Briefe an Brunhilde Heberle

Klabund lernt Brunhilde Heberle 1916 kennen, am 8. Juni 1918 heiraten sie und am 30. Oktober 1918 stirbt Brunhilde, die er Irene nennt (das bedeutet Frieden) nach einer Frühgeburt in Locarno.

Erhalten sind Briefe von Klabund an „Irene“, unter anderem veröffentlicht 2010 von der Akademie der Künste in Berlin.

Archiv-Blätter 21
Klabund „Ich würde sterben, hätt ich nicht das Wort …“

 Zusammengestellt und erarbeitet von Martina Hanf und Helga Neumann
Akademie der Künste, Archiv, Berlin 2010
236 Seiten, 62 Farb-Abb.
ISBN 978-3-88331-165-4
Best.-Nr. 4027 – € 12.-

Rorschach, Cafe-Konditorei Baier, 26. Mai 1917

Liebe Irene,

ich habe den Blick auf das Schiff gerichtet, das Sie mir entführte: jetzt sieht es wie eine Wolke aus, jetzt wie ein Schwan und jetzt wie eine schöne weiße Nixe, die einmal noch die Arme hebt und, den unbegreiflichen Schrei eines fremdartigen Wesens auf den Lippen, in die blaue Tiefe entschwindet. – Der See ist eine silbergraue glatte Platte – man könnte Früchte und Gott weiß was darauf servieren, so metallisch glatt liegt er da – ich sehe das Geisterschiff, das Räuberschiff nicht mehr. Sankt Gotthard hieß das Schiff, und mit dem Namen des Schiffes fahre ich die lange Route zurück, die wir zusammen reisen durften: von Rorschach … über Zürich … den Gotthard nach Locarno. Die Smaragdeidechsen, Ihre hübschen Schwestern, laufen wieder ängstlich und anmutig über meinen Weg. Grillen zirpen, und Nachtigallen schlagen unaufhörlich … selbst am Tage. Es sei, wie es wolle – Sie kennen das Wort Lynceus, des Türmers? -, es war doch so schön … Immer Ihr Klabund

Locarno-Monti, nach dem 26. Mai 1917

Samstag früh

Liebes, liebes Mädchen,

ich sollte keine Minute von Dir gehen, Engel, ich habe Dich so lieb wie ich vielleicht noch keine Frau vor Dir lieb hatte – und ich beraube mich Deiner, um in Gesellschaft einer albernen Ente, eines peinlichen Portugiesen, eines deutschen Falschspielers, dem man es auch nicht ansehen würde, mir die ganze Nacht um die Ohren zu schlagen. Ich bin um 6 Uhr früh nach Hause gekommen und habe noch gar nicht geschlafen vor aller Aufregung des Rauchens und fff Spielens. Es soll mich nicht mehr trösten, dass auch Dostojewski spielte (und Casanova, der aber einfacher stahl, wenn ich nicht irre), ich gebe Dir mein Ehrenwort, ein halbes Jahr vom heutigen Tage ab nicht mehr Poker zu spielen. Mir ist das Spiel so über und übel, ich kann es Dir nicht sagen.

Übrigens musst Du „gerächt“ sein. Nach Verdienst u. Würde. Ich habe circa 500 Francs, fast alles, was ich bei mir hatte, verloren. Und habe heute schon in aller Frühe nach Hause meinen Eltern telegraphiert um Geld, was ich noch nie getan habe. Aber sonst ist es mir unmöglich, Poeschels auch nur einen Centime zu zahlen. Mein armer, aber ehrlicher Vater!

Sei gut und umarme Deinen Fred

Von dem verfluchten Rauchen die Nacht durch zieht sich mein Magen wie eine Wellenbadschaukel zusammen und reißt sich wieder los. Es ist leidlich unangenehm. Esel ist ein Kompliment für mich.

