Bußpredigt

Geschrieben Juni 1917 In: „Die weißen Blätter“ 5 (1918), Quartal Juli – September, S. 106-108.

Was tat ich, dass ich euch schöne Worte sang und Äolsharfen in die Winde hing? Ich bin so müde meines Seins, so müde der Tulpenglocken und der grünen Hirtenflöte … Tut Buße! Tut Buße! Denn das Reich der Hölle ist nahe herbeigekommen. Eure Herzen wurden Schlangennester. Eure Augen trübe Pfützen des blutigsten Lasters. Eure Hände, zu liebender Umarmung einst bestimmt, greifen in leere Luft. Das Eismeer trat über seine Ufer. Erratische Blöcke zer­malmen den blühenden Garten. Kometen schleifen feurige Schwänze wie Trauerschleppen durch die Straßen: und die Stadt steht steil in Brand. Schlagt euch an eure zerfallende Brust: ehe­mals göttlicher Dom, nunmehr eine knöcherne Ruine, darin jegliches Unkraut: Hass, Nieder­tracht, Neid, Unzucht, Lüge, Feigheit, Hochmut wuchert. Schreit, brüllt, kniet in den Kot eurer eigenen Leichen; schreit: Ich Sünder. Ich wandelnder Dreck. Eitriger Auswurf eines verwesen­den Bonzen.

Seliger einst am Saume der Welt; saumseliger, seufzend im Süden, verweint in Nelkenduft, Falter, mit den Flügeln leise atmend auf den Orangenbrüsten der blondesten Frau.

Der Regen blutet aus meiner Wunde.
Die Sonne schlägt mich an feuriges Kreuz.
Ich schäume: rotes Meer. Ich schreie: ich Namenlos, ich Traum: bin schuld am Kriege.
Ein jeder: ich. Millionen Ich … sind schuld, sind schuld.
Die Geißel Gottes knallt.

Ich kenne, bekenne mich: zur Pflicht, zur Verpflichtung, zur Wahrheit, zum Geständnis. Es gilt, unsere Schuld in die Welt zu pauken, zu posaunen, zu läuten, zu zischeln, zu heulen: dass man uns Geistige oder zum Geiste doch Gewillte, nicht für Söldner eines Machtgedankens, des Räuberrevolvers, mehr halte. Der Krieg wäre nie ein so widerlicher Koloss geworden, hätte er sich nicht an gewissen eitrigen Abszessen unserer Seele gemästet.

Reißt das Hemd auf. Schlagt euch an die Brust: bekennt: ich, ich bin schuldig. Will es büßen. Durch Wort und Tat. Durch gutes Wort und bessere Tat.

Dünke sich niemand zu niedrig, seine Schuld zu bekennen. Niemand zu hoch.

Wir schweigen von den Krieglingen aller Länder, die es heute noch gibt; ihnen kann man nicht ins Gewissen reden, denn sie haben keines.

Aber ihr, die ihr, wie ich, längst erweckt seid – erwacht von einem üblen Traum, der wie ein Alp euch drückte – bekennt, aus falscher Scham bisher nur schweigend, dass dieser Traum ein Trugbild war, dass ihr Narren (und manche von euch, die sich für den Krieg als Krieg einsetzten, Schlimmeres als Narren) wart, als ihr an das Stahlbad der Seele, welches ein Blutbad wurde, als ihr an den Macht-, Nacht- und Bajonettgedanken, an den Krieg als ethischen Umwerter, an die deutsche, französische, englische „Sache“ glaubtet, während ihr an die menschliche Idee hättet glauben sollen! Ob ihr eure damalige Meinung in Schrift oder Sprache verteidigt habt, das gilt gleichviel. Ihr dachtet so: sie klang im Chorus mit.

Schwört ab den Taumel 1914! Die Resignation 1915! Die Skepsis 1916! Bekennt euch straff zu 1917! Bäumt euch! Zum neuen Willen einer neuen Zeit! Schnellt auf aus eurer Passivität wie ein lang angezogener Bogen zur Aktivität: der Anklage, der Buße, der Besserung. Es heißt, unse­re Jetzige Position deutlich zu bekennen – damit noch viele zu uns aufs Podium treten. Und ih­rer seien tausend, zehntausend – und mehr.

