sei­nen Bauch, und wenn man sie ein paar Mal herumdrehte, begann der Elefant zu wackeln, mit seinem Rüssel auf den Boden zu klop­fen und plötzlich wie ein Wiesel und in wirren Kreisen im Zim­mer herumzulaufen. – „Nein“ sagte Georg Henneske „ich habe den Apparat nicht bei mir, denn er gehört dem Staat.“ „So, so“ meinte der Hirt mit seinem weißhaarigen Kopf „der Staat. Das ist auch so eine neue Erfindung.“ „Ganz recht“ lachte Georg Hen­neske. – „So erzähle uns doch etwas vom Fliegen, und wie man es lernt, Georgi“ bat seine Mutter. Sie war so stolz auf ihn. — Da stand Georg Henneske auf, und alle mit ihm. „Gut, ich will es tun. Hört zu!“ Er sprang auf einen Stuhl. Sie scharten sich um ihn. Aufgeregt, seinem Willen hingegeben, wie die Herde um das Leit­tier. Sie hoben ihre Köpfe, sehnsüchtig, und der blaue Himmel lag in ihren Augen. Georg Henneske aber reckte die Arme, schüttelte sie gegen das Licht, in seinen Blicken blitzte die Freude des Triumphators, und als er sprach, flammte es aus ihm. Er selber fühl­te sich so leicht werden, so lächelnd leicht, der Boden sank unter seinen Füßen, seine Arme breiteten sich wie Schwingen, wiegten sich, und wie ein Adler stieß er hoch und steil ins Blau. Das ganze Dorf stand wie ein Wesen, das hundert Köpfe in den Himmel bog. Und sie sahen Georg Henneske im Äther schweben, ruhig und klar, fern und ferner, bis er ihren Blicken entschwand.

Quelle: Stiftung Brandenburg http://www.stiftung-brandenburg.de/