Ohne Ortsangabe, 2. Juni 1917

Liebstes (aber ich habe ja einen Füllfederhalter, der ausgezeichnet funktioniert) Mädchen! Das heißt, er funktioniert manchmal doch sonderbar: eben drehe ich ihn auf, und da spritzt er auch schon einen riesigen Fleck auf meinen zärtlich geliebten, karierten Anzug. Wie entferne ich den abscheulichen Unflat? Ich bin trostlos. Die Sonne wirft Kringeln auf meinen Tisch (denn ich schreibe im Garten), Vögel jagen sich vor im Gesträuch, der Rasen leuchtet „rasend“ – und ich habe einen Fleck auf meiner ritterlichen Jacke … Aber ich komme, wie Jean Paul, vom Hundertsten ins Zehntausendste. Ich wollte Dir, vermittelst der Beilage beifolgenden, ordnungsgemäß retournierten Briefes, den ich Dir doch brieflich schicken muss, einen, nur einen inoffiziellen Brief schreiben: ich habe Dich tausendmal tausend mal tausend lieb: Dein schönstes Bild hängt über meinem Bett, und ich betrachte es Tag und Nacht. Erhielte ich nur den erwünschten Pass! Das entscheidet sich dieser Tage! (Weshalb: magst Du aus einer Drucksache sehen, die Dir heute zugeht: ein Zeitungsblatt…) – Deinen Brief – erhielt ich. Ich bin Dir dankbar dafür. Und froh. Freudig, würde Dein Vater telegraphieren. „Freudigst.“ Du hast meinen zweiten Brief und die Hodlerkarte noch gar nicht erhalten? Ich nummeriere von jetzt ab meine Sendungen, um mir diese Fragen zu ersparen. Dies ist Nr. 5 und 5 a. (Denn 5 ist „Mohammed“, den ich gestern schickte.) Sei umarmt, mein schlankes schönes Mädchen, bionda, o mia bionda, o biondinella d’amor! um tessinisch zu sprechen. Immer Dein Fred

Ohne Ortsangabe nach 2. Juni 1917

Liebling –

das ist der 6te (!!) Brief in drei Tagen, den ich Dir schreibe. Wenn es nach der Zahl der Briefe ginge, die Liebe, dann hab ich Dich 3 x so lieb – als Du mich. Hast Du die übrigens? die Ausweispapiere? bekommen? Wir fahren zusammen nach Lugano. Ich denke, dass ich am 25ten erst nach Lugano fahre – Du erwartest mich in Bellinzona – ich habe mir heute schon ein Kursbuch gekauft – solche Sehnsucht hab ich nach Dir – und wir verleben erst einmal zwei Tage ganz allein in Lugano (falls wir das Geld haben, das Geld, das gebenedeite Geld!) – Aber ich will Dich lieben, lieben, lieben und frage nicht nach einem ganzen Collegium von Ärzten. Inliegend ein Brief, den ich heute bekam. Du siehst, wie widerlich die Verleumdung überall, seis Davos, seis Locarno, gegen mich arbeitet. Nicht im fernsten Traum fiele mir ein, die Dame dichterisch zu diskreditieren. Sei heiß umarmt von Deinem Fred

Ohne Ortsangabe vor 21. Juni 1917

Liebe Irene,

meinen gestrigen Brief hast Du inzwischen gewiss erhalten. Dank für den Deinen aus Zürich. Ich wollte Dir nur sagen, dass ich am 23ten noch in Zürich vorlese, und zwar so ists mir auch am liebsten – im Literarischen Klub des Lesezirkels Hottingen. Ich käme also etwa am 25ten in Locarno an. –

Frau Visscher hat mir einen sehr freundlichen und mütterlichen Brief geschrieben, in dem sie mir vollkommen Recht gibt in meinen Anschauungen über Anny. Man kann ihr nicht böse, man muss ihr immer gut sein: sie ist wie ein krankes Kind. – Dein Kleid traf ein, wurde bezahlt.

Gestern war ich in einer hypnotischen Soiree. Der geheimnisvolle Herr im weißen Haar namens Krause machte erstaunliche Experimente an Wachsuggestion. Reiner, der sich als Objekt dargeboten hatte (unter anderen), war in einer viertel Minute weg trotzdem er sich sträubte und äußerst skeptisch sich auf den Sessel setzte. Grüße mir Behns und laß Dich heftig umarmen von Deinem Fred