Vor dem Gedanken eines zweiten derartigen Krieges bekreuzt sich die ganze Welt. Fallen Mütter in Ohnmacht und Wahnsinn. Werden Kinder zu Verbrechern.

Es gibt in Deutschland eine mächtige Partei, die es wagt, in diesem Kriege vom nächsten Krie­ge zu sprechen. Ihr Gerede ist Blasphemie, Hochverrat am Geiste, Gottes- und Menschenlästerung.

Die Desorganisation der Geistigen ist mit an diesem Kriege schuld. Wir alle sind am Kriege schuld, weil wir ihn kommen sahen und nichts dagegen taten, und als er ausbrach, uns über sei­ne wahren Wege täuschen ließen.

Ein rasender Protest gegen den kriegerischen Gedanken und das kriegerische System in der ganzen Welt tut not.

Wir wollen nicht schweigen, nicht eines zweiten Weltkrieges schuldig werden.

Erreichen wir unser Ziel nicht, so sind wir umsonst am Leben geblieben und lägen besser, geruhig gehütet, bei den Toten von Ypern und Kowno, von Gallipoli und Görz.

Es geht um den Adel der Erde. Entthront wurde die ewige Kaiserin: die Natur. Die Erbsünde des abstrakten Menschen: der Zwiespalt zwischen Idee und Wirklichkeit: wird in die Weite ge­tragen, droht die Erde zu zerreißen. Dies darf nicht sein: als Geistiger in hohen Wolken schweben, als Wirklicher Macht vor Recht setzen, Bajonett vor flehend gehobener Hand. Es darf nicht sein: das Gute in der Anschauung haben und begreifen, und schlecht handeln, schlecht sein. Ehe nicht die Idee des Guten in die Tat umgesetzt ist, ehe wir nicht danach streben gut zu sein, anstatt Gutes zu denken, eher haben wir kein Recht, auf den wahren Sieg zu hoffen, den Sieg der Sonne, des Mondes, der blauen Berge und des roten Herzens.

Es ist entsetzlich, zu sehen, wie kleine militärische Erfolge die Völker alsbald golden umnebeln: mit einem rein äußerlichen Siegesrausch, und sie vom Wesentlichen sofort wieder abzie­hen. Als ob es für die ethische Beendigung des Krieges von irgendwelcher Wichtigkeit wäre, noch einige Tausend Quadratkilometer zu erobern – um den Preis von hunderttausend hinge­schlachteten Menschentieren. Als ob durch einen militärischen Sieg der einen Partei die morali­schen und rechtlichen Fragen aus der Welt geschafft würden!

Es ist ein trauriges Zeichen unserer militarisierten Zeit, dass die Politiker ihre Direktiven von den Generalen empfangen – anstatt umgekehrt. Es fehlt an Verjüngung in Geist und Willen, an Vergeistigung in den Zielen und Mitteln. Zum Teufel mit der Realpolitik! Man treibe Ideenpolitik! Indem man sich nicht wie die Realpolitik von den Realitäten treiben lässt, sondern indem man aus der Kraft der Idee das Reale schafft.

Am Bahnhofsportal steht der Heilsarmeesoldat Posten, gehorsam dem Befehl des Generals.
Tausende rennen, rasen, schleichen, stolpern an ihm vorbei. Er hält den „Kriegsruf“ in der Hand.

Stumm, die Zähne zusammengebissen, wartet der Heilsarmeesoldat. Er darf nicht schreien: Gott! Güte! Gerechtigkeit! Denn die Polizei hat es ihm verboten.

So ist es unsere Pflicht, die Pflicht der aus trübem Traum Erwachten, der Sinnenden, der Besonnenen, nicht mehr Getäuschten (nicht: Enttäuschten), der zum Geist Emporgerissenen: Ver­ächter der Macht, der Nacht und des räuberischen Taumels: am Portal der Zukunft zu stehen, den Friedensruf, den Ruf des ewigen Friedens und der neuen Menschlichkeit auf den Lippen, Soldaten wir der Armee des einzigen Heils. Heute hört den Ruf nur einer, morgen sind es ein Dutzend, übermorgen Tausende.

