An der Dammstraße erklang ein „Amati“

Klabund fand als Konzertpianist Beifall – Der Kapellmeister der 52er komponierte mehrere Märsche

Der Redakteur der Heimatgrüße“ ist weiterhin um die Gestaltung der Serie „Von Crossener Häusern und Familien“ bemüht. Als er dabei die Unterlagen über die Schaedestraße sichtete, stellte er fest, dass Senior-Mitarbeiter   Friedrich Waschinsky in seinem Beitrag dazu ein Ka­pitel Crossener Musikgeschichte „ver­steckte“. Der Redakteur entschloss sich daraufhin, die Musikpassagen herauszu­ziehen und sie hiermit den Lesern noch vor der „Schaedestraße“ als besonderen Leckerbissen zu servieren. Vielleicht Ist der folgende Artikel sogar eine kleine Ergänzung zur   allgemeinen Kunstge­schichte. Denn wer weiß z.B. schon, dass der Dichter Alfred Henschke-Klabund auch als Pianist ein Talent war. Friedrich Waschinsky hat das Wort:

Der älteste Sohn des Apothekers Dr. Henschke ist weit über Crossens Grenzen hinaus als eigenwilliger Dich­ter und Essayist bekannt. Ich erlebte ihn aber auch als begabten Pianisten. Ich hatte zusammen mit Alfred Hensch­ke eine Zeitlang Klavierunterricht bei der ausgezeichneten Musikpädagogin Flora Schmeidler, wohnhaft an der Grabenstraße. Klabund und ich wurden ihre fortgeschrittensten Schüler. Wir durften uns sogar als Solisten bei Ver­anstaltungen in der Aula des Real Progymnasiums präsentieren. Dabei warte­ten wir mit Musikstücken auf, die er­hebliche Ansprüche stellten. Alfred Henschke hatte dabei griffmäßig mir gegenüber einen Vorteil. Sein Hand­rücken war um fast 2 cm breiter als meiner. Dadurch konnte er bequem Oktavenläufe, sogar zwölftönige, grei­fen. So spielte er bei einem Konzert eine schwierige Komposition von Feruccio Busoni, der damals als Liszt-Interpret berühmt war. Dem konnte ich nur, ebenfalls auswendig, die Phantasie „Am stillen Herd zur Win­terszeit“ von Wagner entgegensetzen. Rauschender Beifall belohnte uns. Man riet sogar meinen Eltern, mich zur Aus­bildung als Pianist auf das Dresdener Konservatorium zu schicken. Daraus wurde aus wirtschaftlichen Gründen nichts. Es hätte mir sicher nicht ge­schadet. Das merkte ich, als ich nach 1945 mich für die Musik entschied und dann als Leiter einer qualifizierten Kapelle für Unterhaltungs- und Tanz­musik sowie von 1952 bis 1976 als Or­ganist des Hauptfriedhofs in Frank­furt/Oder wirkte.

Der Dritte im Bunde von uns jun­gen Crossener Musikbegeisterten war übrigens der spätere Verleger Rudolf Zeidler. Er hatte bis zum bitteren En­de 1945 in seinem Haus auf „Lehmanns Höhe“ einen wertvollen Flügel stehen, von dem er mit dem „Schwa­nengesang“ aus. Wagners „Tristan“ Abschied nahm.

Dicht bei Henschkes Adler-Apo­theke stand in der Schaedestraße das Haus des Tabakspinners und Wein­bergbesitzers Oskar Müller, der im damals von Lehrer Hübner geleiteten Musikverein Cello spielte. In seinem Weinausschank lernte ich den Konzertmeister Artur Lipsch kennen. Sein Vater hatte früher die Gubener Stadtkapelle geleitet und wohnte nun in Crossen. Artur Lipsch war ein faszinierender Geigen-Virtuose. Als Militärmusiker fiel er in Potsdam bei der Tafelmusik dem Kronprinzen durch seine große Begabung auf. Er erhielt von ihm, wie er mir erzählte, eine Amati-Geige als Geschenk. Nach Ab­schluss seiner Musikmeister-Ausbildung erlitt Artur Lipsch einen Nervenzusammenbruch. Er hielt sich danach zeit­weise in Crossen bei den Eltern auf, um beim Angeln an den Schurre-Buh­nen Ruhe und Genesung zu finden. Er ging später als Dirigent der Kurkapelle nach Vevey am Genfer See und wurde danach Kapellenleiter im Berliner Café „Vaterland“, das nur erstklassige Kräfte engagierte.

Durch Oskar Müllers Laden wurde ich mit Artur Lipsch gut Freund. In der Wohnung meiner Eltern, die ein gutes Klavier aufwies, spielten wir öfter zusammen. Ich begleitete ihn am Klavier bei anspruchsvollen Geigen-Kompositionen. Die Anwohner der Dammstraße horchten auf, wenn Lipsch sein kostbares Instrument förmlich singen ließ. Ich selbst war von der In­tensität des Klanges der ,,Amati“ wie berauscht. Ich musste mich sehr be­herrschen, um dem Geigen-Virtuosen als Partner gerecht zu werden.

Soweit der Senior-Mitarbeiter. Zum Crossener Musikleben des ersten Jahr­zehnts nach 1900 gehörte aber noch eine weitere Persönlichkeit: der Kapell­meister der Garnison Reinhard Winde Muth. Von dessen Wirken erfuhr der Redakteur ebenfalls durch die Beschäf­tigung mit dem Thema „Von Crossener Häusern und Familien“. Denn er wurde der Schwiegersohn des Friseurs und späteren Seifengeschäftsinhabers Emil Sokolowsky, dem das Haus an der Ecke Schaedestraße/Roßstraße ge­hörte. Dieser Musiker ist der Vater der „Heimatgrüße“-Leserin/Mitarbeiterin Charlotte Blank in Eckernförde.

Reinhard Windemuth stammte aus einem Dorf am Hohen Meißner in Nordhessen. Er trat 1897 beim Cott­buser Bataillon der 52er ein und wurde 1906 zum Crossener Teil des gleichen Infanterie-Regimentes versetzt. Er hat­te zuvor 1905 jedoch schon an der Ausgestaltung der Feiern zum 900. Jah­restag der ersten urkundlichen Erwäh­nung Crossens, am großen Heimatfest, mitgewirkt.

Nach seiner Heirat wohnte er mit Familie im Haus des Fuhrunter­nehmers Sawade, Roßstr. 100. Er gab mit seiner Militärkapelle Konzerte, von denen bis heute ein Programm er­halten blieb. Daraus ist zu ersehen, dass er Musik nach dem Geschmack der damaligen Zeit bot, u. a. Kompositio­nen von Friedrich von Flotow, Engel­bert Humperdinck und Johann Strauß. Auch ein Marsch, den er selbst geschaffen hatte, gehörte zur Vortrags­folge. Überhaupt komponierte er meh­rere Märsche, von denen aber kaum ei­ner die Zeiten überdauerte, bestenfalls „An der Spitze“. Der Vizefeldwebel und Kapellmeister schied um 1911 aus dem Militärdienst. Er ging als Postbeamter nach Berlin, starb aber schon im August 1912, weil er sich auf einem Urlaub in Hessen infiziert hatte.