Zürich, 21. Juni 1917

Liebes Mädchen,

es geht ein großer Wind. Sonne und Schatten fällt abwechselnd über den Brief, den ich im Garten unter den Bäumen schreibe. Ich fühle mich nicht wohl, die große Hitze vertrage ich so schlecht. Ich werde vielleicht in den nächsten Tagen auf zwei Wochen ins Hochgebirge gehn, denn wenn ich zu Dir komme, muss ich doch gesund sein. Vielleicht hab ich mich auch überarbeitet. Ich schlafe die Nächte wenig und früh bin ich halbtot. Ich hab so viel jetzt zu tun: Dichtung und Politik: ich bin recht kaputt. Eine lange Novelle (so lang wie der Mohammed!). – Ein Theaterstück. In der Schweiz geht‘s jetzt auch hoch her: Du hast gewiss von der Affäre Hoffmann und von den Zwischenfällen in Genf und Lugano gehört, zu denen ich mich kurz im Berner „Bund“ geäußert habe. Woraus zu ersehen, dass: trotzdem … oder grade weil … auch Klabund ein Deutscher ist. Mir fallen die Augen zu; dabei ist es halb drei nach Mittag. Dabei habe ich diesen Brief begonnen, um Dich zu umarmen, zu streicheln und zu küssen. Komm mit in meinen Schlaf herüber, liebstes Mädchen! Dein Fred

Basel, 31. Dezember 1917

Liebe Irene,

hast Du nicht daran gedacht, dass man am 24ten das Fest der Liebe feierte? Uns allen steht die Demut besser an als der Stolz, darum schreib ich Dir diesen Brief: am letzten Tage eines Jahres, das unsren Herzen so viel Glück und so viel Schmerz bereitete. Ich will und will nicht glauben, dass diese bösen Worte, die Du mir gabst: angebliche Liebe und Hohn meines „Opfers“ und schlechter sei ich als der schlechteste Mensch – aus Deinem Herzen stiegen. Du warst verwirrt und verdunkelt, als Du sie schriebst, nicht wahr? und atmetest in einer, was Anschauung meiner betrifft, vergifteten Atmosphäre. Denn Thea und Hilde und Frau Poeschel, so lieb und nett sie sonst sein mögen, sind wie Drachen, die Gift speien gegen mich. Ich habe, als ich Deinen Brief erhielt, gerast und in dieser Raserei einen Brief an Deine Mutter geschrieben. Ich hoffe, dass sie ihn recht verstand. Es ist ja der Mutter Art, zu verstehen, nicht nur ihre eignen Töchter, sondern vielleicht auch fremde Söhne. Warum hast Du nicht allen Anschuldigungen gegenüber, wie es Deiner Liebe geziemt hätte, bestanden: ich liebe ihn, ich kenne ihn – alles andere ist halbe Wahrheit oder ganze Lüge. – Wann hätte ich Dich gedemütigt? Weil ich eine Ehe in dem von Dir angeregten Zeit‘ und Standpunkt für nicht gut möglich hielt? Besinne Dich und werde vor allem gesund. Ich will mich nicht, wenn auch schuldlos, und schuldig nur, wie wir alle schuldig sind, mit Mädchenleichen schleppen.

Alles Gute im neuen Jahre: vor allem Gesundheit, Ruhe und Klarheit. Dein Klabund

Basel, nach dem 4. Januar 1918

Liebe Irene,

„ – keifendes Hökermädchen“ – Du weißt sehr gut, wann ich dies geschrieben: es war, als Dein erster Brief aus Davos mich rasend gemacht hatte.

Es wird, es muss alles zwischen uns wieder gut werden. Laß uns nur erst wieder ein‘ mal zusammen sein, uns sehen, uns hören – uns fühlen.

Hast Du den „Leierkastenmann“ bekommen? Ich sandte ihn Dir vor drei Tagen. Ist er nicht reizend? Die kolorierten Holzschnitte? Dein Fred

Basel, vor dem 12. Januar 1918

Liebste Irene,

laß diese Blumen Dir ein Zeichen sein, wie ich an Dich denke! Nach einer schlaflosen Nacht geb ich diese Zeilen jemand mit, der nach Davos fährt. Ich flehe Dich an: glaube an mich und laß Dich durch dieses Otterngezücht von Menschen, die uns getrennt haben, und die mir unaussprechlichen Ekel einflößen, nicht irre machen! Wir müssen uns sprechen! Ein Brief folgt. In Eile.

Sprich zu niemand mehr von mir – es sei denn zu Deinen Eltern, die ich – trotz allem – verehre.