Es gilt zu warten, die Zähne zusammengebissen.

Einmal wird das mythische Feuer herniederfahren und alle heute noch Irrenden und Schwankenden mit Erkenntnis beglänzen und zu entschlossener Tat entflammen.

Mag heute noch Gelächter oder Niedertracht wie Hagel auf uns niederprasseln:

Soldaten der Seele, es heißt standgehalten. Einmal wird die rote Fahne, in unserem Blut ge­tränkt, im Frühlingslichte flattern.

Ihr Sybariten des Blutes: dann seid verflucht!

Ihr Heuchler, ihr Unerwachten, ihr Trägen – dahin dann zu den Kröten in die Keller des ewi­gen Todes.

Ihr aber, Unsterbliche, Unendliche, Legionäre der heiligen Armee, auf, zu den Trommeln, zu den Flöten. Schwingt eure Waffen: den Lilienstengel, die Weidenzweige, daran noch Kätzchen hängen, die Mimosenbüschel, die Sonnenblume. Gott winkt! Uns, seinen silbernen Söhnen!

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Diese „Bußpredigt“ kann u.a. als exemplarisches Dokument der Wandlung vieler Schriftsteller von der Kriegsbegeisterung zum Pazifismus gelesen werden. Aufsehen erregte Klabund mit seinem etwa gleichzeitig geschriebenen „Offenen Brief an Kaiser Wilhelm II.“, erschienen am 3.6.1917 in der „Neuen Züricher Zeitung“, in dem er an den Kaiser appellierte, Frieden zu schließen. Abgedruckt jetzt in: Klabund: „Der himmlische Vagant. Eine Auswahl aus dem Werk. Hg. v. M. Kesting“. Köln 1968. S. 593 – 597.

Ludwig Rubiner, der ähnlich wie Franz Pfemfert solcher Wandlungsfähigkeit in der politischen Einstel­lung misstraute, kommentierte im „Zeit-Echo“ 3 (1917), H. 1/2 (Juni), S. 32, den Fall Klabund unter dem Ti­telKonjunkturbuben“:

Dichter Klabund druckt zu Kriegsbeginn:

Mädchen, Eure Ehre
Schützen die Gewehre.
Hebt das Herz empor,
Kriegsfreiwillige vor!

Italiens Kriegsbeginn: K. höhnt in einer deutschen Zeitung den schmutzigen Italiener, in einer Schwei­zer Zeitung die Hindenburg-Andenken. Russlands Revolution: K. druckt in einer Schweizer Zeitung einen Brief an den deutschen Kaiser; demokratisch – „Schattenkaiser, bitte Reformen!“ Ob K. gleichzeitig in deutschen Blättern die Russen verhöhnt, steht nicht fest.

Nein, das ist kein Zeichen der Zeit. Dieses Schreibgeschäfte ist zeitlos wie die Lebensmittelschieber und die Mystiker. Nächstens werden uns vor lauter Zeichen der Zeit wohl noch die Kriegsberichterstatter re­volutionär kommen?

Millionenmal gemeiner als unser Feind, der es aus politischer Trägheit ist – gilt uns die revolutionäre Phrase. Der Jobber, der Agent, der Bankier, der Zuhälter, der Leichenfledderer – sie, die Kriegsbegeisterung markierten, wagen es mit frechem Kopf, nun an unser Ohr mit der revolutionären Phrase zu treten.

Aber wir vergessen nicht. Wir wissen, dass die Konjunkturbuben nur auf die nächste Gelegenheit lau­ern, sich beliebt zu machen; in öligster Gleichgültigkeit dagegen, um wessen Leben und Blut und Name und Dasein und Ehre es geht.

Eine Zeit, die solche Zeichen gebrauchen kann, ist ein Irrtum.

Verlasst euch drauf: Wenn es ernst wird, hält das Konjunkturtier das Maul. Und schon am plötzlichen Schweigen des ewig Quiekenden werdet ihr die Stunde erkennen.