Basel, Grenzacherstr 13 – 12. Januar 1918

Liebe Irene,

ich fahre nächsten Sonntag hier ab, da ich dann mit meinen Arbeiten fertig bin. Ich habe nun eine Frage an Dich, Bitte möchte ich es nicht nennen: kann ich Dich nicht, ehe ich wieder in den Tessin gehe, sprechen? Ich glaube, es wäre für uns beide gut, wenn wir uns mündlich aussprechen könnten. Ich käme, wohin Du wolltest, nach Davos oder nach Klosters: Du könntest früh nach Klosters fahren und abends wieder in Davos sein. Zürich ist Dir zu weit, nicht wahr? Du wirst natürlich diesmal nichts ohne Deine Eltern unternehmen wollen. Ich verstehe das und bitte Dich, in Passau anzutelegrafieren. In Davos braucht niemand davon zu wissen. Schreib mir express, was Du denkst. In Eile. Immer Dein Fred

Zürich, Confiserie Huguenin & Cie., 16. Januar 1918

Liebe Irene,

bitte, bitte: nicht mich so leicht missverstehen: ich wollte Dich nicht bitten, weil mir eine Bitte schon eine zu große Zumutung an Dich schien: ich wollte Dir ganz frei stellen, mich zu treffen. Da Du eben erst bei Rüedi warst, bist Du gewiss noch angegriffen – es ist wohl am besten, Du erholst Dich erst ein paar Tage und wir treffen uns dann in Klosters. Ich telegrafiere Dir den Tag. – Eines scheint mir aber jetzt schon vor allem vonnöten: heraus aus Stolzenfels, in dem man Dir so übel mitgespielt. Denn wie sehr man Dich gequält – ich erfuhr es heute erst und bin erstarrt.

Wie sehr man mich aber in Davos verkennt: ein maßloser Ekel und eine unerschütterliche Verachtung der Menschen hat sich immer mehr in mir eingefressen. Dass sie es fertig gebracht haben – unwissend ja auch Deine Eltern, die ich sehr verehre – uns zu trennen, so zu trennen, dass Herzblut zwischen uns fließt wie zwischen zwei Kämpfern, die wir doch Liebende waren – das verzeihe ich der Welt nie und nimmer. Dass Leute wie Poeschels ich unter meinen Feinden sehe, die ich einmal für mutig genug hielt, für mich einzustehen. Ach, pfui Teufel. Und dass man mit einem gebrochenen Eheversprechen hausieren geht – Irene, Du weißt den ersten Abend unserer Liebe noch – wir siezten uns noch und ich sprach: Ich habe Sie lieb. Aber ich will Sie nicht verführen. Ich mache Ihnen kein Eheversprechen. Ich frage Sie, frank und frei, und bitte Sie, frank und frei zu antworten: wollen Sie mein werden? – So sprach ich. Und Du hobst den schönen Kopf und sagtest einfach: Ja. Das hat mich damals erschüttert. – Soll uns alles verdreckt werden? – Wären nicht so sonderbare Zustände in Basel geschaffen bei der Familie Romang, die ebenfalls zu Konflikten kamen: ich würde Dir jetzt anbieten: vieles und alles. So kann ich es nicht und bitte, flehe Dich an: heraus aus Stolzenfels in eine ruhige Pension.

Wenn ich telegrafiere, kommst Du nach Klosters: vergiss Deine Papiere (Ausweis) nicht für alle Fälle und alles Geld, was Du bei Dir hast. Ein Vertrauensmann von mir wird Dich in einem Schlitten nach Klosters fahren: ich werde ihm telegrafieren, dass er Dir den Schlitten besorgt, Du hast Dich dann nur hereinzusetzen. Ich vertraue Deiner völligen, unbedingten Diskretion jedem gegenüber. Sonst ist weitere Verständi­gung zwischen uns nicht möglich.

Dein Fred Bitte pflege Dich sehr!

Adresse: Basel, Grenzacherstr. 13 bleibt!

Ohne Ortsangabe 2. März 1918

Liebstes Mädchen,

morgen will ich wieder bei Dir sein. Vielleicht kommt dieser Brief früher an als ich. Deshalb schreibe ich ihn. Es ist eben zwei Uhr. Und Schulanfang nebenan. Die Buben und Mädchen schreien wie Störche und lärmen derartig, dass man seinen eigenen Gedanken nicht einmal begreifen kann. Aber so viel kann ich schon denken: dass ich Dich lieb habe. – Die Brot- und Fettkarten (jetzt folgt die Prosa) sind eingetroffen. Und (Poesie) Dein Brief. Von Deiner Mutter und einer Freundin kamen Briefe, die ich beilege. Deiner Mutter Brief ist wieder 18 Tage (!) gegangen. Auf irgendeine nor­male Verständigung ist nicht mehr zu hoffen. Wenn sie ihre Abreise anzeigen wollen, müssen sie’s drei Wochen vorher tun. Zu Deinem Schrecken wirst Du aus der Mutter Brief erfahren, dass schon wieder ein Schrank, ein Regulator, ein Vertikow oder was weiß ich für tausend Mark erstanden ist. Ich seufze. Wie gut hätten wir die tausend Mark direkt brauchen können. Ich sah beim Seidenspinner ein abendrotes Kleid für Dich zu 37 Francs im Ausverkauf! Ich sah einen grauen Anzug für mich um 67 Francs! – Laß fahren dahin … Nicholson bekommt seine Anzüge demnächst. Sie kosten 135 Francs. Er wird mir eine Auswahlsendung schicken. Das ist das vernünftigste, nicht wahr? Ich bringe Dir auch etwas mit – aber was, das weißt Du nicht?! Sei umarmt von Deinem Fred

Deiner Mutter schrieb ich einen Brief und ein Gedicht.

Arosa, Restaurant Quellenhof, 20. September 1918

Liebling,

Arosa liegt in Nebeln und es regnet. Auf Tage herrlichster Wärme (ich bin meistens nackt gewandert, selbst noch vom Weißhorn herunter) ist eine peinliche, feuchte Kälte gefolgt. Ich hoffe immer, der Nebel wird vorüberwallen, und dann will ich zu Fuß über Langwies und den Strelapaß nach Davos. In Davos muss ich mich unbedingt etwas restaurieren, ich muss mal in andere Kleider und Schuhe kommen, und die Gele­genheit zum (äußerlich …) gesitteten »Lebenswandel« haben: deshalb bat ich Dich, mir Wäsche, Kleider usw. zu schicken. Bei schlechtem Wetter etwa tagelang in der Bergtracht herumsitzen zu müssen, das ist mir nicht angenehm. – Wie ist es Dir inzwi­schen gegangen? Dir? dem Hause? dem Hasimauz, dem Pio? Hast Du alle meine Kar­ten, Pakete (Äpfel! Gravensteiner!), Gedichte, Telegramme bekommen? – Ist Geld eingetroffen? Ich brauche, glaub ich, keins bis zur Rückkehr. (Spätestens am 1. Ok­tober will ich wieder bei Dir sein.) Ich geh vielleicht noch von Klosters auf einige Berge und von Seewis auf die Schesaplana – vorausgesetzt, dass der Neuschnee aber nicht anhält. (Heut wollt ich aufs Rothorn – das Wetter machte mir’s unmöglich.)

Ich finde, dass Arosa sich wenig verändert hat seit meiner Zeit: ein paar Hotels sind dazugekommen und der Kurhausneubau: das ist alles. Das Leben aber, was man hier so Leben nennt, ist dasselbe. Vorgestern Abend machte ich eine kleine Feier im Wald‘ Sanatorium mit: dem Kunstschriftsteller Meier Graefe, der vorher über französische Kunst gesprochen hatte (deutsche Kulturpropaganda …), zu Ehren veranstaltet. Er hat viel geistiges Geschick und Temperament, ist mir aber persönlich recht unsympathisch. Felix Moeschlin, den Redakteur des Schweizerland (der Deine kleinen Verse druckte), besuchte ich. Er hat mir gut gefallen. Auch bei einem liebenswürdigen, schnoddrigen preußischen Uradligen, der sich zum Maler umgestülpt hat, dem Baron von Alvensleben, war ich, in seinem Atelier, zu Besuch.

So jetzt hast Du eine Vorstellung von meinem Aroser Aufenthalt, der mich heute übrigens beträchtlich langweilt (gestern war ich noch am Schwellisee). –

Grüße das Haus Neugeboren und sei in Liebe umarmt und geküsst auf Stirn, Auge und Mund

von Deinem Fred

Davos-Dorf, Sanatorium Davos-Dorf, 22. September 1918

Liebste Irene,

ich bin durch den Brief, der dem Koffer beilag (den Churer Brief hab ich nicht erhalten), sehr erschreckt worden. Bitte, bitte verhalte Dich ganz ruhig: laß Gina und Geka die Gänge in die Stadt tun und geh nicht aus Garten und Haus. Und telegrafiere, wenn Du Dich schlechter fühlst: ich käme natürlich sofort. – Meinen Brief aus Arosa wirst Du ja inzwischen bekommen haben. Was mein Telegramm aus Arosa anbetrifft, so hast Du hoffentlich den Umschlag aufgehoben: es ist eine Schlamperei sonders‘ gleichen, dass man es Dir nicht sofort zugestellt hat, ich will mich beim Postdirektor erneut beschweren, denn es war ein sogenanntes D‘ Telegramm (dringend mit doppelter Taxe! Und der Bote war von mir bezahlt!) Man kann sich wirklich närrisch ärgern bei den postalischen Zuständen. – Brauchst Du Geld? Du musst mir sofort schreiben, ich werds schon herschaffen: Du darfst Dir nichts abgehen lassen! – Es regnet heut in Strömen. Ich bin grade noch trocken über den Strelapaß gekommen gestern. – Es läutet eben zum Essen. Ich schreibe in Eile, damit Du wieder Nachricht hast (der Portier geht zur Bahn); schreib auch Du mir sofort, grüße Frau Jung, die Süf­fels, den Hasen, Pio und die Katze. Und laß Dich umarmen von Deinem Fred

Davos-Dorf, Sanatorium Davos-Dorf, 25. September 1918

Liebling,

ich bin durch Deinen Brief vom 23ten nicht grade beruhigt worden und sorge mich sehr um Dich. Du darfst überhaupt nicht sprechen: es wäre vielleicht das beste, Du reistest mal nach Davos, um Rüedi zu konsultieren. Ich denke immer an Dich und bin immer bei Dir. Ich hab Dich lieb und möchte gar niemand lieber haben als Dich. Am 29ten fahr ich hier ab, bei schönem Wetter über den Bernhardin (zu Fuß), bei schlechtem per Bahn über Zürich: denn die Oberalppost, die nächste Verbindung von Chur nach Göschenen, geht vom 21. IX. ab nicht mehr.

Levys sind sehr lieb zu mir. Das Wetter ist eiskalt: ich friere den halben Tag. Die andre Hälfte bin ich heiß – weil ich an Dich denke … Hast Du meine Sendungen aus Davos erhalten? Die Äpfel? Die Rötelzeichnung? Ein Ukrainer Maler hat mich konterfeit. Er hat mich „mit seiner Seele“ gesehn. (Wenn ich mich mit meiner Seele betrachte, seh ich ja ein wenig anders aus …) Thea sprach ich. Sie hat mich zum Essen eingeladen und mir (hinten herum) Poeschels Reue über ihr damaliges Benehmen zugetragen. Man (tout Davos) spricht natürlich immer noch über mich, über uns. Und die Räubergeschichten überwiegen.

Dein Vater schreibt sehr gütig. Ich werde ihm noch von hier antworten. – Das große Bracke Inserat im Börsenblatt sah ich auch schon. Dann wird er wohl bald erscheinen. Sind noch keine neuen Villonkorrekturen eingetroffen? Dein Buch: die „Irene“: wurde hier viel besprochen und liegt auch aus. – Hilde hat aus Deutschland geschrieben: sie hat sich ebenfalls zu einer ruhigeren und sanfteren Betrachtung unserer Beziehungen bekehrt und wünscht Dir und mir alles Beste.

So sehr ich sonst Unrecht und Bosheit gehäuft haben mag: hier, in Davos, in amore, Euch allen gegenüber hatte ich Recht. Und es ist mir eine kleine Genugtuung, dass sie nach und nach alle ihr Unrecht einsehen: Thea, Hilde, die Poeschels – Du warst ja die erste … und Du wirst Deine Reue gewiss nicht bereuen? Sei fest umarmt und geküsst von Deinem Fred

Die Illustrationen im Kunstblatt zu meinen Gedichten sind doch ausgezeichnet, nicht wahr?

Locarno-Monti, 16. Oktober 1918

Guten Morgen, Liebling,

geht es Dir gut? Ich sende Dir meinen innigsten Gruß und beeile mich, im Bilde mich wenigstens zum Frühstück schon einzufinden. Wenn das Wetter nur besser würde! Wie schnell sprang ich am Morgen hinunter zu Dir! Laß Dich umarmen von Deinem Fred.

Die Antwort Wilsons hab ich eben gelesen. Sie ist in der Tat wie die hiesigen Zeitungen schreiben: terribile: furchtbar! Es scheint, dass der Welt die Weltrevolution nicht erspart bleiben soll.

Locarno-Monti, 23. Oktober 1918

Liebling,

wenn es irgend geht, schicke ich Dir die Gina heut Morgen, damit ich bald weiß, wies Dir geht. Halte den Brief nicht zu nah an Dich und wirf ihn weg, wenn Du ihn gelesen hast. Man kann schließlich nicht wissen, ob er nicht ansteckt. Es tut mir so leid, dass ich die Mutter heut nicht empfangen kann, aber Frau Dr., die mich so lieb pflegt, wird an die Bahn gehn. Und im Wohnzimmer steht auch schon ein Rosenstrauß für sie. Es ist gut, wenn ich noch im Bett bleibe, desto schneller gehts vorüber. Ich will heut Franzoni heraufbitten, dass er mich mal untersucht. Ich freu mich so, dass es Dir so ausgezeichnet geht. Verzeih die Schrift. Eben ist der Elektrizitätsmann da: hoffentlich gehts. Es ist das Geringste so kompliziert. Das ärgert mich immer. (Du weißt: die Bouillon …) Grüß die Ober‘ und Unterschwestern und küss das Bambino von mir (ganz von weitem, dass es keine Bazillen kriegt).

Gib der Gina eventuelle Telegramme mit: ich nehme an, dass die Mutter Dir telegrafiert. – Die Ceka wird gehen.

Sei tausendmal umarmt, geküsst, ans Herz gedrückt, geliebt von Deinem Fred

Gib der Ceka den Hölderlin mit! bitte!

Locarno-Monti, nach dem 23. Oktober 1918

Liebste Irene,

achtet nur darauf, dass das Kind sich nicht bei der Taufe erkältet! Alles andere ist mir gleichgültig: ob ein brauner oder ein schwarzer oder ein karierter Pfaffe seinen Segen darüber spricht. Es wird später schon selber wissen, wohin es gehört. Ich sehe ein, dass für Dich und das Kind im Augenblick besser ist, wenn es sich katholisch manifestiert. Ich habe aber schon jetzt Dein Zugeständnis, es später je nach Wunsch protestantisch, lutherisch u.s. w. umtaufen lassen zu dürfen. Ich betrachte die Hospital taufe als Nottaufe.

Ich freue mich, dass Du Fortschritte machst.

Laß Dich tausendmal umarmen, grüße die Mutter,

Dein Fred

Es ist ein Mönch von der Madonna del Sasso, der die Kleine tauft? Das find ich wieder hübsch.

Locarno-Monti, nach 23. Oktober 1918

Liebste Irene,

ich bin glücklich, dass es immer besser geht. Die schöne Sonne wird auch das ihre tun: ich fühle auch, wie wohl sie mir tut. – Ich habe Ettore Balli als Arzt nehmen müssen: Franzoni ließ, als ich ihn heraufbat, sagen, er wäre selbst krank. Mit dieser Krankheit scheint es aber nicht so weit her zu sein, wenn er doch zu Dir ins Spital kommt. Gestern kam ein Telegramm von meinen Eltern, das sich nach Dir erkundigte. Sei umarmt und alles Gute zur Taufe.

Dein Fred.

Locarno-Muralto, vor 30. Oktober 1918

Liebste Irene,

immer, immer denke ich an Dich! Wie weh tut es mir, dass ich Dich nicht sehen und sprechen kann, und Deine Hand und Deine Stirn nicht halten kann! Möchten wir doch bald wieder zusammen kommen, und möchtest Du doch jetzt recht schnelle Fortschritte machen. Wolle Gott es doch geben. Ich bin immer so betrübt um Dich. -Mir geht es sehr gut. Ich bin jetzt in einer vortrefflichen Pflege und in ein paar Tagen hoffe ich ganz wiederhergestellt zu sein.

Tausend Umarmungen und Küsse Deines Fred.